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  Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)
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maximilian24
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:29.11.16 18:39 IP: gespeichert Moderator melden


Wieso kommt mein Posting zweimal, ich habs doch nur einmal geschickt?
Alt werden will jeder, alt sein aber keiner
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ev_1
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:29.11.16 20:25 IP: gespeichert Moderator melden


Ja. Das stimmt. Ich habe mich da vertan. Sorry...
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Daniela 20
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:04.12.16 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


Und schon haben wir wieder ein Woche geschafft! Verrückt, wie die Zeit vergeht.
Manchmal verspüre ich Lust, meine ganze Geschichte an einem Stück zu veröffentlichen, damit man sie, wie einen spannenden Krimi, schnell durchlesen kann. Aber es gibt ja auch andere Geschichten, und Geduld gehört nun halt einmal dazu.

Allen Lesern wünsche ich eine gute Zeit und viel Vergnügen beim Lesen!

Eure Daniela 20

-----------------------


München, Anfang August

Es war nicht mehr ganz so furchtbar heiß, wie noch vor wenigen Tagen in Rom. Klaus setzte sich auf, blinzelte zum Fenster hinaus, weißblau der Himmel, was denn sonst? Es roch anders hier in München, vertrauter irgendwie. Aber vielleicht bildete er es sich auch nur ein, vielleicht roch es einfach nach seiner Oma. Heute würde er sie endlich besuchen müssen.

Die Rückreise nach München war ohne Probleme verlaufen. Seine Mutter hatte für ihn die Fahrkarte, zusammen mit einer Platzreservierung, besorgt. Dann half sie ihm, sich neu einzukleiden, er konnte ja nicht ewig in diesem gammeligen Overall herumlaufen, den er, dem Himmel sei Dank, in diesem Gartenschuppen gefunden hatte.
Nachdem er nun endlich wieder wie ein normaler Mensch aussah, lud die Mutter ihn noch zum Essen ein, immerhin sollte er nicht hungrig nach Hause fahren. Sie hatten zuerst nur über belangloses Zeug geredet, dann aber war die Rede doch auf die Gesundheit seiner Großmutter gekommen. Wie seine Mutter berichtete, war es in den letzten Monaten mit ihr rapide bergab gegangen. Sie versuchte herauszufinden, ob Klaus eventuell einen Grund für diese Entwicklung geben könnte, aber er hatte es vorgezogen, besser keine Vermutungen anzustellen. Obwohl er sich seinen Teil denken konnte. Immerhin waren er und seine Großmutter im Streit auseinandergegangen, nachdem er erfahren hatte, welches schmutzige Ränkespiel die alte Dame betrieben hatte.

Im Großraumwagen der Bahngesellschaft hatte er einen angenehmen Platz bekommen. Der Zug war nicht gerade überbelegt, wer reiste heutzutage denn noch mit der Bahn, wo es doch die Billigflieger gab. In fast jede Stadt Europas konnte man für wenig Geld reisen, war man gewillt, leichte Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Wie umweltschädlich diese ganze Reiserei letztlich war, das schien wirklich niemanden mehr zu interessieren.
Erleichtert stellte er unterwegs fest, dass niemand von ihm Ausweispapiere verlange. Nie zuvor war das Reisen innerhalb Europas so angenehm gewesen. So passierte er im Laufe der Nacht erst die Grenze nach Österreich, später dann nach Deutschland. Nur über eines wunderte er sich, wann würde diese ´Europäische Union´ sich endlich zu einem echten Bundesstaat zusammenschließen? Es war an der Zeit, so dachte er. Eine Alternative gab es nicht.

Er ließ die letzten Stunden noch einmal Revue passieren. Es war das reinste Wunder, dass seine Flucht so gut geklappt hatte! Hatte da jemand seine Hand im Spiel gehabt? Ach, Quatsch, dachte er, Kinder mögen ja an den lieben Gott und Schutzengel und den ganzen Kram denken, aber er doch nicht! Oder? Er vermisste plötzlich Monika. Die Frau, die mit ihm Dinge gemacht hatte, die er niemandem erzählen mochte. Gezwungenermaßen freiwillig hatte er alles mitgemacht. Jetzt war Monika irgendwo in Australien, sie hatte ihren Vater gesucht und gefunden, und scheinbar auch einen netten Australier, mit dem sie dort unten zusammen leben wollte.

Lenchen! Plötzlich tauchte der Name wieder auf. Seine Mutter hatte ihn genannt, als sie fast auf der Spanischen Treppe gestürzt wäre. Nur mit Mühe hatte er einen Taschendiebstahl verhindern können, war heftig angerempelt worden und ins Straucheln gekommen; fast hätte er seine Mutter hinabgestoßen.
Aber hatte sie nicht noch viel mehr gesagt?? ´Willst du mich auch umbringen?´ Er hatte es sofort auf Danielas Tod bezogen, obwohl die Mutter von der Geschichte gar nichts wissen konnte. Und dann - ´Lenchen´.
Er hatte die ganze Nacht im Zug darüber nachgedacht. Lenchen. Er kannte keine Lenchen. Es musste wohl ein Mädchen sein, sicherlich hieß sie Lena, wurde aber Lenchen gerufen. Und er sollte.... er sollte sie umgebracht haben? Niemals. Aber warum hatte seine Mutter es, wenn auch im Affekt, gesagt? Wusste sie etwas, was er nicht wusste? Aber sie konnte doch nichts wissen, was er nie getan hatte!!

In München führte ihn sein Weg zum Haus der Oma. Eine andere Bleibe gab es für ihn nicht. Die kleine Dachwohnung, die er im Jahr zuvor bewohnt hatte, war längst an jemand anderen vermietet. Gut war, dass er alle seine persönlichen Dinge vor seiner Flucht mit Andrea nach Italien hatte wegpacken können. Viel war es eh nicht, er hatte drei Säcke voll im Keller des Hauses deponiert, er würde sie abholen können, sobald er wieder in München sei, hatte man ihm versichert.
Er wusste, wo es einen Reserveschlüssel für das Haus seiner Oma gab. Muffiger Geruch abgestandener Luft schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Einige Briefe lagen auf dem Fußboden hinter der Tür, er fegte sie mit dem Fuß zur Seite; Post konnte erst einmal warten. Jetzt musste er erst einmal richtig ankommen. Für sein Wohlbefinden sorgen. Einkaufen. Essen machen. Ausschlafen. Dann seine drei Säcke abholen. Die Klinik anrufen, wo seine Oma lag, fragen, wie es um sie stand. Und wann er zu Besuch kommen könnte. Und die Oma nach Lenchen fragen.

Als er im Laufe des Tages das Wichtigste erledigt hatte, war er nicht sonderlich schlauer geworden. Er hatte seine Säcke abgeholt, hatte eingekauft und erst einmal für sein leibliches Wohl gesorgt, hatte schließlich nachgesehen, ob seine Ausweispapiere noch oben in seinem Kabuff lagen. Nach Italien hatte er nichts mitgenommen, von seiner wahren Identität hatte er nichts wissen wollen, Flucht und Davonrennen schienen ihm der einzige Ausweg zu sein. Jetzt war er froh, dass er zu diesem wahren Ich zurückkehren konnte.
Klaus musste sich einen Plan machen. Ordnung ist das halbe Leben, so dachte er. Ganz besonders jetzt. Was war wichtig? Er wollte diese Kriminalkommissarin anrufen, eine Zeugenaussage machen, wenigstens etwas Licht in das Dunkel um Danielas Tod bringen. Aber das konnte noch ein wenig warten. Zuerst müsste er sich um seine Oma kümmern. Er hatte in der Klinik angerufen, es sah gar nicht gut aus. Man sagte ihm, er solle gern am kommenden Tag zu Besuch kommen, aber versprechen könne man ihm nichts. Meist dämmere seine Großmutter so vor sich hin, selten nur habe sie klare Momente. Er solle sich darauf einstellen, dass es jederzeit zu Ende gehen könne.
Sie tat ihm leid. Bei allem, was sie getan hatte, sie tat ihm trotzdem leid. Er wusste, sie hatte es nicht leicht gehabt. Ihr Leben war alles andere als harmonisch verlaufen. Familiäre Geborgenheit hatte sie höchstens als Kind, irgendwo drüben im Bayrischen Wald, erlebt. Hungerjahre mögen es gewesen sein. Den Zusammenbruch hatte sie als junges Mädchen erlebt. Sicherlich war es nicht ihre Schuld, dass sie am Ende so geworden war.

Und seine Schuld?? Er verdrängte die Frage. Welche Schuld hatte er auf sich geladen?
Er untersuchte die Säcke. Fand Kleider, die er lange nicht getragen hatte. Sachen von ihm.... und von Barbara. Wie lange war das alles her? Kein ganzes Jahr, überschlug er schnell. Es war alles noch da. Er stopfte sie zurück in den Sack. Nicht jetzt, dachte er, es war vorbei...
Doch Ruhe wollte sich nicht einstellen. Ordnung schaffen? Aber wo sollte er anfangen? Würde er es denn überhaupt allein schaffen? Ohne Verbündete? Er schmunzelte etwas, der Ausdruck Verbündete kam ihm antiquiert vor, vielleicht sogar konspirativ. Aber genau damit musste es vorbei sein. Einzig totale Offenheit würde ihm aus dem finsteren Tal heraushelfen. So zumindest hätte es seine Oma gesagt.
Beneidete er sie am Ende gar? Um dieses ´Eine feste Burg ist unser Gott´? Er hatte diese Burg kennen gelernt. Eine mächtige Wehranlage, eine wahre Festung, die sich keine Fehler erlauben wollte. Mit Schrecken dachte er an seine Jahre im katholischen Internat, außen hui, innen pfui, das hatte auch auf die dort vermittelten Werte gegolten. Ein guter Schüler war derjenige, der fleißig mitbetete, der keinen Zweifel erkennen ließ, der.....

Es würgte ihn in der Kehle. Der Schwarze Mönch. Nur ganz wenigen Menschen hatte er davon erzählt. Dieser netten Sanitäterin zum Beispiel... wie hieß sie gleich? Lynn. Nicht ´der gute Samariter´, sondern ´der gute Sanitäter´. Und mit einem Mal wusste er, Lynn war die einzig Richtige, ihn festzuhalten, ihm zuzuhören, ihm Rat zu geben.
Ihre Nummer hatte er bald gefunden. Aber konnte er so einfach anrufen?
Sie meldete sich sofort. "Ja bitte?"
Er räusperte sich, die Worte klebten fest in der Kehle. "Lynn? Ich brauche einen Sanitäter..."
Es verstrich eine kurze Pause. "Hallo? Wer ist denn da? .... Klaus? Klaus, bist du das etwa? Endlich meldest du dich mal...!"

Er atmete erleichtert auf. Es war gut zu wissen, dass es Menschen gab, auf die man sich verlassen konnte. Menschen, die einen nicht sofort wieder vergaßen, wenn man den Kontakt einmal abreißen ließ. Jetzt fiel es ihm gleich leichter, sich mitzuteilen. Doch ohne ins Detail zu gehen bat er sie, möglichst bald zu ihm zu kommen. Wenn er ihr gegenüber saß, würde er die richtigen Worte schon finden.

%%%

Lyn saß ihm gegenüber und hörte geduldig zu. Er hatte in Omas Küche ein leckeres Essen gekocht, hatte den Tisch im Esszimmer mit der besten Tischdecke gedeckt, die er finden konnte und angefangen, zu reden. Doch Lyn hatte ihn unterbrochen.

"Nicht! Warte noch ein bisschen. Lass uns erst in Ruhe essen. Solch ein gutes Essen darf nicht zerredet werden. Das ist auch so eine Unsitte. Sieh nur, dieses Brot hier - sie deutete auf ein Kräuterbaguette, überlege einmal, was da alles drinsteckt. An Arbeit. An Sonnenstrahlen aber auch. Und das Kotelett hier, wir wollen doch nicht vergessen, dass hier ein Tier sein Leben für unseren Genuss geopfert hat!"
Klaus verstand nicht wirklich, was sie meinte, aber es klang gut. "Du hast recht. Danke, dass du gekommen bist, Lyn. Ich brauche dich wirklich."
Sie murmelte einen bescheidenen Dank für seine Worte. "Du hast gut gekocht, Klaus. Schade, dass du so lange nicht von dir hast hören lassen"
Es wollte ihm die Kehle zuschnüren. Das Wasser trat ihm in die Augen. Er legte Messer und Gabel beiseite, nahm einen Schluck Wein. Dann begann er, leise und stockend zu erzählen.

Evelyn wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. Sie hatte damit gerechnet, dass es noch einmal um die Begebenheiten im Internat und die Rolle seiner Großmutter ginge, aber mit dem, was Klaus ihr jetzt erzählte, hatte sie nicht rechnen können. Auch sie hatte längst aufgehört zu essen, als Klaus endlich am Ende seiner langen Erzählung angelangt war.
"Ja... und jetzt sitze ich hier und weiß nicht weiter. Ich habe dieses blöde Gefühl, egal was ich mache, es wird verkehrt sein."
"Das weiß man erst, wenn man es gemacht hat! Aber sag mal, du hast wirklich keine Ahnung, wer dieses Mädchen sein soll?"
Er schüttelte nur seinen Kopf.
"Warum hast du denn deine Mutter nicht gefragt?"
Er stöhnte leicht auf. "Lyn, ich weiß es nicht. Sie hatte es zwar schon am Nachmittag auf der Spanischen Treppe gesagt, aber so richtig gehört hatte ich es erst, als ich abends im Zug saß. Erst, als ich etwas zur Ruhe gekommen war."
Sie schob ihr Handy zu ihm über den Tisch. "Hier! Ruf sie an! Frage sie einfach, was das sollte!"
Klaus schüttelte den Kopf. "Nein. Nein, so geht das nicht. Sie wird sagen, ich hätte es mir eingebildet."
"Und dein Vater? Glaubst du, dass er etwas weiß?"
"Ich weiß nicht einmal, wo mein Vater jetzt lebt. Ich war ja noch recht klein, als die Eltern sich scheiden ließen. Mama ging dann recht bald nach Italien, und ich blieb bei der Oma."
"Hast du mal gefragt, warum sie sich scheiden ließen? Irgendeinen Grund muss es doch wohl gegeben haben?" Sie sah ihn aufmerksam an.
"Bestimmt habe ich als Kind öfters danach gefragt. Aber ich glaube, weder mein Vater noch meine Mutter haben jemals was dazu gesagt."
"Hm.... Bleibt wohl nur noch eine Person übrig, die dir etwas über diese Lenchen sagen könnte..."
"Meine Oma! Ja...." Glücklich klang Klaus nicht.

Sie nahmen ihre Gläser, wechselten ins Sofa hinüber. "Sag mal, was ist eigentlich mit diesem Pater? Soll der ungestraft davonkommen?"
"Pater Ruprecht?"
"Ja, den meinte ich. Was ist aus dem geworden?"
"Er hatte damals unsere Schule verlassen. Keine Ahnung, wo der hingegangen ist." Klaus´ Gesicht erstarrte.
"Schon gut. Ich wollte dir nicht wehtun. Aber du siehst ja selbst, das hast du noch längst nicht verarbeitet. Meinst du nicht, es wäre an der Zeit....?"
"...ihn umzubringen?? Glaube mir, Lynn, in Gedanken habe ich es schon oft getan. So ein mieses Schwein wie der eins ist.... Aber natürlich würde ich es nicht tun. Was also soll ich machen, wenn ich ihm mal begegne? Ihm eine scheuern? Natürlich könnte ich ihn anzeigen, aber wer weiß, ob das nicht alles schon längst verjährt ist. Übrigens habe ich ja nicht den blassesten Schimmer, wo er sich aufhält."
"Was weißt du denn überhaupt von dem Mann? Pater Ruprecht, war das überhaupt sein richtiger Name? Wohl kaum. Und welchem Orden gehörte er überhaupt an? Das muss sich doch herausfinden lassen! Hast du mal überlegt, eventuell beim Internat...?"
"Die werden den Teufel tun, und mir persönliche Daten ausliefern. Du weißt doch: Datenschutz! Wenn ich denen keine Polizeimarke auf den Tisch legen kann, rücken die bestimmt nichts heraus!"
Evelyn dachte einen Moment nach. Dann huschte ein leichtes Grinsen über ihr Gesicht. "DU kannst es nicht, nein. Aber jemand anders kann es!"
"Wie jetzt? Und wer soll das sein?" Klaus verstand nicht, worauf Evelyn hinauswollte.
Ihr Grinsen wurde größer. Dann teilte sie ihm ihre Gedanken mit.

% % %

"Schön, dass Sie kommen konnten!" Die Dame hatte ihn nett begrüßt. Klaus wusste nicht recht, welche Funktion sie hatte, aber sie sprach Deutsch, allein deswegen musste man heute schon dankbar sein.
"Ja, tut mir leid, dass es nicht eher ging. Ich war verreist und erfuhr erst vor wenigen Tagen von Großmutters Zustand. Wie geht es ihr denn?"
Seine Gesprächspartnerin blickte ihn an. Lag so etwas wie Mitgefühl in ihrem Blick? "Sie können von Glück reden, dass Sie es noch rechtzeitig geschafft haben. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen: ihre Großmutter wird es nicht mehr zurück nach Hause schaffen. Richten Sie sich auf das Schlimmste ein!"
Das Schlimmste?? Klaus schloss die Augen. Was mochte denn das Schlimmste für i h n sein? Widerstrebende Gefühle tobten in seinem Inneren. Jahrelang hatte seine Oma ihm so etwas wie häusliche Geborgenheit geboten, einen Ersatz für die kaputte Familie. Er hatte lange so etwas wie Liebe und Dankbarkeit für sie empfunden. Bis eben zu jenem Abend im vergangenen Jahr, als ihm klar wurde, welche Schuld die alte Frau auf sich geladen hatte. Eine Schuld, die er ihr nicht vergeben konnte, nicht vergeben wollte.

"Kann ich sie sehen? Auf welchem Zimmer liegt sie denn?"
Die Dame nannte ihm die Zimmernummer. "Bitte..., erwarten Sie nicht zuviel. Ihre Großmutter ist sehr schwach. Meist dämmert sie vor sich hin. Oft ist sie gar nicht ansprechbar. Dann aber hat sie auch wieder klare Momente..."
"Was genau fehlt ihr denn? Gibt es eine Diagnose? Wird sie irgendwie medikamentös behandelt?"
Die Dame blickte auf ihre Hände, die vor ihr auf der Tischplatte ruhten. "Was ihr fehlt? Sehen Sie, Sie sind jung, Sie werden es wohl nicht begreifen. Aber vielen Alten geht es so. Es fehlt der Lebenswille. Irgendein Ereignis führt oft dazu, dass die Leute aufgeben. Meist hat es mit der Familie zu tun. Sie spüren es instinktiv, wenn sie zur Last werden. Sie wissen, es wird Zeit, zu gehen..."
Klaus blickte sie etwas verwirrt an. "Zu gehen? Aber wohin denn...?"
Sie hielt seinem Blick stand, deutete dann mit einem leichten Kopfnicken auf ein kleines Kruzifix, das seitlich von ihr an der Wand hing. "Das weiß wohl nur er, wohin die Reise geht..." Sie schob ihren Stuhl zurück, zögerte dann aber aufzustehen. "Vielleicht wissen Sie, ob bei ihrer Großmutter etwas Ähnliches vorkam? Sie sind ja der erste Angehörige, der zu uns kommt. Aber eine Nachbarin sagte, Ihre Großmutter sei bereits seit dem letzten Jahr so hinfällig geworden?"
"Ich war lange im Ausland!", beeilte Klaus sich zu sagen. "Es tut mit leid, da kann ich Ihnen keine Auskunft geben." Konnte er nun endlich zu ihr gehen?
"Nein, wie sollten Sie auch? Nicht immer hat man so engen Kontakt zu seinen Angehörigen, dass man Genaueres weiß." Sie stand auf. "Kommen Sie, ich begleite Sie!"

Es ging in einen Seitenflur. Das Haus wirkte sauber und gepflegt; es war still. Sehr still. Die Dame blieb vor ihm an einer Zimmertür stehen, klopfte leise an und öffnete dann die Tür. "Frau Meisner? Ich habe Besuch für Sie!"
Klaus trat ein. Ein schlichtes, helles Zimmer. Schmucklos gestaltet. Links an der Wand eines dieser typischen Krankenhausbetten. Darauf eine kleine Gestalt. An der Seite ein Tropf, eine Manschette an ihrem Handgelenk. Ein Schlauch führte ihr Sauerstoff aus einem Anschluss an der Wand direkt in die Nase. Die kleine Gestalt rührte sich nicht. "Oma?"
Klaus versuchte es erneut. Mehrere Male. Aber eine Reaktion blieb aus. "Schläft sie?", fragte er die Dame, die noch an seiner Seite stand.
"Ich sagte Ihnen doch, dass Ihre Großmutter meist gar nicht ansprechbar ist!" Es klang vorwurfsvoll. Hätte sie noch ein Haben Sie denn nicht zugehört? hinzugefügt, es hätte ihn nicht gewundert. "Wissen Sie was? Nehmen Sie sich den Stuhl dort, setzen Sie sich einfach etwas zu ihr ans Bett und erzählen ihr etwas. Was Sie so in den letzten Monaten gemacht haben. Irgendetwas halt. Oder etwas von früher. Was Sie mit Ihrer Oma gemacht haben. Nur... - sie zögerte etwas - erwarten Sie keine Wunder! Also, bleiben Sie ein Weilchen bei ihr und unterhalten Sie sich mit ihr. Und kommen Sie morgen wieder!" Sie ließ ihn allein.
Sollte er von Rom erzählen? Oder lieber von früher? Vielleicht von ihrer großen Liebe? Von jenem Australier, der ihr den Kopf verdreht hatte? Von Monikas Vater? Er wusste nicht, was besser wäre. Ein einziger Blick hatte genügt, nein, seine Oma würde nicht mehr nach Hause kommen. Er nahm ihre Hand, klein und dürr war sie geworden, drückte sie, war da überhaupt noch Leben in dieser Hand? Erwiderte sie gar seinen Druck? Nein. Einzig das rasselnde Geräusch der Sauerstoffanlage zerriss die Stille. Es war unheimlich. Morgen würde er wiederkommen.


München, Mitte August

"Wimmer! Guten Tag. Sie möchten eine Aussage machen?"
Ingeborg Wimmer war etwas verspätet zum Dienst erschienen. Sie hatte schlecht geschlafen, hatte sich im Traum hin und her gewälzt, hatte keine Ruhe finden können.
Ihr Leben hatte sich verändert. Seit dem so unerwarteten Wegzug ihres Chefs und Freundes Bruno Rick - früher hatte er sich gern ´derRick´ nennen lassen, aber das war seit einigen völlig überzogenen Enthüllungen über den früheren Fernsehstar ´gleichen´ Namens jetzt nicht mehr so angebracht - fühlte sie sich rastlos, unausgewogen, gelangweilt. Ihr fehlte seine Dominanz. Falls es diese überhaupt jemals gegeben hatte. Im Grunde genommen hatte sie sich ihm unterworfen, hatte sie ihm freiwillig die Schlüssel zu Keuschheitsgürtel und BH ausgeliefert; sie mochte es so.
War sie, mit dieser psychischen Schwäche, überhaupt noch fähig, den Polizeidienst auszuüben? Durchzuckte es sie nicht jedes Mal wie ein Stromschlag, wenn sie Verdächtige vernehmen musste, denen man Handschellen angelegt hatte? Es war normal, dass diese für ein Verhör abgenommen wurden, sofern nicht mit Gewalt zu rechnen war. Sie aber ließ die Frauen gefesselt, sie empfand oft eine eigenartige Mischung aus Mitleid und Neid. Dieser Blick der zu Vernehmenden, wenn sie merkten, dass sie weiterhin gefesselt blieben!
Professionell war das alles nicht. Aber noch hatte sich niemand beschwert. Noch hatte sie keine roten Linien überschritten. Aber sie wusste, zu weit dürfte sie nicht gehen! Außerdem war sie keine Domme, sondern Sub; zwei Begriffe, die sie erst neulich im Internet gelesen hatte.
Eine Kollegin - die pünktlich erschienen war, hatte sie bereits auf die Anruferin aufmerksam gemacht. Eine Frau sei es gewesen, sie hätte eine Aussage zum Todesfall Daniela Krause machen wollen, die letzten Herbst so tragisch ums Leben gekommen war. Nein, einen Namen oder Rufnummer habe sie nicht hinterlassen. Aber sie wolle zurückrufen.

Die Stimme der jungen Frau brachte sie zurück in die Gegenwart. "Sind Sie die Kommissarin, die den Fall Daniela Krause untersucht?" Sie klang etwas unsicher.
"Ja, das bin ich. Und Sie sind...?"
"Mein Name ist Evelyn Kasulke. Ich bin Sanitäterin...."
Ingeborg Wimmer stutze. Dieser Name....?? "Kasulke, sagten Sie? Habe ich den Namen nicht schon einmal gehört?" Sie hörte ein sympathische Lachen am anderen Ende der Leitung.
"Doch, ja, das kann gut sein. Aber keine Angst: mein Vater heißt nicht Heinz, und er arbeitet auch nicht beim Finanzamt!"
"Ach ja, aus der Radiowerbung. Doch sagen Sie: Sie möchten eine Aussage machen? Hatten Sie etwas beobachtet in der Tatnacht? Sind Sie eventuell dabei gewesen?" Wimmer wusste, dass es nie gut war, eine vermeintliche Zeugin gleich mit mehreren Fragen zu ´löchern´. Aber die ganze Sache hatte schon viel zu lange unaufgeklärt auf ihrem Schreibtisch gelegen, und sie hatte kaum noch mit einer Reaktion auf ihren Fernsehauftritt gehofft.
"Nein."
Wimmer legte den Stift wieder ab, den sie in Erwartung einer wichtigen Aussage schon in die Hand genommen hatte. "Dann hat meine Kollegin Sie sicherlich falsch verstanden? Mir wurde mitgeteilt, Sie wollten eine Aussage machen. Ich nahm an, Sie hätten etwas beobachtet. Warum also rufen Sie an?" Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie etwas enttäuscht klang.
"Nein, Frau Wimmer. Sie haben es nicht falsch verstanden. Nur, es verhält sich anders. Ich kenne eine Person, die Ihnen möglicherweise entscheidend weiterhelfen kann. Eine Person, die an jenem Abend dabei war. Allerdings gibt es da ein Problem..."
Ingeborg unterdrückte einen leisen Fluch. Musste es denn immer Probleme geben, wenn die Leute sich bei der Polizei meldeten? Sie verstand einfach nicht, was mit dem früheren Freund-und-Helfer-Image der Polizei geschehen war. Wann hatte man in der deutschen Gesellschaft einmal nicht aufgepasst, wann hatte sich das Bild des guten ´Schutzmannes´ zum bösen ´Prügelbullen´ so wandeln können?? Manchmal haderte sie mit ihrem jungen Alter; wichtige gesellschaftspolitische Entwicklungen der Bundesrepublik hatte sie nicht mitbekommen, von Stundentenaufruhr und RAF-Terror hatte sie nur noch im Gesellschaftskundeunterricht gehört.
"Ein Problem, Frau... äh...?? Wie war doch der Name?"
Sie hörte ein sympathisches Lachen. "Kasulke. Ja, ich weiß, klingt nicht gerade bayrisch. Meine Familie stammt aus Ostpreußen. Ja, sehen Sie, das Problem ist, ich darf Ihnen den Namen jener Person nicht nennen. Sie wissen schon.... Schweigepflicht. Und ich weiß, nur aus reiner Nächstenliebe wird er sich nicht bei Ihnen melden. Die Frage ist, ob Sie eventuell zu einer kleinen Gegenleistung bereit wären? Eine Auskunft...?"
"Sie verlangen viel, Frau Kasulke. Sagen Sie ihrem Freund, so geht das nicht. Wir sind hier kein Detektivbüro..."
Schweigen. Die Frau zog die Nase hoch, das konnte man hören. Ob ärgerlich oder einfach nur verschnupft, das konnte man nicht hören. "Dann tut es mir leid, Sie belästigt zu haben. Auf Wiederhören..."

"Warten Sie!! Bitte legen Sie nicht auf!" Wimmer beeilte sich, einen anderen Ton anzuschlagen. "Bitte... verstehen Sie, ich möchte diese Sache endlich aufklären. Bis heute sind wir im Unklaren darüber, ob es sich um Mord und Totschlag, oder nur um einen furchtbaren Unglücksfall handelt. Es gibt Indizien, die für das Einwirken einer zweiten Person sprechen." Sie machte eine Pause, musste Luft holen. "Bitte glauben Sie mir, ich habe Ihnen jetzt schon mehr gesagt, als ich es hätte tun dürfen. Sie sind die erste Person, die mir etwas Hoffnung macht."
"Frau Wimmer.... Vielleicht hören Sie sich erst einmal an, wobei Sie helfen könnten. Mein Bekannter sucht eine Person, ein ganz mieses, dreckiges Schwein, das sein Leben zerstört hat. Wie und wann, das kann er ihnen einmal selber sagen, wenn sie ihn treffen. Aber glauben Sie mir bitte, wenn Sie dabei helfen wollen, dann werden Sie einem Verbrecher das Handwerk legen, der sicherlich viele Leben zerstört hat! Bitte helfen Sie meinem Bekannten! Dann wird er Ihnen helfen, da bin ich mir sicher!"
Wimmer zögerte mit ihrer Antwort. So etwas wie das hier hatte sie noch nicht gehabt. Wie sollte sie sich verhalten? Sie sah sich um, aber Brunos Schreibtisch war immer noch verwaist. Die Leitung der Abteilung wurde vorübergehend von einer anderen Abteilung übernommen. "Sprechen Sie! Wobei, meinen Sie, dass ich helfen kann?"
"Mein Bekannter sucht einen ehemaligen Lehrer. Es gab da... in seinem früheren Internat.... Er möchte den Herrn gern wiedertreffen."
"Ein Lehrer?" Kommissarin Wimmer wurde ein ungutes Gefühl nicht los. "Hat er denn schon einmal bei seiner Schule nachgefragt? Um welche Schule handelt es sich denn?"
Evelyn nannte ihr den Namen der Schule.
"Ah, ja, ich habe davon gehört. Das Internat hat einen guten Ruf," antwortete die Beamtin.
"Ja, der gute Ruf.... Er wird nicht ewig Bestand haben," murmelte die Sanitäterin.
"Es dreht sich also um einen Lehrer dieser Einrichtung?"
"Ja... aber mehr noch..." Evelyns Stimme zitterte.
"Mehr noch? Wie soll ich das verstehen? Ich nehme an, dieser Lehrer arbeitet jetzt nicht mehr dort? Und weshalb genau...."
"Das kann mein Bekannter Ihnen selbst sagen!" unterbrach Evelyn sie. "Aber Sie haben recht. Der Mann war nicht nur Lehrer. Er war Bruder...."
"Bruder? Bruder von wem? Von Ihrem Bekannten vielleicht? Ist es eine Familienangelegenheit?"
"Nein, Frau Wimmer. Nein, das ist es nicht. Er war Ordensbruder. So etwas wie ein Mönch. Aber nicht genau dasselbe."
Wimmer hatte aufmerksam zugehört. Ihr ungutes Gefühl verstärkte sich augenblicklich, als sie von dem Ordensbruder erfuhr. Energisch nahm sie ihren Stift wieder zur Hand und schrieb erst den Namen des Internats, dann das Wort Bruder auf ihren Block. "Haben Sie einen Namen für mich, Frau Kasulke? Nachfragen kostet ja nichts!"
"Ja. Ja, natürlich gibt es einen Namen. Pater Ruprecht." Die Anruferin nannte auch den ungefähren Zeitraum der Anstellung des Paters.
"Gut. Ich werde sehen, was sich tun lässt. Aber versprechen kann ich Ihnen gar nichts. Auch wir haben mit dem Datenschutz zu kämpfen! Frau Kasulke? Sagen Sie Ihrem Bekannten, es ist nicht gut, diese zwei Dinge miteinander so zu verknüpfen! Es geht mich nichts an, warum Ihr Bekannter seinen ehemaligen Lehrer sucht, aber ich will hoffen, dass es dabei nicht um die Vorbereitung einer Straftat geht. Also, Lehrer-bashing weil man Latein nicht mochte, das geht nicht. Geben Sie mir ein, zwei Tage Zeit und rufen Sie mich dann wieder an. Sicherlich können Sie dann ein Treffen von mir mit Ihrem Bekannten arrangieren."
Evelyn Kasulke atmete auf. Sie hatte nicht geglaubt, dass es funktionieren würde. Ihr Gedanke, die Kommissarin in Klaus´ Suche nach Pater Ruprecht einzubinden, war eigentlich vollkommen hirnrissig. Aber sie hatte es versucht und sicherlich würde es am Ende gut ausgehen. Und Klaus stünde nun in der Schuld der Kriminalbeamtin; er würde bestimmt dazu beitragen, dass Danielas Todesfall aufgeklärt werden konnte. Sie versicherte der Beamtin noch einmal, dass es nicht um Rache an einem Lehrer ging, bald würde sie den Hintergrund der Suchaktion erfahren. Sie bedankte sich für das Gespräch und legte auf.

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maximilian24
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:08.12.16 22:57 IP: gespeichert Moderator melden


Wenn Frau Wimmer draufkommt, was es mit dem Pater auf sich hat, werden bei ihr ein paar Glöcklein zu klingen beginnen!
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:09.12.16 08:12 IP: gespeichert Moderator melden


Sehr spannend und bewegend ist auch die Darstellung der Zerissenheit von Klaus/Barbara/Nicole. Daniela wird wohl die geneigten Leser bis zuletzt darüber im Unklaren lassen, wie sich da das Pendel neigen wird...
Und wer sich jetzt einmal den bisherigen Verlauf der Geschichte revue passieren läßt, für den tuen sich einige Handlungsstränge auf:
- die Selbstfindung um Klaus/Nicole,
- die Beziehung zwischen den beiden Beamten,
- das Problem um Ordensbruder Ruprecht,
- was ist dem neu gewählten Pabst (1. Kapitel),
- wird Andrea etwas unternehmen und seinen Schützling wieder zu erhaschen...,
- die familiäre Problemtatik von Klaus/Barbara (Lehnchen, Mama)
- und nicht zuletzt die Aufklärung der tragischen Ereignisse um Daniela aus Teil 3...
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Daniela 20
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:11.12.16 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


Schon der 3. Advent!! Kann gar nicht glauben, wie schnell mal wieder die Zeit vergeht. Und dass ich bereits vor sechs Jahren den ersten Teil "Herbstferien" veröffentlicht hatte! Übrigens möchte ich meine Leser, die neu hinzugekommen sind, noch einmal auffordern, die drei ersten Teile ´Herbstferien´, ´Frust´ und ´Agonie´ zu lesen, nur so wird man tiefergreifende Zusammenhänge verstehen können.

Vielen Dank denjenigen, die mitfiebern und mir geschrieben haben! Ich freue mich immer zu sehen, dass die lange Geschichte um Klaus und andere Protagonisten gut ankommt und mehr anregt, als nur.... nun, Ihr wisst hoffentlich, was gemeint ist!
Ich muss darauf aufmerksam machen, dass die nächsten beiden Fortsetzungen möglicherweise nicht, wie üblich, am Sonntagabend um 22 Uhr kommen. Ich habe jetzt, über Weihnachten, einige Dinge, die mich eventuell davon abbringen könnten. Ihr müsst einfach mal schauen, ob es klappt, oder nicht! Jetzt aber wünsche ich für den nächsten Abschnitt gute Unterhaltung!

Eure Daniela 20
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"Du hast WAS gemacht, Lyn? Ohne das vorher mit mir zu besprechen?" Klaus war außer sich. "Du kannst doch nicht einfach...!?"
"Irgendwo musste ja mal ein Anfang gemacht werden!" Evelyn verteidigte sich. "Klaus, nun mal ehrlich: Du hattest doch selbst gesagt, es sei wichtig, in deinem Leben aufzuräumen! Und dieser beschissene Pater gehört ja wohl dazu! Was er mit dir, und sicherlich vielen andern Jungen gemacht hat, das ist eine Straftat. Ich persönlich weiß nun wirklich nicht, was schlimmer ist, Mord oder Pädophilie?"
Klaus hatte sich schon wieder beruhigt. "Also, das ist ja wohl keine Frage! Ist doch wohl glockenklar, dass Mord schlimmer ist!"
"Wie man es so sieht, Klaus. Weißt du, der Ermordete hat es ja, zynisch ausgedrückt, nach der Tat hinter sich. Der Mensch aber, der als Kind von einem Erwachsenen missbraucht wurde, der schleppt das sein ganzes Leben mit sich herum. Der wird NIE wirklich glücklich werden können! Und überhaupt, nur weil diese miesen Kerle ihr verdammtes Sexualleben nicht steuern können! Für mich gehörten die alle lebenslang eingelocht...."
"...oder wenigstens in einen soliden Keuschheitsgürtel und dann Schlüssel wegwerfen!", kompletierte Klaus ihren Satz. "Ja, hast ja recht. Ich habe ja Glück, dass ich es mit dir bequatschen kann, was der da damals im Internat mit mir gemacht hat. Möchte bloß mal wissen, was der dazu sagen würde, wenn man den mal zu fassen bekäme?"
Beide blieben eine Weile still sitzen.
"Vielleicht kannst du es ja bald...?", nahm Evelyn den Faden wieder auf.
Klaus zuckte mit den Schultern. "Vielleicht, Lynn. Bin mir gar nicht so sicher, ob ich den Kerl wirklich wiedersehen möchte. Ich wüsste nicht, ob ich mich dann beherrschen kann."
"Ja. Aber ich glaube trotzdem, du solltest ihn ausfindig machen. Bestimmt ist der immer noch aktiv! Einmal ein Pädo-Schwein, immer ein Pädo-Schwein! Wie lange ist das jetzt her? Tot wird er ja wohl noch nicht sein?"
Klaus rechnete schnell nach. "Es muss jetzt zehn, elf Jahre her sein. Wir waren ja in der Sexta, erste Klasse im Gymnasium. Ja, ist schon gut möglich, dass der immer noch kleine Jungs misshandelt!"
"Siehst du! Allein das reicht doch schon, ihn ausfindig zu machen. Wetten, dass es gelingt, den fertigzumachen?" Evelyn war sich selber nicht so sicher, was genau sie unter fertigmachen verstand. Aber es durfte einfach nicht angehen, dass man weiterhin einfach wegsah.

"Und du glaubst wirklich, diese Kommissarin kann da was rausfinden? Und dass ich mich dann mit ihr treffen soll? Und woher soll ich denn wissen, dass sie es überhaupt ist? Da kann ja jeder kommen...."
"Na, du hast sie doch im Fernsehen gesehen? Ist ja wohl erst einen Monat her! Ich kann ihr ja einfach sagen, sie soll genauso kommen, wie du sie im Fernsehen gesehen hattest. Ich hab die Sendung nicht gesehen, aber das dürfte ja wohl zu machen sein. Also ich sehe da kein Problem."
"Meinst du?" Klaus lächelte. Er hatte immer wieder mal das Bild dieser Kommissarin vor seinem geistigen Auge hervorgeholt. Ein Bild, das ihm gut gefallen hatte: das hübsche Dirndl, das ihre Figur so hervorhob.... und dann - diese breite Kette.... Er hatte sofort gewusst, was für eine Kette es war. Er hatte sie an Daniela gesehen, er hatte sie an Monika gesehen. Und nicht zuletzt an ´Barbara´, beziehungsweise ´Nicole´. "Ja, doch, das ist ein guter Vorschlag! Sag es ihr so! Ich werde ein schönes Straßencafé in der Innenstadt vorschlagen, dort soll sie auf mich warten! Ich bin mir auch sicher, dass ich ihr eine ganze Menge über jenen Abend auf der GeiDi-Gaudi berichten kann. Ich möchte ja auch endlich wissen, wer die Kleine war, die das gemacht hatte!!"

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"Schön, dass Sie heute wieder kommen konnten! Und es scheint, dass Sie diesmal mehr Glück haben!" Es war die übliche Begrüßung, fand Klaus. Aber die Aussicht, seine Großmutter diesmal in wachem Zustand vorfinden zu können, war eine erfreuliche Neuigkeit. Er würde Fragen stellen können, und er würde Antworten erhalten.
Er kannte den Weg jetzt, war er doch inzwischen mehrmals hier gewesen. Leise klopfte er an die in hellem Holz gehaltene Tür, aber als kein lautes ´Herein!´ ertönte wurde er etwas unsicher. Vorsichtig öffnete er, steckte zuerst nur den Kopf ins Zimmer, fast so, als erwarte er eine Art Surprise-Party seiner Oma. Diese aber kam nicht lärmend hervorgesprungen, sie saß auch nicht handarbeitend im Sessel, sondern lag, wie immer, wie ein kleines Bündel Mensch zusammengerollt in ihrem Bett. Die dünne Decke war etwas heruntergerutscht; Klaus nahm sie auf und deckte die schwache Gestalt erneut zu.
Sie rührte sich. Ein schwaches Zittern durchlief ihren Körper. Es folgte ein kurzes, heftiges Schnaufen, dann ein hohles Husten.
"Großmutter??"
Nichts. Hatte sie ihn denn überhaupt gehört? Vielleicht sollte er lauter reden? Aber er scheute sich davor, nahm statt dessen ihre knöcherne Hand mit der fast durchsichtigen Haut in seine Hand und drückte sie vorsichtig.
Diesmal drückte sie zurück. Kaum wahrnehmbar, aber doch... ja, da war es noch einmal. Sie hatte reagiert.
"Großmutter? Wie geht es dir? Bist du wach? Ich bin es, Klaus!"
Ihr Kopf bewegte sich, aber sie hielt die Augen geschlossen. "Bub...."
Tränen schossen ihm in die Augen. ´Bub´, so hatte sie ihn immer genannt. Bis er vor einem Jahr alles, aber wirklich auch alles durcheinander gebracht hatte. Diese Geschichte mit ´Barbara´. Er nahm sein Taschentuch hervor, schneuzte sich; er fühlte sich schuldig.
"Ja, Oma. Ich bin heute zu dir gekommen, um..."
Die Gesichtszüge seiner Großmutter entspannten sich. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. "Magst mich heimholen, Bub?" Ihr Kopf fiel wieder zur Seite.
"Sch....! Streng dich nicht an, Oma! Ja, alles wird gut! Wirst bald wieder nach Hause kommen." Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er blieb eine Weile ruhig sitzen, bemerkte die ruhigen Atemzüge seiner Oma; sie war wieder eingeschlafen.
Eine Pflegerin blickte zur Tür hinein. "Sie schläft! Kommen Sie morgen wieder! Heute wollen wir sie lieber schlafen lassen!"
Klaus stand auf. Fühlte sich zerschlagen. Es war seine Schuld, dass alles so gekommen war. Er spürte den Überlebenskampf seiner Oma; er wusste, dass sie ihn diesmal verlieren würde. Bald stünde er ganz allein da.

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"Haben Sie etwas herausgefunden?" Die leicht aggressive Gesprächseröffnung der Anruferin irritierte Kriminalkommissarin Wimmer. Schließlich hatte sie anderes zu tun, als irgendwelchen Lehrern hinterherzutelefonieren. Es war klar, dass es so nicht ging; sie musste mit einer Gegenfrage antworten.
"Haben Sie mit Ihrem Bekannten gesprochen, Frau Kasulke? Und haben Sie ihm klargemacht, dass ich von diesem Geschachere nichts halte?"
"Ja, das habe ich. Ich muss das übrigens auf meine Kappe nehmen, Frau Kommissarin. Es war meine Idee, nicht seine. Aber glauben Sie mir bitte, sobald Sie mehr darüber gehört haben, werden Sie verstehen, dass es nicht verkehrt von Ihnen war, auf dieses ´Geschachere´ einzugehen."
Es war einfacher gewesen, als sie selber geglaubt hätte. Im Grunde genommen hatte sie nur bei dem katholischen Internat angerufen, sich als Münchner Kommissarin Wimmer ausgewiesen und um einen Namen und eine Adresse gebeten. Nichts einfacher als das. Es war schon leicht unheimlich, wie dienstwillig manche Menschen waren, sobald sie glaubten, es mit der Polizei zu tun zu haben. Normal wäre ein telefonischer Rückruf gewesen, andernfalls könne ja jeder behaupten, bei der Polizei zu sein.
Ja, hatte die Schulsekretärin gesagt, da müsse sie wohl einmal in die Akten schauen... wann genau soll das gewesen sein? Und weshalb bitte...? Wimmer hatte sie unterbrochen und gesagt, darüber dürfe sie keine Auskunft geben... ein laufendes Verfahren, Sie wissen schon... Es hatte einige Zeit gedauert, bis die Sekretärin zurück ans Telefon kam. Ja, das stimmt, hier habe sie ihn. Ein Pater, der kurzfristig einen krankgemeldeten Kollegen ersetzt hatte. Latein habe dieser unterrichtet. Das sei 2002 gewesen, also schon ein paar Jahre her. Nein, eine Adresse habe sie leider nicht, wohl aber den Namen.... Pater Ruprecht Monaci, PDF... was auch immer das heißen möge. Wahrscheinlich sein Orden... oder aber auch nicht. Wenn sie wolle, dann würde sie mal bei den damaligen Lehrerkollegen nachfragen, ob jemand wisse, was aus ihm geworden sei? Ja? Kein Problem, hatte sie gesagt, der Polizei helfe man doch gern.

Natürlich hatte Ingeborg Wimmer sogleich in den Unterlagen des Münchner Melderegisters nachgesehen, hatte ihre Suche schließlich auf halb Bayern ausgedehnt, aber nichts gefunden. Auch der Zusatz PDF hatte rein gar nichts ergeben. Eine Anfrage lief noch beim Erzbischof, aber sie hatte wenig Hoffnung auf Erfolg.
"Vielleicht haben Sie recht, Frau Kasulke. Es ist Ihnen hoffentlich klar, dass ich ohne einen begründeten Anfangsverdacht keine Ermittlungen aufnehmen darf. Ich komme in Teufels Küche, wenn wir hier mit polizeilichen Maßnahmen einem unbescholtenen Bürger hinterher..."
Evelyn Kasulke unterbrach sie. "Da können Sie ganz beruhigt sein, Frau Wimmer. Aber von ´unbescholtenem Bürger´ kann hier wirklich keine Rede sein! Sie werden es erfahren, wenn Sie sich mit meinem Bekannten treffen. Also Sie haben etwas herausgefunden?"
Viel war es nicht, aber Wimmer entschied sich, die Sache weiter zu verfolgen. "Ja, das habe ich. Wie geht es nun weiter? "
Evelyn schlug das Straßencafé und einen Zeitpunkt vor, den Klaus ihr genannt hatte. "Das klingt ja reichlich konspirativ, Frau Kasulke. Warum so kompliziert?"
"Ach, nur so. Was soll man denn in einem muffigen Büro sitzen, wenn man es genauso gut draußen machen kann. Verstehen Sie, es werden Dinge zur Sprache kommen, die nicht einfach so genannt werden können. Es bedarf einer gewissen Atmosphäre, einer Möglichkeit, wegzulaufen, wenn es zu schlimm wird. In Ihrem Büro wird das nicht gehen...."
Ingeborg Wimmer hatte so langsam Lust, den Hörer aufzulegen und alles als dummes Getue abzufertigen. Aber sie hatte nur diesen einen Zeugen. "Also gut. Ich werde da sein."
"Danke. Danke für Ihr Vertrauen, Frau Wimmer." Das klang ehrlich. "Aber mein Bekannter hat da noch ein ganz kleines Problem..."
Noch ein Problem!! "Und das wäre?"
"Er kennt Sie ja nur von dieser Fernsehsendung. Und hat irgendwie Angst, er könnte an die falsche Person geraten. Deshalb bittet er Sie, sie möchten bitte genauso kommen, wie er sie im Fernsehen gesehen hat. Dann wird er Ihnen Rede und Antwort stehen. Ich weiß, er wird Licht in den Fall bringen können!"
"Wie bitte? Was soll ich??" Spätestens jetzt glaubte Wimmer an einen derben Scherz. Versteckte Kamera, oder so etwas.
"Ja, bitte! Ist das ein Problem? Ich hoffe, Sie wissen noch, was Sie in der Sendung angehabt hatten! Also, viel Glück, Frau Wimmer. Ich habe nun nichts mehr damit zu tun.... ich bin raus, wie man so schön sagt. Und noch einmal danke, dass sie mitmachen!" Aufgelegt.

Wimmer saß da, den Hörer noch in der Hand. Das laute Tuten schien sie gar nicht zu hören. ´Genauso... wie .... in ... der ... Sendung?´ Oh ja, sie wusste noch, was sie an dem Abend getragen hatte. Nein, nein, das war ja total verrückt. Ohne sie! Da würde sie nie mitmachen! Niemals!

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Der Rückruf der Sekretärin kam völlig unerwartet. "Ja, Wimmer am Apparat. Schön, dass Sie zurückrufen. Ich darf davon ausgehen, dass Sie Neuigkeiten für mich haben?"
"Nun ja, Neuigkeiten. Ich hatte Ihnen ja gesagt, ich wollte mich einmal bei einigen der Lehrer umhören, die damals schon im Kollegium waren."
"Ja, das sagten Sie..." Wimmer hatte schon wieder ihren Bleistift zur Hand genommen. Wenn sie etwas wirklich nervte, dann waren es Leute, die einfach nicht zu Potte kamen, wie man so schön sagte.
"Und stellen Sie sich vor, ich habe tatsächlich Glück gehabt!" Pause.
Erwartete die dumme Kuh jetzt gar ein Lob von ihr?? Oh, bitte, nicht das...! "Was Sie nicht sagen! Also deswegen rufen Sie an. Da bin ich mal gespannt. Haben Sie eine Adresse für mich?"
"Ach, nein, da muss ich Sie jetzt aber doch enttäuschen. Eine Adresse habe ich leider nicht für Sie..."
Gleich würde sie ihr die Augen auskratzen, dachte Wimmer. Leise stöhnte sie auf. Leider nicht leise genug.
"Oh, ist Ihnen nicht gut? Soll ich lieber ein andermal anrufen?" Hörte man so etwas wie Mitgefühl heraus?
Langsam wurde ihr klar, warum sie nie Lust gehabt hatte, Sekretärin zu werden. Dieses Ich-bin-wichtig-Getue. Diese Arroganz. Dennoch zwang sie sich, höflich zu bleiben. "Nein, nein, es geht schon. Kein Problem. Was haben Sie denn nun herausgefunden? Ich bin mir sicher, es wird meine Arbeit merkbar erleichtern!"
Es half. Die Sekretärin war zufriedengestellt. Sie kritzelte die Information nieder, stockte dann aber. Das hier wurde mysteriös. Ein Wortspiel fiel ihr ein... Die Spatzen pfeifen´s von den Dächern! Sie würde ihren Suchradius erweitern müssen. Und sie würde zu diesem Treffen mit dem angeblichen Zeugen gehen müssen. Sicherlich nur ein Trittbrettfahrer, dachte sie. Jemand, der sie im Fernsehen gesehen hatte und nun auf ein date mit ihr hoffte. Irgendso ein verklemmter Typ. Oder doch nicht??

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Nervös sah sie auf ihre Uhr. Hatte sie sich verspätet? Sie hatte einen der Tische vor dem Café genommen, ganz so, wie es gewünscht worden war. Und sie war über ihren eigenen Schatten gesprungen. Wirklich wohl fühlte sie sich nicht. Das Mieder schien seit dem letzten Monat enger geworden zu sein, ihr Rock wurde ab und zu von einem Luftzug angehoben; sie glättete ihn jedes Mal so gut es ging.

Nein, verspätet hatte sie sich nicht. Sie war sogar eine Viertelstunde eher gekommen, und jetzt war bereits eine halbe Stunde vergangen. Der Zeuge, mit dem sie sich hätte treffen sollen, war noch nicht erschienen. Nun ja, konnte ja vorkommen.
Verstohlen sah sie sich um. Der Mann dort hinten, einige Tische weiter, hatte sie immer wieder unverhohlen angesehen. Aber war das mehr als nur der Blick eines notgeilen Mannes gewesen? Würde er gleich aufstehen und sich zu ihr setzen? Nein. Er blieb sitzen.
Wartete sie überhaupt auf einen Mann? Die Sanitäterin, die bisher den Kontakt hergestellt hatte, hatte von einem Bekannten gesprochen. Aber vielleicht hatte sie ein wenig gelogen, um die Identität des Zeugen oder der Zeugin zu schützen??
Sie hatte sich auf das Treffen vorbereitet. Hatte im Präsidium noch einmal die Akten der ersten Zeugenvernehmung durchgelesen. Wovon hatten die Garderobefrauen gesprochen? Richtig! Von einer Auseinandersetzung, die das Opfer noch gehabt habe. Sogar einen Namen wusste man: Barbara. Aber man hatte diese Barbara nie ausfindig machen können. Wie vom Erdboden verschwunden...
Wimmer hatte sich ihre Gedanken gemacht. War diese Barbara eventuell die gesuchte Zeugin? Ihre Theorie war nicht von der Hand zu weisen. Sie sah sich um. Einzelne junge Frauen waren nicht zu sehen. Wohl aber schräg hinter ihr, da saßen zwei Frauen. Vielleicht die Sanitäterin mit dieser Barbara??
Aber nichts geschah. Niemand kam, niemand gesellte sich zu ihr.
Wie lange sollte sie noch warten? Sie fühlte sich unwohl in ihrem Dirndl. Exponiert. Gut, ja, Dirndl waren nun wirklich nichts Ungewöhnliches hier in München. Immer wieder sah man Frauen im Dirndl. In der Regel waren es nicht mehr so ganz junge Frauen, oftmals Bedienungen in den typischen Gaststätten; die Gäste erwarteten einfach das bayrische Ambiente, insbesondere Gäste aus Übersee, Japaner und Chinesen hatten den US-Amerikanern schon längst den Rang abgelaufen. Und spätestens ab September sah man dann verstärkt auch junge Frauen im Dirndl, dann, wenn die Hochsaison von Oktoberfest und GeiDi-Gaudi wieder begann.
Dieses verrückte Sauf-Fest!! Ihre Gedanken wanderten ab. Letztes Jahr hatten sie und ihr Chef geglaubt, der Täter würde sich eventuell auf einem der nachfolgenden Feste noch einmal blicken lassen. Sie war auf Brunos Bitten hin als Under-cover-Agent zur GeiDi-Gaudi gegangen. Hatte sich einen langen Abend um die Ohren geschlagen, an dem nichts passiert war. Außer ein wenig Busen- und Pograpschern. Harmlos war es gewesen. Und dieser teuflische Vibrator, den sie bei dem toten Mädchen gefunden hatten, und den sie bei sich hatte, war nicht ferngesteuert zum Leben erwacht.
Ein Junge näherte sich ihrem Tisch. Sie schenkte ihm keine Beachtung, ein zwölfjähriges Kind würde wohl nicht der erwartete Zeuge sein. Der Junge ging zur Tür des Cafés, sie verlor ihn aus den Augen, dann aber hörte sie schnelle Laufschritte, er schoss an ihr vorbei, legte in aller Eile ein Papier auf den Tisch.... schon war er in der Menge verschwunden.

Was war das? Einen Augenblick hatte sie Angst, er könnte es auf ihr Handy abgesehen haben, dann aber sah sie den Zettel. Er war beschrieben... eine Botschaft für sie?? Sie faltete ihn auseinander. Sie sollten doch genauso kommen, wie in der Fernsehsendung! Sind Sie aber nicht! So wird das nichts! Meine Bekannte wird Sie anrufen....! Was war das jetzt? Es war klar, der Junge hatte nur diese Botschaft überbracht, ihn brauchte sie nicht zu suchen. Wahrscheinlich hatte man ihm fünf Euro in die Hand gedrückt, wenn er mal einen Zettel ablieferte.
Aber jetzt sah sie ein, dass man sie beobachtet hatte. Nur... wieso sollte sie nicht so gekleidet sein, wie bei der Fernsehsendung? Langsam wurde ihr das doch alles zuviel! Sie bezahlte und machte sich auf den Heimweg.


München, Ende August

"Langsam, junger Mann! Geben Sie Ihrer Großmutter Zeit! Sie sehen doch, sie berappelt sich so allmählich! Sie werden sehen, nächstes Mal wird sie mit nach Hause wollen!" Die Pflegerin hatte ihm Mut gemacht. Oder hatte sie ihm doch nur etwas vorgeschwindelt? Wie stand es wirklich um die Gesundheit seiner Großmutter?

Klaus hatte sie in den letzten Tagen immer wieder besucht, hatte wahre Engelsgeduld bewiesen, wohl wissend, dass alles auf der Kippe stand. War sie zu Beginn kaum ansprechbar gewesen, so wurden ihre klaren Momente in den letzten Tagen immer häufiger; die alte Dame gab eindeutig Lebenszeichen von sich. Schließlich begann sie zu sprechen, ein schwaches Flüstern nur, aber, wenn er sich Mühe gab und sich dicht zu ihr hinunterbeugte, doch einigermaßen zu verstehen.
Er konnte es bald nicht länger hinauszögern. Er musste es jetzt wissen, wer diese Lenchen sein sollte. Immer wieder hatte er im Geist die Worte seiner Mutter gehört, dieses Willst-du-mich-auch-umbringen?, hastig hatte sie es hervorgestoßen, es musste wirklich geschehen sein, aber in seiner Erinnerung war nichts außer schwarzer Leere, verborgen hinter einer Mauer, die er beim besten Willen nicht übersteigen konnte.
Er hatte ihr wieder einmal von Italien erzählt, von jenem Bella Italia, welches er selber nie gefunden hatte. Als kleines Kind schon war er mit den Eltern nach Rom gekommen, es war keine glückliche Zeit, er erinnerte sich dunkel an Wortgefechte, Türenschlagen, leere Weinflaschen. Bis der Vater sie verlassen hatte, nach München zurückgezogen war und die Scheidung eingereicht hatte. Danach hatte er den Kontakt zum Vater gänzlich verloren. Und ihn auch nicht wieder aufgenommen, als er selber, um in Deutschland eingeschult zu werden, zu seiner Oma nach München zurückgekehrt war.

Ein Monolog, dachte er. Das ist doch ein ganz verdammter Monolog. Manchmal sah er die Oma lächeln, wenn er von schattigen Parks und blühenden Orangenbäumen erzählte, aber es war ein stilles, ein verborgenes Lächeln. So, als käme es bereits aus einer anderen Welt zu ihm hinüber.
Er wusste, von Italien hatte die Oma immer geschwärmt, aber sie war nie hingekommen. Damals nicht, als die Jahre nach dem verlorenen Krieg wieder gut, die Welt wieder heile wurde, als sie, wie sie erzählt hatte, mit wehendem Petticoat auf ihrem Heinkel Tourist Motorroller ganz Bayern erkundet hatte, und später auch nicht, als sie mit der kleinen Tochter allein saß, weil ihr Verlobter, ein amerikanischer Soldat, abgezogen und versetzt worden war. Vietnam? Klaus wusste es nicht mehr; es war auch egal.

Er nahm sich ein Herz. Jetzt oder nie, dachte er. Seine Großmutter wirkte entspannt und zufrieden, sie würde ihm sagen können, was er wissen wollte.
"Oma? Ich muss dich etwas fragen. Sag mir bitte, was weißt du von Lenchen? Mutter hatte ihren Namen erwähnt, als ich bei ihr war."
Er wartete. Lauschte ihren ruhigen Atemzügen; sie war wieder eingeschlafen.
Es war Zeit, zu gehen. Im Moment lief wohl alles schief.

% % %

"Frau Wimmer? Ja, es tut mir leid. Ich soll Sie grüßen.... mein Bekannter konnte leider nicht zum vereinbarten Treffen mit Ihnen kommen."
"Er ist hoffentlich nicht krank geworden?" Die Kommissarin bemühte sich, ihrer Stimme ruhige Gelassenheit zu geben. Sie wusste, es war eine Lüge. Oder aber die Sanitäterin wusste es wirklich nicht besser.
"Nein. Nein, es war ihm etwas dazwischengekommen. Und er lässt Sie fragen, ob Sie eventuell noch einmal Zeit für ihn hätten?"
Ingeborg Wimmer antwortete nicht. Sie hatte lange darüber nachgedacht, inwiefern sie zum ersten, missglückten, Treffen nicht dasselbe getragen hatte, wie bei der Aufzeichnung fürs Fernsehen. Bis es ihr schließlich eingefallen war. Die Kette!
Die breite, silbern glänzende Kette! Man hatte sie wegen störender Reflexe extra abdecken müssen. Die Kette für ihren Keuschheits-BH.
"Frau Wimmer? Sind Sie noch da?"
"Ja, entschuldigen Sie bitte. Ich war kurz abgelenkt. Ich...., ja...."
"Schon okay!"

Plötzlich fiel ihr etwas ein. "Frau Kasulke? Sagen Sie, sagt Ihnen die Abkürzung PDF etwas? Können Sie damit etwas anfangen?"
"PDF? Pädofil vielleicht?"
"Nein. Nein, ich glaube nicht. Schreibt sich ja auch mit ph, nicht wahr? Sonst wissen Sie also auch nichts?"
"Nein, nicht wirklich. Worum handelt es sich denn? Es gibt so ein Schriftformat für PCs, die pdf-Dokumente. Könnte es das sein?"
"Ja, vielleicht. Vielleicht ist es das. Dankeschön." Sie wollte sich keine Blöße geben. Sie würde schon noch herausfinden, was dieser Zusatz hinterm Namen von Pater Ruprecht Monaci bedeutete.
"Also...?" Die Sanitäterin drängelte etwas.
"Also.... was?"
"Werden Sie meinem Bekannten eine weitere Chance geben? Er ist sehr gespannt zu hören, was Sie herausgefunden haben!"
"Frau Kasulke! Ja, ja ich werde noch einmal zu jenem Café kommen! Aber teilen Sie Ihrem Bekannten doch bitte mit, es geht bei diesem Treffen nicht in erster Linie darum, was ich über einen ehemaligen Lehrer herausgefunden habe, sondern welche Zeugenaussage er bei mir machen kann. Die ganze Sache ist schon verrückt genug und ich bewege mich hier am Rande der Legalität!"
"Legalität?" Evelyn Kasulke lachte heiser auf. "Wer glaubt denn heute noch, dass die Untersuchungsbehörden wirklich legal arbeiten? Oder haben Sie noch nichts von Edward Snowden gehört?"
"Doch, Frau Kasulke, das habe ich. Aber wir sind hier nicht bei der NSA, sondern bei der Münchner Kripo! Vergessen Sie das bitte nicht! Unser Rechtstaat beruht auf demokratischen Prinzipien, was drüben in den Staaten gemacht wird, das vermag ich nicht zu beurteilen. Vergessen Sie nicht, wir leben in einer Welt völlig durchgeknallter Extremisten, ein Menschenleben bedeutet für die rein gar nichts. Und mir persönlich ist es lieber, man greift diese Leute auf, bevor sie ihre mörderischen Pläne in die Tat umsetzen, und von mir aus mittels ungesetzlichen Abhörens! Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte! Teilen Sie ihrem Bekannten mit, ich werde für ihn da sein. Aber ich werde nicht ewig warten! Guten Tag!"

Sie knallte den Hörer ihres Dienstapparates heftiger auf die Gabel, als sie es gewollt hatte. Aber sie hatte sich in Rage geredet, war wütend geworden, wütend auf.... auf..... eigentlich auf alle! Wie alle Polizeibeamten wünschte sie sich, auch nur einmal Unrecht, Mord und Totschlag verhindern zu können. Aber immer rief man sie erst, wenn es zu spät war, wenn Menschen wegen lumpiger Beträge ermordet wurden, wenn Frauen aus sexistischen Gründen erdrosselt wurden, wenn Kinder angebliche Treppen heruntergefallen waren. Ein Verbrechen aufzuklären mochte eine schöne Sache sein, aber es befriedigte sie eigentlich nie. Eines wenigstens einmal verhindern zu können, das wäre etwas, das würde sie glücklich machen. Einmal so einem Wichser die Kanone vor die blutige Fresse halten und Come on, make my day! rufen zu können...

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"Und du glaubst wirklich, dass sie etwas für mich hat?" Klaus und Evelyn hatten es sich im Garten seiner Oma gemütlich gemacht. Ganz in der Nähe jenes Apfelbaums, in dessen Zweigen er sich vor gut zwei Jahren versteckt hatte. Seine unkontrollierte Neugier hatte ihn letzten Endes an den Rand des Abgrundes gebracht. Immer noch sah er die Buchstaben vor sich, geschrieben mit leuchtend rotem Lippenstift, wie er vermutete, auf den Allerwertesten eines so gut wie hilflosen Mädchens: 18.15 St. PP. Das Mädchen war Daniela, die damals ihre Herbstferien bei der Tante in München verbrachte und allzu schnell ein Opfer für Monikas bizarre Spielchen geworden war. Monika, die Nachbarstochter, die auf der Suche nach ihrem Vater nach Australien gereist war, und Daniela, die auf der Flucht vor ihm zu Tode gekommen war.
Alles wäre anders gekommen, wäre er damals nicht in den Apfelbaum geklettert, dachte er. Und es schauderte ihn.
"Ja, ich glaube, sie hat etwas für dich. Aber sie hatte mir auch aufgetragen, dich noch einmal darauf aufmerksam zu machen, dass nicht das, was sie für dich tun kann, wichtig ist, sondern das, was du für sie tun kannst! Vergiss das bitte nicht!"
"Don´t ask what your nation can do for you, but ask what you can do for your nation!", murmelte Klaus.
"Was??" Lynn wirkte irritiert.
"Nichts. Kennedy..."
"Wer...?"
"Nichts", antwortete er nun seinerseits leicht gereizt. Es war kaum zu glauben, dass es jetzt schon Leute gab, die nicht auf Anhieb wussten, wer Kennedy gewesen war. Nun ja, er hatte sich immer für Geschichte interessiert, das war ja nicht jedermanns Sache. "Ja, schon gut. Aber ich darf ja wohl hoffen. Und natürlich werde ich der Beamtin auch dabei helfen, diese schreckliche Sache mit Daniela aufzuklären. Viel gesehen habe ich ja nicht, aber vielleicht gibt es ja andere Zeugenaussagen, und vielleicht kommt so das fehlende Puzzleteil hinzu." Er schwieg. Wenn doch bloß schon alles vorbei wäre! Er wollte alles hinter sich lassen, ein Studium beginnen, Erzieher oder so etwas in der Richtung, irgendetwas Nettes mit Kindern.
"Hauptsache du schaffst es, diesmal rechtzeitig dort zu sein. Ich glaube, die gute Frau zweifelt schon so langsam an dieser ganzen Sache hier. Wenn es wieder nicht klappt, dann kann ich auch nichts mehr tun." Sie trank einen Schluck Cola. "Sie will auf jeden Fall wieder in das Café kommen." Sie wechselte das Thema. "Sag mal, wie sieht es denn mit deiner Oma aus? Geht es ihr langsam besser? Hast du sie schon fragen können?"

Klaus blickte zur Seite. Seine Großmutter. Da hinten im Zaun, das war wohl die Stelle, an der George, oder Schorsch, wie sie ihn immer genannt hatte, immer hindurchgeschlüpft war. Ein unschuldiger Garten, dachte er. Aber gab es überhaupt ´unschuldige´ Orte? In Frankreich, dort an der Kanalküste, konnte man dort jetzt nicht am Strand liegen und die Sonne genießen? Dort, wo am 6. Juni 1944 tausende von Soldaten ums Leben gekommen waren? Und würde es ewig so weitergehen? Würden die Menschen immer wieder friedliche Gegenden in Schlachtfelder verwandeln?
"Klaus??"
"Äh, ja. Entschuldige... ich hatte nachgedacht. Die Oma? Ja, ich habe sie gefragt..." Er wirkte immer noch leicht abwesend.
"Ah, gut. Was hat sie denn geantwortet? Ist sicherlich alles nur ein dummes Missverständnis?" Evelyn hatte sich ein wenig zu ihm hinübergelehnt.
"Nichts, Lyn. Sie hat gar nichts geantwortet. Sie war wieder eingeschlafen.... sicherlich bevor sie meine Frage überhaupt gehört hatte." Er zuckte ratlos mit den Schultern.
Evelyn fiel zurück in ihre vorherige Haltung. "Oh, Mann, das tut mir leid. Du musst halt Geduld mit ihr haben!"

"Geduld! Geduld!" Klaus war aufggesprungen, hatte seinen Stuhl umgeworfen. "Immer soll ich Geduld haben! Aber ich habe keine Geduld mehr! Da behauptet meine Mutter, ich hätte jemanden umgebracht. Aber mehr sagt sie nicht. Sie hätte es nie gesagt, hätte ich sie da auf der Spanischen Treppe nicht so angerempelt! Es war ihr ja so rausgerutscht. Hinterher tat sie dann so, als hätte ich mich verhört!" Er wendete sich ab, wollte ihr nicht sein Gesicht zeigen. "Nein, Lyn, ich habe keine Geduld mehr! Es reicht mir jetzt! Ich werde meine Oma fragen, nächstes Mal, und wenn ich sie aus dem Tiefschlaf wecken müsste! Es reicht jetzt.... ich kann nicht mehr!"

Die junge Frau war unangenehm berührt. Sie überlegte, ob sie aufstehen und ihn trösten sollte, aber sie blieb sitzen. Sie wusste, es war nicht die Zeit für Trost. Jetzt war der dies irae angebrochen, der Tag des Zorns. Er würde all seine Kraft und mentale Energie brauchen, ihn zu bestehen.

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"Na, junger Mann, heute haben Sie aber wirklich Glück! Ihre Großmutter ist wach und scheint einigermaßen bei Kräften zu sein. Trotzdem - sie hob mahnend einen Zeigefinger - trotzdem denken Sie daran: hier heißt es immer Morituri te salutant! Die Totgeweihten..."
"Danke!," gab er unwirsch zurück. "Ich brauche keine Übersetzung. Soviel verstehe ich auch noch! Lassen Sie mich doch in Ruhe mit Ihren dämlichen Sprüchen!" Es tat ihm leid im selben Moment, wo er es gesagt hatte. Er schien wirklich am Ende seiner Kräfte angekommen zu sein. Außerdem irrte er zur Zeit richtungslos durch sein Leben, einige Male hatte er schon an Schlimmes gedacht. Du musst nur einen Schritt tun, oder einen Sprung, es ist so leicht. Aber noch schaffte er es nicht, noch rang er mit sich selbst, noch schien es ihm wichtiger, einen anderen Schritt zuerst zu tun. Heraus aus dem Sumpf, aus dem Dunkel.
Er hatte sich wieder im Griff, klopfte leise an die Zimmertür seiner Großmutter. Diesmal gab es, sehr überraschend, sogar eine schwache Antwort.
Er öffnete, seine Großmutter hatte sich etwas aufgesetzt. "Bub!"
Er setzte sich an ihr Bett. Wusste nicht, wie er anfangen sollte.
"Bist wieder da, ja?" Sie lächelte ihn an. "Wo bist du nur so lange gewesen?"
Er sah sie lange an. Ihre Augen sahen müde aus, schienen seinen Blick nicht aufzufangen. "Aber Oma, ich bin doch fast jeden Tag hier bei dir gewesen, seit ich aus Rom zurückgekommen bin!"
"Rom..." hauchte sie. "Christl.... Was macht meine Christl? Geht es ihr gut? Erzähl doch ein bissl..."
Also erzählte er auf ein Neues. Berichtete von seiner Mutter und von Spaziergängen in römischen Parks, die er nie gemacht hatte, weil er die meiste Zeit bei Andrea wie ein Sklave gehalten wurde. Er sah, dass es seiner Großmutter gut tat. Aber er sah auch, dass die normale Besuchszeit bald wieder zu Ende ging. Er musste es jetzt wissen.
"Großmutter, ich muss dich jetzt etwas fragen. Mutter hatte so komische Andeutungen gemacht...." Die alte Dame lag wieder ruhig da. Aber sie war wach. "Wer ist Lenchen? Oder Lena?"
Er erschrak. Seine Großmutter hatte sich wieder aufgerichtet. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. "Lenchen....," stieß sie mühsam hervor. "Du hast sie....." Sie sank zurück auf ihr Kissen, ein kleines Bündel Mensch nur noch. Sie griff sich ans Herz. "....tot....", murmelte sie noch, dann verlor sie das Bewusstsein. Klaus beeilte sich, einen Arzt zu finden, dann verließ er die Klinik.

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maximilian24
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:13.12.16 18:47 IP: gespeichert Moderator melden


Der arme Klaus!
Ich wundere mich schon darüber dass er nicht schon früher sein Leben weg geworfen hat! Hoffentlich hilft ihm Frau Wimmer!
Alt werden will jeder, alt sein aber keiner
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:15.12.16 08:22 IP: gespeichert Moderator melden


Wirklich brisant wird es vermutlich, wenn die Geschichte um Lehnchen (mit der uns Daniela hoffentlich nicht bis zuletzt auf die Folter spannt...)aufgedeckt wird. Vielleicht kommt dann zu seinen unbewältigten Erlebnissen im Internat noch etwas obendrauf, was bei ihm noch mehr Schuldgefühle auslöst. In Klaus´ seiner Haut möchte wohl niemand stecken...
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Daniela 20
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:19.12.16 19:06 IP: gespeichert Moderator melden


Endlich geht es weiter, liebe Leser! Tut mir leid, dass ich es gestern nicht geschafft hatte; eine mehrstündige Shoppingtour mit anschließendem Delirium hatte dem entgegen gestanden. Ich hoffe, das Lesen macht auch heute noch Spaß!!
So will ich nun allen eine schöne letzte Adventswoche wünschen. Ich hoffe, es am kommenden Sonntag zu schaffen, vielleicht aber schon am Heiligabend, da werde ich zumindest vormittags besser Zeit haben. Schaun mer mal!! Es grüßt Euch ganz herzlich Eure Daniela 20. Und danke für Eure Zuschriften!! Freue mich wirklich über jeden Kommentar!!
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München, Anfang September

Ihr war schlecht. Ingeborg Wimmer stand nackt vor ihrem Spiegel, neben ihr lag ein wirrer Haufen metallener Gegenstände. Sie hatte es versucht, hatte alles angezogen, hatte ihre Scham wieder mit dem stählternen Gürtel verschlossen, den Zugang zu ihren Brüsten mit den soliden Halbschalen versperrt, hatte sogar die Schenkelbänder angelegt und die kurze Verbindungskette eingehängt. Und hatte alles wieder ausgezogen.

Angewidert betrachtete sie das Dirndlkleid, welches sie schon am Abend zuvor zum Lüften rausgehängt hatte. Nein, es war einfach nicht ihre Welt. Bisher hatte sie es immer nur unter Protest angezogen, auch wenn es nur ein stiller Protest gewesen war, hatte sie sich nur dem Willen ihres Chefs gebeugt.
Bruno Rick. Der auch ihr Keykolder war.
Gewesen war, korrigierte sie sich.
Jetzt aber war alles anders. Es gab keinen Keyholder mehr. Und es gab niemanden mehr, der - nur weil er ihre Schlüssel besaß - immer die besseren Argumente auf seiner Seite wusste.

Aber es gab jenen ominösen Zeugen, diesen Mann - oder diese Frau?? - der das erste Treffen hatte platzen lassen, weil sie nicht genauso angezogen gekommen war, wie sie es bei der Fernsehsendung gewesen war. Die Kette hatte gefehlt.
Oder war es mehr als nur die Kette? Wusste die Person, dass es sich um eine Kette handelte, die sie nicht abnehmen konnte? Weil es die Haltekette ihres Keuschheits-BHs war, zu dem sie keinen Schlüssel besaß? Wer aber konnte das wissen?

Immer wieder hatte sie sich den Moment im Fernsehstudio in Erinnerung gerufen. Diese Fernsehtussie, die ihre Kette eingecremt hatte? Hatte sie nicht ein wenig an der Kette gezogen, hätte sie nicht merken können, dass es alles andere als eine hübsche Halskette war? Konnte es eventuell diese Frau sein, die ein Treffen mit ihr wünschte?
Nein, Quatsch. Das ergab gar keinen Sinn. Für wen sollte dann die Nachfrage bei der Schule sein? Ein reines Jungeninternat. Oder doch? Konnte es diese Barbara sein, die von Zeugen beschrieben worden war? Nein, das war jetzt reine Spekulation. Sie würde warten müssen bis zum Nachmittag. Bis sie sich mit der Person traf.
Sie würde ein Opfer bringen müssen. Um der Sache willen.

% % %

Klaus hatte sich einen Tisch ausgesucht, von wo aus er einen guten Teil der Fußgängerzone überblicken konnte, in welcher das Café lag. Aber er hatte seine Gedanken nicht unter Kontrolle.

Immer wieder glitten sie ab, immer wieder hörte er die Großmutter mit letzter Kraft tot ausstoßen, bevor sie die Besinnung verloren hatte.
Mehrmals hatte er in den letzten Tagen bei der Klinik angerufen; seine Oma war nicht ansprechbar. Es ginge jetzt wohl langsam zu Ende, so hatte man ihm beschieden. Zu Ende... zu Ende...!! Was bedeutete das? Es durfte nicht einfach so zu Ende gehen! Seine Großmutter konnte die furchtbare Wahrheit doch nicht einfach so mit ins Grab nehmen! Er hatte also tatsächlich jemanden umgebracht! Eine Erkenntnis, die erneut alle Lebensenergie aus ihm herausgesogen hatte. Nein, mit Danielas Tod hatte er nichts zu tun gehabt, so hatte er sich immer wieder getröstet. Vielleicht hätte er sie retten können... Aber jetzt wusste er, er hatte einen anderen Menschen auf dem Gewissen: Lenchen! Aber er wusste nicht, wer diese Lenchen war.

Endlich erwachte er aus seiner trübsinnigen Grübelei. Sie kam, die Kommissarin kam tatsächlich und setzte sich gar nicht weit von ihm entfernt, an einen Tisch. Leider so, dass sie ihm den Rücken zukehrte. War sie diesmal auf seinen Wunsch eingegangen? Er beschloss, ein wenig zu warten. Vielleicht würde sie sich einmal umdrehen.

Ingeborg Wimmer versuchte ihre Nervosität mit einer Zigarette zu unterdrücken. Gierig sog sie den Rauch in ihre Lungen, ließ das Gift seine Wirkung tun; es half. Sie kam sich deplaziert vor. Was komisch war, denn jetzt, Anfang September, war längst wieder die übliche Oktoberfest-Hysterie ausgebrochen. Schon sah man wieder viele junge Frauen im Dirndl. Leider diese grausamen Billigdinger, höchst geschmacklos zusammengenähte Stofffetzen, die an vielen Mädchen eher wie eine billige Karnevalsverkleidung aussahen. Fühlten diese sich wirklich wohl in diesen Dingern?
Ihr eigenes Dirndl hatte immerhin Stil. Es war zwar auch nicht gerade das Teuerste, aber es zeigte eine hübsche, dezente Farbkombination und war nicht mit Bändchen und Froschmaul überladen. Die kleine silberne Kette am Mieder war der einzige Schmuck, es sah hübsch aus.

Würde gleich jemand kommen? Sich auf den freien Stuhl setzen? Und sie dann anstarren und wie mit Röntgenaugen auf ihre stählerne Unterwäsche starren? Und dann? Ihr wurde leicht schwindlig, ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren, aber...
"Darf ich?"
Sie blickte auf. Ein junger Mann stand vor ihr, hatte seine Hand auf die Stuhllehne gelegt. Sie versuchte, ihrer Gefühle Herr zu werden. Wollte tief einatmen, aber der abgeschlossene BH ließ es nicht zu. Unwillkürlich machte sie mit der Hand eine Bewegung zur Brust.
"Ist Ihnen nicht gut, Frau Wimmer?"
Er war es! "Doch... doch, alles ist gut. Es muss die Zigarette gewesen sein! Und Sie sind...??"
Er blickte sie an. Lächelte unbeholfen. Sie bemerkte, wie seine Augen prüfend an ihr herabglitten. "Ist diesmal alles in Ordnung?"
Wieder antwortete er nicht direkt auf ihre Frage. "Danke, dass Sie gekommen sind. Ich hoffe, ich werde Ihnen helfen können bei der Lösung des Falls!"
Sie registrierte dankbar, dass er nicht zuerst von seinen Wünschen an sie sprach. Seine Augen blieben an ihren Brüsten hängen. Konnte er es wissen, was sich unter dem dünnen Stoff der Bluse verbarg? "Ja, das hoffe ich auch. Bis jetzt haben sich leider kaum Zeugen aus jener Nacht gemeldet." Wo hatte sie ihre Gedanken? Plötzlich hörte sie sich sagen: "Gefällt es Ihnen?"
"Wie bitte?" Er wurde rot, sie sah es ganz deutlich.
"Mein Kleid. Mein Dirndlkleid. Sie hatten sich ja ausdrücklich gewünscht, dass ich es wieder anziehe!"
"Ich hatte mir gwünscht, Sie so zu sehen, wie im Fernsehen. Um Sie gleich erkennen zu können!" Seine Antwort kam schnell, etwas zu schnell, dachte Wimmer.
"Letztes Mal hier im Café...."
"... hatten Sie leider die hübsche Kette vergessen," komplettierte Klaus ihren Satz. "Ich war mir nicht mehr sicher, ob Sie es wirklich waren.... Dirndl tragen ja viele Frauen.... Aber diese Kette, die hatte ich mir gemerkt." Er blickte auf den Tisch. "Sie ist ungewöhnlich..."
Wusste er, was für eine Kette es war? Am liebsten hätte sie ihn ganz ohne Umschweife gefragt, aber das verbot sich. Also, Herr...." - sie zögerte einen Moment, hoffte auf einen Namen, aber als er nicht reagierte, redete sie weiter - "erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben. Sie sind dabei gewesen?"
Er wirkte abwesend, fand sie. Sah sie wieder nicht direkt an, starrte auf.... auf ihr Kleid? Oder doch auf den stählernen BH?"
"Nicht direkt," kam es schließlich leise von ihm. "Eine Bekannte von mir...."stieß er mühsam hervor.
Ingeborg setzte sich ein wenig auf, versuchte, seinem Blick auszuweichen. "Eine Bekannte?", fragte sie vorsichtig.
"Barbara," antwortet er leise.

Barbara!! Fast hätte Ingeborg Wimmer sich wie in einem billigen Lustspiel an ihrem Kaffee verschluckt. Also doch! Es war das erste Mal, dass jemand von dieser Person sprach, nach der schon seit bald einem Jahr gesucht wurde. Eigentlich hatte sie schon den Glauben aufgegeben, dass es diese Barbara wirklich gab. Sie erinnerte sich, die Garderobefrauen hatten von einem Streit gesprochen, den es unmittelbar vor dem Weggang des Opfers von jener wüsten Tanzveranstaltung gegeben hatte. Eine Barbara sei ihr wenig später gefolgt, habe noch nach einen Taxistand gefragt. Mehr hatte man nie über diese Frau herausbekommen können.
Sie bemühte sich, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen, sachlich zu bleiben. "Nun, das relativiert die Sache natürlich etwas. Für eine Zeugenaussage bräuchte ich natürlich eine unterschriebene Aussage ihrer ... Freundin." Sie zögerte etwas, bevor sie das letzte Wort aussprach. Irgendetwas war seltsam, sie spürte es, konnte aber nicht den Finger darauflegen. "Aber vielleicht berichten Sie erst einmal, was Sie gehört haben. Alles ist wichtig."

Klaus sah sie einen flüchtigen Moment an, dann blickte er leise wieder weg. Was genau sollte er jetzt berichten? Musste er auch von Andrea berichten? Oder davon, dass er selber feige davongerannt war, anstatt irgendwie Hilfe zu holen? Er hätte jemanden wecken können, hätte notfalls mit der Nase irgendwo Sturm klingeln können. Aber er war davongerannt.
Er beschloss, sich im Moment auf das Wesentliche zu beschränken. Er berichtete, Barbara sei im Augenblick der Tat nicht sehr weit vom Tatort entfernt gewesen, selber auf dem Heimweg, als zwei Frauen kurz nacheinander an ihr vorbeigerannt seien. Und wie sie schließlich gesehen hätte, dass die eine Frau der anderen Frau eine so heftige Ohrfeige gegeben habe, dass diese rückwärts über das Brückengeländer geflogen sei.
Die Beamtin versuchte, seinen Blick festzuhalten; es gelang ihr nicht. Sie hatte der kurzen Erzählung aufmerksam zugehört, hatte erleichtert festgestellt, dass sie wahr sein musste, denn zum ersten Mal erwähnte jemand den Schlag ins Gesicht; sie selber hatte den Handabdruck noch erkennen können. Eine Tatsache, die aus ermittlungstechnischen Gründen bisher immer verschwiegen worden war. Dennoch schien diese Aussage geschönt zu sein. Möglicherweise war es doch diese Barbara selber, die den Schlag ausgeführt hatte. Ein Handabruck würde Gewissheit bringen.
Für einen Moment drifteten ihre Gedanken ab. Sie sah das junge Mädchen, so wie man sie dort unten an der Isar entdeckt hatte. Und wie die Ärztin schließlich sagte, sie können die Körpertemperatur nicht messen, weil es da ein kleines Problem gäbe.
Diese stählerne Unterwäsche! Und sie trug sie jetzt! Augenblicklich fühlte sie sich eingesperrt, hatte sie das Bedürfnis, sich hier und jetzt, oder zumindest auf der Toilette, diese Dinger auszuziehen; die Schlüssel hatte sie ja dabei. Sie tastete nach ihrer Handtasche, öffnete sie, ja, da waren sie, vier kleine Schlüssel an einem kleinen Ring! Sie nahm sie heraus, hielt sie in der Hand, überlegte, wie sie zur Toilette gehen konnte, ohne dass der junge Mann sich wieder davon machte. Noch hatte sie weder Namen noch Adresse von ihm erhalten, und außerdem war er die einzige Möglichkeit, Kontakt zu dieser Barbara zu bekommen.

"Haben Sie etwas für mich herausgefunden? Dieser Lehrer von damals... Pater Ruprecht?"
Er hatte ihre Gedankengänge durchkreuzt. Sie blieb sitzen, hielt die geschlossene Hand mit den Schlüsseln vor sich auf dem Tisch. Die Art, wie er diesen Namen aussprach... Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Was hatte dieser Lehrer damals gemacht? Ein Lehrer an einem Internat? Da war man wohl mehr als nur Lateinlehrer.
"Bevor ich Ihnen damit helfen kann. möchte ich gern wissen, um was es geht. Warum sie ihn suchen. Was hat er getan?" Sie sah seine Reaktion unmittelbar. Plötzlich saß da wieder ein kleiner Junge vor ihr, dem beim Anblick seines Lehrers der kalte Schweiß ausbrach. Aber er reagierte nicht so, wie erwartet.
"Haben Sie? Wissen Sie, wo er jetzt wohnt? Er könnte immer noch....." Er blieb stumm.
"Er könnte immer noch..... WAS?"
"Unterrichten. Latein und Musik unterrichten." Er wich ihr aus; nicht ungeschickt. "Ich möchte ihn halt einmal wiedertreffen... über alte Zeiten reden...."

So kam sie nicht weiter. Er hatte bereits angefangen, Mauern zu errichten. Gleich würde er aufspringen und davonlaufen. "Ja, ich habe etwas herausgefunden. Er heißt Ruprecht Monaci und war wohl nur kurze Zeit an Ihrer Schule..."
"Lange genug...," unterbrach er sie.
"Lange genug... wozu?" versuchte sie es noch einmal. Sie sah, wie er seine Jacke zuknöpfte, als sei ihm kalt. Sie musste schleunigst die Situation ändern.
Ingeborg Wimmer öffnete ihre Hand, begann mit den kleinen Schlüsseln zu spielen, schob sie langsam etwas mehr in die Mitte des Tisches. Er entspannte sich wieder, richtete nun seine Aufmerksamkeit auf die beiden Schlüssel.
"Ruprecht Monaci?" Er lachte leise in sich hinein. Schüttelte den Kopf.
"Was ist? Sagt Ihnen das was? Es gab hinter seinem Namen noch die Buchstaben PDF, womit ich noch gar nichts anfangen kann."
"Ach, wissen Sie, das ist ja so dämlich, dass man es kaum glauben mag. Monaci.... Ruprecht von München! Latein erstes Schuljahr. So langsam entwickelt sich das hier zu einer Münchhausengeschichte!" Er lachte wieder. "Nein, tut mir leid, aber diese Buchstaben sagen mir auch nichts. Aber sie werden wohl für seinen Orden stehen, denke ich mal. So wie SJ für Jesuiten steht, oder OSB für die Benediktiner, die dort die Schule und das Kloster leiten. Ordo Sancti Benedicti!" Wieder dieses Lachen, aber diesmal klang es gequält. "Ja, das ist noch hängengeblieben..... und nicht nur das!" Seine Mine verschloss sich wieder.
Scheinbar spielerisch schob sie die Schlüssel in die Nähe seiner Hand. Dann zog sie ihre Hand zurück, ließ die Schlüssel aber liegen.
"Ich habe herausgefunden, wohin Ihr Lehrer anschließend gegangen ist... dort aber noch nicht nachgefragt."
Seine Hand tastete sich vor. Berührten die Schlüssel. Seine Finger begannen, mit ihnen zu spielen. Sie schob ihre Hand wieder vor; er zog seine zurück. Mit den Schlüsseln.
"Und wohin ist der Drecksack dann?" Jetzt lag unterdrückte Wut in seiner Stimme.
Sie nannte es ihm. Seine Hand schloss sich um die Schlüssel. Er schloss die Augen, sagte erst gar nichts, dann aber brach es aus ihm heraus. "Nach Regensburg? Zu den Domspatzen?? Oh ja, da wird er ja der richtige Mann am richtigen Ort gewesen sein!!" Seine Hand öffnete sich wieder; er schob die Schlüssel zurück. Wimmer legte ihre Hand wieder darüber, behielt sie aber in der Mitte des Tisches. "Wie meinen Sie das jetzt?"
Er räusperte sich. "Nun ja, als Musiklehrer.... wird den Kindern schon die Flötentöne beigebracht haben!"
"War er gewalttätig?" Sie musste es wissen.
Er legte seine Hand auf ihre Hand. "Gewalttätig...??" Er stöhnte leise. "Frau Wimmer, werden Sie mehr für mich herausfinden? Es ist wichtig, dass diesem Mann..." Er schwieg, brachte den Satz nicht fertig. Aber Wimmer begann, ihn auch so zu verstehen.
"Ich muss Barbara treffen! Können Sie das arrangieren?" Er wurde wieder nervös. Sie öffnete ihre Hand, entwand sich seinem leichten Griff, ließ die Schlüssel in seiner Hand liegen. Die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel, zu ihrem Keuschheits-BH.
"Vielleicht," sagte er und schob seinen Stuhl zurück.
"Werde ich Sie wiedersehen? Sie gab ihm ihre Karte, kritzelte ihre Handynummer auf die Rückseite. Zog ihre Hand zurück und legte sie in ihren verschlossenen Schoß.
Wieder dieser Blick. Seine Augen tasteten ihren Körper ab, sie konnte den Blick spüren, wie er auf das Metall auf ihrer Haut auftraf, Metall, das unter ihrer Kleidung verborgen lag. Aber sein Blick vermochte sie zu durchdringen.
"Ja," sagte er. Nahm die Schlüssel, steckte sie in seine Hosentasche. Dann stand er auf, nickte ihr zu, es gab ein leichtes Zucken seiner Mundwinkel, dann war er verschwunden.


München, Anfang September

Der Schock setzte erst ein, als sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. Großer Gott, was hatte sie getan? War sie denn von allen guten Geistern verlassen? Ingeborg Wimmer hatte es gar nicht erst versucht, dem jungen Mann zu folgen, hatte wie betäubt noch eine Weile auf ihrem Stuhl gesessen, dann bezahlt und die nächste Tram nach Hause genommen. Es war ein Glück, dass sie nicht mit dem Wagen gekommen war, sie wäre gar nicht in der Lage gewesen, jetzt Auto zu fahren. Sie blieb stehen in der Tram, es schien ihr sicherer, jemand hätte mehr sehen können, als erlaubt, hätte er sie von oben betrachtet. Auch wenn ihre Bluse nicht zu denjenigen gehörte, die gern die halbe Brust frei ließen.
Sie schleuderte ihre Pumps von sich, gab ihren misshandelten Zehen und Fußballen die Freiheit, die sie benötigten, lief an ihrem Spiegel vorbei, sah sich selbst in ihrem Dirndl und dachte doch nur an das, was sie darunter trug.
Sie zitterte. Zog sich aus, legte die Teile frei, die sie nun nicht mehr würde ausziehen können. Verschlossen, dachte sie. Sie gab einem unwillkürlichem Reflex ihrer Hände nach, zog an ihrem BH, drückte verzweifelt an ihrem Keuschheitsgürtel, langte mit zitternder Hand in ihren Schritt.... ihre Spalte... nein, nichts, nur dieser Stahl, dieses dünne, gebogene Blech mit den vielen Löchern, oh mein Gott, ihr Verlangen, sich zu berühren stieg ins Unermessliche.
Sie legte sich in ihr Bett, kroch unter die Decke, machte sich klein. Hielt mit der Rechten die Linke und mit der Linken die Rechte, nein, ihre Hände waren nutzlos, mehr als nutzlos, einzig die kleinen Schlüssel würden jetzt helfen. Schlüssel, die irgendwo in München waren, bei jemandem, den sie nicht kannte.
Ihr Zittern wurde schlimmer. Gleich würde sie anfangen zu weinen. Neu war es nicht für sie. Neu war nur, dass weder Bruno noch sie die Schlüssel hatten.
Sie krümmte sich in unbefriedigter Lust, dann kamen die Tränen. Keine Chance, dachte sie. Keine Chance, da irgendwo ranzukommen.

Und es war gut so.

% % %

Was sollte das bloß alles? Klaus war auf dem Weg ins Krankenhaus. Seit seinem Treffen mit der Kriminalbeamtin vor drei Tagen war er völlig durcheinander. Hatte ihm das Treffen überhaupt etwas gebracht? Außer diesen kleinen Schlüsseln? Schlüssel für einen Keuschheitsgürtel und den dazu passenden BH? Was sonst sollte es sein? Er hatte sie untersucht. Es waren jeweils zwei Exemplare vom selben Schlüssel. Klar, dachte er, zwei für den KG und zwei für den BH.
Die Frau musste verrückt sein! Anders konnte er es sich nicht erklären. Man gibt doch nicht einfach so jemandem die Schlüssel zu seinem Keuschheitsgürtel! Es war klar, er müsse sie ihr bei nächster Gelegenheit wiedergeben. Ging ja nicht anders!

Er dachte über die Auskünfte nach, die die Kommissarin ihm hatte geben können. Dieser bescheuerte Name! Kein Mensch hatte den damals gehört! Für ihn und seine Mitschüler war das immer nur Pater Ruprecht gewesen. Der fromme Ordensbruder....
Regensburg? Er kannte niemanden in Regensburg. Zweifelte auch daran, dass der Kerl dort immer noch aktiv war. Domspatzen! dachte er. Dass ich nicht lache. Mit Spatzen würde der sich wohl nicht begnügt haben!
Als er die Klinik vor sich sah wurde ihm unbehaglich zumute. Er scheute eine neue Konfrontation mit einer der Angestellten. Letztes Mal hatte er bereits ziemlich unverschämt reagiert, als die Schwester ihn daran erinnert hatte, dass er es mit sterbenden Menschen zu tun hatte.
Er beschloss, diesmal einen Seiteneingang zu nehmen, er wusste, es gab eine wenig benutzte Treppe hinauf zu der Abteilung, wo seine Oma lag. Und so konnte er das Empfangskomitee übergehen.
Die Treppe war still; er kam sich wie ein Einbrecher vor. Jemand, der in das Leben anderer einbricht. Aber er tat es nicht aus eigenem Antrieb. Seine Mutter hatte ihn gebeten, sich um die Großmutter zu kümmern. Obwohl er mit ihr gebrochen hatte. Aber das hatte seine Mutter nicht gewusst.

Die altmodische Schwingtür lärmte etwas, als sie hinter ihm in ihre Ausgangslage zurückschwang, aber wen störte es hier noch? Der Gang wirkte sauber, es roch nach Desinfektionsmitteln. Seine Schuhe machten quietschende Geräusche auf dem blauen Linoliumfußboden. Das Zimmer seiner Oma.

Er wusste es im selben Moment, wo er die Tür geöffnet hatte.

Die Stille des Raumes begegnete ihm wie eine Mauer. Das Bett war leer.

Klaus ging zum Büro. Klopfte an und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten.
"Herr Behrend! Gut, dass Sie schon kommen konnten.Hat es mit der Post ja doch noch schnell geklappt. Mein herzliches Beileid."
Die Leiterin der Abteilung hatte ihn mitfühlend begrüßt. Sie bot einen Kaffee an; dankend nahm er an. Von einem Brief wusste er nichts. Sicherlich würde er noch kommen. Es war purer Zufall, dass er gerade heute gekommen war.
"Danke. Ich danke Ihnen. Hat sie es also geschafft...."
"Ja. Sie ist gestern Nachmittag friedlich eingeschlafen." Sie ließ ihm Zeit.
Friedlich eingeschlafen.... wohl der Wunschtraum jedes Menschen. Aber hatte sie es verdient? Hätte sie nicht tausend Qualen leiden müssen, bei dem, was sie getan hatte? Monika, dachte er, beinahe wäre sie dabei draufgegangen...
"Möchten Sie sie noch einmal sehen?"
Er schüttelte den Kopf. "Wie geht es nun weiter?"
Seine Gesprächspartnerin wirkte geschäftig. "Keine Sorge, Herr Behrend. Die Leiche Ihrer Großmutter kann erst einmal noch hier bei uns bleiben. Wir sind ja auf solche Fälle vorbereitet. Ich würde sagen, besprechen Sie das mit Ihren Angehörigen. Ihre Mutter wohnt im Ausland? Ihre Oma spach einmal von Italien?"
"Ja, sie wohnt in Rom. Journalistin beim Radio Vatikan." Es war unwichtig, es zu sagen.
"Sicherlich wird sie zur Beerdigung kommen. Informieren Sie Ihre Mutter. Überlegen Sie, welche Art der Bestattung in Frage kommt. Und dann nehmen Sie bald Kontakt zu einem Bestatter auf. Der regelt dann alles weitere. Es ist normalerweise weniger schlimm, als mancher glaubt. Aber dabei wird Ihnen der Bestatter helfen."
Er lächelte zuversichtlich. "Danke, das ist gut zu wissen. Tja...," er rieb seine feuchten Hände an der Hose, "dann....." Was sollte er sagen? Herzlichen Dank?
Sie stand auf. "Schon gut. Wir haben die wenigen Sachen zusammengepackt, die bei Ihrer Großmutter waren. Ein kleines Paket nur. Die Kollegin wird es Ihnen bringen..." Sie brachte ihn zur Tür ihres Büros. Gab ihm die Hand. "Bleiben Sie gesund, junger Mann. Denken Sie daran, sie hat nicht gelitten...."

% % %

"Oh Mann, das tut mir echt leid!" Evelyn wollte ihn trösten, versuchte ihn in den Arm zu nehmen, aber er wehrte ab.
"Schon gut. Sie hat ja nicht leiden müssen..."
"Sie nicht...." Sie ließ es erkennen, dass sie jemand anderen im Sinn hatte. "Ich dachte nur, ist ja jetzt blöd für dich... Sagtest du nicht einmal, nur deine Großmutter könne jetzt noch Licht in diese seltsame Geschichte bringen? Deiner Mutter traust Du wohl nicht so ganz?"
Er sah sie mit einem gequälten Blick an. "Ich traue schon lange niemandem mehr."
"Und? Hast du sie vor ihrem Tod noch fragen können, wer diese Lenchen sein soll? Du bist ja wohl öfters bei ihr gewesen. War sie denn überhaupt noch ansprechbar?"
"Ja, ich war mehrere Male dort. Zu Anfang schlief sie meist. Dann aber hatte sie auch einmal einige klare Momente. Und da konnte ich sie fragen."
"Ah, gut. Immerhin. Und, was hat sie gesagt?" Evelyn Kasulke konnte ihre Neugier nicht länger verbergen.
Er biss sich auf die Lippe. Das hier war nicht leicht. "Sie sagte, ich hätte sie umgebracht... dass sie tot ist."

Auch Evelyn erschrak jetzt. Das hatte sie nicht erwartet. "Ja, aber wer war das Mädchen? Also, ich glaube kein Wort. Du bringst doch nicht einfach so irgendwelche Leute um! Ohne Leiche glaube ich das einfach nicht. Was hat sie denn sonst noch gesagt?"
"Nichts, Lyn. Sie hat gar nichts mehr gesagt. Sie hatte es gesagt, sich dann ans Herz gefasst und war ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich sind es ihre letzten Worte gewesen."
"Und, ... hat sie es genauso gesagt, wie du es jetzt wiedergibst? Versuche mal, dich zu erinnern!" Sie wusste aus ihrer Tätigkeit als Rettungssanitäterin, dass die Menschen manchmal falsche Wahrnehmungen hatten.
Klaus brauchte nicht lange zu überlegen. "Also, sie sagte: ´Du hast sie.... tot´."
"Wie du hast sie tot? Tot... was? Totgeschlagen? Das ergibt doch gar keinen Sinn."
"Muss es unbedingt einen Sinn ergeben? Aber es ist ja wohl klar, dass ich sie umgebracht habe!" Seine Antwort kam gereizt.
"Klar ist mal gar nichts, Klaus. Nach allem, was du mir über deine Oma erzählt hast, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass alles erlogen und erstunken ist. Und wann soll das denn überhaupt gewesen sein? Nein, ich glaube, wenn du deiner Mutter mal näher auf den Zahn fühlst, dann wird sie mit der Wahrheit schon herausrücken." Sie machte eine Gedankenpause. "Hast du mit ihr gesprochen? Sie wird doch wohl zur Beerdigung kommen?"
"Ja, ich habe sie gleich gestern angerufen. Sie wird zur Beerdigung kommen. Aber sie hat klargemacht, dass sie nicht bleiben will. Nicht in dem Haus, hat sie gesagt, und dass sie einfach gar keine Zeit habe, länger zu bleiben. Also, sie wird morgens mit der ersten Maschine kommen, die Beerdigung ist am frühen Nachmittag, und abends fliegt sie wieder zurück nach Rom. Die Beerdigung ist Anfang nächster Woche, eher ging es wohl nicht. Für das Haus müssen wir uns dann etwas überlegen, vielleicht können wir es erst einmal vermieten. Oh Mann, ich werde froh sein, wenn der ganze Mist überstanden ist. So langsam muss ich ja auch mal an mich selber denken!" Klaus wandte sich ab. Es war deutlich, dass das Thema für ihn vorbei war.

"Sag mal, hast du schon die Sachen von deiner Oma durchgesehen?", fragte Evelyn vorsichtig.
"Nicht wirklich. Vom Krankenhaus habe ich nur diesen kleinen Karton mitbekommen. Und ihre ganzen Sachen hier...", er zuckte ratlos mit den Schultern. "Kannst ja mal selber schauen, wenn du magst." Er reichte ihr den kleinen Karton. Er enthielt wirklich nur das Nötigste. Die Sachen, die sie getragen hatte, als sie eingeliefert wurde, ihre Brille, ihr Gotteslob Gebetbuch, das Klaus auf Anraten des Krankenhauses mitgebracht hatte. Evelyn sah es durch, es enhielt mehrere kleine Bildchen mit Heiligen-Motiven, Erinnerungen an die erste Heilige Kommunion, an die Vermählung irgendwelcher Bekannten, an das Ableben von längst vergessenen Freunden. Und ein Bildchen, das ein Neugeborenes in der Krippe zeigte, umringt von Maria und Josef. Sie drehte es um und las: >MAGDA - Unser Christkind ist angekommen! München im Dezember 1989<



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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:20.12.16 13:45 IP: gespeichert Moderator melden


Bin eher der stille Mitleser. Kann mich nur wiederholen: Deine Geschichte ist die Beste hier im Forum. Erfrischend anders als alles andere.
Freue mich über jede Fortsetzung!

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maximilian24
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:23.12.16 19:30 IP: gespeichert Moderator melden


Schon seit Tagen versuche ich einen längeren Kommentar abzugeben, was aber aus technischenn Gründen nicht funktioniert. Schade.
Alt werden will jeder, alt sein aber keiner
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bd8888
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:24.12.16 15:34 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Daniela
Ich kann die Sonntage kaum noch mehr erwarten.
Du schreibst einfach "göttlich".
Frohe Weihnachten
bd8888
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Daniela 20
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Semper firma occlusa!

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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:25.12.16 13:25 IP: gespeichert Moderator melden


Eine Sex-Geschichte zu Weihnachten?? Oder wollen wir es lieber ´pornografische Literatur´ nennen? Ist es das überhaupt?? Eigentlich nicht, wie ich meine. Ich möchte lieber sagen, es ist eine Weihnachtsgeschichte der besonderen Art. Leider werden wir noch mehrere Wochen warten müssen, bis sich dies dem geduldigen Leser erschließt.
Aber hätte ich denn nicht wenigstens den heutigen Weihnachtstag pietätsvoll überspringen können? Ich muss gestehen, ein wenig hatte ich darüber nachgedacht. Aber ich glaube, in meiner Geschichte steckt viel mehr Weihnachten, als all das Gebimmel und Glühwein-Gesaufe, mit dem wir angeblich auf dieses schöne Fest eingestimmt werden sollen.

Weihnachten wird immer als DAS Familienfest postuliert. Aber nicht jeder hat Familie. Viele meiner Leser mögen heute allein und einsam zu Hause sitzen. Sie ganz besonders werden sich über die heutige Fortsetzung freuen.

Euch allen wünsche ich eine gute Zeit; frohe und gesegnete Weihnachten. Und ein Dankeschön an die Leser, die mir einen Gruß geschickt haben!
@Maximilian: Bitte gib nicht auf. Deine Gedanken sind mir wichtig!!

Eure Daniela 20



München, Mitte September

Sie hatte einen Fehler gemacht, einen sehr großen Fehler. Ingeborg Wimmer hatte tagelang darauf gewartet, dass der junge Mann sich wieder bei ihr melden würde, aber bis jetzt war nichts geschehen. Hatte sie ihm zu wenig geliefert? Glaubte er, ein weiteres Gespräch mit ihr lohne sich nicht? Aber er hatte die Schlüssel genommen. Er würde sie wiedersehen wollen!
Er musste sie wiedersehen! Wie konnte er denn einfach ihre Schlüssel nehmen, wenn er nicht Macht über sie ausüben wollte? Er wusste doch wohl, wofür diese Schlüssel waren... Oder doch nicht? Die Art, wie er sie angesehen hatte....
Langsam wurde ihr mulmig zumute. Sie musste ja wirklich total von Sinnen gewesen sein! Das war ja keine Zeugenbefragung mehr, das war ja eine Unterwerfungsgeste ihrerseits gewesen! Man würde sie feuern, wenn man auf der Chefetage davon erführe. Zuerst würden sich sicherlich alle auf ihre Kosten amüsieren, würden dumme Witzchen reißen - na, Frau Kollegin, wieder so verschlossen heute? Wo drückt denn der St---uh? Hahahaha... , aber dann würde man sie doch fallen lassen, sie ins Archiv versetzen, oder irgendwo in die Pampa....., Hengaschs gab es auch in Bayern viele. Nur der Gedanke an die lustige Fernsehserie ´Mord mit Aussicht´ ließ sie wieder etwas lachen.
Dann überlegte sie. Hatte sie denn gar keinen Anhaltspunkt, den jungen Mann irgendwie ausfindig zu machen? Wie war es mit der Sanitäterin? Mit Frau Kasulke? Falls es die überhaupt gab. Kasulke, dachte sie, wer denkt sich denn so einen bescheuerten Namen aus? Nein, der musste einfach stimmen. Aber Frau Kasulke würde sicherlich dicht halten, ihr weder Namen noch Adresse ihres Bekannten nennen. Außerdem wollte sie selber diese Frau nicht weiter in die Sache hineinziehen. Was hätte sie ihr auch sagen sollen? Können Sie bitte Ihrem Bekannten sagen, er soll bald mal kommen und mich aufschließen? Lange halte ich es nämlich nicht mehr in meinem KG aus....

Wimmer stellte ihren Wagen in der Tiefgarage der Polizei ab. Es war alles nur Brunos Schuld. Mit ihm hatte alles so gut funktioniert! Was musste er sich denn da versetzen lassen? Wäre er noch da, oben in seinem immer noch verwaisten Büro, sie würde hingehen und ihre Leidensmine aufsetzen, das hatte bis jetzt immer noch funktioniert. Er würde am Abend zu ihr kommen, würde sie aufschließen, weil er Sex mit ihr haben wollte. So hatte es immer funktioniert, bis es dann wieder über sie gekommen war, dieser ewig nagende Drang, etwas Verbotenes zu tun, sich selber die Möglichkeit zu nehmen, sich zu berühren. Manchmal hatte sie sich wenige Stunden, nachdem Bruno gegangen war, wieder verschlossen, manchmal hielt sie es eine knappe Woche ohne ihre stählerne Unterwäsche aus.

Sie betrat ihr Büro, klein aber fein war es, immerhin war ihr das Übel eines Großraumbüros erspart. Missmutig warf sie ihre Handtasche auf den Boden. Schlüssel, dachte sie. Den halben Hausrat schleppte sie in ihrer Tasche mit sich herum, aber wo ihre kleinen Schlüssel waren, davon hatte sie keine Ahnung. Wimmer betrachtete ihren Kalender, viel zu tun war nicht. Zumindest nichts, was für einen Fernsehkrimi gereicht hätte. Die normale Polizeiarbeit war unspektakulär, bis jetzt hatte sie nicht einmal ihre Waffe ziehen müssen, bis jetzt hatte sie an keinen wilden Verfolgungsjagden teilnehmen müssen. Stattdessen Tatorte besichtigen, Zeugen befragen, von Überwachungskameras aufgezeichnete Videos auswerden, Berichte schreiben, oder einfach nur lange im Stau stehen. Reelle Polizeiarbeit halt. Totlangweilig.
Sie dachte nach. Auch etwas, was mit ihrem Beruf zu tun hatte. Wenn sie wenigstens einen Namen hätte. Ein Phantombild hätte sie leicht anfertigen können. Aber was sollte sie damit? Sie lauschte auf die Signale ihres Körpers. Der enge Hüftgürtel drückte. Da half auch das Silikonpolster nichts. Auch ihr Steißbein schmerzte leicht. Sitzen war immer ein Problem. Besonders jetzt, wo sie auch die Schenkelbänder trug. Hatte sie diese an den Beinen, konnte sie ihre Beine nicht gemütlich übereinanderlegen. Was auf Dauer furchtbar störte. An ihren BH mochte sie gar nicht denken. Er hinderte sie ständig am normalen Atmen. So hätte sie nicht einmal ein Kind einfangen können! Aber all dies war noch halbwegs zu ertragen; schlimmer war der anhaltende psychische Schmerz. Dieses Verschlossensein. Das Wissen, dass diesmal kein Bruno nebenan saß.

Eine Zigarette? Nein, sie hatte keine Pause und die Zeiten waren vorbei, wo in Büros gequalmt werden durfte. Gott sei Dank. Selbst als Gelegenheitsraucherin musste sie eingestehen, dass es so besser war. Nur in manchen Szenekneipen fehlten die dicken Rauchschwaden etwas. Schokolade? Sie hatte welche in ihrer Tasche, aber sie hatte keinen Schlüssel für ihren Taillenreifen, und das war eine denkbar schlechte Ausgangslage. Was konnte sie tun? Nichts.
Sie beschloss, noch einmal nachzulesen, was es über diese Schule zu lesen gab. Nicht das Offizielle, auf Lobhudelei hatte sie keine Lust. Aber viel mehr gab es auch nicht.

Plötzlich hatte sie eine Idee. Die Schule! Dass sie nicht gleich darauf gekommen war! Schnell hatte sie die Telefonnummer des Internats hervorgesucht, dann wählte sie die Nummer und bat die Sekretärin, ihr bitte umgehend die Schülerlisten der entsprechenden Jahrgänge zu faxen. Welcher Jahrgänge? Der Jahrgänge, als Pater Ruprecht an der Schule unterrichtete. Diesmal hatte sie sich gewappnet, ließ die Frau nicht lange schwafeln, wiederholte noch einmal, diesmal im besten Kommandoton, ihr Anliegen, dann bedankte sie sich und wartete. Es würde einige Zeit dauern, hatte die Sekretärin mit einem nicht zu überhörenden Seufzen mitgeteilt.

Ingeborg Wimmer musste lange warten. Erst am späten Nachmittag brachte eine Kollegin mehrere Seiten aus dem Faxgerät für sie mit, Namen von einigen hundert Schülern, wie sie auf einen Blick sah. Und jetzt? Einer davon konnte ihr geheimnisvoller Kontakt - ihr keyholder, wie sie sich eingestehen musste - sein. Konnte...., sicher war das nicht.

Die Kollegin war interessiert. "Bist du an irgendwas dran, Ingeborg?"
"Ach, ich weiß nicht. Ja, vielleicht...", anwortete diese, indem sie die Blätter resigniert vor sich auf den Schreibtisch warf. "Ist noch nicht spruchreif, Sabine."
"Schülerlisten? Um was geht es denn? Lehrergewalt? In manchen Internaten herrscht ja wohl immer noch ein etwas antiquierter Stil vor?"
Wimmer schüttelte den Kopf. "Bis jetzt weiß ich es selber noch nicht. Aber da ist etwas geschehen. Ein anonymer Zeuge hat sich bei mir gemeldet, aber zu einer anderen Sache. Erinnerst du dich an den Fall von der jungen kölner Studentin letzten Herbst?"
"Die Isarleiche? Meinst du die? Klar erinnere ich mich. Ich hatte ja auch einige Befragungen gemacht. Hast du eine Spur? Etwas Brauchbares diesmal?"
"Kann sein, kann aber auch nicht sein. Es könnte sein, dass einer dieser Schüler etwas damit zu tun hat!"
Die Kollegin nahm noch einmal die Listen zur Hand. Warf einen Blick darauf, dann stutzte sie. "Oh, ich glaube, diesen Namen hier habe ich schon einmal gehört!" Sie wies mit dem Finger auf einen der Namen gleich auf der ersten Liste.
"Behrend, Klaus. Jahrgang ´92. Schüler der Sexta, steht hier." Ingeborg sah ihre Kollegin fragend an.
"Fünfte Klasse. Also erste Klasse am Gymnasium." Sie rückte etwas näher. "Wart mal, kannst du eben mal die Ermittlungsakten von damals heraussuchen?"
Es war kein Problem. Dank neuer Software war alles elektronisch abgespeichert. "Was genau?"
"Wir hatten doch routinemäßig ihren Bekanntenkreis abgefragt. Weißt du noch, das war doch so eine recht mystische Geschichte... dieses schräge Keuschheitsgürtelzeug. Die war doch am ganzen Körper verschlossen wie Fort Knox!" Ihre Kollegin war auf ihre Seite des Schreibtisches gekommen, um besser den Bildschirm lesen zu können. "Oh, hübscher Rock, Ingeborg! Läufst ja in letzter Zeit nur noch mit Rock rum! Wie kommt´s?"

Ingeborg Wimmer wünschte sich ein Loch im Boden, in dem sie versinken konnte. Es gab keine Antwort, die ihr rettend einfallen wollte. Zumindest keine, die der Wahrheit entsprach. Einer Wahrheit, die hier niemand wissen durfte. "Och", sagte sie, "nur so, ist wohl nur mal wieder so eine Phase. Der Winter kommt schon wieder früh genug."
"Du sagst es. Leider. Also, lass mal eben sehen.... ja, hier... hier Ingeborg! Klaus Behrend, 20 Jahre alt. Wohnte ganz in der Nähe, bei seiner Oma. Das kölner Mädel wohnte in der Nähe, bei ihrer Tante."
"Haben wir ein Bild von ihm?"
"Nein, nicht das ich wüsste. Wir können ja nicht gleich Bilder von jedem machen, der in der Nähe eines Unfall- oder Mordopfers lebt."
"Auch wahr. Aber es könnte was dran sein an der Geschichte. Also, gut, dass Du zufällig hier warst." Sie lachte. "Kommissar Zufall, wieder einmal!" Sie bedankte sich bei ihrer Kollegin, die mit einem zufriedenen Lächeln ihr Büro verließ.
War er das? Plötzlich war ihre Situation eine andere. Jetzt hatte sie einen Namen. Die Teile begannen, sich zusammenzufügen.

% % %

"Da bist du ja endlich!" Klaus umarmte seine Mutter flüchtig; ihr Flieger hatte eine knappe Stunde Verspätung und war endlich in München gelandet.
Endlich!, dachte er. Die Warterei hatte ihn ganz nervös gemacht. Das Beerdigungsintitut hatte ihm die meiste Arbeit abgenommen, dennoch hatte er, auf Wunsch seiner Mutter, für einen angemessenen Sarg sorgen müssen und verschiedenes mit dem Bestatter abzuklären. Wünschte man ein christliches Begräbnis? Er hatte feststellen müssen, dass im Angesicht des Todes viele Fragen anders beantwortet wurden, als normalerweise. Was hätte seine Oma sich selber gewünscht? Sie hatte sich nie dazu geäußert, hatte es versäumt oder verdrängt, einmal über ihr eigenes Ableben nachzudenken, wie so viele andere. War der Gedanke an den eigenen Tod denn so schlimm? An die Aufgabe des eigenen Ich? Konnte man nicht einfach akzeptieren, dass alles, aber auch wirklich ALLES einmal ein Ende finden würde? Er erinnerte sich an die Worte einer Fernsehsendung über das Weltall: In ungefähr 100 Billionen Jahren wird das Rohmaterial für neue Sterne zur Neige gehen. Die letzten Sterne werden ihr Leben aushauchen und ihre Überreste werden langsam erblassen. Bis schließlich die letzte verbleibende Ascheglut erkaltet und das Licht im Universum für immer verlischt.

Es fröstelte ihn. Da half auch die Wärme eines schönen Septembertages nichts. Ewiges Dunkel, dachte er; seine Oma hätte sicherlich einen passenden Bibelspruch zur Hand gehabt. Dieser Jesus, was hatte er von sich selbst gesagt? Er wusste es nicht. Jetzt war es wichtig, die Großmutter unter die Erde zu bringen.
Seine Mutter trug ein schwarzes Kostüm. Sie wirkte gefasst, erwiderte seine Umarmung nicht sondern griff als erstes zu ihrem Handy, keine neuen Nachrichten. "Diesmal kein gammeliger Overall, Klaus?"
Er versuchte es mit einem linkischen Grinsen. "Zum Glück nicht. Ich hoffe, eine schwarze Jeans und ein schwarzes T-shirt tun´s auch?"
"Kein Problem, Klaus. Ist alles für die Beerdigung geregelt? Wie kommen wir zum Friedhof? Und anschließend....?"
Klaus schlug seiner Mutter vor, wie er sich den Tagesablauf gedacht hatte. Ein ruhiger Bummel durch die Innenstadt, gemeinsames Mittagessen, dann die Beerdigung - einige Nachbarn würden eventuell kommen, vielleicht auch Evelyn, eine Rettungssanitäterin, die er kennen gelernt hatte, dann den obligatorischen Beerdigungskaffee mit Streuselkuchen; anschließend würde er sie wieder zum Flughafen bringen.
"Brauchst du nicht!", erklärte sie. "Ich finde schon allein zum Flughafen!" Plötzlich fing sie an zu lachen. Klaus sah seine Mutter fragend an. "Oh, nichts. Ich musste nur gerade an Stoiber denken, wie der mal so herrlich über eine Transrapid-Verbindung vom Bahnhof zum Flughafen sich was zusammenstotterte! Gibt es, glaube ich, immer noch auf Youtube!"
Jetzt konnte auch Klaus nicht mehr an sich halten. Er kannte das Video, oh Mann, ja, das war schon krass, was der da zusammengefaselt hatte. Nun, es würde ein schöner Tag werden, die Stimmung war gut, auch wenn der Anlass kein besonders erfreulicher war.


Sie hatten ein gemütliches Restaurant gefunden, das nicht von Ausländern überlaufen war. Manchmal konnte es einfach zuviel des Guten sein; schon jetzt hatte der Zustrom von Besuchern für das Oktoberfest, das bald eröffnet werden würde, deutlich zugenommen.
Klaus legte Messer und Gabel von sich; er hatte eine Idee bekommen. "Sag mal, Mutter, erinnerst du dich an einen meiner Lehrer, diesen Pater Ruprecht?"
Seine Mutter sah ihn überrascht an. "Nicht wirklich. Wieso? Sollte ich? Hast du ihn wiedergetroffen oder so etwas?"
"Nein, habe ich nicht. Aber ich habe eine ganz andere Frage. Du kennst dich doch in Rom aus..."
Sie lachte kurz auf, schüttelte den Kopf. "Kein Mensch kennt sich in Rom aus... Was glaubst du, warum man sie die ewige Stadt nennt? Weil man ewig nach etwas sucht, ewig auf etwas warten muss! Deshalb!"
Er ließ sich nicht beirren. Schenkte seiner Mutter ein sympathisches Kopfnicken, klar, das musste wohl so sein, mit der Ewigen Stadt, aber jetzt brauchte er andere Information. "Er war mein Lateinlehrer in der Sexta. Ich würde gern mal wissen, was die Buchstaben PDF hinter seinem Namen bedeuten. Benediktinermönch war er auf jeden Fall nicht."
"PDF? Nein, unmittelbar sagt mir das auch nichts. Aber diese Buchstabenkombination ist eher ungewöhnlich. Normalerweise steht ja ein O davor, also für Ordo. Ist ja immer alles auf Latein. Hm... das D könnte für deus stehen, also Gott. Und das F....", sie überlegte, "vielleicht für frater, also Bruder. Aber das ist reine Spekulation!!

Klaus trank sein Bier aus. Es war Zeit, sich auf den Weg zum Friedhof zu machen. Er bat seine Mutter, etwas über diese Sache herauszufinden. Immerhin war Rom das Zentrum der katholischen Welt; sie habe sicherlich gute Verbindungen.


"Asche zu Asche.... Staub zu Staub..." Klaus achtete nicht sonderlich auf die Worte des Geistlichen. Dieser stand, flankiert von zwei Messdienerinnen, neben dem Sarg, und segnete diesen, bevor er noch einige persönliche Worte an die kleine Trauergemeinde richtete.
Diese Mädchen in ihren Gewändern.... Er schloss die Augen, sah sie wieder vor sich, wie sie dort vor ihm kniete, Daniela, und er...
Nichts. Schwarze Leere hatte sich über seine Erinnerung gelegt. Hatte bis jetzt verdrängt, was er damals Schlimmes getan hatte. Dinge, für die Monika ihn hatte büßen lassen! Es war knappe zwei Jahre her, dennoch schien es ihm, als wäre all dies in einem anderen Leben geschehen. War es seine Schuld, dass es so gekommen war, wie es kam?
Er öffnete die Augen, sah die beiden Messdienerinnen auf sich zukommen, ihn links und rechts ergreifen.... Jetzt kommst DU auf unsere Strafbank... jetzt wirst DU für deine Missetaten büßen, glaube nicht, dass du davonkommst... DU hast Schuld.....

"Klaus?" Seine Mutter hatte ihn dezent angestoßen. "Ist alles in Ordnung? Du musst noch deinen Strauß..."
Er wusste, was er zu tun hatte. Warf den kleinen Blumenstrauß auf den Sarg, den einige kräftige Männer mittlerweile in die Grube hinabgelassen hatten. Dann langte er mit bloßer Hand in den kleinen Sandhaufen, der vor dem Grab lag, und warf eine Handvoll davon ebenfalls auf den Sarg. Es war besser so, dachte er. Blumen sollte man doch lieber den Lebenden schenken.
Die Mutter dankte dem Priester; er hatte es natürlich nicht für Gottes Lohn getan, die Gemeinde würde eine Rechnung schicken. Dann nahm man die Trauerbezeugungen der wenigen Anwesenden entgegen und lud schließlich zum Kaffee in eine nahegelegene Gaststätte ein.

Kaffee und Kuchen taten allen gut. Die Stimmung war gedämpft fröhlich; alle wussten, Annegret Meisner hatte ihr Leben gehabt und war immerhin 78 Jahre alt geworden; viele ihrer Generation waren schon als Kinder in jenem furchtbaren Krieg umgekommen, an den sich bald niemand mehr würde erinnern können. Klaus hätte sich eine privatere Situation mit seiner Mutter gewünscht, aber diese verbrachte viel Zeit mit den Nachbarn, sie wollte sich dankbar zeigen, dass sie gekommen waren.

Schließlich wurde die Zeit knapp. Er bemerkte die Blicke seiner Mutter zur Uhr. Es würde vom Hauptbahnhof zum Flughafen eine knappe Dreiviertelstunde dauern, ihr Flieger ging gegen 20 Uhr. Es wurde Zeit, aufzubrechen.
Sie schwiegen sich aus. Der Zug war gut besucht, es gab keine Gelegenheit, sich auszusprechen.
Der Flughafen empfing sie mit dem üblichen Stress. Auch wenn noch Zeit war, seine Mutter drängte darauf, einzuchecken und durch die Sicherheitskontrolle zu gehen.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er musste es jetzt wissen! Er musste jetzt seine Mutter fragen. Er konnte keinen Tag länger in dieser Ungewissheit leben.
Er wartete auf einen günstigen Moment, aber alle Momente waren gleich ungünstig. Sie blieb stehen, dicht vor dem Eingang zum Bereich für Reisende. Drückte ihn flüchtig an sich. "Melde dich, wenn es was gibt. Da wird sicherlich noch Einiges auf dich zukommen!"
Sie umarmte ihn noch einmal. "Mach es gut, Klaus!"
Sein Mund war trocken wie die Sahara. Er brachte kaum einen Laut hervor. Hielt seine Mutter am Ärmel fest. Er würde sie nicht ohne eine Antwort gehen lassen! "Mutter.... wer war Lenchen? Was... was habe ich getan??"

Sie blieb stehen, verharrte in der Bewegung wie jemand, dem man den Stecker herausgezogen hatte. Drehte sich zu ihm um, das Gesicht aschfahl. Sie drängte Klaus in eine etwas ruhigere Ecke, sah auf ihre Uhr, noch war Zeit.
"Lenchen war deine Schwester. Ja, du hattest eine Schwester. Sie war drei Jahre älter als du. Klaus, deine Schwester war behindert.... ein behindertes Kind. Du.... du mochtest sie.... du wolltest ihr wohl nur helfen." Sie schwieg.

Es war still um ihn. Der Lärm des Flughafens ebbte ab, er hörte nur noch das hefige Schlagen seines Herzens. Er blickte nach unten, der Boden schwankte seltsam. "Was... was habe ich denn getan?"
Seine Mutter blickte wieder auf ihre Uhr. Wollte das Gespräch nicht fortsetzen, das spürte er deutlich. Sie griff nach ihrer Handtasche.

Er krallte sich wieder an ihrem Mantel fest. "Sag es mir!! Was habe ich getan? Wieso habe ich sie umgebracht, wenn ich sie gemocht habe? Du musst es mir sagen! Mutter!!"
"Deine Oma hatte sie gebeten, etwas aus dem Keller zu holen. Kompott oder so etwas. Ich weiß es nicht. Sie.... sie war gehbehindert. Aber ein liebes Kind. Sehr hilfsbereit. Die Kellertreppe...."

"Was? Was ist mit der Kellertreppe? Ist sie gestürzt?" Hatte er das gefragt? Es klang nicht, wie seine Stimme.

"Du hast sie hinuntergestoßen!"

Der Fußboden kam immer näher.

Hinuntergestoßen...., dachte er. ICH HABE MEINE BEHINDERTE SCHWESTER UMGEBRACHT!!

"Klaus! Du warst ein kleines Kind. Du wolltest ihr sicherlich nur helfen, diese blöde Treppe runterzukommen. Du wusstest nicht, was du tatst!"
"Sie ist tot?" Er konnte es nicht glauben.
"Klaus, sie ist schon lange tot. Denk nicht mehr darüber nach. Es war ein schlimmes Unglück... es war nicht deine Schuld! Du warst nicht mit zur Beerdigung, wir hatten dich zu Hause gelassen. Es ist alles so lange her... achtzehn Jahre. Es war eine schlimme Zeit... ich möchte nicht mehr daran denken müssen." Sie sah wieder auf ihre Uhr, drückte ihn, diesmal wesentlich herzlicher, an sich. "Kommst du zurecht? Hier, hier hast du 20 Euro. Kauf dir noch was zu essen, bevor du heimfährst. Ich muss jetzt los.... pass gut auf dich auf. Vielleicht kommst du mich mal wieder in Rom besuchen? Oder ruf an! Also, danke, dass du dich hier um alles kümmerst. Mache es gut, Klaus!"
Sie streichelte ihm mit hilfloser Geste über das Haar, dann verschwand sie im Getümmel. Er war allein.

% % %

Sie glaubte zu zerspringen. Ingeborg Wimmer lag in ihrem Bett, es war Samstagmorgen, sie würde das Wochenende frei haben. Frei, alles mögliche zu tun, bis auf.... Nur noch die stählernen Gürtel an ihrem Körper schienen sie zusammenzuhalten. Wie lange musste sie noch in diesen Dingern aushalten? Es war ein Glück, dass sie genau wusste, wie wichtig es war, ihre Haut unter den beiden breiten Gürteln täglich zu kontrollieren. Gab es irgendwo rote Druckstellen? Juckte es irgendwo?
Druckstellen gab es jede Menge, aber sie bekämpfte diese mit einem Puder, dass sie vor Wochen gekauft hatte.
Viel schlimmer waren die geistigen Druckstellen in ihrem Kopf. Dass sie sich nicht ungehindert bewegen konnte, dass sie nicht ihren eigenen Körper berühren konnte. Und dass sie immer mehr zweifelte, den jungen Mann noch einmal wiederzusehen. Hatte sie ihm zu wenig geboten?
Sie hatte ihre Fühler bis nach Regensburg ausgestreckt, hatte erfahren, dass dort tatsächlich ein gewisser Pater Ruprecht tätig gewesen sei, dieser aber gekündigt habe, nachdem es zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Was für Unregelmäßigkeiten, hatte sie nachgehakt, aber keine rechte Antwort bekommen. Es sei lange her, man wisse es nicht, nein, in den Akten stehe nichts. Einen Namen wolle sie haben? Was für einen Namen denn? Sie kannte doch den Namen: Pater Ruprecht. Und um was ginge es denn eigentlich?
Sie durfte nicht auf eigene Faust ermitteln. Und musste deshalb aufpassen, dass niemand misstrauisch wurde, am Ende gar bei ihrer Dienststelle nachfragte. Nein, sie hätte nichts Neues für den jungen Mann, so leid es ihr auch tat.

Klaus Behrend, dachte sie, hast du meine Schlüssel? Und warum meldest du dich nicht endlich bei mir? Merkst du nicht, dass ich am Verrecken bin??
% % %

Klaus hatte keine Ahnung, wie er an jenem Abend vom Flughafen wieder nach Hause gekommen war. Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich so allein, so leer und hilflos gefühlt. Er hatte seine Schwester diese furchtbare Treppe hinuntergestoßen! Er trug die Schuld an ihrem Tod! Ein behindertes Kind....Lenchen....

Es war aus, sein Leben war jetzt auch aus. Tagelang aß er nichts, trank nur ab und zu etwas Wasser. Er wusch sich nicht, putzte sich nicht die Zähne, lag wie erstarrt im Bett und reagierte nicht auf das immer öfter klingelnde Telefon. Er wollte nur noch sterben.
Schließlich weckte ihn heftiges Klopfen an die Haustür aus seinem Delirium. Er wollte es einfach ignorieren, aber er erkannte Lyns Stimme, die immer wieder seinen Namen rief. Fast zu schwach, aufzustehen, kroch er aus dem Bett, ging zur Haustür und öffnete.

"Oh mein Gott... Klaus!? Was ist los? Was ist passiert?" Evelyn erschrak, als sie ihn sah. Mit raschen Schritten drängte sie an ihm vorbei und fing ihn gerade noch rechtzeitig auf, bevor er zu Boden stürzte.
Sie wusste, was zu tun war. Bettete ihn aufs Sofa, legte seine Beine hoch, gab ihm Traubenzucker aus ihrer Handtasche. Dann fühlte sie seinen Puls, schwach, aber regelmäßig. In der Küche kochte sie heißen Tee mit Zucker, vorsichtig gab sie ihm davon zu trinken. Sie fand Toastbrot und Käseecken, machte ihm eine Schnitte, hörte zu, wie er hungrig zubiss.

"War es so schlimm, mit deiner Oma?"
Er schüttelte nur müde den Kopf. "Meine Schwester...", flüsterte er, "ich habe meine Schwester umgebracht, als ich noch ganz klein war. Mutter hat es mir gesagt, kurz vor dem Abflug. Lenchen.... Sie, sie war behindert...." Er blickte sie mit rotgeränderten Augen an.
"Deine Mutter hat es dir gesagt?" Evelyn bemühte sich, ruhig zu bleiben. "Was genau hat sie dir gesagt?"
Klaus erzählte ihr alles. Er begann zu zittern, als er fertig war.
"Sch....!" Sie nahm seine Füße und massierte sie, bis sie warm wurden. Auch seine Gesichtsfarbe besserte sich wieder. "Klaus, nein, du hast sie nicht umgebracht. Es ist nur ein schreckliches Unglück gewesen...."
"nur...." wiederholte er leise.
"Ja, Klaus. Glaube mir, solche Dinge passieren. Ich habe in meinen Berufsleben genug schlimme Dinge erlebt, wo man glauben würde, so etwas könnte nie passieren. Aber sie passieren eben doch. Das ist Schicksal...." Sie machte ihm noch einen Toast, dann überredete sie ihn zu einem Bad. Er solle sich gründlich waschen, mal die Zähne putzen, frisches Zeug anziehen. Sie würde ihm beim Aufräumen helfen.

Er fühlte sich wesentlich besser, als er frischgeduscht und rasiert zu Evelyn in die Küche kam. Der Tee und die Toastbrote hatten geholfen, aber wichtiger war die Unterstützung, die er durch Lyn erfahren hatte.
"Na, geht´s wieder so langsam? Ja, das war bestimmt ein furchtbarer Schreck für dich, das zu erfahren." Sie nahm ihn in den Arm. "Sicherlich haben deine Eltern und die Oma einen Fehler gemacht, wollten es vergessen, die Erinnerung daran verdrängen. Aber so etwas lässt sich nicht verdrängen. Und du bist damals einfach zu klein gewesen, als dass sie es mit dir hätten verarbeiten können. Komm, ich hab in der Zwischenzeit mal eine Suppe gemacht. Ist zwar nur eine Tütensuppe, aber du musst noch mehr in den Magen kriegen; hast ja wahrscheinlich lange nichts gegessen."
"Ich hab gar nichts mehr gegessen, seit ich nach Hause gekommen bin. Mutter hatte mir noch 20 Euro gegeben, aber ich konnte einfach nicht."

"Kein Wunder! Sag mal...", Evelyn lag eine Frage auf der Zunge, wusste aber nicht recht, wie sie es formulieren sollte. "Deine Schwester, wieso...?"
"Wieso sie behindert war? Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts über sie. Mutter sagte nur, sie sei gehbehindert gewesen. Aber ob da mehr war, weiß ich nicht. Also eine geistige Behinderung", fügte er noch hinzu.
"Wahrscheinlich wirst du es nie herausfinden. Mit etwas Glück lässt sich ihr Grab finden. Falls du willst, helfe ich dir dabei. Ich befürchte bloß, man wird bei jeder einzelnen Friedhofsverwaltung nachfragen müssen; ein zentralers Gräberverzeichnis gibt es meines Wissens nicht."
Klaus sah sie dankbar an. "Schon gut, Lyn. Es pressiert ja nicht. Und vielleicht sollten wir sie einfach in Frieden ruhen lassen."
"Ja, vielleicht. Aber wenn du willst... wie gesagt. Sag mal, etwas ganz anderes. Wie lief es denn mit dieser Kommissarin? Hat sie dir weiterhelfen können... oder umgekehrt?"

Er hatte sie vollkommen vergessen! Im Moment schien ihm das Treffen mit dieser Frau Monate her zu sein. Er überlegte. Wann hatte er sie getroffen? Anfang des Monats? Es mochte bald drei Wochen her sein. Höchste Zeit, ein neues Treffen zu verabreden! Gleich abends würde er sie anrufen; sie hatte ihm ja ihre Karte gegeben!
Oh Gott! Die Schlüssel? Sie hatte ihm diese kleinen Schlüssel gegeben! Oder hatte er sie einfach an sich genommen? Warum hatte sie ihn nicht zurückgehalten?

"Nicht wirklich. Nun ja, Pater Ruprecht war wohl nur sein Name als Ordensbruder. Immerhin konnte sie herausfinden, dass er, nachdem er von meinem Internat weggegangen war, nach Regensburg zu den Domspatzen gegangen ist. Aber gemeldet ist er dort längst nicht mehr. Ich habe auch meine Mutter gefragt, ob sie mit diesem PDF etwas anfangen konnte. Aber viel mehr als raten konnte sie auch nicht. Sie hat allerdings versprochen, sich in Rom einmal darum zu kümmern. Wenn überhaupt, dann weiß man dort Bescheid. Wir müssen abwarten, Lyn!"

Die Sanitäterin merkte sehr wohl, dass er sie sprachlich in den Prozess mit hineingezogen hatte. Es war gut so, sie hatte längst beschlossen, ihn bei der Suche nicht allein zu lassen. Es würde sicherlich noch Situationen geben, wo ihre Hilfe benötigt würde. Und sei es nur mit einem Stück Traubenzucker oder einer heißen Suppe.

% % %

Endlich! Ingeborg hatte es kaum glauben können, als sie seine Stimme am Telefon hörte. Ob sie am Sonntag für ihn Zeit hätte? Man könne sich irgendwo treffen? Vielleicht einen gemütlichen Spaziergang an der Isar machen? Sie schlug eine Bar auf der Praterinsel vor, es wäre gut, zuerst etwas zu essen, anschließend könne man dann ja einen kleinen Gang machen.

Der Sonntag hielt wieder strahlend schönes Septemberwetter parat. Leicht nervös schaute Ingeborg in ihren Kleiderschrank; was sollte sie anziehen? Hose ging ja immer noch nicht, die zehnmal verdammten Schenkelbänder verhinderten es leider nach wie vor. Sie überlegte einen Moment; so lange war sie zu Brunos Zeiten nie verschlossen gewesen! Neulich hatte sie sogar ihre Monatsregel bekommen; es war eine gnadenlose Sauerei; sie hatte sich für zwei Tage krank gemeldet; es ging einfach nicht.
Sie entschied sich für einen dünnen, aber doch recht eng anliegenden Pullover, unter einem Jackett sah das bestimmt ganz gut aus. Dazu wählte sie einen dünnen, wadenlangen Faltenrock, den sie seit Jahren aufbewahrt hatte. Irgendwann war er einmal modern gewesen, lange bevor diese langweiligen Miniröcke modern wurden, die heutzutage jede Frau zusammen mit Leggins trug. Vor ihrem Spiegel überprüfte sie noch einmal ihr Aussehen, diesmal war die breite Kette nicht zu sehen, die um ihren Nacken lief; alles war gut versteckt.
Schuhe? Zu diesem Rock konnte sie keine Halbschuhe tragen, und Sportschuhe waren ihr zu leger. Also Absatzschuhe. Wenn schon denn schon, dachte sie.
Sie fand einen Parkplatz ganz in der Nähe der Isar. es war nicht weit bis zur Praterinsel. Das Laufen in ihren Pumps war ungewohnt, in Kombination mit den Schenkelbändern war es eine rechte Herausforderung. Vielleicht hätte sie doch besser ihre Laufschuhe anziehen sollen? Jetzt war es zu spät.

Er war schon da. Der junge Mann hatte sich noch nicht an einen Tisch gesetzt, sondern stand, ihr den Rücken zuwendend, und sah auf den träge dahinfließenden Fluss. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, sie hätte sich gern unbemerkt genähert, aber jetzt drehte er sich um und lächelte sie an. Schüchtern, oder verlegen? Oder vielleicht sogar schuldig?
"Hallo Frau Wimmer! Schön, dass Sie schon kommen!"
Sie beschloss, aufs Ganze zu gehen. Sie musste Schranken überwinden, Abstand abbauen, wollte sie mit diesem Mann weiterkommen. "Ingeborg!", sagte sie und gab ihm die Hand.
"Klaus!, antwortete er. Er blickte wieder auf den Fluss. "Es ist so friedlich hier. Man kann kaum glauben...." Er beendete den Satz nicht.
"So ein Glück wir mit dem Wetter haben!" Eine Floskel, aber man kann nicht immer gleich mit der Tür ins Haus fallen. "Hunger?"
Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. "Oh ja! Ich habe in der letzten Woche nicht richtig gegessen."
Erst jetzt fiel ihr auf, dass er schlecht aussah. "Ich habe Sie vermisst, Klaus." Schmerzlich vermisst, aber das sagte sie lieber nicht. "Ich hatte schon Angst, Sie nie wieder zu sehen..."
Er riskierte einen schnellen Seitenblick auf sie. "War es so schlimm? Ich hatte doch gesagt, dass ich Sie wiedertreffen wollte!"

Sie suchten sich einen schattigen Tisch aus, bestellten Essen. Er richtiges Mittagessen, sie nur eine Kleinigkeit. Sie durfte nicht zunehmen, noch nicht.Während des Essens übten sie sich in harmlosem smalltalk, dann aber fragte er sie ganz ohne Umschweife. "Haben Sie etwas Neues für mich, Ingeborg?"
Es war seltsam, ihren Namen aus seinem Mund zu hören. Sie schüttelte den Kopf. "Nein, leider nicht. Ihr Lehrer hatte einige Zeit in Regensburg bei dem Domspatzen gearbeitet, hat dann aber auch dort gekündigt. Man sagte mir, es soll zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein, aber was genau er dort gemacht hat, weiß ich nicht."
Klaus horchte auf. Unregelmäßigkeiten? Nannte man das jetzt so? Er verbarg seinen Blick. "Und, wo steckt er jetzt? Haben Sie das herausgefunden?"
"Nein. Ich habe ihn in halb Bayern gesucht, also in verschiedenen Melderegistern, aber er scheint sich förmlich in Luft aufgelöst zu haben."
"Kein Mensch löst sich in Luft auf! Ich muss ihn finden!" Seine Mine wirkte finster, entschlossen.
"Und haben Sie etwas für mich, Klaus?" Sie erwartete nicht viel.
Er grinste schelmisch. Griff in seine Jackentasche, holte ein kleines, in Papier eingewickeltes Etwas heraus und gab es ihr.
Ihre Schlüssel! Sie griff danach, etwas zu rasch vielleicht, steckte es in die Tasche ihres Jacketts. Das konnte warten. Aber nicht mehr lange. "Sie sehen schlecht aus, Klaus. Was ist passiert?"
"Er sah sie an. Fuhr sich mit schneller Geste über das Gesicht, so, als wolle er etwas wegwischen. "Es gab einen Trauerfall. Meine Großmutter ist gestorben."
"Oh, das tut mir leid." Hatte ihre Kollegin nicht gesagt, dieser Klaus Behrend wohne bei seiner Großmutter. Aber sie vermied es, Fragen zu stellen.

Sie beschlossen, einen kleinen Gang zu machen. Sie nahmen den Weg über die Praterwehrbrücke, bogen dann rechts auf den Uferweg ab.
"Meine Mutter meint, sie könne mir vielleicht helfen, etwas mehr über diesen Pater herauszubekommen." Er würgte das Wort Pater förmlich hervor.
"Ihre Mutter?"
"Ja. Meine Mutter lebt in Rom. Sie ist Redakteurin bei Radio Vatikan, ist für die deutschsprachige Sendung mit verantwortlich. Sie meinte, PDF sei nicht das richtige Kürzel für die Ordensgemeinschaft. Aber um was genau für einen Orden es sich handelt, das wusste sie noch nicht."
Ingeborg Wimmer hatte ihm aufmerksam zugehört und sich auf ihren Begleiter konzentriert. Der Weg war uneben, sie trat in ein kleines Loch und knickte mit ihrem Fuß um, gerade genug um Klaus heftig anzurempeln, der sie erschrocken auffing. Sie hatte sofort gemerkt, dass sie mit den stählernen Cups ihres Keuschheits-BHs gegen seinen Oberkörper gestoßen war, es musste ihm weh getan haben, aber er ließ sich nichts anmerken.
"Haben Sie sich etwas getan? Ihr Fuß...?"
"Nein, danke, es geht schon. Halb so schlimm. Die Schuhe...." Sie rieb sich den Knöchel, es war noch einmal gut gegangen.
"Tragen Sie wohl nicht so häufig?" Er sah sie an. War da was in seinem Blick?
Sie lachte. "Eher nicht. Wann hat man also Polizeibeamtin mal Gelegenheit, sich fraulich anzuziehen?"
"Steht Ihnen aber gut. Auch der Rock... Ich mag Faltenröcke... Sollten Sie öfter anziehen."
"Und Dirndl?" Sie hatte schnell gefragt. "Ist ja jetzt wieder Zeit für Dirndl... Oktoberfest und so." Seine Brust hob und senkte sich schneller.
"Nicht jedem stehen sie so gut..." Wieder dieser Blick. "Bin gespannt, ob meine Mutter etwas herausfindet." Er wechselte das Thema.

Sie gingen weiter, mussten das Flussufer verlassen, zunehmender Verkehrslärm deutete auf eine breite Straße hin, die sie überqueren mussten. "Die Prinzregentenstraße!", sagte sie. Sie waren an der Luitpoldbrücke angekommen. Es gab keinen Weg unter der Brücke hindurch, sie mussten sie oben überqueren.
Wimmer spürte plötzlich sein Unbehagen. Die Art, wie er plötzlich um sich schaute, wie er verstummte. Seine Augen, die schließlich eine bestimmte Stelle der Brücke fixierten. Seine Hände, die er plötzlich nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Sie kannte die Anzeichen. Aber sie stellte keine Fragen. Er würde alles abstreiten. Sie hatte keinen Beweis gegen ihn. Aber spätestens jetzt spürte sie instinktiv, dass sie der Lösung des Falls ganz nahe war. Was auch immer hier, an genau dieser Stelle an der Luitpoldbrücke geschehen war, sie würde es herausfinden. Sie würde nicht mehr locker lassen.
Sie gingen zurück auf den Uferweg. Plauderten harmloses Zeug. "Haben Sie ihre Bekannte gesprochen?"
"Evelyn?"
"Nein. Die andere. Wie hieß sie doch gleich? Barbara? Ich muss sie sprechen. Ich bin mir sicher, Barbara weiß wesentlich mehr. Mit ihrer Hilfe werde ich den Fall aufklären können. Haben Sie sie gefragt?"
Seine Stimme zitterte. "Ich... ich weiß nicht, ob sie Sie sehen möchte. Ich werde sie fragen... ja, ich frage sie. Aber morgen wird das nicht sein!"

Sie gingen noch ein Stück weiter, dann gab sie es auf. Glücklicherweise klingelte ihr Handy gerade, ein unwichtiger Anruf, sie hätte ihn wegdrücken können, aber sie benutzte ihn als Vorwand, sich von ihm zu verabschieden. Sie wollte nach Hause, wollte endlich ihren nackten Körper genießen, sie würde es keine Stunde mehr aushalten können, jetzt, wo sie endlich die Schlüssel wieder hatte.
Sie wünschte Klaus viel Glück bei der weiteren Suche nach seinem Lehrer, versprach, selber dranzubleiben, und bat ihn noch einmal, möglichst bald Barbara zu einem Treffen zu überreden. Dann verabschiedete sie sich an einer günstigen Stelle, nahm ein Taxi zurück zu ihrem Wagen.

Endlich! Sie atmete erleichtert auf, als sie sich hinter das Steuerrad setzte. Sie ordnete ihren Rock, legte ihre Hand zwischen ihre Beine, spürte den seidenen Stoff der Falten und darunter das stählerne Gefängnis, das sie so lange mit sich herumgetragen hatte. Gleich....

Wimmer griff in die Tasche ihres Jacketts, da war es noch, das kleine Päckchen. Eingepackt in einen Zettel. Sie wickelte ihn auseinander, sah, dass er etwas geschrieben hatte, starrte entsetzt auf die Praline in ihrer Hand. Ich weiß, wofür...., las sie. Sie packte die Praline aus, steckte sie in den Mund, aber auch da waren keine Schlüssel.

Ich weiß, wofür....? Wofür die Schlüssel sind?


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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:26.12.16 16:43 IP: gespeichert Moderator melden


wofür...wofür? Aus technischen Gründen muss mein heutiger Kommentar so kurz bleiben.
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:01.01.17 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


Zum heutigen Neujahrstag möchte ich allen Lesern ein gutes und gesundes neues Jahr wünschen!!
Unsere Geschichte nimmt heute langsam an Fahrt auf! Aber noch wird man sich einige Wochen gedulden müssen, bis wir verstehen, wieso ich letzte Woche von einer Art Weihnachtsgeschichte sprach.
Ich möchte noch einmal erwähnen, dass das Forum sich sicherlich über die eine oder andere Spende freuen dürfte. (Obwohl es mich etwas stört, dass man nirgendwo genaue Zahlen lesen kann; oder ich habe sie noch nicht gefunden!
Und - da mir das Wohl meiner Leser am Herzen liegt! - schreibt bitte, was Ihr denkt. Entweder in aller Kürze, hier auf dieser Seite, oder gern auch etwas länger unter der Rubrik ´Diskussion zu Stories --> Die München-Trilogie´. Eure Daniela möchte schließlich auch ihren Spaß haben!!
Euch allen einen lieben Gruß aus dem hohen Norden!
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Klaus starrte die Decke an. Was? Was sollte das alles eigentlich noch bringen? Ich habe meine kleine, behinderte Schwester in den Tod gestoßen!, dachte er immer wieder. Gut, seine Mutter hatte recht, Evelyn hatte recht, er war noch zu klein gewesen, um die Tragweite seiner Handlung zu erkennen. Aber an der Tatsache ändere es nichts. Sicherlich war daran auch die Ehe seiner Eltern gescheitert.

In seiner Hand hielt er die kleinen Schlüssel. Die wird blöde geguckt haben, als sie die Praline fand! Nix da mit Rammeln, oder bloß sich einen runterholen. Falls Frauen das auch machten, so ganz sicher war er sich da nicht. Ach, sollte diese Ingeborg doch sehen, wie sie damit klar kam! Sein Problem war es nicht. Sein Problem war, dass er nicht weiter wusste. Er hatte den point of return erreicht, den Umkehrpunkt. Es lohnte sich nicht, weiterzugehen. Er fühlte sich wie ein Gipfelstürmer, der nach langer, mühseliger Kletterei auf einem endlosen Hochplateau angekommen ist, wo sich keine Erhebung mehr für den glorreichen Gipfelsturm erkennen ließ.
Er hatte sich wieder ein wenig gehen lassen, hatte vergeblich auf einen Anruf Evelyns gewartet, oder dass sie wieder heftig an die Tür klopfen würde, aber nichts geschah. Die Decke fiel ihm auf den Kopf, es war Zeit hinauszugehen, um was zu machen?? Er wusste es nicht. Das??

Klaus bemerkte die junge Frau, die aus der Seitenstraße kam, erst, als er sie fast umgerempelt hatte. "Monika??" Er erschrak. Nein, das konnte nicht sein.
Auch Monika stutze. Sie hatte sich gerade von Agnes Jensen, Danielas Tante, verabschiedet. Alles war für ihre Rückreise nach Australien bereit, sie hatte neulich die Papiere zur Familienzusammenführung bekommen. Sie hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass ausgerechnet Klaus ihr noch einmal über den Weg laufen sollte. Aber sie verstand immerhin, dass wohl doch etwas am alten Sprichwort dran sein musste: Der Mensch denkt, und Gott lenkt.

"Klaus!? Ich glaub´s nicht! Ich dachte, du bist in Italien? Ich komme gerade von Danielas Tante, die meinte, so etwas einmal gehört zu haben!"
Er grinste sie an. Wusste im Moment nicht, was er von diesem Treffen halten sollte. "Ich bin zurück... zurück aus der Zukunft!" Ein blöde Antwort, das wusste er sofort. Aber sie sorgte dafür, dass Monika lachen musste.
"Oh Mann, immer noch Zurück-in-die-Zukunft-Fan? Wie geht es dir denn so? Hast du Zeit? Wollen wir uns irgendwo hinsetzen, drüben in die Konditorei vielleicht? Ich muss sehen, dass ich jetzt noch all den deutschen Kuchen zu essen bekomme, den ich kriegen kann. Geht ja bald zurück nach Australien!"

Es war nicht weit zu gehen. Sie schwiegen sich aus, redeten ein wenig über das schöne Wetter, und dass schon wieder Oktoberfestzeit sei. "Und", wollte er wissen, als sie mit ihren Getränken und Kuchen Platz genommen hatten, "hast du deinen Vater in Australien gefunden? Ich hab ja seit Ewigkeiten nichts mehr von dir gehört!"
"Ja", lachte sie fröhlich, "ich habe ihn gefunden. Und eine Familie!"
"Meine habe ich gerade verloren." Es war ihm so rausgerutscht. Er hatte es nicht sagen wollen, aber es wollte wohl gesagt werden.
Monika verstand es nicht. "Wen hast du verloren?"
Er sah sie an. Sein Blick war dunkel, die Augen matt. "Meine Familie. Ja, so könnte man es sagen. Ich habe meine Familie verloren." Und dann brach es aus ihm heraus, die ganze schlimme Geschichte, die erzählt werden wollte, weil sie so untragbar schwer war, viel zu schwer für seine schmalen Schultern.

Sie nahm seine Hand, fragte sich, was wohl gewinnen würde, die Wärme ihrer Hand oder die Kälte seiner. Sie suchte nach tröstenden Worten, fand aber nur das übliche Es-tut-mir-leid. "Auch was ich mit dir gemacht habe", fügte sie hinzu und blickte weg.
"Schon gut." Klaus zog die Nase hoch. "Ich hatte es verdient. Ich bin ja selber schuld nach dem Scheiß, den ich mit Dani gemacht hatte..."
"Nein! Nein, Klaus. Du warst doch von Anfang an Opfer meiner perversen Fantasie. Ich hatte dich doch in eine Falle gelockt. Ich allein trage die Schuld..."

Es war ihm unangenehm. Was geschehen war, war geschehen. Da gab es nichts aufzuarbeiten. Die Wahrheit lag sicherlich irgendwo in der Mitte, ein jeder trug Schuld, man konnte und durfte sie nicht anderen in die Schuhe schieben. "Ist es schön in Australien?"
Sie dachte nach. "Weißt du, das ist schwierig zu beantworten. Die Leute, die ich getroffen habe, waren alle super nett zu mir. Papa hat dort unten eine Familie gegründet, er hat zwei nette Mädchen. Sie haben mich sehr herzlich aufgenommen. In wenigen Tagen fliege ich wieder hin. Offiziell heißt das Familienzusammenführung, aber in Wahrheit ist es eher, weil ich dort einen netten Mann kennen gelernt habe. Wir wollen zusammenziehen." Sie sinnierte einen Moment. "Ja, ja es ist schön dort. Ich fühle mich dort geborgen und frei. Ich werde auch in dem Weingut arbeiten können, wo mein Vater arbeitet. Hab jetzt hier in diesem Sommer ein Praktikum oben in Franken gemacht... ja, ich glaube, das wird richtig für mich sein!"
Er sah etwas glücklicher aus, als er sie jetzt ansah. Wenigstens ein glücklicher Mensch!, konnte man aus seinem Blick lesen. "Das ist echt schön für dich, Moni. Da hat sich der lange Weg also gelohnt!"
"Oh ja, das hat er. Aber er war nicht leicht. Auf der Suche nach meinem Vater war ich kurz davor, aufzugeben. Aber ich wollte nicht. Ich musste weitermachen. Es war wichtig für mich! Verstehst du?" Sie trank einen Schluck. Er nickte, unterbrach sie aber nicht. "Weißt du, wie lang und wie steinig ein Weg ist, das erfährt man erst, wenn man ihn betritt. Und stellt dann vielleicht sogar fest, dass es halb so schlimm ist, dass es da Dinge zu entdecken gibt, dass man nicht allein unterwegs ist. Es sind unendlich viele Menschen auf der Suche, nach irgendetwas, nach irgendjemand, nach sich selbst. Wer einfach aufgibt, ist doch schon halbtot." Sie lachte leise, blickte auf ihre Uhr. "Alle Wege führen nach Rom! Du weißt doch, das alte Sprichwort." Sie blickte wieder auf ihre Uhr. "Du, ich muss leider gehen. Hab noch eine Verabredung. Schreibst du mir mal? Wart mal, hier hast du meine E-Mail Adresse.!" Monika nahm einen Bierdeckel vom Tisch, schrieb ihre Adresse darauf und malte noch ein kleines Herzchen hinzu. "Ja, versprichst du, dass du mir schreibst? Wir bleiben in Kontakt, ja?"
Sie stand auf, zog ihre Jacke an, drückte ihn herzlich an sich. "Hab dich lieb!" rief sie ihm noch über die Schulter zu, dann war sie weg.


München, Ende September

Er hatte sich für einen Moment gefangen. Das völlig unerwartete Treffen mit Monika hatte ihm einen neuen Impuls gegeben. Sie hatte sich verändert, das war ihm bald aufgefallen. Da war nicht mehr dieser Zynismus, diese dominante Ader, die immer nur einen Teil von ihr hatte durchscheinen lassen. Sie war, auch wenn er das komisch fand, ganzer geworden. Nicht zuletzt ihr Ich-hab-dich-lieb hatte ihn verwundert; zur alten Monika hätte es niemals gepasst, so etwas zu sagen! Es war deutlich, mit ihr war eine Veränderung vorgegangen. Ein Wunder, dachte er, das er nie für möglich gehalten hätte.

Dann aber holte ihn das Schicksal wieder ein. Mein Schicksal, dachte er, mein gottverdammtes Schicksal... Er hatte eine E-Mail seiner Mutter erhalten, diese sorgfältig durchgelesen, obwohl sie nur aus wenigen Worten bestand.
>OPD = Ordo Pueri Dei<

Ordo Pueri Dei? Davon hatte er noch nie gehört. Klaus tat, was heutzutage jeder tut, der sich informieren will, öffnete Wikipedia und gab den Suchbegriff ein.
Nichts. Kein Treffer. Seine Mutter musste sich getäuscht haben. Etwas, das nicht wenigstens in der einen oder anderen Sprache auf Wikipedia beschrieben wird, das gab es gar nicht.
Er versuchte es mit der deutschen Übersetzung, Orden der Knaben Gottes, aber auch das ergab keinen Treffen. Nicht einmal eine globale Google-Suche konnte weiterhelfen. Sie hatte sich geirrt.
Er ging zurück in sein Mailprogramm, wählte die Adresse seiner Mutter und schrieb: >Du musst dich geirrt haben! So einen Orden gibt es nicht!<

Erst abends erreichte ihn eine Antwort aus Rom: > Habe mich nicht geirrt. Ist eine geheime Bruderschaft, fast so ähnlich wie die französische Fremdenlegion. Ruf mich gegen Mitternacht an!<
Es wurde immer verrückter. Geheime Bruderschaft.... Fremdenlegion. War er in einem Roman von Dan Brown gelandet? Ihm fiel sein Albtraum wieder ein, den er in Rom, als er bei Andrea gefangen war, oft geträumt hatte. Der Schwarze Mönch, der hinter im her rannte, wild gestikulierend und femmina schrie. Aber das war doch auch nur ein Traum gewesen!
Und Pater Ruprecht? Gut, dass ihr keine Mädchen seid! PDF.... Pueri Dei Frater, ja das musste es sein.

Aber das war doch verrückt.

Bereits gegen halb zwölf abends wählte er die Nummer seiner Mutter. Sie war klar und deutlich zu verstehen, die Tage der schlechten Fernverbindungen ins Ausland waren gezählt; ein Glück. Nur halt, dass man heutzutage nicht mehr sicher sein konnte, wer alles sonst noch mithörte und seine Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen.
"Mutter? Du hast dich geirrt. Ich kann absolut nichts finden über diesen komischen Orden!" Seine Stimme klang gereizt.
"Nein, Klaus, ich bin mir ziemlich sicher." Man vernahm eine dumpfes PLOPP, scheinbar hatte sie gerade eine Weinflasche aufgemacht. "Also, hör zu. Ich habe natürlich meine Kontakte hier im Vatikan. Und glaube mir bitte, nirgendwo sonst in der Welt ist die Arbeit als Journalistin so kompliziert, wie gerade hier. Du weißt ja, die einzige Frau, die den Leuten hier was gilt, ist die Jungfrau Maria!" Sie gab ein glucksendes Lachen von sich, dann folgte ein leises Scheiße!, Papier wurde von einer Küchenrolle abgerissen, dann war sie wieder da. "Du wirst hier nie jemanden finden, der wirklich etwas weiß. Aber alle glauben etwas zu wissen! Ist halt eine große Glaubensgemeinschaft hier!" Ein zischendes Geräusch war zu hören, sie hatte sich eine Zigarette angezündet; jetzt konnte also der gemütliche Teil des Abends beginnen.

"Du hast jemanden gefunden, der doch etwas wusste?" Er drängelte etwas.
Seine Mutter lachte. "Oh nein, ich sagte doch schon, so geht das hier nicht. Wir sind hier schließlich nicht bei Gericht, wo nach Fakten gesucht wird...."
"Bis zum Jüngsten Gericht wird es aber nicht mehr lange dauern, wenn die Kirche so weitermacht", warf er ein.
Seine Mutter quittierte mit einem weiteren Lachen, diesmal ohne sich zu verschlucken. Sie schien sich prächtig zu amüsieren. "Ja, Klaus, das ist zu befürchten. Blöde ist nur, die Christenheit wartet schon seit Jahrhunderten auf den Weltuntergang und das Jüngste Gericht, ohne dass wirklich etwas passiert! Sitzen alle immer nur da, beten und warten und vertun ihre Zeit, statt was Vernünftiges zu tun. Mal eben die Welt retten, bevor alles den Bach runtergeht...."
"...wie unser scheiß Plastikmüll, der geht ja auch den Bach runter!"
"Genau! Der kommt aber wieder zurück zu uns! Du weißt doch, die Fische fressen unser scheiß Plastik, weil die Meere voll sind damit, und wir essen dann diese Fische! Mahlzeit! Da lobe ich mir italienische Spaghetti!"

"Mutter!! Was denn nun?" Er kannte die Angewohnheit seiner Mutter, unbegrenzt weiterdenken zu können. Aber er wollte jetzt wissen, was sie herausgefunden hatte.
"Ja? Ach so, ja, dieser famose Orden. Also, ich glaube, ich habe eine Spur gefunden!"
"Du glaubst es, oder du weißt es??" Es konnte anstrengend sein, mit ihr zu telefonieren.
"Ich glaube, ich weiß es! Ich hatte bald nach meiner Rückkehr meine Leimruten ausgelegt. Weißt du, wenn man hier viel rumfragt, dann hat man schlechte Karten. Man muss seine Fragen wie ein Gerücht formulieren, das man selber aufgeschnappt hat. Mit etwas Glück bekommt man dann das zu wissen, was man wissen möchte."
"Ja... ein Gerücht." Er war ärgerlich. "Mutter, das ist doch dummes Zeug. Und du hast ja gesehen, wohin die Gerüchteküche führt! Fremdenlegion! Jetzt sage nicht, es gibt da einen Orden, der irgendwo in der Welt seine Truppen einsetzt, sicherlich dann auch noch ad dei gloriam, zum Ruhme Gottes?"
"Sag ich ja gar nicht!" Klang sie beleidigt? "Also hör zu und schwafel hier nicht rum! Es heißt, es gebe hier einen Orden, dem jeder, der katholisch ist, beitreten kann. Jeder Mann natürlich. Ein richtiger, vom Papst anerkannter Orden ist es nicht, sonst wüsste man es hier. Also es ist eher so eine Brüdergemeinschaft. Davon gibt es dutzende."
"Eine Brüdergemeinschaft?"
"Ja. Irgendwelche Leute tun sich zusammen, basteln sich eine mehr oder weniger christliche Satzung, kaufen sich gemeinsam ein Haus, lassen ihre Einkünfte in ein gemeinsames Konto fließen, machen sich dann ein feines Schild mit nichtssagenden Buchstaben an die Haustür, und fertig ist die Brüderschaft."
"So einfach soll das sein?", zweifelte Klaus.
"Im Prinzip ja. Es gibt hier keine deutsche DIN-Norm für so etwas. Erst, wenn sich so eine Gemeinschaft dazu entschließt, offiziell anerkannt zu werden, wird es kompliziert. Aber das machen wohl die wenigsten. Dauert ja viel zu lange... und sie müssten ständig beten!" Sie lachte wieder, dann hörte man im Hintergrund das Erkennungszeichen von Radio Vaticano, es war bereits Mitternacht. "Klaus, ich muss sehen, dass ich ins Bett komme. Morgen schreibe ich dir, wie du erfahren kannst, wo dein Lehrer lebt. Ich bin jetzt echt zu müde. Aber es gibt einen Weg... es gibt immer einen Weg! Gute Nacht!!"


München u. Rom, Anfang Oktober

Klaus fragte sich, ob die Mitreisenden seine Nervosität für Flugangst hielten. Irgenwie war das alles hier Verkehrte Welt. Bereits vor dem Terminal waren ihm hunderte Italiener entgegengekommen, in der Hauptsache Männer, die alle auf dem Weg zum Oktoberfest waren, um sich eine schöne Zeit zu machen, viel Bier zu saufen, vielleicht mal eine hübsche Blondine im Dirndl anzubaggern.
Er aber saß jetzt im Passagierbereich und wartete auf seinen Abflug.... nach Rom. Mit jeder Minute wurde er nervöser. Rom! Dieser furchtbare Albtraum! Er würde Andrea wieder in die Hände laufen, er würde wieder versklavt, auf ein Schiff verfrachtet, nach Arabien verkauft. Und weshalb eigentlich? Wollte er wirklich all diese Gefahren auf sich nehmen, nur um einen Menschen zu finden, der ihm vor Jahren Schlimmes angetan hatte? Eine Sache, über die längst Gras gewachsen war?
Es war Evelyns Idee gewesen. Sie war Schuld, dass er sich jetzt auf den Weg gemacht hatte! Sie hatte ihm den Floh ins Ohr gesetzt, er solle Pater Ruprecht ausfindig machen, ihn zur Rede stellen.... Oh ja, als ob das so einfach wäre! He du altes Schwein, du dreckiges Miststück, weißt du eigentlich, was du mir und vielen anderen Jungs angetan hast?, würde er sagen. Und dieser würde dann auf die Knie fallen und um Vergebung bitten, dass es ihm sooo unendlich leid täte und er selber doch als Kind missbraucht wurde? Sicherlich würde er irgendso einen Quatsch anbringen - und dann eiskalt weitermachen. Nein, dachte Klaus, auf so etwas würde er nicht hereinfallen. Und er wusste, es gab nur eine einzige Möglichkeit, ihn zu stoppen!

Endlich begann das Boarding. Seine Gruppe wurde zuletzt aufgerufen; er bekam einen Platz hinter der rechten Tragfläche. Genau wie seine Mutter hatte auch er auf einen Koffer verzichtet, sein Rucksack ging noch als Handgepäck durch, er hatte genug Kleider für einige Tage hineingestopft; länger würde es nicht dauern. Wenn überhaupt.
Seine Maschine rollte über das Vorfeld, das Wetter war gut, die Luft leicht diesig, da würde es heute keine Probleme geben. Er sah andere Maschinen auf ihre Parkpositionen rollen, wäre er doch bloß vorher ausgestiegen, dachte er, jetzt war es zu spät, niemand kann seinem Schicksal entrinnen; jetzt war er an der Reihe.
Klaus schloss die Augen, hörte das Aufbrüllen der Triebwerke, spürte mit zunehmender Beschleunigung den wachsenden Druck auf den Körper, das unruhige Rollen des Fahrwerks über die Startbahn, dann, ein Augenblick der Stille, er kippte sanft nach hinten, ein Poltern unter seinen Füßen verriet, dass das Fahrwerk eingefahren wurde, dann gab es eine leichte Bewegung nach rechts, seine Maschine hatte ihren Kurs aufgenommen und strebte der Reisehöhe entgegen.
Er hatte die Welt verlassen. Er blickte aus dem Fenster, sah das leichte Zittern der Tragfläche, die würde ewig halten, die würde nie abfallen; aber er? Könnte man doch nur ewig so weiterfliegen, immer höher dem blauen Himmel entgegen, wie ein kleines, sterbendes Kind, das dem Lieben Gott entgegenschwebte. Aber er wusste, weiter oben war der Himmel nicht mehr blau, dort war er schwarz, und seine kleine Schwester musste unten, im dunklen Keller, sterben, weil er sie hinabgestoßen hatte.

Es gab leichte Turbulenzen über den Alpen, majestätisch lagen sie unter ihm. Seltsam, dachte er, normalerweise verbindet man ein Gebirge mit hohen Gipfeln, die sich emporheben, Orte, die so mancher gern erreichen möchte. Aber von hier oben war es anders, hier waren es die Täler, die Bedeutung bekamen. Einschnitte. Lichtlose Orte. Warum fiel ihm jetzt wieder dieser Spruch ein? Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürcht ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Verrückt, dachte er. Die halbe Weltbevölkerung ließ sich mit derartigen Sprüchen lenken!

Er griff in seine Tasche und holte noch einmal die E-Mail seiner Mutter hervor, die er ausgedruckt hatte. >Hallo Klaus! Endlich habe ich Zeit, wollte Dir doch schreiben, wie Du Namen und vielleicht auch Adresse Deines Lehrers herausbekommst. Es ist etwas tricky, könnte aber klappen! Also, diese Bruderschaft hat hier in Rom ihr Mutterhaus. Also ihren Stammsitz, man nennt es Mutterhaus, soll wohl etwas lieber klingen. Ich hatte doch gesagt, dass es da eine gewisse Ähnlichkeit mit der französische Fremdenlegion gibt. Zumindest, was die Aufnahme betrifft. Mir wurde gesagt, man brauche bloß zu dieser Bruderschaft hinzugehen, um Aufnahme bitten, und dann wählt man sich einen Namen aus, unter dem man fortan leben möchte. Sinn dieser Übung ist natürlich, dass man auf diesem Wege sein gesamtes bisheriges Leben hinter sich lassen soll, der neue Name steht sinnbildlich für das neue, christliche, Leben, das zu führen man von nun an entschlossen ist. Man wird nicht nach seinem Vorleben gefragt, angeblich bekommt man sogar neue Dokumente. Allerdings muss die Bruderschaft sichergehen, dass es keinen Namen doppelt gibt. Man sieht also nach, ob der gewünschte Name bereits vergeben ist. Und jetzt kommt´s! Angeblich macht man all das allein, sobald man das Haus betreten hat, in einem Raum mit einem PC. Und hier sind, nach dem was ich so gehört habe, die neuen Namen zusammen mit den alten Namen abgespeichert! Auch in einer Bruderschaft heißt es also: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! So, ich hoffe, ich konnte Dir damit helfen! Brauchst also nur dort hinzugehen und so zu tun, als wolltest Du bei der Truppe mitmachen! Sage Bescheid, wenn Du kommst! Kannst bei mir wohnen! Mama - PS. Bring besser mal Deine Taufurkunde mit, man weiß ja nie!<

Der Schweiß brach ihm wieder aus, als er an die Suche nach seiner Taufurkunde dachte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er suchen sollte. Sicherlich hatte seine Oma dieses Papier besessen, aber was hatte sie damit gemacht? Hatte sie es jemals für irgendetwas gebraucht? Immer verzweifelter hatte er Schränke und Schubladen durchstöbert, hatte alte, fast schon vergilbte Akten aus dem Leben seiner Oma gefunden, Dokumente mit Hakenkreuzstempel, Dokumente mit verschmierten Stempeln amerikanischer Besatzungsbehörden. Ein komplettes Leben hatte sich vor ihm ausgebreitet, säuberlich dokumentiert. Nur von seiner Taufurkunde war nichts zu finden. Wohl aber Belege dafür, dass seine Großmutter Gutes für andere getan hatte, sie hatte für die SOS Kinderdörfer gespendet, sie hatte Lose der Aktion Mensch gekauft, sie hatte scheinbar sogar die Pflegepatenschaft für eine kleine Magda übernommen, von der sie nie erzählt hatte. Fast war es ihm vorgekommen, als hätte seine Oma jahrelang versucht, eine Schuld abzutragen.

Erst der Gedanke daran, wofür sie seine Taufurkunde möglicherweise gebraucht haben könnte, hatte ihn weitergebracht. Vielleicht für das Internat? Mittlerweile klammerte er sich an jeden rettenden Gedanken, die Sache mit dem Internat war nicht ganz unwahrscheinlich. Immerhin wollte man dort ja bestimmt sichergehen, keine falsche Brut aufzupäppeln.
Und tatsächlich, ein Anruf hatte Klarheit gebracht. Das für ihn so wichtige Dokument war abgeheftet worden, man hatte, nach seinem Abgang von der Schule, leider vergessen, es ihm auszuhändigen. Eine Menge Entschuldigungen folgten, verbunden mit der Frage, wofür er es denn jetzt, so gänzlich unerwartet, gebrauche, und er ließ es sich nicht nehmen, der Sekretärin zu stecken, er trage sich mit dem Gedanken, einer Bruderschaft beizutreten... und: Blöde Kuh! Ach, leck mich doch! in Gedanken angefügt. Das hatte gut getan, besonders als er die ihm allzu vertrauten Schwingungen vom anderen Ende der Verbindung wahrnahm, die ihn schon zu Schulzeiten immer so angekotzt hatten, sobald einer der Patres in der Nähe war. Ekelhaft, dachte er, die werden es nie lernen! Immerhin kam das Papier schon einen Tag später mit der Post; die Sekretärin hatte Wort gehalten und er hatte seine Reise planen können.

Rom Fiumicino empfing ihn mit feuchter Schwüle. Er kannte den Flughafen von früheren Reisen, fühlte normalerweise eine gewisse Leichtigkeit, wenn er über die herbeigefahrene Treppe die Maschine verließ und zum ersten Mal wieder diese betörende Mischung aus harzigem Pinienduft, Meeresbrise und Kerosin einatmete, aber heute war es anders.
Er sah sich um, noch bevor er den Beton des Vorplatzes betreten hatte. Er warf seinen Rucksack über die Schulter, trug ihn aber nicht, wie sonst, nur über der einen Schulter, sondern über beiden Schultern, bereit, notfalls davonlaufen zu können. Davonlaufen?, dachte er. Er war sein ganzes Leben lang davongelaufen. Hatte er sich nicht auf diese Reise eingelassen, um endlich einmal nicht mehr davonzulaufen? Um irgendwie den Bann des Bösen zu brechen? Um endlich den Kampf aufzunehmen, jetzt, da er stark genug geworden war?
Seine Mutter holte ihn nicht ab. Es war früher Nachmittag, sie würde genug zu tun haben in der Redaktion von Radio Vatikan. Weise Gedanken und Worte des Papstes mussten in alle Welt hinausgefunkt werden; das Wort Gottes allein genügte schon lange nicht mehr. Aber man wollte sich am frühen Abend in einer Taverne zum Essen treffen; so hatten sie es vereinbart. Zeit genug also, mit dem langsamen, aber günstigeren Bus in die Stadt zu fahren.

"Hattest du einen guten Flug?" Seine Mutter umarmte ihn und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
"Danke. Ja, war ganz gut. Ist ja immer noch ganz schön heiß hier in Rom."
"Oh ja, endlich kann man es wieder aushalten!" Seine Mutter lächelte, sie schien den Unterschied nicht bemerkt zu haben. Sie bestellte Essen, für Klaus gleich mit, was er dankbar zur Kenntnis nahm, denn seine Italienischkenntnisse hielten sich nach wie vor in Grenzen.
"Ich hoffe, du hast einen guten Stadtplan von Rom?", kam er schließlich zur Sache. "Mein altes Handy hat leider Probleme mit dem Internet."
"Einen Stadtplan? Wofür brauchst du denn einen Stadtplan?"
Hatte Klaus sich gerade noch gut gefühlt, war dieses Gefühl mit einem Schlag wieder einer schwarzen Wolke gewichen, die sich auf sein Gemüt legen wollte. Was sollte das? Spielte sie mit ihm? Immer dieses Diffuse bei seiner Mutter. "Ich muss doch diese Adresse von der Bruderschaft finden! Schon vergessen?"
"Natürlich nicht, Klaus. Als ob ich das vergessen könnte!" War da etwas beleidigte Leberwurst in ihrem Blick? "Aber was willst du da mit einem Stadtplan? Glaubst du, deren Mutterhaus ist da irgendwo eingezeichnet?" Sie zog spöttisch einen Mundwinkel nach unten.
"Mensch, Mama! Aber die Adresse, die du mir gibst, die werde ich ohne Stadtplan ja wohl nicht finden, oder?"
Seine Mutter sah ihn erstaunt an. So als wurde ihr gerade gewahr, dass ihr Sohn nicht alle Tassen im Schrank hatte. "Was für eine Adresse denn? Ich habe keine Adresse."
Er ließ Gabel und Messer polternd auf den Teller fallen. Keine theatralische Geste, nur eine natürliche Schreckreaktion. "Was?? Wie.... wie du hast keine Adresse für mich? Du sagtest doch, man brauche nur hinzugehen und um Aufnahme zu bitten, und.... und...."
"Ja, das habe ich gesagt."
"Verarschen kann ich mich selber, Mutter." Er hatte sich längst entschlossen, so schnell wie möglich zurückzufliegen. Das hier hatte keinen Sinn. Er würde die böse Vergangenheit ruhen lassen, wollte nicht mehr in ihr herumstochern und am Ende weitere Leichen zum Vorschein bringen. Aus. Das Spiel war aus.


München, Anfang Oktober

Verloren. Sie hatte das Spiel eindeutig verloren. Ingeborg Wimmer überlegte nicht zum ersten Mal, ob sie sich krank melden sollte. Und dann? Wie war das? Drei Tage ohne Attest? Nein, das war keine Option. Gab es irgendeine Möglichkeit, ihren stählernen BH endlich loszuwerden, den Keuschheitsgürtel ausziehen zu können, sich die verfluchten Schenkelbänder von den Beinen abstreifen zu können? Eigentlich nicht. Doch, aber erst dann, wenn sie sich verloren gab. Es gab Werkzeug, welches dicke Ketten zerschneiden und Schlösser sprengen konnte.
Sie durfte nicht verlieren. Sie musste das Spiel ganz einfach noch nicht verloren geben, das war es. So simpel konnte man es formulieren. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie es angefangen hatte. Hatte es mit den Schlüsseln angefangen, die sie, scheinbar spielerisch, scheinbar achtlos, Klaus an jenem Nachmittag Ende August zugeschoben hatte? Oder hatte es schon viel früher begonnen, sehr viel früher, als sie kleine Schlösser gekauft hatte und dann so lange mit einer Feile bearbeitete, bis sie imstande war, sich selber einzuschließen? Sie erinnerte sich nur zu gut an jenen Moment, als sie die Leiche des jungen Mädchens unten an der Isar untersucht hatte. Die Ärztin, die sagte, sie habe ein Problem, die Körpertemperatur zu nehmen! Als sie dann feststellen musste, dass die Tote unter ihrem Dirndl komplett verschlossen war.... Und wie sie bereits an jenem kalten Oktobermorgen spürte, das hier, dieses Eingeschlossensein, das musste sie auch ausprobieren! Ja, einfach war das gewesen, denn sie hatte gar keine Wahl gehabt. Der Keuschheitsgürtel, der BH und die Schenkelbänder hatten Macht über sie, ließen sie nicht mehr ruhig schlafen, nicht mehr logisch denken; sie übten eine dunkle Magie auf sie aus, fast so wie der goldene Ring in ´Herr der Ringe´.

Die ersten Tage, nachdem sie sich Klaus ausgeliefert hatte, boten eine ständige Steigerung ihres sexuellen Verlangens. Nach gut zwei Wochen rebellierte ihr Körper, schaltete er auf Frigidität um; sie spürte kein Verlangen mehr, nur noch den Kampf des Körpers gegen die ewig spürbare Wand aus Stahl. Sie arrangierte sich, so gut es ging, schraubte ihr Aktivitätsniveau herunter, drückte sich tief in weiche Kinosessel, statt durch die City zu flanieren. Richtig schlimm aber wurde es erst, nachdem sie feststellen musste, dass Klaus ihr die Schlüssel nicht wiedergeben wollte. Dieser Zettel... ich weiß wofür..., wusste er es wirklich? Oder hatte er am Ende etwas ganz anderes gemeint? Nein, ausgeschlossen. Er musste es gewusst haben. Spästens ab diesem Zeitpunkt wuchsen neben den psychischen Qualen auch die physischen Schmerzen; sie glaubte, ihre Beine würden dicker, der enge BH ließ sie nicht mehr richtig atmen, immer wieder hatte sie Attacken von Atemnot, der Taillenreifen schnitt sich in ihr Fleisch und der Reifen, welcher durch ihren Schritt verlief und ihr nach wie vor den Zugang zu ihrer Scham verwehrte, drückte immer heftiger gegen ihr Steißbein; ein Schmerz, den sie immer häufiger mit Schmerzmitteln bekämpfen musste.

Wer war dieser Klaus? Sie hatte einiges herausgefunden, aber viel zu wenig, um ein Psychogramm erstellen zu können. Sie spielte die möglichen Varianten durch: Erstens: Er war selber Opfer. Aber Opfer wovon? Von wem? Von diesem seltsamen Lateinlehrer? Da war er sicherlich nicht allein. Tausende Schüler in der ganzen Republik waren doch mehr oder weniger Opfer ihrer Lateinlehrer. Oder hatte man jemals von einem guten Lateinlehrer gehört?
Die zweite Möglichkeit war, er war Zeuge der Tatnacht. Aber wenn er etwas gesehen hatte, warum kam er nicht damit heraus? Wollte er jemanden decken? Vielleicht gar diese Barbara? Oder war es die allgemeine Scheu vor der Zusammenarbeit mit der Polizei?
Eine dritte Möglichkeit war sicherlich die unwahrscheinlichste. Er hatte bloß durch Zufall Kenntnis von der ganzen Sache bekommen. Wenn dem so war, warum hatte er dann überhaupt Kontakt zur Polizei aufgenommen? Obendrein noch so kompliziert, indem er diese Sanitäterin vorschickte? War er einfach nur ein verklemmter junger Mann, der mal eine Polizeibeamtin anbaggern wollte? Dieser ganze Quatsch mit ihrem Aussehen?
Oder die vierte und letzte Möglichkeit. Er selber war der Täter. Ein Psychopath, ein Mensch, dem man nie etwas würde beweisen können. Jemand, der sich möglicherweise schon sein neues Opfer ausgesucht hatte? Es fröstelte sie. Der Gedanke an ein weiteres, unschuldiges Mädchen, das durch ihn den Tod finden konnte, ließ ihr keine Ruhe.
Sie hatte in den Akten nachgelesen, was zu seiner Zeugenbefragung festgehalten wurde. Es war verschwindend wenig. Er wurde als junger, sehr introvertierter Mann beschrieben. Mann hatte einen Abdruck von seiner Hand gemacht, aber nur festgehalten, dass es keine Übereinstimmung gab. Der Abdruck selber war nicht mehr vorhanden, der Name des Beamten, der die Befragung durchgeführt hatte, war ebenfalls nicht festgehalten.

In der Akte fand sie das Phantombild jener jungen Frau, die Barbara genannt wurde. Nichtssagend, dachte sie. So sehen fünfzig Prozent aller Frauen aus! Würde sie sie jemals treffen? Sie musste sie treffen! Oder war vielleicht gerade diese Barbara schon das nächste Opfer, das er sich ausersehen hatte?
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Bis zum Sankt Nimmerleinstag würde sie nicht warten. Vielleicht noch ein, zwei Wochen. Frühestens dann würde sie ihre Niederlage eingestehen.... und zum nächsten Baumarkt gehen!

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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:07.01.17 20:01 IP: gespeichert Moderator melden


Das Unvorsehbare ist geschehen: Monika aus dem fernen Down Under hat doch noch eine Erwähnung bekommen. Das ist schade, das es wahrscheinlich nur bei dem kurzen Intermezzo bleibt. Interessant wäre es halt zu erfahren, wie sie inzwischen mit ihrer dunklen Seite umgeht und damit soll nicht ihre dominante Ader gemeint sein...

[Edit]: Dieser Eintrag wurde zuletzt von ev_1 am 07.01.17 um 20:03 geändert
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Daniela 20
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:08.01.17 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


Und schon wieder Sonntagabend!! Ich freue mich, dass es in meiner Geschichte voran geht und hoffe, dass meine Leser weiterhin gut unterhalten werden. Übrigens steckt da mehr Arbeit drin, als man vermuten mag! Das Schreiben selbst dauert natürlich seine Zeit, aber es geht meist flott von statten. Im Grunde genommen musst ich ja nur die Augen schließen und dann beschreiben, was ich sehe. Blöde nur, dass es sich so, mit geschlossenen Augen, schlecht schreiben lässt!!
Viel Zeit vergeht dann meist sonntags damit, die Codes für fetten und kursiven Text einzubauen! Und dann, wenn ich dies fertig habe und den Text auf die Forumseite hochlade, kommt das Schlimmste! Dann nämlich muss ich, anhand des kleinen Schreibfensters, nachträglich noch einmal den ganzen Text durchgehen und Absätze einbauen, da sich diese leider nicht von meinem Originalmanuskript mitkopieren lassen. Dies ist wirklich sehr nervig und dauert ewig und mit dem Resultat bin ich selten zufrieden.
Es tut mir leid lesen zu müssen, dass scheinbar andere Probleme haben, Kommentare zu schreiben. Traurig, sehr traurig. Vielleicht wissen ja die weisen Admins, woran es liegt??

Heute Nachmittag schrieb ich ein wenig Generelles zu meiner Geschichte. Bitte nachlesen in der Rubrik "Diskussion zu Stories ---> Die München-Trilogie.
Ich danke weiterhin für Euer Interesse und hoffe, bald wieder mehr Kommentare lesen zu können. Und nun gute Spannung!
Eure Daniela 20
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Rom, Mitte Oktober

Er war geblieben. Seine Mutter hatte seine Unruhe, seine Enttäuschung bemerkt und ihn gebeten, wenigstens über Nacht zu bleiben, alles noch einmal zu überdenken. Und genau das hatte er getan. Er hatte sich Monikas Worte in Erinnerung gerufen: Ich war kurz davor, aufzugeben. Aber ich wollte nicht. Ich musste weitermachen. Es war wichtig für mich! Hatte er denn gar keine Chance?
Trotzdem verlief der Abend alles andere als harmonisch. Klaus spürte die Distanz zwischen ihm und seiner Mutter, sobald beide etwas zur Ruhe gekommen waren. Er wusste, es lag immer noch etwas zwischen ihnen, der Name eines Kindes, das er auf seinem Gewissen hatte. Nach einem Glas Wein - in vino veritas - sprach er ihn aus: "Lenchen?"
Seine Mutter musste es erwartet haben. Ein unruhiger, flatternder Blick traf ihn, dann schüttelte sie müde den Kopf. "Ich will nicht darüber sprechen. Nein!"
"Aber du musst doch..."
"Gar nichts muss ich, Klaus. Ich will nicht darüber sprechen und schon gar nicht daran denken. Es war eine schlimme Zeit...." Sie sackte etwas zusammen. "Es ist vorbei. Es war ein Unfall. Sie ist lange tot... Nein! Da gibt es nichts, worüber wir sprechen müssten. Ich will es nicht!" Sie zündete sich eine Zigarette an und ging an das geöffnete Fenster. Es war dunkel geworden in der Ewigen Stadt, nur die mächtige Kuppel des Petersdoms glänzte erhaben über römischen Dächern. Ferner Straßenlärm drang an sein Ohr, der Geruch der Großstadt füllte den Raum.

"Wirst du bleiben?", fragte sie ihn, während sie hinausschaute und weiße Rauchwolken in den dunklen Himmel blies.
´Fumo bianco.... fumo bianco!!´, glaubte er eine Stimme zu hören, die sich vor Begeisterung fast überschlug. Hatte er das erlebt? Nicola.... Die Erinnerung ließ ihn nicht los, die wenigen Wochen, bevor sein wahres Martyrium einsetzte, die Wochen und Monate der Gefangenschaft, der Erniedrigung, der Hilflosigkeit. ´Habemus papam!!´ Dieser ekstatische Freudenruf, der wie ein Lauffeuer durch die Menge hallte, die vielen glücklichen Gesichter, die ihn umgaben. Der Glaube der Vielen an die heilsbringende Botschaft...
"Bleibst du?" Seine Mutter wiederholte ihre Frage. Jetzt sah sie ihn an.
"Habe ich eine Chance?" Er sah zu Boden.
"Eine Chance? Du willst eine Chance? Dann geh ins nächste Spielkasino. Dort hat man Chancen. Hier ist das anders!"
"Aber ich kann doch nicht wochenlang durch die halbe Stadt laufen und Türschilder suchen!"
"Wenn du nur die halbe Stadt absuchst, wirst du nur eine halbe Chance haben! Dann flieg besser morgen wieder nach Hause!"
Er stand auf, stellte sich neben seine Mutter ans Fenster. "Dieses wahnsinnige Häusermeer dort unten..." Er schwieg. Nein, das ging einfach nicht.
"Wart mal! Ich hole mal eben das Buch!" Sie ging in ihr Arbeitszimmer.
Das Buch? Welches Buch sollte das sein? Sie hatten bis jetzt über kein Buch gesprochen. Als sie zurückkam, sah er, welches Buch sie meinte.
"Schlag mal auf! Matthäus, Kapitel 7, Vers 7!" Sie reichte ihm eine deutsche Bibel.
Er zögerte, dann nahm er das Buch, schlug die Textstelle auf und las, was der Evangelist geschrieben hatte. Seine Augen wurden feucht, wieder so ein Spruch... Immer nur Sprüche, dachte er, aber seine Entscheidung war gefallen. Er schwieg, dann nickte er.

Seine Mutter reichte ihm sein Weinglas. "Ich weiß, was du denkst. Aber da steckt doch eine Menge Wahrheit drin. Weißt du, es ist immer leicht an allem zu zweifeln, alles zu verhöhnen, für dummes Zeug zu halten. WIR stehen ja über den Dingen! WIR sind ja aufgeklärt! WIR wissen heutzutage ja alles! WIR brauchen diesen ganzen Scheiß doch nicht.... Aber, wenn ich es boshaft sagen sollte, auch das ist nur Glaube. WAS wissen wir denn wirklich? WAS können wir denn wirklich bis ins kleinste Glied erklären? Du musst zugeben, im Leben gibt es immer wieder Situationen, in denen wir feststecken, wo wir keinen Meter weiterkommen, so sehr wir uns auch mühen. Und was hilft uns dann? Oh ja, diese altmodischen Werte wie Glaube, Liebe, Hoffnung!! Sie mögen in unserer heutigen Zeit für uns alle die größte Herausforderung sein, sie noch in unser Leben zu lassen, ihnen Platz zu geben, Platz und Zeit. Ja, der Glaube braucht Platz im Menschen, denn er möchte wachsen, ganz wie die Liebe. Und die Hoffnung braucht Zeit, unendlich viel Zeit. Sie dürfen wir am allerwenigsten einschränken, wir dürfen nicht sagen, ich hoffe, bis morgen wird alles gut, und danach kommt die Sintflut und alles geht den Bach runter! Nein, wir müssen der Hoffnung Zeit geben, und wenn es morgen nicht klappt, dann wird es übermorgen klappen, oder nächste Woche! Wir besiegen das Schickal, indem wir einen Gedanken fassen, einen guten Gedanken, und ihn der rauen Wirklichkeit gegenüberhalten! ICH gebe nicht auf, ICH weiß, wie es besser sein wird!! So funktioniert das, Klaus!"

Welch eine Rede! Nie zuvor hatte er seine Mutter so reden hören! Klaus stellte sein Glas auf dem schmalen Fenstersims ab, nahm seine Mutter in den Arm, ließ nun seinen Tränen freien Lauf. Doch die Schuld blieb bei ihm; er hatte ihr kleines, behindertes Kind getötet; es würde immer so bleiben....

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"Ordine pueri dei?" - "Casa OPD?" Seit Tagen war er unterwegs. In irgendeiner Straße, in irgendeinem Stadtteil Roms, auf irgendeinem der Sieben Hügel der italienischen Hauptstadt. Einen wirklichen Plan hatte er sich nicht ausgearbeitet, Leute beobachten, Leute fragen, immer dieselben Fragen, immer gab es dieselben Antworten. Irgendwo musste es sein.
Die ewige Suche in der Ewigen Stadt, sie wurde zunehmend zu seiner persönlichen via dolorosa, seiner Straße der Schmerzen. Er spürte das Kreuz, das er mit sich herumtrug, durch enge Gassen oder breite Avenuen, tot, dachte er; Daniela war tot, weil er nicht geholfen hatte, Lenchen war tot, weil er sie hinabgestoßen hatte. Hatte es überhaupt noch einen Sinn?
Die Schönheit der Stadt sah er längst nicht mehr, für ihn bestand sie nur noch aus langen Straßenschluchten, von der Sonne ausgeblichenen Häuserfronten, dreckigen oder prozigen Türschildern, Hunden, die ihn anknurrten, wenn er Eingangstüren zu nahe kam. Und immer wieder dieselbe Frage: ´Sai la casa OPD? - Dove si trova la casa OPD? - La fratellanza OPD?´ Auch die Antworten waren immer gleich: ´Non lo so!´ - ´Non ho idea! - ´Scusate....´ Die Verzweifelung begann an seiner Seele zu nagen. Er konnte nicht ewig so weitermachen.
Er begann, Passanten auszuwählen, die vielleicht etwas wissen könnten. Geistliche im Ordenshabit. Sogar Nonnen hielt er an. Aber immer nur dieses typische Kopfschütteln, der gestresste Blick. Wie, so hatte er sich schon hundert Mal gefragt, wie würde ein Bruder dieser Bruderschaft aussehen?? Gab es besondere Kennzeichen? Trugen sie Habit oder Zivil? Doch, Pater Ruprecht hatte immer ein schwarzes Ordensgewand getragen. Aber galt das allen Patres?
Es ging ihm nicht gut. Er lief, tagein tagaus, tausende von Metern, kam aber keinen Schritt vorwärts. Und bemerkte bei seiner versessenen Suche nicht mehr, dass ihn längst ein steter Schatten begleitete, die kaum mehr zu zügelnde Angst, er könnte Andrea über den Weg laufen. Je länger es dauerte, um so größer wurde seine Furcht, entdeckt zu werden, um so stärker war sein Wunsch, wieder nach Hause fliegen zu können.
Pausen machte er selten und höchst ungern. Pausen waren vertane Zeit, sie würden ihm weder helfen noch Ruhe geben. Aber es kam vor, dass er sich ab und zu einen Espresso leistete, wenn er drohte, vor Müdigkeit umzukippen.

Er nahm seinen Kaffee vom Tresen, bekam ein Glas Wasser dazu und bestellte auch noch einen Pizzaslice, ohne Essen ging es nun mal nicht. Dann suchte er sich einen freien Tisch, schob das dicke Buch zur Seite, das jemand dort liegengelassen hatte. Dann setzte er sich.
Er konnte später nicht mehr sagen, warum er das Telefonbuch aufgeschlagen hatte. Es war nicht das erste Telefonbuch, in dem er nach der Adresse suchte, aber gefunden hatte er nichts. Ihm war aufgefallen, dass dieses Telefonbuch dicker schien, als das seiner Mutter. Edizione 2004, las er auf dem Einband. Es mochte sein, dass viele Telefonkunden mittlerweile auf einen Eintrag verzichteten; sicherlich war es auch eine Kostenfrage. Er schlug die entsprechende Seite auf, dann hieb er mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass er die Hälfte seines sowieso schon minimalistischen Kaffes verschüttete. "Bingo!"


München, Mitte Oktober

Es war so weit. Sie hatte sich ein zeitliches Limit gesetzt, hatte beschlossen, der physischen und psychischen Qual ein Ende zu setzen. "Okay, ich gebe auf!", sagte sie leise zu sich selber. Ingeborg Wimmer hatte aufgegeben, hatte ganz einfach keine Lust mehr, ihre Hoffnung, Klaus noch einmal wiederzusehen war gänzlich geschwunden.
Sie hätte ihn nicht einmal zur Fahndung ausrufen können. Ingeborg wusste längst, wo der junge Mann wohnte, war einige Male an jener alten Villa vorbeigefahren, aber das Haus wirkte dunkel und verlassen. Einmal hatte sie lange davor gestanden, vielleicht würde er ja doch bald kommen, aber er war nicht gekommen, sie hatte ihre Zeit vergeblich verplempert und sie steckte nach wie vor in dem ganzen Stahlzeug.

´Do it yourself!´ dachte sie, als sie den Baumarkt betrat. Was würde sie benötigen? Eine Zange? Etwas ratlos lief sie durch mannshohe Gänge, sah Dinge, die sie noch nie gesehen hatte, deren Zweck sie nicht im Entferntesten erahnen konnte und fragte sich mehr und mehr, ob es hier wohl so etwas wie eine simple Zange gäbe?
"Kann ich Ihnen helfen?" Eine junge Verkäuferin war plötzlich wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht; zuvor hatte sie nur einen jungen Mann an der Kasse gesehen.
"Äh, ja, ich weiß nicht..."
"Was brauchen Sie denn?"
"Eine Zange." Die Verkäuferin führte sie in einen anderen Teil des großen Geschäfts.
"Eine bestimmte Zange? Wofür soll sie denn gut sein?"
"Ich muss... äh, ich muss eine Kette durchschneiden. Und Stahlblech. Kräftiges Stahlblech. Und möglicherweise auch zwei kleine Schlösser knacken!"
"Das klingt kompliziert", lachte die Verkäuferin. "Eine Bank wollen Sie aber nicht ausrauben, oder?" Sie kramte in einem Kasten und drückte Wimmer eine Zange in die Hand. "Wie wäre es mit dieser Kombizange?"
Ingeborg betrachtet die Zange, kurz nur, dann gab sie sie der Verkäuferin zurück. "Nein, die würde schon beim ersten Versuch auseinanderfallen. Haben Sie nichts anderes?"
"Wenn Sie mich fragen, dann brauchen Sie drei Dinge, eine ordentliche Beißzange, eine kräftige Blechschere und für die Schlösser einen Bolzenschneider!"
Ingeborg verzog ihr Gesicht. "Das meinen Sie jetzt aber nicht im Ernst, oder?"
"Nun ja, wenn Sie natürlich wirklich auf Nummer Sicher gehen wollen, dann nehmen Sie lieber gleich einen Schneidbrenner! Kann ich Ihnen auch besorgen. Aber die Gefahr ist groß, dass Sie sich verbrennen, wenn Sie sich mit so etwas nicht auskennen."
"In dem Fall würde das auch nichts helfen", gab Ingeborg schnippig zurück.
"Wie meinen?" Die Frau beäugte sie argwöhnisch.
"Nichts. Aber vielleicht kann ich auf den Bolzenschneider verzichten. Also, vielleicht eine ordentliche Kneifzange und eine gute Blechschere?" Würde es wirklich damit gehen? Die Kette zwischen ihren Beinen bestand aus gehärtetem Stahl, so etwas konnte man nicht einfach durchkneifen. Und wo um Himmels Willen sollte sie denn die Blechschere ansetzen? Der Taillenreifen und der genauso breite Brustreifen des BHs lagen so eng auf ihrer Haut, da käme sie doch nie mit einer Blechschere drunter! Dabei war es noch nicht einmal sicher, ob sich das Stahlblech wirklich einfach so durchschneiden ließ.

Plötzlich wurde ihr übel. Verschlossen und vergessen, fuhr es ihr durch den Sinn. Er musste sie schlichtweg vergessen haben! Oder war ihm gar etwas zugestoßen? Sie entschloss sich, sofort Todes- und Vermisstenanzeigen durchzusehen. Es war schon leicht unheimlich, dass der junge Mann sich seit Wochen nicht mehr gemeldet hatte.
"Ist Ihnen nicht gut? Soll ich ein Glas Wasser holen?" Besorgnis lag in der Stimme der Verkäuferin.
"Nein, danke, es geht schon. Sagen Sie, was würden denn die beiden Dinge kosten?"
Die Verkäuferin nannte ihr den Preis.
"Oh, das ist ja ein stolzer Preis! Gibt es da vielleicht Rabatt?" Fragen konnte man ja immer.
"Klar doch! Ist ja keine Tiernahrung!" Die Dame war beruhigt, dass das Verkaufsgespräch fortgesetzt werden konnte.
"Ja, dann muss ich wohl..." Das Piepsen ihres Handys unterbrach sie. Eine SMS konnte immer wichtig sein, wenn man bei der Polizei arbeitete. "Entschuldigen Sie mich bitte, es könnte wichtig sein!" Wimmer kramte ihr Handy hervor, sah das Symbol für eine eingegangene SMS blinken, drückte die entsprechende Taste ihres Bildschirms und las: >HALLO INGEBORG! MUSSTE LEIDER VERREISEN. HABE NEUE SPUR. RUFE SIE BALD WIEDER AN, WENN ICH IN MÜNCHEN BIN! GRUSS KLAUS<
Ingeborg Wimmer packte ihr Handy zurück in ihre Tasche, nickte der Verkäuferin zu. "Ach, wissen Sie, ich habe es mir doch anders überlegt. Lassen Sie die Zange ruhig liegen. Ich will doch lieber den Schneidbrenner nehmen!" Sagte es, drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Baumarkt, eine ratlose junge Verkäuferin hinter sich zurücklassend!


Rom und München, Mitte Oktober

Klaus nahm auf seinem Sitz Platz und nahm kaum die Sicherheits- und Evakuierungshinweise wahr, die eine Flugbegleiterin vor seinen Augen mit den üblichen Bewegungen erklärte. Dass es so einfach sein konnte!!
Zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich richtig gut. Huber!, dachte er. Er hatte seine Mutter am Abend mit der Bitte überrascht, sie möge ihm jetzt doch den Stadtplan von Rom geben, denn er brauche ihn jetzt. Via Formosa 22, die würde er schnell finden. Seine Mutter erinnerte ihn am nächsten Tag noch daran, seine Taufurkunde mitzunehmen.
Sorgfältig hatte er seine Kleidung überdacht. Nichts jugendlich Flippiges, keine bunten Farben. Eher etwas, das an ein Büßergewand erinnerte. Oder an eine Vogelscheuche, scherzte seine Mutter.Er hatte sich in den letzten Tagen immer mehr über sie gewundert. Wieso stellte sie keine Fragen? Als Journalistin lebte sie doch vom Fragenstellen! Erklären konnte er es sich nicht. Vielleicht hoffte sie, er würde von sich aus erzählen, wenn er Erfolg gehabt hatte? Oder war es einfach ihre Art, ihm seine Menschenwürde zu gewähren, indem sie ihn nicht mit ihrer geballten Fragekunst löcherte?
Während die Boeing zur Startbahn rollte erinnerte er sich wieder seiner grenzenlosen Furcht, als er das langgesuchte Haus endlich fand und vor dem Eingang stand und lange, den brozenen Türhammer in der Hand, überlegte, ob er anklopfen oder Leine ziehen sollte. Dann aber fielen ihm wieder die Worte ein, die er bei Matthäus gelesen hatte: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Und er hatte den Türhammer fallen lassen, einmal, zweimal, dreimal. Schlurfende Schritte waren zu hören, ein bärtiger Mann öffnete und empfing ihn mit italienischem Wortschwall.
Er war sich nicht sicher gewesen, was all dies zu bedeuten hatte, und erst recht nicht, was er selber sagen müsse, aber er versuchte es einmal mit In nomine Jesu Christi! Sein Gegenüber bekreuzigte sich. Accettami, nehmen Sie mich an, fügte er hinzu; sicher war sicher. Der Bärtige musterte ihn einen Augenblick, dann streckte er die Hand aus: "Prego, il certificato di battesima!"
Er hatte ihm seine Taufurkunde überreicht, dabei eine demütige Haltung eingenommen.
"Tedesco? Deutscher?", fragte der Pater. "Kommen Sie. Wir sind nicht leicht zu finden. Nein.... nicht leicht." Er schlurfte voran. "Jemand, der den Weg zu unserer Bruderschaft finden, der kommt zu uns, weil er uns gesucht hat. Sie kennen das Prozedere? Sie müssen Sich einen Namen geben, erst dann können Sie in unserer Bruderschaft Aufnahme finden. Kommen Sie! Ich zeige ihnen alles und erkläre es, dann lasse ich Sie allein!"
Es konnte nicht wahr sein! Sollte es wirklich so ablaufen, wie seine Mutter es beschrieben hatte? Alsbald saß er vor einem eher alterschwachen PC, dessen einzige Funktion hier wohl die Mitgliederkartei darstellte. Er hatte seine Tasche im Eingang neben der Tür abgestellt, vielleicht würde der Bärtige diese jetzt durchsuchen, da war aber nichts, was verdächtig wirken konnte. Er hatte aber vorsorglich eine Zeitschrift gekauft, die auf der Titelseite junge Turner abgebildet hatte; man konnte ja nie wissen!

Die Tür der kleinen, fensterlosen Kammer fiel hinter ihm ins Schloss, einen Moment erwartete er das Drehen eines Schlüssels zu hören, aber es blieb aus. Er setzte sich an den PC, öffnete das Schreibprogramm, sah die lange Liste eingetragener Mitglieder. Verzeichnet waren immer das Datum des Eintritts, das Herkunftsland, der frühere Name und der neue Ordensname.
RUPRECHT MONACI hatte er mit zitternden Fingern geschrieben, und der Name tauchte sofort auf. 7.04.1985, TEDESCO, RUPRECHT HUBER, RUPRECHT MONACI. Er prägte sich die Daten genau ein, dann schloss er das Programm wieder und öffnete leise die Tür. Es war niemand zu sehen. Seine Tasche stand unberührt neben der Eingangspforte, er nahm sie, drückte die Klinke hinunter, die Tür war nicht verschlossen, und schon war er draußen auf der Straße und eilte, möglichst ohne Aufmerksamkeit zu erregen, zur nächsten Bushaltestelle. Es war gelungen!

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Plötzlich sah die Welt wieder anders aus. Rosig geradezu. Für den Moment fühlte Ingeborg Wimmer sich ein wenig wie Marty McFly, just in dem Moment als seine Eltern sich das erste Mal auf der Tanzfläche küssten und alle Lebensenergie in ihn zurückfloss.
Was natürlich immer noch nichts an ihrer mittlerweile prekären Situation änderte. Sie würde Urlaub nehmen müssen, oder sich doch krank melden, oder.... nun ja, der Schweißbrenner! Die Verkäuferin im Baumarkt würde sich sicherlich freuen, sie wiederzusehen.

Er hatte eine neue Spur?? Es konnte sich ja nur um diesen seltsamen Pater handeln. Aber was hatte dieser Mann getan? Als er Lehrer war, erst an einem katholischen Internat, dann bei einem der bekanntesten Knabenchöre Deutschlands? Nur Latein und Musikuntericht gegeben? Wohl kaum. Auch Klaus selbst blieb immer noch eine große Unbekannte. Was hatte er getan? Wer war er wirklich? Sie hatte einiges herausbekommen, hatte dabei aber größte Vorsicht walten lassen müssen. Es gab nicht einmal einen ofiziellen Anfangsverdacht gegen ihn, sie konnte und durfte nicht richtig ermitteln. Sie konnte in Teufels Küche kommen, wenn all dies bekannt würde.
Dennoch sagte ihr kriminalistischer Instinkt ihr, dass die Sache nicht ganz koscher war. Er verbarg etwas. Er hatte Hintergedanken. Er war als Person irgendwie nicht richtig greifbar. Kein offener Blick, dachte sie, er hat keinen offenen Blick. Er war es!
Oder? Hatte sie, abgesehen von seinem seltsamen Verhalten, auch nur irgendeinen Anhaltspunkt, ihm dieses Verbrechen anzulasten? Klaus... ein Triebtäter? Quatsch. Oder doch? War denn nicht gerade das ein auffälliges Verhalten bei Triebtätern, dass sie so normal wirkten? Tagsüber zur Arbeit gingen und sich gut mit den Kollegen standen, und nachts dann....?
Nein. Sie hatte nichts in der Hand. Sie musste auf seinen nächsten Schachzug warten. Aber sie würde auf der Hut sein! Sie würde ihn aus der Reserve locken, würde ihm eine Falle stellen und diese dann, im entscheidenden Moment, zuschnappen lassen. Sie würde bestimmen, wann und wo diese Falle aufgestellt werden müsse, sie würde das Heft nicht mehr aus der Hand geben!
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Klaus fühlte sich müde, aber sehr mit sich selbst zufrieden, als er die Haustür zum Haus seiner Oma aufschloss. Nein, dachte er, das ist jetzt mein Haus. Oma ist tot. Sie hatte ihr Wissen mit ins Grab genommen, hatte nicht über die schlimmen Dinge reden wollen, weil sie ihn nicht mit etwas belasten wollte, das lange her war. Man würde sehen müssen, was jetzt mit dem Haus geschah. Kurz hatte er mit seiner Mutter darüber gesprochen, sie wolle es nicht haben, er müsse selber wissen, was er damit machen wollte.

Er konnte nicht wenig stolz auf seinen Erfolg sein. Er hatte sich in die Höhle des Löwen gewagt und endlich einen Namen bekommen, unter dem er seine Suche jetzt fortsetzen könnte. Sicherlich mit Erfolg. Auf jeden Fall würde diese nette Kommissarin ihm dabei behilflich sein. Er hatte gestern Abend noch eine schnelle SMS abgeschickt; bestimmt wartete sie schon auf seinen Anruf. Und dann?
Er hatte einige Stunden Zeit, darüber nachzudenken. Sollte er es einfach sagen, so wie es war? Und was dann? Sie würde ihm bestimmt Glauben schenken, dann aber bedauernd feststellen, dass sie damit nicht mehr helfen könne. Ein Lehrer, der ihn und möglicherweise einige Klassenkameraden sexuell missbraucht habe? Etwas, das schon Jahre her war? Hatte es damals Anzeigen gegen ihn gegeben? Nicht? Dann ließe sich da nichts mehr machen. Und sie könne ihm leider nicht mehr bei der Suche helfen. Auch wenn er jetzt den richtigen Namen hatte. Keine Chance, würde sie sagen. Und ihn dann ihrerseits mit dieser Barbara-Geschichte löchern. Gut, er hatte etwas gesehen, an jenem Abend, aber er wäre nie in der Lage, eine Personenbeschreibung zu liefern, etwas, um jene Person aufzuspüren, die die Verantwortung für Danielas Tod trug. Wenn sie nach einem wirklich Schuldigen suchte, dann würde er es sein, denn er war feige davongelaufen, statt seiner Freundin zu helfen, die unten am nasskalten Ufer der Isar lag und langsam verblutete.

Er wusste aber auch, dass die Kommissarin keine Ruhe geben würde, bis sie nicht wenigstens etwas Licht in die Sache gebracht hatte! Sie würde suchen, sich auf Barbaras Fährte setzen, bis sie sie endlich gefunden hatte und sie dann in die Mangel nehmen, bis.... Ja, bis was? Nein, dachte er, es müsste einen Ausweg geben, aber er sah keinen mehr und wusste, es würde auf die eine oder andere Art zum Showdown kommen. Ihm blieb einzig die Möglichkeit, für diesen Ort und Zeitpunkt zu bestimmen; alles andere läge dann nicht mehr in seiner Hand!
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Ingeborg Wimmer erschrak zu Tode, als ihr Telefon klingelte. Sie war gerade etwas weggedöst, hatte ihre Mischung aus Sorge und Erregung mit einem Glas Wein zu dämpfen gesucht, was gegen die Sorge half, aber nicht gegen die Erregung. Sie war es gründlich satt, immer nur ihre Hand auf diverse Stahlteile legen zu können, wollte gern mal wieder steife Nippel liebkosen, ihre Hand in der Feuchte ihrer Scham versenken, aber es ging immer noch nicht und sie wusste, sie würde daran sterben, wenn sie nicht bald ihre Freiheit wiedererlangte.

Oftmals hatte sie an das arme Mädchen denken müssen, dass unten an der Isar gestorben war und die gleichen Dinge trug, die auch sie schon seit Wochen am Körper hatte. Nein, nicht die gleichen, sondern dieselben! Und dann wurde ihr ganz anders, dann war es, als sei sie selber jene Daniela, die unten auf den Steinen lag und das gurgelnde Wasser neben sich hörte, die vielleicht auch schon seit Wochen unentrinnbar in diesem Keuschheits-BH, diesem Keuschheitsgürtel und diesen Schenkelbändern gesteckt hatte und im Augenblick des Todes genau wusste, sie würde genauso verschlossen sterben müssen, wie sie vorher gelebt hatte.
Aber wer hatte sie umgebracht? Klaus? Barbara? Sie war sich sicher, es konnte keine andere Person sein.
Sie angelte nach ihrem Handy, das vor ihr auf dem Glastisch lag. "Ja?"
"Ingeborg? Habe ich dich geweckt? Tut mir leid." Sie war mit einem Mal hellwach.
"Nein, schon gut. Habe nur etwas gedöst. Danke für deine SMS!" (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Gut. Alles in Ordnung?"
"Ja, ja natürlich", stotterte sie. "Alles okay." (Und wo sind die fucking Schlüssel??) "Du warst verreist?" (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Ja, ich war bei meiner Mutter."
"Ah, schön für dich! Wo wohnt sie denn?" (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Sie wohnt in Rom. Ich war bei ihr und habe einen Namen!" Seine Stimme klang freudig erregt.
Ingeborg setzte sich auf. "Deine Mutter lebt in Rom? Oh... toll. Und du hast einen Namen..... doch nicht etwa von diesem Pater Robert?" (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Ruprecht! Pater Ruprecht! Ich werde dir mehr darüber erzählen, wenn wir uns treffen!"
"Treffen? Oh...!" (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Ja! Und weißt du was?" Er wartete auf ein weiteres Oh! von ihr.
"Nein. Keine Ahnung." (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Barbara wird auch kommen!!" Da war eindeutig eine seltsame Mischung aus Triumph und Furcht in seiner Stimme zu hören.

Barbara!! Sie konnte es kaum glauben. Also doch!! Diese Sphinx war endlich wieder aufgetaucht. Also musste es Klaus gelungen sein, sie zu einem Treffen, zu einer Zeugenbefragung zu überreden. Endlich!! "Echt?? Oh, das ist ja wirklich die beste Nachricht seit langem. Danke, dass du das geschafft hast!" Sie fühlte sich erleichtert. Hatte nun endlich die Energie, die Frage zu stellen, die sie am meisten interessierte: "Klaus, wo sind die Schlüssel?" Und sie merkte, dass sie es nicht ganz ein Zittern ihrer Stimme vermeiden konnte.
"Die Schlüsel?" Sie hörte ihn husten. "Die Schlüssel zu deinem Keuschheitsgürtel?" Pause.
"Ja. Die Schlüssel zu meinem Keuschheitsgürtel!" Es war komisch, es so sagen zu müssen.
"Und die Schlüssel zu deinem Keuschheits-BH??" Wieder legte er eine Pause ein.
Sie biss sich fast auf die Lippen. Es war erniedrigend... "Ja. Die Schlüssel zu meinem Keuschheits-BH."
"Und die Schlüssel zu deinen Schenkelbändern?"
Mein Gott! Wusste er denn wirklich alles? "Ja. Und die Schlüssel zu meinen Schenkelbändern." Es tat weh, sie hatte sich selber erniedrigt. Erneut stieg das Feuer in ihr auf. Ich habe einen neuen Keyholder, dachte sie.
"Ich habe sie nicht."
"Was?? Du... du hast die verdammten Schlüssel nicht Wer zum Teufel hat sie dann??" Sie schrie es fast in ihr Handy.
"Barbara hat sie! Sie wird sie mitbringen, wenn wir uns treffen." Klaus nannte ihr Ort und Zeitpunkt für das Treffen. "Und zieh dein Dirndl an! Du wirst nur im Dirndl reingelassen! Also, bis nächste Woche Samstag!!" Und dann hatte er aufgelegt.

Nein! Nein, das konnte nicht wirklich wahr sein. Es hatte nicht sofort klick gemacht bei ihr, aber jetzt war der Groschen gefallen. Ingeborg Wimmer goss sich ein weiteres Glas Wein ein; beim Trinken zitterte sie so sehr, dass die Hälfte davon auf dem Tisch landete.


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maximilian24
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:13.01.17 20:11 IP: gespeichert Moderator melden


Jetzt war der Groschen gefallen...
Kriminalistischer Lokalaugenschein räumlich und innerlich! Perfekt!
Alt werden will jeder, alt sein aber keiner
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Daniela 20
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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:15.01.17 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


Herrje, wie doch die Zeit voran geht! Schon die elfte Fortsetzung heute Abend! Übrigens hoffe ich gerade heute, dass meine Leser die Handlung der ersten drei Teile - "Herbstferien", "Frust" und "Agonie" - so halbwegs in Erinnerung haben; ansonsten dürfte es schwierig werden, der Handlung folgen zu können. Ich hoffe, allen geht es gut und wünsche viel Spannung und gute Unterhaltung!
Eure Daniela 20
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Samstag, 26.Oktober

D-day, dachte Ingeborg Wimmer, als sie aus der Wanne stieg. Heute also... heute würde es geschehen. Wie immer floss Restwasser unter den stählernen Halbschalen ihres Keuschheits-BHs hervor, tropfte es noch ein wenig aus ihrer immer noch verschlossenen Scheide heraus. Sie trocknete sich ab, ließ sich Zeit, denn nur wenn sie sich Zeit ließ, klappte es beim ersten Mal. Aber sie registrierte es schon längst nicht mehr.
´Du wirst nur im Dirndl reingelassen!´, hatte Klaus zu ihr gesagt, als er ihr den Treffpunkt für das Zusammentreffen mit Barbara mitgeteilt hatte. Oh nein, nicht schon wieder das Dirndl!, es war ihr gleich in den Sinn gekommen, als sie es hörte, was war denn bloß mit den Kerlen los, warum wollten sie sie immer in diesem bescheuerten Kleid sehen? Erst Bruno, jetzt Klaus.
Noch hatte sie einige Stunden Zeit; erst eine Stunde vor Mitternacht wollten sie sich dort treffen, vorher lohne es sich nicht, hatte er gesagt, als sie nach dem Grund für den späten Zeitpunkt gefragt hatte.
Sie zog ihre bequemen Joggingklamotten an, weicher Stoff umspannte die Kurven ihrer stählernen Unterwäsche. Heute Abend wird es vorbei sein, dachte sie. Sie war parat. Heute Abend würde sie Klaus ins offene Messer rennen lassen....
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Klaus hatte die Wahl: Magenbitter, oder doch besser gleich eine Tablette? Wie hieß das Zeug noch mal, das angeblich den Magen aufräumte?? Er saß vor dem offenen Medizinkasten seiner Oma und durchforstete eine Unzahl diverser Medikamente. Tabletten gegen etwas, Pillen für etwas. Hatte sie wirklich all das Zeug schlucken müssen? Er kannte sich nicht aus, zweifelte am Mindesthaltbarkeitsdatum von Medizin - wieso sollte eine Tablette ihre Wirkung verlieren? - und las, verwirrt durch medizinische Begriffe, die er nie gehört hatte, bis er schließlich etwas fand, das Linderung bei nervöser Magenreizung versprach.
Tropfen, dachte er, auch das noch! Er überflog den Beipackzettel, aha, 20 Tropfen in Wasser, schraubte den Verschluss ab, hielt die kleine Flasche über ein Glas - nichts, schüttelte sie, jetzt!, dann gluckerten die Tropfen so schnell hervor, dass er mit dem Zählen nicht nachkam. Egal.
Das Medikament half. Half aber nichts gegen die Leere in seinem Magen. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Freitag früh? Es ging einfach nicht. Er bekam keinen Bissen mehr runter, zappelte wie ein Anglerfisch, der seinen eigenen Haken verschluckt hatte.
Warum habe ich ihr ein Treffen mit Barbara versprochen? Und warum ausgerechnet zu jenem Abend?? Sein Inneres hatte seit seinem Telefongespräch mit der Kommissarin keine Ruhe mehr gegeben, hatte ihm den Schlaf geraubt und die Tage verdunkelt.
Barbara!! Er hatte sie verdrängt. Nein, sagte er sich, ich habe sie umgebracht, wie zuvor schon Lenchen und auch Daniela! Barbara ist tot, sie durfte nicht weiterleben!

Dann war er nach oben gestiegen, hinauf auf den Dachboden, in die kleine Kammer, die sich George dereinst dort oben eingerichtet hatte, um mit dem Fernrohr die Sterne seines australischen Heimathimmels erspähen zu können. Ein Trugschluss, wie Klaus wusste. Man kann nicht den Himmel sehen, der sich unter den eigenen Füßen befindet!
Das kleine Zimmerchen roch muffig, als er die Tür öffnete. Auf dem niedrigen Tisch lag ein ganzer Haufen kleiner Schlüssel, sie alle hatte Barbara vor über einem Jahr in ganz München zusammengesucht, weil sie Monikas Spiel nicht mehr mitmachen wollte, weil sie verzweifelt nach Freiheit suchte...

In einer Ecke stand der letzte der Säcke, die er, vor seiner Flucht nach Rom, aus seiner kleinen Dachwohnung mitgenommen hatte. Der Sack sah ihn an....

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Wimmer hatte die Hälfte ihres Abendessen stehen gelassen. Es schmeckte nicht. Ohne ein Glas Wein schmeckte ihr im Moment gar nichts. Aber es galt, heute einen klaren Kopf zu bewahren. Fehler durfte sie sich heute Abend nicht leisten! Fehler konnten fatal sein! Zusammen mit einem Mörder....
Ach, Quatsch! Sie atmete tief durch. Paranoia!, dachte sie. Berufskrankheit. Sie neigte dazu, wie viele ihrer Kollegen, immer und überall das Böse zu sehen, Lug und Trug, den verborgenen Blick. Sie erinnerte sich an den Abend, letztes Jahr, als sie schon einmal auf diesem verrückten Fest gewesen war, damals in der Hoffnung, einen Täter zu finden, aber rein gar nichts war passiert, außer dass sie zuviel laute Musik über sich hatte ergehen lassen müssen und Bruno, draußen im Auto, eingeschlafen war.

Bruno! An jenem Abend hatte es angefangen. Die gezügelte Leidenschaft, wie sie sie vorher nie gekannt hatte. An jenem Abend war sie in dieser Form das erste Mal bei ihr aufgelodert, hatte ihr wochenlange Qualen geschenkt, aber auch das komische Gefühl, wie ein Vogel über einem Abgrund schweben zu können.

Sie entschied sich für ein weißes Hosenkorselett. So etwas hatte sie erst besessen, seitdem die Schenkelbänder das erste Mal zum Einsatz gekommen waren. Es ließ sich im Schritt schließen und verbarg gekonnt ihre stählerne Unterwäsche. Trotzdem fühlte sie sich immer elendig, wenn sie das enge Teil über ihre Hüften zog, die breiten Träger über ihre Arme gleiten ließ, ihre verschlossenen Brüste in die Cups legte und die kleinen Haken im Schritt mit einiger Verrenkung schloss. Gab es wirklich Frauen, die so etwas freiwillig trugen?
Ingeborg nahm ihr Dirndl vom Bügel, schlüpfte in die weiße, kurze Dirndlbluse, stieg von oben in das Kleid, kämpfte etwas mit dem engen Mieder, bis der vordere Reißverschluss sich schließen ließ, dann band sie sich ihre zum Dirndl gehörende Schürze um und knotete eine große Schleife im Rücken. Sie war fertig. Es konnte losgehen!
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Er schaffte es nicht, das Zittern seiner Hände zu unerdrücken, als er die Schleife zu lösen versuchte, die er vor Monaten um den Sack gebunden hatte. Er war schwach geworden, und er spürte seine Schwäche durch den ganzen Körper laufen, wie eine Welle, die eben noch den Strand getroffen hatte, jetzt aber in den Tiefen des Sandes versickerte. Ruhe erfüllte ihn, als er es endlich geschafft hatte und die ersten Sachen hervorholte, die Barbara hineingestopft hatte.
Der schöne Petticoat, den sie unter ihrem gepunkteten Rock getragen hatte, als sie mit ihrem Roller durch Münchens Straßen gefahren war, hatte arg gelitten. Aber er würde ihn heute Abend nicht brauchen, es war schließlich keine 50er-Jahre-Party, sondern Münchens flippigstes Oktoberfest, auf das er wollte.

GeiDi-Gaudi! Allein schon der Name ließ ihn erneut zittern. Bilder drängten sich in seine Erinnerung, Bilder, die er am liebsten nie wieder heraufbeschworen hätte: jener Abend, als er auf dem Fahrrad Monika und Daniela hinterhergefahren war, nachdem er lange vor der kleinen Kirche gelauert hatte. Was genau dort an jenem Abend geschehen war, er hatte es nie herausbekommen. Wohl aber wusste er, was der dortige Geistliche später mit Monika angestellt hatte. Ein Schauer lief ihm den Rücken herunter. Aber er erinnerte sich sehr gut daran, was er selber an jenem Abend gemacht hatte, diese komische Fernbedienung, die er den Mädchen abgenommen hatte und auf deren Knöpfen er herumgedrückt hatte, wie jemand, der mittels Fernbedienung irgendwo eine Tod bringende Drohne steuert, ohne sich ernsthaft Gedanken über sein Tun zu machen. Zwei Jahre war das her; er mochte es kaum glauben! Und letztes Jahr dann, dieser furchtbare Abend, als sein ganzes Leben begann, sich aufzulösen... weil er sich nicht im Griff hatte?? Wie ich es auch drehe und wende, ich bin schuld, dachte er.

Er atmete tief durch, als er in das Kleid schlüpfte. Barbara, dachte er, nicht das Kleid. Ich schlüpfe in Barbara hinein! Es fühlte sich gut an; sein Zittern hörte abrupt auf, er wurde wieder ruhig. Barbara war ruhig.
Im Sack fand sich alles, was er benötigte, um sich wieder in sein alter Ego zu verwandeln. Zuletzt streifte er eine Perücke über, die sicherlich gut zum Dirndl passte, wählte noch einen geeigneten Haarreifen, dann überlegte er, welche Schuhe er anziehen sollte. Pumps oder Ballerinas?
Auch eine passende kleine Handtasche mit dünnem Schulterriemen fand sich, er stopfte die wenigen Dinge hinein, die er unbedingt mitnehmen wollte, zog sich eine wollene Jacke über - die Nacht könnte kalt werden, dann sah er auf die Uhr: Es war Zeit, zu gehen.
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Ingeborg Wimmer bezahlte den Taxifahrer, der sie vor der Veranstaltungsstätte abgesetzt hatte und sah sich suchend um. Klaus war nirgends zu sehen, zwei drei Pärchen standen rauchend auf der großen Freitreppe. Sie hatte von unterwegs Klaus eine SMS geschickt und angefragt, wo sie sich treffen wollten, am Eingang hatte er sofort geantwortet. Aber wo? Draußen, oder drinnen?
Sie beschloss, besser hineinzugehen; es machte keinen Sinn, sich hier draußen einen abzufrieren, wenn Klaus und Barbara möglicherweise innen auf sie warteten. Es war zwar noch keine eisige Winternacht, aber jetzt, Ende Oktober, konnte die Luft die Wärme des Tages nicht mehr lange halten; abends kühlte es sich doch schnell ab.
Wann war sie hier gewesen? Letztes Jahr, aber da war es später gewesen. Immerhin, sie wusste, was sie erwartete. Wimmer zog die schwere Eingangstür auf, schob einen imaginären Vorhang zur Seite, augenblicklich traf sie die volle Wucht lautester Musik, es war wie ein physischer Schlag, wie konnte man das lange aushalten?? Junge Menschen drängten sich, standen in meist kleinen Grüppchen zusammen, lachten oder kontrollierten die Displays ihrer Handys; manche fotografierten sich gegenseitig; Lederhosen und Dirndl, die der Kamera präsentiert wurden, allzu oft Billigklamotten aus dem nächsten Kostümverleih, wie Ingeborg enttäuscht feststellte.
Sie bezahlte, 20 Euro ging ja noch so, bekam ihr blauweißes Bändchen ums Handgelenk. Daniela Krause hatte so eines getragen, letztes Jahr, bevor sie in ihr nasses Grab gestürzt war. Ingeborg schüttelte sich, sie war vorbereitet, sie würde den Täter heute Nacht ergreifen. So manchen Täter zieht es an den Tatort zurück; manchmal genau am Jahrestag ihres Verbrechens! So hatte sie es auf der Polizeischule gelernt. Gut, heute war nicht der Jahrestag, aber es war dieselbe Situation, wieder diese wilde Party, die vielen Frauen im Dirndl; heute würde er schwach werden, sich öffnen, zusammenbrechen. Heute würde sein Kartenhaus in sich zusammenfallen; sie wusste es.

Die Garderobe war kostenlos; immerhin. Sie erkannte niemanden wieder, es waren wohl andere Frauen, als vor einem Jahr. Wo blieb Klaus? Eine junge Frau kam auf sie zu, auch sie im Dirndl, schwarz oder braun, die Schürze blau, aber es konnte sie trügen, buntes Licht zuckte aus der offenen Tür zum Ballsaal; auch die Schürze wechselte zwischen blau und pink.
Sie sah, die junge Frau sagte etwas zu ihr, sie verstand kein Wort. Sie machte eine Bewegung des Tanzens, zog sie sacht an der Hand, sie wollte nicht tanzen, schon gar nicht mit einer anderen Frau, auch wenn sie mit einem schnellen Blick durch die Tür auf die Tanzfläche sehen konnte, Frau mit Frau, das war hier ganz normal; Mann mit Mann seltsamerweise nicht.
Die Frau ließ von ihr ab, lächelte sie enttäuscht an, griff in ihre Tasche, während sie weiter auf die tanzende, wogende Menge zuging. Sie zog etwas hervor, Ingeborg blickte in zwei lachende Augen, sah, was sie in der Hand hielt, ein kleiner Schlüsselring, ihre Schlüssel! Barbara!! durchzuckte es sie. Sie sah, wie Barbara in der Menge zu verschwinden drohte, nein, das durfte nicht passieren, sie machte ein, zwei entschlossene Schritte, nahm die Hand, die sich ihr noch entgegenstreckte, wurde hineingezogen in die bunte, nie stillstehende Menge junger Menschen; sie ließ den Dingen ihren Lauf.

Barbara ließ die kleinen Schlüssel schneller in ihren Ausschnitt fallen, als dass sie es hätte stoppen können. Jetzt musste sie aufpassen, was hineinfällt, kann auch wieder herausfallen. Ingeborg überlegte einen Moment, ob sie auf die Toilette gehen sollte, schnell die Schlüssel aus ihrem Ausschnitt sichern, bevor sie verloren gingen, aber dann würde sie Barbara verlieren; in diesem Tohuwabohu würde sie sie nie wiederfinden. Und wo war Klaus? Warum kam er nicht? Oder wartete er selber am Eingang auf sie??
Sie beugte sich der jungen Frau entgegen, versuchte trotzdem irgendwie ihren Tanzbewegungen auszuweichen. Ingeborg brachte ihren Mund dicht an Barbaras Ohr, dann brüllte sie, so laut sie konnte: "Barbara! Wo ist Klaus?" Kaum, dass sie ihre eigenen Worte verstehen konnte.
Barbara zuckte leicht mit den Schultern. Keine Ahnung, aber auch: Was interessiert mich Klaus? Ich möchte lieber tanzen!, entnahm Wimmer dieser Geste und glaubte, sie von den Lippen ablesen zu können. Die junge Frau umarmte sie, schmiegte sich eng an sie, drückte ihren Oberkörper gegen ihren eigenen, ein Bein suchte seinen Weg zwischen ihre Beine, wurde aber von der Verbindungskette der Schenkelbänder gestoppt. Dann eine Hand, die von unten an ihrem Bein entlang aufwärts wanderte, Gott sei Dank am linken Bein, dachte Wimmer, rechts wäre es unangenehm gewesen! Die Hand ließ sich nicht stoppen, griff nun zwischen ihre Beine, niemand sah es, niemand bemerkte das Unangenehme der Situation, die um sie herum tanzende Meute kümmerte sich nicht um andere, Musik und grelles Licht hatten längst Schranken aufgehoben und Undenkbares möglich werden lassen.

Ingeborg wehrte die Hand ab, als sie suchend, prüfend ihre Brust erreicht hatte. Sie stieß Barbara von sich, hatte aber gleich wieder Angst, sie könne sie verlieren, hier in diesem Gedränge, noch bevor sie sie zur Tatnacht vor einem Jahr hätte befragen können. Sie schwitzte, ihr war unglaublich heiß, am liebsten würde sie hinauslaufen, vielleicht runter zur Brücke an der Isar, dort, wo vor einem Jahr das Unglück - der Mord? - geschehen war.
Irgendwo hatte irgendwer im Raum eine Nebelmaschine angeworfen, dicke Schwaden waberten, von grellen Farben erleuchtet, durch die immer dichter werdende Menge von Tanzenden... sie musste hier raus, das hier war nichts für sie, wenn es so weiterginge, sie würde umfallen, unter die Füße geraten, von derben Männerschuhen zertrampelt und von spitzen Stiletto-Absätzen aufgeschlitzt. Und was, wenn man entdeckte, was sie bei sich trug?
Ingeborg machte ein Zeichen des Trinkens, irgendwo musste es eine Bar geben, sie hatte Leute mit Gläsern gesehen, große Biergläser, schlanke Sektgläser. Barbara nickte, ergriff sie am Arm, zog sie hinter sich her. Sie stolperte, wäre beinahe hingefallen; Barbara fing sie im letzen Moment auf, dann ging es in einen Nebenraum, Barbara machte ihr ein Zeichen, sie solle warten. Minuten später kam sie mit zwei Sektgläsern zurück. Sie trank, obwohl sie keinen Alkohol trinken wollte, aber sie musste jetzt etwas trinken, ihr Kreislauf machte bald schlapp; schon spürte sie ersten Schwindel; sie musste nach draußen; schon stieg ihr der Alkohol zu Kopf; immer reagierte sie so bei Sekt.

Plötzlich brach die Musik ab. Die Band hatte eine Pause eingelegt, für einen Moment war Ruhe, plötzlich hörte sie wieder Stimmen, aber alles summte in ihrem Kopf. Die tanzenden Lichtpunkte einer Discokugel irritierten sie, sie glaubte zu schweben, fürchtete, den Halt zu verlieren. Sie klammerte sich an Barbara, brachte wieder ihren Mund an deren Ohr. "Was hast du gesehen, Barbara? Letztes Jahr.... unten an der Brücke?"
Die junge Frau beugte sich ihr entgegen, Lichtpunkte zuckten über ihr gut geschminktes Gesicht, sie brachte ihren Mund an Ingeborgs Ohr, doch genau in diesem Moment setzte wieder Musik ein, diesmal wohl vom Band, man durfte die Feiernden nicht ohne ihr Rauschmittel lassen, ohne Musik würden sie nicht tanzen, ohne Musik kein Knutschen, kein nichts und gar nichts.
Hatte sie Klaus gesehen geantwortet?? Ingeborg war sich nicht sicher. Sie schloss die Augen, versuchte sich zu konzentrieren, aber ihr Schwindel wurde wieder stärker. Wo war Klaus? Hatte er denn nicht in seiner SMS geschrieben, ´Wir treffen uns am Eingang!´? Es zieht den Täter zurück zum Tatort, überlegte sie. Na klar, das hier war ja nicht der Tatort, der Tatort war unten an der Brücke; wahrscheinlich war er dort. Und er wusste, dass Barbara ihn gesehen hatte und dass sie es ihr sagen würde. An der Brücke! Er würde unten an der Brücke auf sie warten!

Ein Sprecher kündigte eine letzte Spielzeit für die Band an; es ging auf Mitternacht zu. Herrenwahl!, rief der Sprecher; die Männer jubelten, die Frauen kreischten. Sie wehrte einen jungen, halb besoffenen Kerl ab, Barbara zog sie zurück auf die Tanzfläche, jetzt sah sie, was Herrenwahl hier bedeutete; sie hatte die gefesselten Hände und geöffneten Mieder längst vergessen. Gleich würde hier das totale Chaos einsetzen.
Wimmer stemmte sich gegen die Menge, vorbei an zuckenden Leibern, sie machte sich klein, boxte sich hindurch, es gelang. Sie atmete heftig, ließ sich ihre Jacke an der Garderobe aushändigen, zog diese an.
Barbara verperrte ihr den Weg. Ingeborg sah, dass sie sie erstaunt ansah, dann wieder dieses Anschmiegen, Hände, die sie umklammerten, die ihr Gesäß fassten und schmerzhaft drückten. Sie griff hinter sich, wollte die Hände abwehren, merkte kaum, wie sich etwas um ihre Handgelenke legte, sie spürte einen Zug, wie von einem Seil, dann bemerkte sie, wie Barbara die Bänder ihrer Schürze stramm nach vorne zog und vor ihrem Bauch fest zusammenknotete. Es war zu spät, alles war schneller gegangen, als man denken konnte, nun gut, sie würde die Bänder zerreißen, kein Problem, sie musste hinaus, Luft, sie brauchte frische Luft, dann war sie auch schon zur Tür hinaus, die mit sattem Knall hinter ihr ins Schloss fiel.

Es war so still, sie hörte ihren eigenen Herzschlag, langsam nur drangen weitere Laute an ihr Ohr. Wo war jetzt die Brücke? Sie orientierte sich, so gut es ging, dann rannte sie los. Und plötzlich wusste sie, warum Klaus an der Brücke sein musste. Was er tun wollte. Und was sie verhindern musste.
% % %

Klaus sah zur Tür, die hinter Ingeborg Wimmer mit lautem Krachen zugefallen war. Er hatte sie nicht halten können, oder auch nicht halten wollen. Es fiel ihm schwer, Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzuhalten. Wer war da gerade nach draußen in die dunkle Nacht gelaufen? Daniela? Er schüttelte sich. Ihm war speiübel. Die Kombination von Medizin, Sekt und psychischer Anspannung forderte ihren Tribut. Natürlich nicht Daniela, dachte er. Daniela ist tot. Weil ich ihr nicht geholfen habe!
Aber sollte er jetzt Ingeborg hinterherrennen? Klaus verspürte nicht die geringste Lust. Er war froh, dass die Kommissarin ihn nicht erkannt hatte, was sowieso schon einem Wunder glich. Aber bei dieser Beleuchtung hier? Nein, doch kein Wunder. Außerdem hatte er ihr die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel zurückgegeben; sie würde sicherlich bald nach Hause laufen und sehen, aus den Dingern herauszukommen, die sie nun schon so viele Wochen getragen hatte.
Er musste sich eingestehen, er hatte es durchaus genossen, diesen extrem nahen Kontakt mit einer Frau, die so komplett verschlossen war. Barbara hatte es genossen, sagte er sich. War sie am Ende doch wieder auferstanden?

Er merkte, wie es ihn würgte; musste er sich doch erbrechen? Fast wäre er auf die falsche Toilette gegangen; die Kerle hätten sich bestimmt gefreut, ihn dort zu finden. In letzter Sekunde bemerkte er seinen Fehler, nahm statt dessen die andere Tür und hatte Glück: eine Kabine war frei, das kam bei Frauen doch so gut wie nie vor. Er ließ sich auf den Fußboden nieder, Schmutz hin oder her, seine Beine gaben einfach unter ihm nach, kalter Schweiß brach ihm aus, das Würgen nahm zu, er hielt den Kopf über die Kloschüssel, aber es kam nichts außer einer Reihe ekliger Laute.

Wortfetzen drangen an sein Ohr. Zwei Frauen stritten sich, Worte konnte er nicht wirklich verstehen, aber jetzt begann eine zu heulen, oder waren es beide, wer wusste das schon? "Bleib hier, Lisbeth, bleib hier!!", dann hörte er Türenschlagen, das Heulen nahm zu, dann, endlich, erbrach er sich.
Klaus blieb einige Minuten sitzen; langsam stabilisierte sich sein Kreislauf wieder. Jetzt wäre ein Schluck Wasser gut, einmal den Mund ordentlich ausspülen, dann etwa essen, ja, es war Zeit, etwas in den Magen zu bekommen. Mühsam rappelte er sich auf, schloss die Tür auf, ging zum Waschbecken und nahm dort einen Schluck Wasser und wusch sich die Hände.
Er kontrollierte sein Äußeres. Er hatte Glück gehabt, die Perücke hatte gehalten, eine Katastrophe, wäre sie in die Toilette gefallen! Aber alles war noch, wo es sein sollte. Sein Makeup sah nicht mehr so frisch aus wie noch vor wenigen Stunden; er hatte sich große Mühe gegeben, es richtig zu machen; auch davon war in seinem Kleidersack noch genug zu finden gewesen.

Er wollte hinausgehen ins Vestibül, als ihn erneutes Wimmern aus einer Kabine davon abhielt. Die Tür war angelehnt, es mochte etwas Schlimmes sein, man wusste ja nie, er klopfte vorsichtig und lugte hinein. Eine sehr junge Frau saß zusammengesunken auf der Toilette, ihr Gesicht hatte sie in den Händen vergraben, sie machte keinen guten Eindruck auf ihn.
"Kann ich dir helfen? Ist dir schlecht?" Hier, auf der Toilette, war es längst nicht so laut, wie im übrigen Gebäude.
Die junge Frau schluchzte laut auf, schüttelte aber den Kopf. Klaus sah, dass sie kreidebleich war; einem Gespenst hätte sie alle Ehre gemacht. Er machte einen Schritt in die Kabine hinein, die Tür fiel hinter ihm zu, es wurde halbdunkel. Sollte er einmal ihren Puls fühlen? Immerhin hatte er seinen Zivildienst als Krankenpfleger abgeleistet. Sachte hob er ihren Kopf an, sie war sehr jung, vielleicht gerade erstes Semester, so schätzte er.
In dem Moment wurde die Kabinentür von einer anderen Person geöffnet, für den Moment fiel helles Licht auf das blasse Gesicht, zwei Augen starrten ihn an, ein Blick, den er unter vielen erkannt hätte, es war ihm, als müsse das Blut in seinen Adern gefrieren, so sehr schockierte es ihn. Diese Augen!!! Oh mein Gott, er hatte sie schon gesehen, er würde sie nie vergessen, auch wenn ihn dieser Blick damals nur sehr kurz gestreift hatte und gar nicht einmal ihm gegolten hatte.
"Besetzt!", rief er der Frau über die Schulter zu, die einen Moment hinter ihm in der Tür stehen geblieben war. Dann wandte er sich der jungen Frau zu. "Warte, ich hole etwas Wasser!" Es gab Pappbecher in einem Halter neben dem Waschbecken, er zog einen heraus, füllte ihn mit kaltem Wasser und ging zurück zu dem jungen Mädchen. "Hier, trink! Und erzähl, was los ist! Du hast dich eben mit jemandem gestritten, nicht wahr? Ich hatte es gehört, aber nur ein bisschen. Was ist passiert? Wer ist Lisbeth?"
Sie nahm den Becher, zitterte so stark, dass er ihn ihr wieder abnahm. "Warte, ich helfe dir! So, vorsichtig, jetzt trink mal einen Schluck." Er hielt ihr den Becher an die Lippen. Sie trank, dann blickte sie ihn an. "Danke," flüsterte sie leise. "Lisbeth ist meine Schwester. Sie hat...." Sie schüttelte den Kopf, dann brach sie in neuerliches Weinen aus.

Etwas stimmte nicht. Es waren dieselben Augen, aber es war nicht derselbe Blick. Abgrundtiefer Hass hatte letztes Jahr in diesem Blick gelegen, an jenem Abend, als er sich genau hier mit Daniela gestritten hatte. Er hatte es zufällig beobachtet, hatte dieses Mädchen bemerkt, die dann plötzlich Daniela hinterhergelaufen war, warum auch immer. Aber als er sie kurz darauf aus der Toilette hatte kommen sehen, war er an sich selber und seiner Beobachtungsgabe irritiert; nein, er musste sich getäuscht haben, es musste jemand anders gewesen sein, der nach Daniela das Gebäude verlassen hatte.
Was er jetzt in diesen Augen sah war Furcht und blankes Entsetzen. "Wie heißt du denn? Bist bestimmt das erste Mal auf der GeiDi-Gaudi?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nein, wir waren voriges Jahr schon hier! Ich heiße Paula."
"Da war ich auch hier. Auch an diesem letzten Abend mit Sommerzeit." Er überlegte, wusste nicht recht, was er fragen sollte. "Kann sein, dass ich dich oder deine Schwester schon gesehen habe! Wie sieht sie denn aus?"
Die junge Frau trank einen weiteren Schluck, dann nahm sie etwas Toilettenpapier und putzte sich die Nase. "Wie ich", sagte sie.
"Wie du?" Eine furchtbare Ahnung stieg in ihm auf.
"Ja, wie ich. Wir sind Zwillinge."
Klaus schloss für einen Moment die Augen. Er sah die vielen Puzzleteilchen, die sich plötzlich, wie von Zauberhand, aufeinander zu bewegten. "Deine Schwester, Lisbeth, sie hat an dem Abend etwas getan?"
Tränen quollen der jungen Frau über die Wangen und tropften auf ihre Dirndlbluse. Sie nickte. "Sie hat mir gerade erst davon erzählt. Ich wusste es nicht, ehrlich.... Wir waren ja zu zweit, wollten einfach nur Spaß haben an jenem Abend. Wir hatten uns schon für einen Studienplatz hier in München entschieden. Aber es war so voll hier... ich hatte sie aus den Augen verloren. Ich weiß nicht mehr, ich war auf der Toilette und als ich wieder rauskam, da war sie weg."

"Ein Unfall...", flüsterte er, als sie ins Stocken geriet.
"Ja, ein Unfall. Das hat sie mir auch gesagt." Sie riss ein weiteres Stück Papier von der Klorolle.
"Deine Schwester ist jemandem hinterhergerannt?"
Paula nickte bloß. Sie wurde immer kleiner; lange würde sie es nicht mehr machen.
"Aber warum? Was wollte sie denn von jener anderen Frau?"
"Wir kannten sie flüchtig. Hatten sie vor zwei Jahren kennen gelernt, als wir mit den Eltern hier in München gewesen waren und dieses Mädchen wohl auch nach Hause fuhr. Sie trug so ein Dirndl, mit einem Petticoat drunter...."
Klaus nickte. "Ja, ich weiß. Ich habe sie gekannt. Sie hieß Daniela. Sie hatte ihre Herbstferien hier bei ihrer Tante verbracht." Paula sah ihn an. "Aber erzähl weiter! Was war denn da geschehen? Auf der Bahnfahrt schon?"
"Daniela? Das wusste ich nicht einmal. Sie trug ja wohl noch mehr unter ihrem Dirndl. So Keuschheitsunterwäsche aus Stahl. Unser Vater hatte es irgendwie mitbekommen. Und er hatte Danielas Mail Adresse. Wegen der Fotos."
"Was für Fotos denn?"
"Lisbeth musste Fotos von unserem Vater mit Daniela machen. Und er wollte ihr dann Bilder schicken. Oder war es anders herum? Ich weiß es nicht mehr."
"Aber wegen solcher Fotos....?"
"...bringt man niemand um? Wollten Sie das sagen? Lisbeth hat sie nicht umgebracht. Es war ein Unfall...!"
"Ja, natürlich. Ein schlimmer Unfall." Er musste aufpassen, was er sagte. "Aber es muss doch wohl einen anderen Grund geben?"
"Oh ja, den gab es! Wir bekamen ihn dann zu Weihnachten! Vater hatte auch für uns solche Keuschheitsgürtel und BHs bestellt, weil er meinte, wir hätten zuviele dumme Gedanken im Kopf. Wir sollten uns mehr aufs bevorstehene Abitur konzentrieren, statt auf irgendwelche Jungs. Ab Weihnachten steckten wir in den Dingern, monatelang. Auch noch letztes Jahr, als wir hier auf dem Fest waren. Lisbeth hatte Daniela wiedererkannt... der reinste Zufall. Aber das soll ja wohl vorkommen."
Plötzlich lag das ganze Puzzlebild vor ihm und er konnte alle Details erkennen.
"Paula, wo ist deine Schwester jetzt? Du hattest ihr hinterhergerufen, sie solle hierbleiben. Wo ist sie hin?"
Paula brach in einen neuen Weinkrampf aus. "Sie wollte zurück zu dieser Brücke. Ich habe Angst, ich habe ganz verdammte Angst, dass etwas Schlimmes passiert!"
% % %

Ingeborg Wimmer hastete vorwärts, so schnell ihre Beine sie tragen wollten. Ihr war immer noch übel, hätte sie doch bloß die Finger von diesem blöden Sekt gelassen, sie vertrug das Zeug doch so schlecht. Aber sie hatte kurz vor dem Verdursten gestanden, in dem Moment wäre ihr jede Flüssigkeit recht gewesen, nun ja, dachte sie, vielleicht doch nicht jede...

Klaus, dachte sie, er will sich was antun! Sie musste schneller vorwärts kommen! Mit einem Mal schien alles sonnenklar, jetzt verstand sie endlich, was hier vor einem Jahr geschehen war. Er hatte seine Bekannte getötet, sicherlich im Affekt; man hatte ihn ja von Anfang an in Verdacht gehabt, sie waren Nachbarn, sie kannten sich! Wer weiß, um was es gegangen war? Verschmähte Liebe, wie so oft? Klaus mochte ja diese perversen Spielchen, wie sie jetzt aus eigener Erfahrung wusste. Hatte er Daniela die Keuschheitsdinger angelegt, genau dieselben, die sie jetzt auch trug? Alles schien möglich in dieser bizarren Welt von Dominanz und Unterwerfung, ein Spiel sollte es sein, ein Liebesspiel, aber hier, hier an dieser Brücke, hier war es zum tödlichen Streit gekommen. Hatte sie aussteigen wollen? Nicht mehr mitmachen? Hatte sie eventuell mit einer Anzeige gedroht, sollte er sie nicht bald aufschließen? Und hatte er sie dann geschlagen und über die Brüstung hinabgestoßen? Der Handabdruck, dachte sie, wie aber passt der Handabdruck ins Bild? Irgendjemand musste einen Fehler gemacht haben, es könnte durchaus seine Hand gewesen sein, große Hände hatte er ja nicht.

Ihre Hände hatte sie während des Laufens fast vergessen. Wie konnte sie nur so blöde sein, sich von dieser Barbara fesseln zu lassen? Es war so verdammt schnell gegangen, sie hatte es wirklich erst gemerkt, als es schon zu spät war. Und wie konnte sie dann so nach draußen laufen?
Ingeborg Wimmer blieb einen Moment stehen, verschnaufte etwas, schnell konnte sie wegen der Kette zwischen ihren Beinen sowieso nicht laufen; sie musste ihre Schritte den stählernen Kettengliedern anpassen, durfte nicht jedes Mal so weit ausschreiten, dass es schmerzte, aber der ihr aufgezwungene, kurze Schritt war eine Qual; sie kam kaum vorwärts. Sie versuchte ihre Hände zu befreien, zog unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft, aber die dünnen Stoffbänder der Dirndlschürze, die ihre Handgelenke umspannten, gaben keinen Millimeter nach; es war zum Verrücktwerden.

Ingeborg lief weiter, wo war es nun, welche Richtung, dort, der Friedensengel auf der anderen Seite der Isar, es konnte nicht mehr weit sein, sie sah schon die Brücke, hoffentlich kam sie noch rechtzeitig.
Sie verlangsamte ihren Schritt, sie war total schlapp, am Ende ihrer Kräfte. Es war niemand zu sehen. War es nicht erst wenige Wochen her, dass sie mit Klaus hiergewesen war? Absichtlich hatte sie ihren Treffpunkt so gewählt, hatte sie darauf gehofft, er würde sich eine Blöße geben, wenn sie ihn an den Ort seiner Tat brachte, aber es war nicht geschehen. Der falsche Zeitpunkt, dachte sie, es muss ganz einfach der falsche Zeitpunkt gewesen sein! Ein sonniger, warmer Herbstnachmittag hatte ihn nicht zurückführen können in jene kalte Tatnacht. Eine Nacht, in der es kalt und dunkel gewesen war. So wie heute....


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  RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´) Datum:15.01.17 22:30 IP: gespeichert Moderator melden


Danke Daniela auch für diese gekonnt spannende Fortsetzung.
Und nun wieder eine Woche spannendes und gleichzeitig dankbares Warten bis zum nächsten TATORT!
Alt werden will jeder, alt sein aber keiner
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