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Thema:
eröffnet von Harun al-Rashid am 27.02.07 23:07
letzter Beitrag von DrSimon am 02.06.10 11:00

1. Die Sache mit den Erzählperspektiven

geschrieben von Harun al-Rashid am 27.02.07 23:07

Bezug: Die Patrizier (47)

>> In der Stadt herrschte gespannte Unruhe. Die wenigsten Bewohner hätten etwas dagegen, von ihrer Göttin befreit zu werden. Aber das wagten sie kaum zu hoffen. Statt dessen schlugen in unregelmäßigen Abständen Granaten an der Küste ein. Würden die Angreifer näher herankommen, gäbe es wohl Opfer unter den Bewohnern, wenn die Geschosse in Noctur selbst einschlugen. Letztlich würden sie wohl für ihre ungeliebte Göttin kämpfen müssen. Es war eine ausgesprochen deprimierende Situation.

Eine wechselnde Erzählperspektive, mit der ich, ohne auf den vorhergehenden Teil zu schauen, etwas Probleme habe.

Im Einzelnen:

Ein auktorialer Erzähler fasst zusammen:
>> In der Stadt herrschte gespannte Unruhe.
So weit, so richtig.

Dann indirekte Rede bzw. Konjunktiv:
>> Die wenigsten Bewohner hätten etwas dagegen, von ihrer Göttin befreit zu werden.
Wer redet bzw. denkt das? Der Wegfall des Anführungsteils ...befreit zu werden, dachten sie lässt den Leser rätseln. Ist es schon die erlebte Rede der personalen Erzählperpektive? Nein, denn die würde mit Indikativ Präteritum daherkommen, das aber könnte aber genauso gut auktorial sein.

>> Aber das wagten sie kaum zu hoffen.
Kann personal oder auktorial sein.

>> Statt dessen schlugen in unregelmäßigen Abständen Granaten an der Küste ein.
Eindeutig auktorial von einem "olympischen" Standort aus betrachtet.

>> Würden die Angreifer näher herankommen, gäbe es wohl Opfer unter den Bewohnern, wenn die Geschosse in Noctur selbst einschlugen. Letztlich würden sie wohl für ihre ungeliebte Göttin kämpfen müssen.
Wie oben zu indirekter Rede / Konjunktiv

>> Es war eine ausgesprochen deprimierende Situation.
Wieder auktoriale Erzählperspektive eines übergeordeten Erzähler ODER die Perspektive einer (!) beteiligten Person?

Es ist mir klar, dass seit "Berlin. Alexanderplatz" von A. Döblin (192 ein solcher ständiger Perspektivenwechsel in der Moderne häufig üblich gewesen ist. In der Postmoderne - finde ich - neigt man eher dazu, schärfer zu differenzieren und wieder mehr dem Purismus zuzuneigen.
2. RE: Die Sache mit den Erzählperspektiven

geschrieben von Harun al-Rashid am 27.02.07 23:14

Why-Not antwortete:

Hallo Harun,

ich verstehe, was Du meinst.

Ich denke allerdings, daß es komplett zu der von mir verwendeten, eingeschränkt auktorialen Erzählperspektive paßt.

Der eigentlich auktoriale, also allwissende Erzähler, der aber abschnittsweise nur einer Figur "über die Schulter schaut" und dabei deren Standpunkt einnimmt, ist aus meiner Sicht eine stimmige Erzählperspektive. Diese Erzählerrolle wechselt auch nicht, wenn sich die Blickrichtung (über eine andere Schulter) ändert.

Das von Dir genannte Beispiel ist allerdings insofern untypisch, als der Standpunkt eines Kollektivs und nicht eines Individuums eingenommen wird. Ob das jetzt geschickt war oder ich diese Gedanken (weiterhin im Konjunktiv ohne Anführungszeichen oder Personenzuweisung) Alexander hätte unterschieben sollen, ist für mich eine Geschmacksfrage - wobei ich zugegebenermaßen erst durch Deinen Hinweis darüber nachgedacht habe. Aber ich finde meine Version weiterhin gut.

In einer traditionell auktorialen Erzählweise müßte ich wohl bei jedem Gedanken eines Protagonisten "dachte er", "fragte er sich" oder "ging es ihm durch den Kopf" anfügen, während ich bei einer personalen Erzählperspektive bei einer Person bleiben müßte. Für mich ist die eingeschränkt auktoriale Erzählerrolle dagegen besonders attraktiv - und aus meiner Sicht auch zeitgemäß.
3. RE: Die Sache mit den Erzählperspektiven

geschrieben von Harun al-Rashid am 27.02.07 23:18

Why-Not,

wir haben ein bisschen aneinander vorbeigeredet. Ich meinte den Wechsel der beiden Erzählperspektiven auktorial und personal. Du meintest den Wechsel der Personen, von deren Blickwinkel aus auktorial erzählt wird. Innerhalb dieser einen eingeschränkt auktorialen Erzählperspektive passt es komplett.

Allerdings bleibe ich dabei, dass der Konjunktiv II in dem Satz Die wenigsten Bewohner hätten etwas dagegen, von ihrer Göttin befreit zu werden. nicht richtig ist. Nur im abhängigen Satz steht der Konjunktiv nach Verben des Sagens und Denkens (hier: Konjunktiv II als Ersatzform für Konjunktiv I haben, weil dieser mit dem Indikativ verwechselt werden könnte). Ohne Anführungsteil muss, gerade weil du auktorial erzählst, Indikativ Präteritum stehen:
Die wenigsten Bewohner hatten etwas dagegen, von ihrer Göttin befreit zu werden.

>> In einer traditionell auktorialen Erzählweise müßte ich wohl bei jedem Gedanken eines Protagonisten "dachte er", "fragte er sich" oder "ging es ihm durch den Kopf" anfügen, ...

Das siehst Du etwas eng. Es reicht, wenn im überschaubaren Rahmen einmal der Sprecher genannt wird. Auch in Dialogen reicht die einmalige Nennung der in der Regel zwei Beteiligten. Wer was sagt, ergibt sich - zumindest für eine Buchseite - aus Abfolge und Inhalt des Gesagten.
4. RE: Die Sache mit den Erzählperspektiven

geschrieben von Why-Not am 28.02.07 22:10

Zitat

Allerdings bleibe ich dabei, dass der Konjunktiv II in dem Satz Die wenigsten Bewohner hätten etwas dagegen, von ihrer Göttin befreit zu werden. nicht richtig ist. Nur im abhängigen Satz steht der Konjunktiv nach Verben des Sagens und Denkens (hier: Konjunktiv II als Ersatzform für Konjunktiv I haben, weil dieser mit dem Indikativ verwechselt werden könnte). Ohne Anführungsteil muss, gerade weil du auktorial erzählst, Indikativ Präteritum stehen:
Die wenigsten Bewohner hatten etwas dagegen, von ihrer Göttin befreit zu werden.

Ok, jetzt habe ich verstanden, was Du meintest. Stimmt schon, zu dem Konjunktiv fehlt eigentlich eine Bedingung, die ich unterschlagen habe: "... Die wenigsten Bewohner hätten etwas dagegen, von ihrer Göttin befreit zu werden, wenn sie es sich aussuchen dürften. ..." Dieser Teil des Satzes erschien mir allerdings so offensichtlich, daß ich ihn nicht hingeschrieben habe.

Das Gleiche gilt auch für den zweiten Konjunktiv dieses Absatzes: "... Letztlich würden sie wohl für ihre ungeliebte Göttin kämpfen müssen, wenn kein Wunder geschähe. ..." Auch hier habe ich den jetzt kursiv eingefügten Teil unterschlagen, weil er mir offensichtlich erschien.

Würde ich die beiden Sätze ins Präteritum stellen, bekämen sie den Charakter einer wahren Aussage. Insbesondere beim zweiten Satz wollte ich das auf keinen Fall. Denn dann hätte der Erzähler aus seiner allwissenden Sicht etwas über die Zukunft ausgeplaudert. (Womöglich würde er dabei sogar lügen.) So gibt es eine Erwartung, bzw. im ersten Fall ein Wunschdenken, der Bewohner Nocturs wieder. Zumindest mich stören diese beiden "Regelverstöße" nicht beim Lesen.

Auch ein weiterer Satz dieses Absatzes gibt nicht die (bei mir objektive) Sicht des Erzählers, sondern die Gedanken der Bewohner wieder: "... Würden die Angreifer näher herankommen, gäbe es wohl Opfer unter den Bewohnern, wenn die Geschosse in Noctur selbst einschlugen. ..." Ansonsten hätte ich das Wort "wohl" entfernen müssen. (Wobei es ohnehin eins meiner bevorzugten Füllworte ist, die ich nachträglich erst wieder mühsam herausstreichen muß.) Gerade fällt mir noch auf, daß ich eigentlich statt "einschlugen" "einschlügen" hätte schreiben müssen. Aber das hätte gräßlich geklungen. Also lasse ich es jetzt bewußt falsch drin.

Ich gebe aber zu, diese sprachlichen Entscheidungen "aus dem Bauch heraus" getroffen zu haben. Wenn ich mir diese Überlegungen bewußt bei jedem Satz machen wollte, würden meine Geschichten nicht nur nie fertig werden, auch meine Inspiration wäre wohl schnell dahin.

Why-Not
5. RE: Die Sache mit den Erzählperspektiven

geschrieben von DrSimon am 02.06.10 11:00

Ich finde einen Wechsel der Perspektive Opfer / Täter fast Pflicht, weil er einfach mehr erregt.
Er sollte aber nur absatzweise eingesetzt werden. Mit deutlicher Trennung.


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