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Thema:
eröffnet von Daniela 20 am 21.10.12 16:51
letzter Beitrag von Daniela 20 am 13.11.17 13:39

1. Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 21.10.12 16:51

Ankündigung

Ab dem 4. November kann man hier die Fortsetzung meiner Geschichte "Frust" lesen.

Weitere Information dazu findet sich unter der Rubrik "Diskussion über Stories" ---> München-Trilogie

Daniela 20
2. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 21.10.12 18:59

Hi Daniela,

Deine Ankündigung freut mich absolut, kann es kaum erwarten!!! Der Advent scheint dieses Jahr dann doch noch etwas früher loszugehen als sonst... ))

Keusche Grüße
Keuschling
3. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Dennis76 am 22.10.12 07:08

Hallo Daniela,

ich freu mich schon drauf auf die Fortsetzung

Gruß Dennis
4. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von confused am 22.10.12 08:49

Dem kann ich mich anschließen ´=)
5. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Fehlermeldung am 23.10.12 23:13

Hallo Daniela 20

Bisher zu deinen Story´s

Etwa 500 Komentare !

Etwa 500000 Klick´s

Autorenherz was willst du mehr ?

Hechel , keuch !

Wann ist endlich der 4.11.2012 , 22.00 uhr ?



6. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von star am 23.10.12 23:54

Hallo Daniela 20,

auch ich kann mich meinen Vorschreibern nur anschliesen und sehene den 4 November herbei.

Grüße von star
7. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von bd8888 am 27.10.12 10:10

Hallo Daniela 20
Es freut mich, dass wir wieder etwas von dir hören.
Danke für deine Ankündigung.
Alles liebe
bd8888
8. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Toree am 03.11.12 22:02

Liebe Fangemeinde!

es sind nur noch Stunden bis zur neuen Geschichte von Daniela 20!!!
9. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 04.11.12 22:00

Ein Wort vorweg

Es kann losgehen! Wie bereits während der letzten beiden Winter möchte ich meine vielen Leser für nun viele Wochen wieder mit einer guten Geschichte unterhalten. Wie uns allen schon lange klar war, so fehlte ein Schluss.
Es hat mich in den letzten Tagen riesig gefreut, dass die Daniela Fan-Gemeinde schon parat ist. Schön auch zu sehen, dass nicht nur alte Bekannte sich bereits zu Wort gemeldet haben, sondern dass es das Forum immer noch gibt.

Womit ich auf ein kleines Problem aufmerksam machen möchte. Ich habe sehr viel Zeit und Arbeit in diesen letzten Teil meiner "München-Trilogie" investiert, weit über hundert Arbeitsstunden. Es ist ein Geschenk an meine Leser, kostet Euch keinen Cent.
Aber das Forum als solches ist wohl alles andere als gratis. Wünschen würde ich mir, dass die Admins das irgendwo einmal offenlegen können, wie es um die interne Ökonomie bestellt ist; vielleicht wäre das mal eine Idee. Vorstellen kann ich mir aber, dass es ständig an Geld mangelt. So möchte ich, wie schon letztes Jahr, meine Leser zu einer kleinen Spende auffordern. Es muss ja nicht viel sein, ein paar Euro oder so; Ihr wisst ja, Kleinvieh macht auch Mist!

Wie bereits mehrmals erwähnt, kann man diese Geschichte nicht verstehen, wenn man die ersten beiden Teile, "Herbstferien" und "Frust", nicht gelesen hat. Man kann es immer noch tun, neue Leser werden gebeten, erst einmal dort den Einstieg in die Geschichte zu finden.

Nur zur Information: alle handelnden Personen sind volljährig. Diese Geschichte kommt ohne Brutalitäten und ohne Fäkaliensprache aus. Allerdings habe ich meinen jüngeren Protagonisten eine für ihr Alter normale Sprache gegeben, und mit Leerstellen das unsinnige **** unterdrückt.

Wie immer freue ich mich über Zuschriften meiner Leser. Kurze Kritiken kann man gern hier loswerden. Wer längere Diskussionen lostreten möchte, kann dies auch unter der Rubrik "Diskussion über Stories" ---> München-Trilogie tun.

Damit wünsche ich Euch allen nun spannendes Lesen. Haltet durch bis zum nächsten Frühling, es lohnt sich!!

Eure Daniela 20




Prolog

Der Brief, der göffnet auf dem Küchentisch lag, hatte keine frohe Botschaft verkündet. Ganz im Gegenteil. Er hatte sprachloses Entsetzen verkündet, hatte mit aller Deutlichkeit klar werden lassen, was am Ende aller Dinge zu erwarten ist. Jetzt begann der unaufhaltsame Prozess der seelischen Selbstzerfleischung, jetzt musste für die Fehler der Vergangenheit gebüßt werden.

Wessen Fehler? Das war alles andere als klar. Man würde es herausfinden müssen.


Oktober I.

"Ruffe, kommst du?" Karin Grainer mochte es, noch in aller Herrgottsfrühe eine erste Joggingrunde zu absolvieren. Die Nacht war klar, aber kalt gewesen, jetzt hatte sich leichter Morgennebel über die Isar gelegt. Es war wunderschön, aber die Kälte verhinderte längeres Verweilen; allein die Bewegung hielt sie warm.
Doch Ruffe weigerte sich, weiterzulaufen. Er war in den Nebel hineingelaufen, stand nun dort unten am Wasser und machte sich lauthals bemerkbar. Es war irgendwie unheimlich, aber was sollte hier, mitten in München, schon so unheimlich sein, dachte Karin Grainer, dass sie es nicht wagen würde, selber einmal nachzusehen? Gekonnt orientierte sie sich am Bellen ihres Spaniels, erreichte den Hund und spähte nun mit ihm zusammen über das träge dahinfließende Wasser, darauf wartend, dass sich der Nebel bald lichten würde.


Ingeborg Wimmer hasste es, wenn sie selbst an einem Sonntagmorgen schon so früh zur Arbeit gerufen wurde. Auch wenn sie die Kommissarin vom Dienst war. Aber eine Leiche noch vor dem Frühstück konnte ihr schnell auf den Magen schlagen. Warum nur mussten die Leute denn immer in aller Herrgottsfrühe Leichen finden? Ärgerlich legte sie den Hörer auf, begab sich in ihr Schlafzimmer, warf schnell noch einen Blick aus dem Fenster und wählte dann warme Kleidung in kräftigen Herbstfarben. Rock? Nein, eine Hose war besser, wenn sie unten an der Isar herumstapfen solle.

Als sie knappe zwanzig Minuten später am Fundort der Leiche eintraf, blickte sie auf ihre Uhr. Verdammt, noch nicht einmal 8 Uhr! Sie parkte ihren etwas altersschwachen Golf direkt neben dem Streifenwagen der Polizei, der mit eingeschaltetem Blaulicht auf der nordwestlichen Ecke der Luitpoldbrücke stand, direkt vor einer mächtigen steinernen Plastik, die das Geländer schmückte. Bevor sie ausstieg schloss sie den Reißverschluss ihrer Jacke, der nebelige Herbstmorgen lud nicht zu direkter Offenherzigkeit ein.
Gegenüber den Streifenpolizisten wies sie sich kurz aus, man war hier schließlich nicht im Krimi, wo scheinbar jeder Uniformierte jeden Kriminalbeamten kannte.

"Guten Morgen! Ingeborg Wimmer. Was haben wir?" Es war immer diese Frage, die ihr wehtat. Trotz ihrer achtundzwanzig Jahre, von denen sie schon ein halbes Jahrzehnt bei der Kripo verbracht hatte, war dies immer noch der Casus Knackus. In der Früh hatte man sie nur über einen Leichenfund an der Luitpoldbrücke informiert und sie gebeten, hinzufahren. Aber erste Einzelheiten erfuhr sie meist erst am Tatort - falls es überhaupt ein Tatort war. Was festzustellen die Aufgabe des Arztes war, den sie herbeirufen musste.
Nein, Leiche war nicht gleich Leiche. Es ist ein Unterschied, ob man die Leiche eines Kindes oder die eines Penners fand, so unmenschlich das auch klingen mochte. Aber ein in der Nacht erfrorener Mann, der sich schon lange aus dem Leben verabschiedet hatte - oder verabschiedet wurde, war halt nicht so schlimm wie in die erloschenen Augen eines Jugendlichen zu blicken, der sich den letzten Schuss gesetzt hatte. In beiden Fällen konnte man der Gesellschaft einen Teil der Schuld anlasten, das wusste sie, aber sie wusste auch, dass das Leben in einer freien Gesellschaft ein hohes Maß an Eigenverantwortung voraussetzte.

"Sie räusperte sich, um ihrer Stimme etwas mehr Autorität zu verleihen. "Also, was haben wir? Mann? Frau? Junge oder Mädchen? Oder" - sie brachte es fast nicht hervor - "ein Kind? Wegen der toten Gams da haben Sie mich wohl nicht so früh aus dem Bett geholt?"



Mai I.

Alles hatte sich verändert. Klaus hatte seiner Oma beim Waschen geholfen und sie anschließend gekonnt ins Bett gebracht. Seine Zeit als Zivildienstleistender bei einem Behinderten machte sich durchaus bezahlt, jetzt wo er die Oma am Hals hatte.
Er löschte das Licht im Zimmer der alten Dame und ging in den Garten hinaus. Die Dämmerung hatte eingesetzt, die Luft war angenehm warm, blühende Kastanien verbreiteten ihren Duft, singende Amseln ließen die Luft in angenehmer Weise erzittern. Dennoch bekam Klaus von alldem nicht viel mit. Selten in seinen beinahe zwei Lebensjahrzehnten war er sich so unsicher gewesen, was er tun sollte. Nicht, was er tun wollte. Aber er wusste, dass er feige gewesen war. Weil er es nicht gewagt hatte, Monika im Krankenhaus zu besuchen. Sie war nur wenige Tage dort gewesen, und als er sich endlich auf den Weg gemacht hatte, hatte er erfahren müssen, dass seine Herrin bereits nach Hause entlassen worden war. Zu spät, dachte er. Sie zu Hause zu besuchen wagte er nicht. Nicht noch einmal hoch in jenes Zimmer, in dem er zu ihrem Spielzeug geworden war.

Es war von Anfang an ein Spiel gewesen, wie er glaubte. Nur ein Spiel zweier junger Leute, die keine Grenzen kannten. Ein Spiel, das ihm sogar einigen Spaß bereitet hatte, wenn er es auch immer verloren hatte. Aber das war nichts Neues für ihn. Er war es gewohnt, in sexuellen Dingen den Kürzeren zu ziehen, aber darüber wollte er jetzt lieber nicht nachdenken.

Klaus holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, schnappte sich ein Buch, in dem er gerade las, und ging wieder hinaus. Er begann zu lesen, aber nur seine Augen flogen über das Papier. Das Buch von Stieg Larsson war eines der spannendsten, das er je in die Finger bekommen hatte, aber es war halt nur Fiktion. Und was war eine fiktive Lisbeth Salander gegen eine äußerst reale Monika?
Monika war nicht die Einzige, zu der er seit Ostern keinen Kontakt mehr aufgenommen hatte. Da war auch noch Daniela, mit der er an jenem Ostermorgen zusammengefesselt war, als sie beide Zeuge davon wurden, wie der alte Pastor in einem Zinksarg aus der Kirche gebracht worden war. Wären sie einige Minuten eher gekommen, hätten sie noch den Rettungswagen gesehen, der Monika ins Klinikum gebracht hatte. So aber hatten beide geglaubt, es hätte ihre Bekannte getroffen.

Klaus schloss die Augen. Er trank einen Schluck von seinem Bier, dann hörte er wieder Danielas Stimme: "Nein, Klaus, wir gehen nach Hause, zu...Monika... zu Monikas Haus. Ich weiß, wo der Schlüssel liegt. Und vielleicht auch, wo all die anderen Schlüssel liegen. Die für die Handschellen, das Korsett, und deine Dinger da. Wir haben keine andere Wahl." Oder hatte sie Barbara gesagt? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Aber er wusste noch, dass auch er unbedingt aus dem Dirndl rauswollte, das er trug, ganz abgesehen von dem stählernen BH und Keuschheitsgürtel. Und Daniela war so eng in dieses verschlossene Korsett geschnürt, dass es fraglich war, wie lange sie überhaupt noch durchhalten würde. Sie hatten am Abend zuvor alles versucht, das Korsett zu öffnen, aber da war nichts zu machen gewesen; sie hätten es mit einer Stahlschere aufschneiden müssen, so solide war es gearbeitet.

"Komm, lass uns gehen! Es hat keinen Zweck, hier länger rumzustehen. Ich muss endlich aus diesem scheiß Korsett raus!"

Er hatte schnell nachgegeben. "Nun zieh nicht so! Ich komm ja schon. Wo liegt denn der Schlüssel?" Traute sie ihm nicht, oder warum sprach sie so wenig?

"Barbara," antwortete sie ziemlich atemlos, "ich habe keine Luft für all diese Gespräche. Komm lieber, bevor es hier anfängt, von neugierigen Leuten zu wimmeln."

Ja, sie hatte ihn Barbara genannt! Und Barbara war die dritte Frau, mit der er seit Wochen keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Und von allen dreien diejenige, die er am meisten vermisste!

Gemeinsam waren sie an jenem Morgen weitergestolpert, weit war es ja nicht. Dennoch begegneten ihnen auch jetzt schon zwei Jugendliche, die ihnen entgeistert nachschauten. Auch wenn sie auf den ersten Blick ein ganz ´normales´ Lesbenpärchen abgaben, so trug ihre Kleidung doch dazu bei, dass andere sich die Augen nach ihnen ausguckten.
Endlich hatten sie Monikas Zuhause erreicht. Jetzt galt es nur noch, den Ersatzschlüssel zu finden.

"Und? Wo liegt er denn nun, dieser blöde Schlüssel?" fragte Klaus ungeduldig, während er sich das Handgelenk rieb. Seit gestern Nachmittag war er an Daniela gefesselt, die engen Handschellen hatten schon ihre Spuren hinterlassen.

"Soweit ich mich erinnere," keuchte Daniela ziemlich atemlos, "liegt er hinten im Gartenhäuschen unter einem alten Farbeimer."

"Hoffentlich ist das Häuschen nicht abgeschlossen." Es war typisch für Klaus, dass er immer alles etwas zu pessimistisch sah. "Dann hätten wir nämlich ein echtes Problem, meinst du nicht auch?"

Daniela antwortete nicht. Was sollte sie auch sagen? Jetzt aber drückte sie die Klinke hinunter, die Tür sprang auf, alles war, wie es sein sollte. Alles bis auf die Farbeimer.
"Ach du scheiße..."

Das nur spärlich erleuchtete Innere gab einen ersten Blick frei auf etwas, das eine veritable Sammlung alter Farbeimer zu sein schien. An beiden Wänden des Schuppens waren mindestens zwei Dutzend Blech- und Plastikeimer in verschiedenen Größen aufgereiht, fein säuberlich auf zwei Borden, die in halber Höhe links und rechts vom Eingang verliefen. Wobei sich allerdings das Adjektiv säuberlich nur auf die Aneinanderreihung bezog, nicht auf die Dosen oder verdreckten Borde.

Klaus starrte Daniela entsetzt an. "Geht es vielleicht etwas genauer? Wir sind hier wohl in ein altes Depot der IG-Farben geraten!"

"Nein. Sie hat nur unter einem Farbeimer gesagt, mehr nicht. Wir müssen halt einfach nachsehen."

Beide gingen in je ihre Richtung und wurden von einem heftigen Ruck an ihren Handgelenken aufgehalten. "Aua! So pass doch auf!"

"Entschuldige, dann fangen wir erst mal bei dir an," gab Klaus klein bei.

Die Arbeit brachte außer viel Schmutz und Staub nichts zutage. Daniela begann, heftig zu husten als sie mit Klaus´ Seite halbwegs fertig waren. "Dieser verdammte Schlüssel muss doch irgendwo sein! Ich bekomme ja kaum noch Luft!"

Trotzdem schufteten sie weiter, bis auch der letzte Farbeimer nachgesehen war. Klaus blickte Daniela entsetzt an, dann bemerkte er, wie das Mädchen seine Augen verdrehte, ein- zweimal mit den Lidern klimperte und dann langsam zu Boden glitt und nichts mehr sagte.

"Dani! Mensch Dani, mach keinen Scheiß! Du kannst doch hier nicht einfach umkippen!" Wie er es im Fernsehen gesehen hatte gab er ihr einige leichte Schläge auf die Wangen. Ein erneutes Husten folgte.

"Luft! Ich bekomme keine Luft mehr! Hast du den Schlüssel, Barbara??"

Für einen Moment fühlte er sich überhaupt nicht angesprochen. Barbara ist weit weg, dachte er. Er bückte sich hinab, um Daniela beim Aufstehen behilflich sein zu können. Dabei fiel sein Blick auf eine einzige, halb verrostete Blechdose, die hinter mehreren Gartengeräten ganz in der Ecke des Schuppens stand. Er streckte die Hand danach aus, konnte aber nicht ganz so weit hinlangen, weil er immer noch an Daniela gefesselt war, die jetzt wie ein solider Anker auf dem Betonfußboden des Schuppens lag. Da half wohl nur etwas Gewalt, dachte er und zog die halb bewusslose Freundin einen halben Meter näher zu sich heran.

"Aua! Du tust mir weh!" jammerte sie.

Statt einer Antwort streckte er nun seinen Arm aus, beförderte Spaten und Harke zur Seite, wobei er aufpassen musste, dass diese nicht auf ihn oder Daniela fielen, dann schob er eine flache Wanne mit seltsamen Körnern - Rattengift?? - vorsichtig aus dem Weg, und konnte schließlich den alten Farbtopf zu sich heranziehen.
Er stöhnte laut auf. Hier lagen sie beide in ihren ungewöhnlichen Kostümen auf dem rohen Fußboden, Daniela auf dem Rücken und er selber auf dem Bauch, sodass die soliden Schalen seines stählernen Keuschheits-BHs fest gegen seinen Brustkorb drückten. Die unter den Schalen befindlichen Stachelkugeln hatten ihn in den letzten Stunden schon so sehr gequält, dass er es jetzt kaum noch merkte.
Er wusste, dass sich hier der Schlüssel befinden musste. MUSSTE! Und wenn nicht... dann würden sie noch heute Abend hier liegen, dachte er, darauf wartend, dass Monikas Mutter heimkam.
Die Dose war klein genug, dass er sie mit einer Hand umfassen konnte. Er drehte sie um und sah am Boden der Dose etwas in Folie Eingewickeltes kleben. "Ja," rief er, "ja, ich habe den Schlüssel! Und du kommst besser auf die Füße, damit wir ins Haus können und aus diesen verdammten Sachen rauskommen!"


Beide waren froh, als sie die Haustür hinter sich schließen konnten. Erleichtert atmeten sie auf, das heißt, es war nur Klaus, der erleichtert aufatmete, Daniela war mit ihrem engen, abgeschlossenen Strafkorsett schon froh, überhaupt noch atmen zu können. Aber nach ihrem kleinen Ohnmachtsanfall ging es ihr schon wieder besser, und jetzt übernahm sie wieder die Führung. "Komm, Klaus, lass uns mal in ihrem Zimmer nachsehen. Ich meine, mich zu erinnern, dass es immer so wie das Scheppern einer Blechdose klang, wenn sie einen Schlüssel holte."

"Ja. Kann sein. Aber was machen wir, wenn wir keine Blechdose finden?"

Daniela war es einfach leid. "Dann," so antwortete sie leicht spöttisch, was Klaus allerdings nicht mitbekam, "dann bleiben wir halt den Rest unserer Tage so zusammen! Findest du nicht, dass wir das perfekte Paar sind?" Um ihn ein wenig zu ärgern riss sie einmal heftig an den Handschellen. War er so blöd oder tat er nur so?

In Monikas Zimmer roch es leicht muffig, wahrscheinlich hatte sie nicht mehr gelüftet, seit ihre Mutter mit Danielas Tante zusammen nach Österreich gefahren war. Sie sahen sich um.

"Glaubst du, dass wir.... dass wir das hier dürfen?" fragte Klaus zögerlich.

"Dürfen?? Was meinst du denn mit dürfen?"

"Nun ja, so im Zimmer einer Verstorbenen..."

Daniela fuhr in laut an: "Halt die Klappe!! Wenn es nach dir gegangen wäre, säßen wir jetzt in deiner kleinen Dachwohnung und damit erst so richtig in der Tinte! Was glaubst du denn, wie wir dann losgekommen wären? Jetzt ist es besser, wir befreien uns selbst, solange noch Zeit dazu ist. Und hör endlich mit deinem ewigen Pessimismus auf! Eine blöde Dose, oder was auch immer es ist, wird ja wohl zu finden sein! Und wenn wir das ganze Haus auf den Kopf stellen müssten!"

"Eine Keksdose?"

"Ja, von mir aus auch eine Keksdose!" Daniela stutzte. "Wieso, von was für einer Keksdose redest du denn?"

"Von der da, unter ihrem Bett. Siehst du sie nicht?" Klaus deutete mit der freien Hand in die Richtung von Monikas Bett. Es dauerte nur Sekunden, bis sie die Dose aufgehoben, den Deckel abgenommen und hineinschauen konnten.

"Mist! Nur Kekse! Komm, lass uns weiter suchen! Vielleicht war es ja auch gar keine Dose, vielleicht war es etwas anderes." Beide suchten sorgfältig weiter, jetzt durfte einfach nichts schiefgehen. Neben Monikas Bett befand sich ein altmodisches Nachtschränkchen. Sie öffneten die Tür und fanden dort eine kleine silberne Schachtel, verziert mit Elementen, die offenbar der indischen Kultur entsprangen. Nervös öffnete Daniela den Deckel, ein breites Grinsen überflog augenblicklich ihr Gesicht.

"Bingo! Klaus, die Rettung ist nah!"

"Wenn die man passen!" Klar, dass er das sagen musste.

Die Anzahl der Schlüssel war überschaubar. "Komm, du zuerst! Zieh dich aus, Dani!" Klaus spürte, dass es jetzt zuerst darum ging, Daniela aus ihrem viel zu engen Korsett zu befreien. Im Moment war die Frage, ob auch Schlüssel zu seinem Keuschheitsgürtel und dem BH dabei waren, eher zweitrangig.

"Wart mal! Komm mal mit deiner Hand her! Ich glaube, ich habe hier schon mal den Schlüssel für die Handschellen. Lass mal sehen, ob der passt!" Sie steckte den Schlüssel erst in die Handschelle, die Klaus an seinem Handgelenk hatte, und konnte diese problemlos öffnen. Schnell entfernte sie auch die Handschelle von ihrem Handgelenk. "Schon mal was! So! Was sagtest du? Ach ja, ausziehen!" Sie schlüpfte aus Rock und Petticoat und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Es war herrlich, endlich nicht mehr aneinandergefesselt zu sein.

Klaus suchte nun nach zwei Schlüsseln, die größenmäßig zu den kleinen Schlössern passen mussten, die an der Vorderseite von Danielas locking-corset befestigt waren. Und diesmal passten gleich die ersten beiden Schlüssel! Ohne große Umschweife öffnete er den verstärkten Gürtel, der die beiden Patten zusammenhielt, welche auf der Rückseite des Korsetts die Schnürung überdeckten, dann löste er vorsichtig die Schleife und begann, durch vorsichtiges Ziehen an den sich überkreuzenden Schnüren das Korsett Zentimeter um Zentimeter zu lockern.

"Ah!" Ein zufriedener Seufzer entfuhr ihr, als sie endlich wieder Luft bekam. Aber sie verspürte auch einen unangenehmen Schmerz, zu lange war ihr Brustkorb geradezu unmenschlich zusammengepresst gewesen. "Langsam, Klaus! Nicht zu schnell! Lass es erst einmal gut sein. Gib mir ein paar Minuten. Was meinst du, ob wir auch die Schlüssel für deine Dinger da finden?"

"Das wäre nicht schlecht, obwohl..."

"Obwohl was? Was ist denn jetzt schon wieder verkehrt?"

"Nichts." Er konnte es nicht sagen. Er bezweifelte, dass Daniela ihn verstehen würde. Er verstand es ja selber nicht.

"Na dann ist ja gut! Komm, jetzt bist du dran mit Ausziehen! Du hast lange genug in diesem Dirndl gesteckt!" Daniela hatte schon ihre Hand ausgestreckt, um den Reißverschluss an seinem Mieder zu öffnen.

Klaus wich zurück. "Nicht! Lass das...!" Er konnte es nicht sagen. "Bitte... ich kann das selbst!"

"Schon gut, Barbara!" Sie hatte ihrer Stimme einen neckischen Tonfall gegeben. Wenn er keine Hilfe wollte...

Klaus zog sich aus. Er band die Schleife der Dirndlschürze auf und nahm diese langsam ab. Erst nachdem er diese sorgfältig zusammengefaltet hatte öffnete er den Reißverschluss am Mieder, streifte sich die mit Froschmaul hübsch verzierten Träger von den Schultern. Er verharrte einen Moment, dann stieg er aus dem Kleid. Nun zog er die weiße Bluse über seinen metallenen BH hoch, griff sich mit überkreuzten Armen in den Rücken und zog die Bluse langsam über seinen Kopf. Es sah nicht nur kompliziert aus, es war es auch. Es wirkte eher wie ein Akt, etwas, das Daniela als einen Akt der Befreiung verstand; noch am Abend zuvor hatte er beim Ausziehen, trotz ihrer zusammengefesselten Arme, nicht so ein Brimborium veranstaltet.

Daniela wusste sofort, nach welcher Art Schlüssel sie suchen musste. Wochenlang hatte sie auf etwas Ähnliches gestarrt, jedes Mal wenn sie überlegte, ob sie ihren nur aus einer Zeitschriftenseite und einem Stück Klebeband bestehenden Schlüsselsafe aufbrechen sollte, oder nicht. Die Schlösser, die an Klaus´ stählerner Unterwäsche angebracht waren, waren vom gleichen Typ wie diejenigen, die sie an ihrem KG gehabt hatte.

"Hier! Klaus, ich glaube, heute ist dein Glückstag! Wollen wir mal sehen, ob wir dein Ding da endlich befreien können?" Sie versuchte es mit dem ersten Schlüssel, aber der wollte nicht passen. Auch der zweite Schlüssel passte nicht, öffnete aber das Schloss an Klaus´ Keuschheits-BH. Daniela nahm ihm das solide gearbeitete Stück ab und erschrak, als sie seine stellenweise blutig gekratzte Brust sah. "Ach du scheiße! Wenn das mal keine Entzündung gibt! Da müssen wir gleich mal in der Hausapotheke nachsehen! Im Badezimmer finden wir bestimmt was. Aber erst noch das letzte Schloss! Hier sind ja noch mehr kleine Schlüssel!"

Schon der nächste Schlüssel passte. Es war Wochen her, dass Monika ihn zuletzt aufgeschlossen und gemolken hatte, jetzt aber war es nicht Monika, sondern Daniela. Behutsam hakte sie Taillenband und Schrittband auseinander, ließ die einzelnen Teile nicht achtlos herabfallen, sondern machte dies mit der größtmöglichen Sorgfalt.

"Au!" Es war Daniela, die es ausgestoßen hatte. "Das sieht ja nicht gut aus... aber... er ist noch dran, wenn dich das beruhigt. Ich glaube, wir sollten jetzt sehen, dass wir hier aufräumen, dann wäre ein schnelles Bad sicherlich nicht verkehrt. Was meinst du? Und dann sollten wir dich besser etwas verarzten. Tja, schade, dass du keine Frau bist, dann hättest du jetzt nicht solche Schwierigkeiten!"

Klaus leistete keinen Widerstand. Schade, dass du keine Frau bist... So etwas Ähnliches hatte er schon einmal gehört. Irgendwann, irgendwo. Aber er konnte es nicht einordnen. Schamhaft bedeckte er sein Geschlecht, wie ein kleiner Junge, der... der... Nein, er konnte nicht weiterdenken.

Sie räumten Monikas Zimmer auf, legten alles, bis auf die Schlüssel zu Klaus´ KG wieder an ihren Platz. Dann duschten beide, nicht zusammen, sondern jeder für sich. Es war besser so. Anschließend fand Daniela in Pias Medizinschränkchen eine Wundsalbe, die sie vorsichtig auf Klaus´ malträtiertes Glied auftrug. Schon bei der kleinsten Berührung zuckte er heftig zusammen. "Schon gut, schon gut! Ich pass ja auf! Sei du lieber froh, dass du überhaupt noch was spürst. So! Fertig. Willst du dir nicht die Haare trocknen? Da hinten liegt ein Föhn; ich brauche das ja im Moment nicht mehr. Dank Monika!" Sie lachte grimmig auf. Kurze Haare konnten auch recht praktisch sein.
Sie beobachtete Klaus, der begonnen hatte, sein mittlerweile schulterlang gewordenes Haar zu trocknen. Was war das? Irrte sie, oder war hier etwas nicht so, wie es hätte sein sollen? Diese langsamen Bewegungen, diese Versunkenheit.
Und dann sah sie es. Das hier war nicht Klaus, der sein langes Haar trocknete, sondern es war wieder Barbara, die vor dem Spiegel stand und genussvoll jede einzelne Strähne föhnte. Auch wenn es eine Barbara war, die jetzt wieder dieses Ding da zwischen den Beinen hatte.
Plötzlich wusste Daniela genau, was sie tun musste. Es konnte gar keinen Zweifel geben. Sie musste diesem Spuk ein Ende bereiten, jetzt und für allemal, und das bedeutete, dass sie zu drastischen Mitteln greifen musste.

So schnell sie konnte rannte sie mit wippenden Brüsten in die Küche. Ja, die Schere lag immer noch da, wo Monika sie erst vor kurzem abgelegt hatte. Sofort war sie wieder zurück im noch warmen Bad, wo Klaus gerade dabei war, den Föhn wieder zu verstauen. Daniela schob mit dem Fuß einen kleinen Hocker in die Mitte des Badezimmers, dann zog sie Klaus zu sich herüber.

"Was ist denn? Was ist los? Was hast du vor?", fragte er etwas ängstlich ob der unsanften Behandlung.

Daniela antwortete nicht. Sie musste den ersten Schnitt machen, bevor sie - Barbara - Möglichkeit zum Widerstand bekam. Ohne viel Nachdenkens ergriff sie fast das gesamte Haar an seinem Hinterkopf, setzte die Schere so weit oben wie möglich an und drückte zu.

"Nicht!! Bist du verrückt? Du kannst mir doch nicht..." Sein entsetzter Aufschrei verstummte, als er die große Locke sah, die neben ihm auf den Boden fiel. "Dani...bitte...!!"

Sie arbeitete schnell. Ohne hinzusehen. Es war das erste Mal, dass sie jemandem die Haare schnitt, wenn man einmal davon absah, dass sie Maya einige Male die Spitzen geschnitten hatte. "Sch!! Halt still, wenn ich dir nicht die Ohren abschneiden soll!" Schon konnte man den Kopf eines jungen Mannes erkennen. "Klaus, es muss sein! Für dich... damit du nicht untergehst! Und...." Sie senkte ihre Stimme, denn jetzt wurde es ihr klar, dass all das auch für sie selber Konsequenzen haben würde, "...und auch für uns!"

Klaus schüttelte seinen Kopf und begann zu weinen. Daniela ließ sich nicht beirren. Sie wusste, was jetzt in seinem Inneren geschah. Zumindest glaubte sie, es zu wissen.

Er fror. Trotz der immer noch schwülen Wärme im Bad fror er. Mit jedem Schnitt, den Daniela machte, spürte er, wie er einen Teil seiner Schutzschicht verlor. Wie durch einen Nebel hörte er Danielas Stimme: "...noch etwas in Facon bringen... Herrenschnitt... schwierig.... etwas hier noch abnehmen...."
Endlich schien sie fertig zu sein. Sie reichte ihm etwas Toilettenpapier, damit er sich die Nase putzen und die Tränen trocknen konnte. Dann zerrte sie ihn hoch. Er war wie eine Gliederpuppe, so dachte er. Gliederpuppen! Ein furchtbares Wort, das ihm plötzlich von irgendwo her in den Sinn kam. Er hörte jemanden lachen, drehte sich zu Daniela um, aber von ihr kam es nicht.

"So, komm! Schau dich mal hier im Spiegel an. Ist doch gar nicht so schlecht geworden, oder?" Vielleicht hätte sie das kleine oder besser nicht anhängen sollen, denn es drückte in all seiner Simplizität ihre ganze Unsicherheit aus.

Klaus blickte in den Spiegel. Er erschrak, als er sich sah.

"Mann, gleich ist es schon elf Uhr! Wir sollten uns besser beeilen! Ich habe keine Ahnung, wann Pia und meine Tante zurückkommen werden. Ich denke mal, es ist besser, wenn wir dann nicht mehr hier sind. Auch wenn sie vielleicht erst am Abend hier sein werden."

Beide gingen, nachdem sie auch die Unordnung im Badezimmer aufgeräumt hatten, zurück in Monikas Zimmer. Ihnen war kalt geworden, es war höchste Zeit, sich etwas anzuziehen, wollten sie sich hier nichts einfangen. Daniela schlüpfte schnell in einige Sachen, die sie aus ihrem Koffer geholt hatte, der immer noch im Gästezimmer stand. Dann aber sah sie, dass Klaus ein Problem hatte. Ein Problem, mit dem keiner von ihnen gerechnet hatte.

Er stand hier wie das sprichwörtliche Engelchen, das vom Himmel gefallen war. "Dani... ich..."

"Ach du scheiße!" Daniela sah es sofort. Er war als Barbara hierhergekommen; jetzt aber sollte er als Klaus das Haus wieder verlassen. Nur mit dem Problem, dass Klaus keine Sachen hier hatte, die er tragen konnte.
Da war guter Rat teuer. Daniela musste sich setzen. Das könnte jetzt schwieriger werden, als ihr - oder ihm - lieb sein würde.

"Was soll ich denn anziehen? Du glaubst doch nicht, dass wir irgendwo hier im Haus Männersachen finden?" Klaus stand da wie ein Häufchen Elend.

"Scheiße. Nein, das glaube ich nicht. Hast du welche bei dir zu Hause?" Klaus nickte. "Gut. Eine Hose und ein uni Pullover überm T-shirt wird´s schon tun. Du musst halt nur nach Hause gehen und dann bist du ja erst mal aus dem Schneider.

"So?", entgegnete er aufgebracht. "Soll ich etwa so zu mir gehen? Nackt??"

"Natürlich nicht. Dann ziehst du halt noch mal dein Kleid hier an! Wird schon nicht so schlimm sein, du stehst doch auf Dirndl!" Sie versuchte, ein scherzhaftes Lachen von sich zu geben, aber es misslang völlig.

"Ja, wie denn?? Mit den Haaren jetzt? Ohne meine Titten, die zu Hause liegen, weil ich diesen dämlichen Keuschheits-BH tragen musste?"

"Dann ziehst du ihn halt wieder an! Und wart mal... für deine Haare..." Sie öffnete mehrere Schubladen von Monikas Kommode. "Genau! Hier, da nimmst du einfach ein Kopftuch! Wenn du niemanden direkt anstarrst, dann wird keiner was merken. Also los jetzt, es ist die einzige Möglichkeit. Es sein denn, du willst lieber hier warten und Pia dann erzählen, dass ihre Tochter in der Leichenhalle liegt!



Es war fast dunkel geworden. Selbst die Vögel hatten sich zur Nachtruhe zurückgezogen. Jetzt machte Lesen auch keinen Sinn mehr, wollte er sich nicht im Schein einer Kerze die Augen verderben.
Klaus klappte das Buch zu. Ja, Lisbeth Salander war tough, aber was Barbara geschafft hatte, war fast noch tougher gewesen. Mit leichtem Schaudern dachte er an seinen Gang zurück, den er am frühen Mittag des Ostersonntags gemacht hatte. Zum ersten Mal seit Monaten war er sich wie ein verkleideter Junge vorgekommen, ein Empfinden, dass ihn mehr als beunruhigte und verwirrte. Was war er denn anderes gewesen, seit Monika ihn dazu gezwungen hatte, als Frau aufzutreten? War er nicht immer ein Mann in Frauenkleidern gewesen?

Barbara! Er wusste noch, wie Monika sich diesen Namen für ihn ausgedacht hatte. Einen Namen, der hässlich sein sollte, hart und beschämend. Unmodern. Er hatte es akzeptiert, wie er alles hingenommen hatte, ohne aufzubegehren.
Barbara. Seine Chimäre. Diese ´Frau´, die ihn gleichzeitig fesselte und befreite! Sie würde ihn eines Tages ins Grab befördern, dessen war er sich sicher. Falls er selber nicht schneller war.
Ein Käuzchen flog nachtschwarz durch den Himmel. Er erschrak als er noch einmal über seine eigenen Gedanken spekulierte. Hatte er denn wirklich gerade gedacht, dass Barbara ihn befreit hatte? Wie das?

Mit einem Mal wurde ihm kalt. Er erhob sich, nahm Buch und Bierflasche und begab sich zurück ins Haus. Eine Weile blieb er an der Tür zum Zimmer seiner Oma stehen und lauschte - sie atmete ruhig und regelmäßig. Es war noch keine zwei Wochen her, dass er sie bewusstlos am Fuße der Kellertreppe gefunden hatte.


Nach der mit Daniela gemeinsam durchgeführten Befreiungsaktion hatte er sich zurück zu seiner kleinen Dachwohnung begeben, die er seit Anfang Februar bewohnte. Alles war gut gegangen, niemand hatte sich groß um ihn gekümmert, obwohl er mit seinem Kopftuch und Dirndlkleid ziemlich verboten aussah. Erst als er oben in seinem Zimmer war hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass nun nichts mehr würde schiefgehen können.
Bis ihm siedendheiß das Video einfiel, mit dem Monika ihn lange erpresst hatte. Ein einziges Mal hatte er es bei ihr gesehen, einmal hatte er feststellen können, wie deutlich man ihn erkennen konnte, wie klar zu sehen war, welchen Verbrechens er sich schuldig gemacht hatte. Erst jetzt hatte er erfahren, dass sein Opfer nicht mehr minderjährig gewesen war, aber auch nur so gerade eben. Und, wenn er ehrlich war, so musste er sich eingestehen, dass er an eben jenem Abend alles andere als die Vorlage einer Alterslegitimation im Sinn gehabt hatte. Jetzt aber hatte die Drohung, dieses Video eventuell seiner Oma zugängig zu machen, ihren Schrecken verloren, wie er erleichtert feststellte. Auch wenn er sich über diesen Gedanken augenblicklich schämte.

Daheim hatte er sich beeilt, aus seinen Sachen zu kommen. Er legte den Keuschheits-BH ab und legte ihn in die Tüte, in der er auch den Keuschheitsgürtel mitgenommen hatte. Daniela hatte ihn dazu gedrängt, besser nichts liegen zu lassen. Sozusagen als eine kleine Erinnerung an die Zeit, die er mit Monika verbracht hatte, oder halt mit Barbara, wie sie hinzugefügt hatte. Mit etwas Glück war es ihm gelungen, eine einigermaßen männliche Garderobe zusammenzustellen, dann hatte er sich auf den Weg zu seiner Oma gemacht.

10. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AlterLeser am 05.11.12 11:46

Hi Daniela20,
Nun ist es geschehen und die ersten Zeilen haben das Licht der Öffentlichkeit erblickt.
Gleich die erste Frage wer mag denn da in der Isar schwimmen Ich hoffe es ist nicht die
Monika, welche aus dem Krankenhaus geflohen ist, um ihren Freunden zu helfen.
Dabei einen Schwächeanfall erlitten hat und eben hier niedergesunken ist, dabei mit ihrem
Kopf eben in der Isar gelandet ist. Aber wir werden es ja noch erfahren.

Dir meinen herzlichen Dank für deine Mühe uns zu bedienen.

Mit freundlichen Grüßen der alte Leser Horst

11. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 05.11.12 16:10

Liebe Daniela!
Das lange Warten hat sich wirklich gelohnt. Ich zähle zu jenen Lesern die sich einbilden, die beiden ersten Teile Deiner Trilogie schon gut zu kennen. Dem entsprechend habe ich jetzt nicht mehr zurück geblättert sondern gleich drauflos gelesen. Von meiner Position aus habe ich es als sehr geschickt empfunden, wie Du Rückblendungen unterbringst. Ich habe den Anschluß an das Vorjahr sofort gefunden. Besten Dank
Maximilian
12. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Snolyn am 10.11.12 10:44

Hallo Daniela,

ich freue mich unendlich, dass es eine Fortsetzung zu herbstferien und frust gibt.
habe letztes jahr beide geschichten "verschlungen".

allerdings werde ich, bevor ich anfange den 3ten teil deiner trilogie zu lesen, die ersten beiden wieder durchlesen um einen leichteren einstieg zu finden.
ausserdem habe ich dadurch auch die chance, dass ich gleich mehrere teile deiner fortsetzung auf einmal lesen kann

ich wünsche dir ein schönes wochenende, jede menge fantasie und fleißige fingerlein

lg von snolyn
13. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von kochy25 am 11.11.12 00:37

Hallo Daniela,

ich habe die ersten beiden Teile verschlungen und nach jedem Teil eine Fortsetzung herbeigeseht. Dein Schreibstiel ist einfach toll und man kann sich bildlich in die jeweiligen Personen hineinversetzen. Ich bin jetzt schon gespannt welche Wendungen deine Geschichte diesmal nimmt.
Danke für die Fortsetzung.

kochy25
14. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 11.11.12 22:00

Die genaue Zeit: Es ist 22 Uhr!! Und weiter geht es mit dem letzten Teil unserer Geschichte. Danke für all die netten Kommentare!! Wie aber werdet Ihr in einem halben Jahr urteilen? Im Moment habe ich das Problem, dass das, was ich in den letzten Tagen geschrieben habe, noch ewig warten muss, bis ich es hier veröffentlichen kann. Die Geduld, die ich von meinen Lesern verlange, muss ich auch selber aufbringen.

Ich muss einmal darauf hinweisen, dass es in meiner Geschichte jetzt zwei von einander unabhängige Handlungsabläufe gibt; während die Haupthandlung mehr oder weniger chronologisch abläuft, entwickelt sich die Nebenhandlung - im Text kursiviert .- zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich erst ab Ende Oktober. Das nur für diejenigen, die es noch nicht selber gemerkt haben.

Jetzt viel Spaß beim Lesen, und allen eine gute neue Woche!

Eure Daniela

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Mai II.

Auch Daniela hatte sich beeilt, ihre Sachen in ihrem kleinen Koffer zu verstauen und das Haus zu verlassen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis die Polizei hier klingelte, aber lange konnte es bestimmt nicht mehr dauern. Es war bei näherer Betrachtung schon seltsam genug, dass es noch nicht geschehen war. Etwas misstrauisch sah sie sich um, bevor sie die Haustür hinter sich schloss; den Ersatzschlüssel legte sie wieder an seinen Platz unter der rostigen Farbdose.

Es war vorbei. Alles war vorbei und würde niemals wiederkehren. Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben machte sie mit dem Tod Bekanntschaft, zum ersten Mal musste sie feststellen, wie endgültig etwas sein konnte. Es war nicht wie in einem Zeichentrickfilm, in dem alle endlos weiterlebten, egal wieviel Haue sie bekommen hatten.
Im Haus ihrer Tante war es kalt. Sie trug ihren Koffer in Claudias Zimmer, in dem sie schon während der Herbstferien gewohnt hatte, und drehte erst einmal die Heizung auf. Leider geschah nichts, denn der Heizungskessel im Keller war nicht eingeschaltet, sodass das kleine Zimmer genauso kalt blieb wie ihr Herz. Sie blickte sich um, dort, hinter dem kleinen Schränkchen, befand sich der kleine Raum unter der Dachschräge, in dem sie damals Claudias Keuschheitsgürtel und den dazugehörenden BH gefunden hatte - und jenes kleine Tütchen mit der Aufschrift Schlüssel. Damals?? Sie musste lachen. Aber es war kein fröhliches Lachen. All das war gerade mal ein halbes Jahr her, sechs Monate nur, die allerdings ihr Leben heftig verändert hatten. Wie hatte es nur dazu kommen können? War es ihre furchtbare Neugier gewesen? Ihre Unerfahrenheit? Und wieso hatte sie überhaupt von dem Keuschheitsgürtel gewusst? Richtig! Claudia hatte ihr in einem Brief davon berichtet, wie geil es wäre, solch ein Teil tragen zu können. Ein Brief als Anfang allen Unglücks. Und jetzt war Monika tot.

Sie hatte nicht gewusst, was sie allein in dem kalten Haus machen sollte. Es war ungewiss, wann ihre Tante zurückkommen sollte, aber bis dahin musste sie etwas zu Essen finden. In der Speisekammer fand sich Käse und eingemachte französische Pastete, Brot war keins da aber im Küchenschrank war eine Packung Knäckebrot. Nicht unbedingt das, was sie unter Essen verstand, aber besser als gar nichts. Daniela fand auch eine Flasche Rotwein, auch der war in der Stunde der Not besser als gar nichts; ein paar Glas würden über den ersten Schmerz hinweghelfen.

Nach dem Essen hatte sie sich hingelegt und war sofort eingeschlafen, in der Nacht zuvor hatte sie kaum Schlaf bekommen. Jetzt kuschelte sie sich ein und holte das Versäumte nach.
Als sie wieder aufwachte war es schon später Nachmittag. Sie fühlte sich total zerschlagen und überlegte, was sie tun sollte. Sie warf als erstes einen Blick aus dem Fenster um zu sehen, ob beim Nachbarhaus schon irgendetwas los war, aber dort war immer noch alles ruhig. Vielleicht sollte sie ein Bad nehmen?

Das kleine Badezimmer war schnell warm geworden, hier sorgte ein elektrischer Heizstrahler für die nötige Wärme. Es war herrlich, in das warme Wasser eintauchen zu können, es wirkte gleichzeitig belebend und einschläfernd auf sie. Nur richtig warm wurde ihr immer noch nicht, solange sie an das Bild vom Zinksarg denken musste, den die Männer transportiert hatten. Und an Monika. Tot. Kalt und tot.

Ein dumpfes Poltern der Haustür schreckte sie hoch. War jemand nach Hause gekommen? Ihre Tante?

"Daniela!!?? Bist du zu Hause?" Ja, ihre Tante hatte gleich bemerkt, dass sie ihre Jacke an der Garderobe aufgehängt hatte.

"Ich bin im Bad, Tante Agnes!" Für einen Moment wünschte sie sich, sie läge nicht in einer kleinen Badewanne, die kaum größer als Monikas Sarg sein mochte, sondern sie befände sich irgendwo an einer tropischen Insel, dort wo das Wasser tief und unendlich blau war, und wo sie in dieses tiefe Blau hätte hinabtauchen, allen irdischen Bekümmerungen entfliehen können.

Ihre Tante klopfte an die Tür. "Darf ich reinkommen?"

"Einen Moment!" Unbeholfen spritzet sie etwas aus einer Flasche Schaumbad ins Wasser, fuchtelte schnell mit den Händen herum und als sie mit der Menge bedeckenden Schaumes zufrieden war, bat sie ihre Tante herein.

"Daniela! Hallo meine kleine Nichte!! Wie geht es dir? Gut, dass du da bist!"

Es dauerte keine zwei Sekunden, bis die Worte ihre Wirkung erzielten. Dicke Tränen schossen aus Danielas Augen.

"Schon gut, schon gut! Ist ja nicht so schlimm! Wir haben schon davon gehört... man hat uns unterwegs angerufen. Pia hat einen Schock erlitten, ich musste weiterfahren... sie ist erst einmal ins Krankenhaus gekommen... ach mein Gott..."

Daniela schniefte laut auf. Ihre Lippen zitterten, nur mit Mühe brachte sie ein einziges Wort hervor: "Tot."

Ihre Tante sah sie tröstend an. Ein direkter Körperkontakt vermied sich, da es schwierig ist, einem nassen Menschen tröstend den Arm umzulegen. "Ja, tot. Furchtbar. Man hat ihn auf den Stufen des Altars gefunden..."

Daniela verstummte augenblicklich. Was hatte ihre Tante gesagt? "Man hat wen auf den Altarstufen gefunden?"

"Den Pastor. Man hat den Pastor dort gefunden. Was hast du denn geglaubt?



Daniela schlug ihr Schulbuch zu. Lernen hatte einfach keinen Zweck, solange sie immer an jene Ostertage denken musste, in denen so Furchtbares geschehen war. Ihre Tante hatte ihr erzählt, dass der Pastor gestorben war, man wusste noch nicht, wieso und weshalb, und dass Monika mit schlimmsten Verletzungen ins Klinikum eingeliefert worden war. Verletzungen, die ihr dieses Sadistenschwein von Pastor zugefügt hatte. Eine unfassbare Geschichte das alles.
Beide verbrachten einen sehr stillen Osterabend. Am Ostermontag besuchte zuerst Agnes Monika im Krankenhaus, nachdem sie erfahren hatte, dass Pia, Monikas Mutter, aufgrund ihres Schwächeanfalls noch nicht nach Hause entlassen worden war und auch keine Rede davon sein konnte, dass diese ihre Tochter selber würde besuchen können.
Als sie mittags nach Hause kam teilte sie Daniela mit, Monika würde sich freuen, wenn sie vor ihrer Abreise noch einmal zu Besuch käme.

Mit flauem Gefühl im Magen hatte sie an der Tür zu Monikas Krankenzimmer angeklopft und sich gefreut, eine doch recht kräftige Stimme zu vernehmen, die sie zum Eintreten aufforderte.

"Dani!! Endlich!" Monika gab einen Seufzer der Erleichterung von sich, als sie die Freundin erkannte.

"Hallo Moni! Wie... wie geht es dir?"

"Ach, es geht schon. Nur wenn ich zum Klo muss, ist es echt unangenehm. Ich muss etwas aufpassen, dass ich nichts esse, was stopft."

Daniela grinste sie an. "Musst du lange hier bleiben?"

Monika klärte sie auf, dass es einige Tage dauern konnte. Dann stellte sie ihrerseits die Fragen, die sie Danielas Tante am Vormittag nicht hatte stellen können. "Und du... und Klaus...? Konntet ihr..."

Daniela verstand gut, was Monika wissen wollte. "Ja, wir konnten. Ich wusste ja, wo der Reserveschlüssel lag. Hat halt alles nur ein wenig gedauert. Und Bar..., ich meine: Klaus, dem habe ich dann die Haare geschnitten!"

"Du hast was?? Ihm die Haare geschnitten? Wieso das denn?"

Daniela erzählte es ihr. Und dass sie seitdem nichts mehr von Klaus gehört hatte. Was ja keine schlechte Nachricht sein musste.

"Dani! Du musst mir einen Gefallen tun. Ich muss ein Versprechen einlösen, und das kann ich nicht, solange ich hier im Krankenhaus liege. Und vielleicht auch nicht, wenn ich wieder zu Hause bin. Weiß ja nicht, wie mobil ich dann erst mal bin." Monika erläuterte der Freundin ganz genau, was sie tun sollte, nachdem diese zugesagt hatte, ihr zu helfen.
Die Krankenschwester kam mit einem kleinen Rollwagen ins Zimmer. Es war schon Zeit fürs Abendessen. Daniela stand auf. "Warum, Moni? Ich meine, warum ist das alles passiert? Das ist doch der reinste Wahnsinn..."

"Ja. Aber auch der Wahnsinn hat Methode. Man könnte sagen, da ist diesmal einfach etwas schiefgelaufen. War natürlich dumm, dass der Pastor da so unerwartet abgekackt ist." Sie lachte geniert.

"Ja, aber warum hat er denn so etwas Ätzendes überhaupt mit dir gemacht? Das kapier ich nicht!" Daniela sah sie mit einem Ausdruck an, dem anzusehen war, dass sie eine einfache Antwort erhalten könnte.

Monika schwieg. "Ich weiß es nicht. Vielleicht hat auch er es nicht ganz freiwillig getan; keine Ahnung. Welcher Teufel ihn geritten hat, kann ich nicht sagen. Es ist so schon alles verdammt kompliziert. Wir telefonieren mal, ja? Du fährst ja übermorgen wieder nach Köln, hast ja jetzt erst mal ganz andere Sorgen, nicht wahr?"

"Ja. Abitur und so. Mal sehen, wo ich einen Studienplatz bekomme." Daniela überlegte, ob sie Monika fragen solle, ob sie eventuell ihre Blaubeerjoghurt essen könnte, aber dann zog sie doch ihre Jacke an, beugte sich zu ihrer Freundin hinab und drückte diese, so gut es ging. "Schön, dass du noch lebst, Moni! Ich hatte gestern früh eine Scheißangst, dass es dich erwischt hatte."

"Tja, noch mal dem Kerl mit dem Pferdefuss von der Schippe gesprungen, nicht wahr? Fragt sich nur, ob man immer so viel Glück hat. Mach´s gut, Dani! Komm gut nach Hause! Und dann telefonieren wir mal, ja!?" Beide verabschiedeten sich herzlich voneinander und Daniela machte sich auf den Heimweg.

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Die Großmutter hatte sich gefreut, ihn wiederzusehen. "Ach wie schön, dass du endlich mal wieder kommst, Bub!"

"Danke, Oma, dir auch Frohe Ostern! Und nenn mich nicht immer..."

"...Bub. Ja, ich weiß schon. Bist ja wirklich kein kleiner Junge mehr."

"Ich bin schon lange kein kleiner Junge mehr, Oma!", begehrte Klaus auf. Warum musste es immer so schwierig sein? Konnte sie sich nicht einfach über die mitgebrachten Blumen freuen? "Hast du eine Vase? Die sollten wohl bald mal ins Wasser."

Die alte Frau Meisner nahm ihm die in grünes Papier eingewickelten Osterglocken ab. "Gib mal her, ich mach das schon. Und, wie geht es sonst so? Du siehst etwas mitgenommen aus. Wird wohl Zeit, dass du mal wieder etwas an die Sonne kommst."

Er erschrak für einen Moment, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. "Na ja, der Job. Viele Nachtschichten in letzter Zeit bei meinem Behinderten. Und tagsüber schlafe ich nicht so gut."

"Hast wohl anderes im Kopf, tagsüber?" Sie schnitt die Stängel der Blumen etwas an und stellte sie dann in eine bauchige, gläserne Vase.

Versuchte sie, ihn auszuhorchen? Klaus war sich nicht sicher. Er musste höllisch aufpassen, nicht unvermittelt stimmlich in seine Barbara-Tonlage abzurutschen, viel zu lange hatte er diese etwas leisere, aber höhere Stimme benutzt. "Nee, ist halt nur nicht mein Ding. Aber deshalb bin ich in letzter Zeit auch kaum noch hier gewesen. Aber wie ich sehe, bist du ja auch ohne mich zurecht gekommen?"

"Passt scho´! Aber ich hätte gern etwas Gesellschaft von einem netten jungen Mann gehabt!" Sie nahm die Vase und trug sie ins Esszimmer, wo sie sie auf den Tisch stellte. "Aber der junge Mann scheint sich wohl doch mehr für die Gesellschaft etwas jüngerer Damen zu interessieren?"

War das eine Frage gewesen, oder eine Feststellung? Ein Köder jedenfalls, an dem er nicht anbeißen durfte. Er setzte ein unschuldiges Lachen auf und schüttelte den Kopf. "Ach Oma! Als ob ich nur Weiberkram im Sinn hätte!"

Sie reagierte nicht. In aller Seelenruhe begann Annegret den Tisch zu decken. Sie begab sich wieder in die Küche, kochte Kaffee, schnitt den Osterzopf an, den sie am Karsamstag gebacken hatte.
"Zucker? Milch? Stell dir mal vor, das habe ich jetzt glatt vergessen? Ach ja, es ist nicht schön, so alt zu werden!"

Klaus nahm Milch und Zucker. "Jetzt hör aber mal auf, Oma! So alt bist du nun auch wieder nicht!"

"Nun ja, schon siebenundsiebzig! Da ist der Lack ab! Aber eigentlich ist der schon lange ab, seit mindestens vierzehn Jahren!"

Klaus sah, wie die Gesichtszüge seiner Großmutter härter wurden, ihr Mund war zu einem schmalen Strich geworden, ihr Blick schien ins Leere abzugleiten. Dann aber fing sie sich wieder.

"War das dein Roller, den ich drüben bei Monika vor dem Haus gesehen habe?", fragte sie ganz unvermittelt.

Fast hätte er sich verschluckt. Er war auf alles vorbereitet gewesen, nur nicht darauf, derart inquisitorische Fragen über sich ergehen lassen zu müssen. Was jetzt? Antwortete er mit ja, würde sie endlos weiterbohren, bis sie alles aus ihm herausgeholt hatte. Antwortete er mit nein, würde sie ihm sicherlich kein Wort glauben. Er entschied sich für den Mittelweg. "Kann schon sein, Oma."

"Wie: kann schon sein? Das versteh ich jetzt nicht, Klaus."

"Ich hatte den Roller ab und zu an eine Bekannte verliehen." Nicht mit der Stimme zittern!

"An Monika??"

Sie beißt sich fest wie ein Krokodil! "Nein, an eine Bekannte. Eine Arbeitskollegin, die im Winter schlecht zu Fuß war. Wohin sie mit meinem Roller gefahren ist, kann ich nicht sagen."

"Aber sie sah hübsch aus! So bin ich damals auch durch die Stadt gefahren."

"Wie: so??"

"Mit Petticoat und so. Hab gar nicht gewusst, dass das wieder modern wird! Wie heißt sie denn?"

Er holte tief Luft. Gab es eine Möglichkeit, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen? "Sie heißt Barbara, Oma. Komm, mach uns mal das Radio an! Es ist immer so still hier bei dir! Wenn du willst, können wir auch etwas spazieren gehen. Ich habe heute den Rest des Tages frei, und bald ist sowieso Schluss mit der Stelle."

"Oh! So bald schon? Wie doch die Zeit vergeht!" Fra Meisner stand auf und schaltete ein altes Radiogerät ein, eines, das in den Sechzigerjahren sicherlich hochmodern gewesen sein musste. Dann setzte sie sich wieder an den Tisch. "Komm, nimm noch ein Stück vom Zopf! A propos Zopf! Was ist eigentlich mit deinen Haaren los? Nennt man so etwas heutzutage einen Haarschnitt?"

Beide aßen ein weiteres Stück. Klaus verzichtete darauf, eine Antwort zu geben, und auch die Großmutter schien vom vielen Reden etwas ermüdet zu sein. Dann aber rückte sie ihren Stuhl zurück. "Ach ja, wollen wir nicht etwas spazieren gehen? Meine Beine sind heute ganz gut dabei. Etwas frische Luft wird uns gut tun!" Sie stand auf, ging zum Radio um dieses auszuschalten, als ein Dreiklang die Nachrichten ankündigte. Für einen Moment zögerte die Oma zu lange, schon hatte der Sprecher seine sensationelle Meldung vorgelesen: "Antenne München mit den Nachrichten. Unter noch nicht ganz geklärten Umständen fand die Polizei heute in den Morgenstunden die Leiche des Pastors der Münchner St. Peter und Paul Gemeinde. Wie die Polizei mitteilte, wurde der Geistliche tot auf den Stufen des Altars aufgefunden. Ebenfalls gefunden wurde eine stark verkommene Messdienerin, die offenbar Gegenstand sadistischer Sexspiele gewesen war. Über die weiteren Hintergründe schweigen sich Behörden und Kirche vorerst aus. Die junge Frau wurde in ein Hospital verbracht; sie soll von der Polizei vernommen werden, sobald sie dazu in der Lage ist. Und nun die weiteren Nachrichten..."
Frau Meisner schaltete das Radiogerät aus. Sie wankte etwas, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Sie war weiß wie ein Laken. "Herr im Himmel," stammelte sie und bekreuzigte sich.
Auch Klaus hatte die Nachricht gehört. Er hatte bereits im Flur seine Jacke angezogen, war nun aber zurückgekommen und in der Tür stehen geblieben. Einen Moment brachte er keinen Ton heraus, dann aber murmelte er leise, als die Erkenntnis ihn traf: "Monika lebt..." Er holte tief Luft, eine furchtbare Beklemmung, die ihm seit dem Morgen auf der Brust gelegen hatte, hatte sich gelöst. "MONIKA LEBT! Gottseidank!"

Die Oma sah ihn mit tadelndem Blick an. "Was gibt es denn da zu schreien? Hast du nicht gehört, dass unser Pastor gestorben ist?"

"Ja, aber Monika... Monika lebt! Das ist doch wohl die Hauptsache!"

"Monika... Monika!! Was hast du denn mit dieser Monika zu schaffen? Woher willst du überhaupt wissen, dass sie es war? Fühlst du denn gar kein Mitleid mit unserem armen Pastor? Bub?" Sie hatte eine kleine Kunstpause eingelegt, und dann wissentlich den Namen hinterhergestellt, den er so verachtete.

"Ich bin kein Bub, Oma! Hör endlich damit auf! Und der Pastor ist mir sowas von scheißegal, da hat es doch endlich mal den Richtigen getroffen!!" Wütend machte er auf dem Absatz kehrt. Seine Oma hörte nur noch, wie er die Haustür hinter sich zuwarf, dass die Wände zitterten, dann war Stille im Haus. Totenstille, dachte sie. Was war denn nur in den Jungen gefahren? Und wieso reagierte er so heftig, nur weil sie ihn Bub nannte? Er war doch ein Bub, oder? Sie verstand es nicht.
Aber nachdem der erste Schock sich gelegt hatte kam auch sie langsam zur Besinnung. Vor nicht einmal 24 Stunden war das Grab noch leer gewesen, der Held erwacht, wie es so schön im Kirchenlied hieß, jetzt war das Grab wieder voll. Und mit einem Mal bekam sie es mit der Angst zu tun. Würde die Polizei eine Verbindung zu ihr herstellen können? Auch wenn es noch so unwahrscheinlich schien, sie musste ab jetzt mit dem Schlimmsten rechnen. Es war wichtig, dass sie einen kühlen Kopf behielt, und es war vielleicht entscheidend, dass sie eventuelle Hinweise auf eine Verbindung von ihr mit dem Pastor so schnell wie möglich verschwinden ließ.

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Klaus hatte selber nicht recht gewusst, was plötzlich in ihn gefahren war. Für einen Moment hatte er vollständig die Fassung verloren, hatte sich ein Ventil geöffnet, welches er nun schleunigst wieder schließen musste. Er war zu sich nach Hause gegangen, in seine kleine Dachwohnung, und stand nun äußerst unschlüssig vor seinem Spiegel. Bub! Er hasste dieses Wort.
Dann füllte er die Cups seines BH mit seinen künstlichen Brustprotesen. Es war verboten, aber es fühlte sich gut an. Er stieg in den weit ausladenden Petticoat, leise raschelte der knisternde Stoff und umspielte seine Beine. Es war nicht richtig, aber verdammt geil. Seine Füße schlüpften in die höchsten High heels, die er finden konnte. Jeder Schritt in ihnen war eine Herausforderung, eine Qual, aber er nahm sie gerne auf sich, als er zum ersten Mal seit vielen Monaten merkte, wie sein Glied sich langsam unter dem dünnen Slip, den er trug, aufrichtete.


%%%

Daniela hatte den Gefallen erledigt, um den Monika sie gebeten hatte. Nun saß sie im Zug und fuhr einer eher ungewissen Zukunft entgegen. Das Spiel mit Monika würde vorbei sein, das wusste sie. Aber war sie gefragt worden, ob sie schon genug gespielt hatte?
Sie hatte alles wieder mit eingepackt, was sie mitgebracht hatte. Diesmal inklusive der richtigen Schlüssel. Allerdings hatte sie diesmal, für ihre Fahrt zurück nach Hause, nicht das Dirndlkleid angezogen, sondern relativ gewöhnliche Sachen. Sogar eine Jeans. Sie wusste, sie sah aus wie eine ganz normale junge Frau. Aber sie wusste auch, dass sie genau das nicht war.

Es half alles nichts. Auch wenn sie keine ganz normale junge Frau war, so musste sie sich jetzt ranhalten. Die Zeit flog nur so vorbei und wenn sie nicht aufpasste, würde sie in wenigen Wochen durchs Abitur durchrasseln. Von nichts kommt nichts, dachte sie, und zwang sich, ihr Interesse wieder dem kleinen Korsen zuzuwenden, der ihr schließlich nicht das erhoffte Studium vermasseln sollte.


Oktober II

Der junge Beamte schaute sie entgeistert an. "Gams? Was für eine Gams denn?"

Kommissarin Wimmer schaute ihn mit überlegenem Lächeln an und deutete auf die mächtige Steinfigur. "Die der Jäger dort unter dem Arm hält! Die Allegorie Bayerns!"

Der Mann räusperte sich. "Eine junge Frau, Frau Kommissarin. Sie liegt unten am Brückenpfosten, der Kollege ist bei ihr."

Ingeborg Wimmer blickte über die steinerne Brüstung. Unten, auf einigen großen Steinen, lag die Leiche einer jungen Frau im Dirndl. Ah, dachte sie, eine Oktoberfest-Leiche, dann aber fiel ihr ein, dass das Oktoberfest schon lange vorbei war. Tödlicher Unfall im Suff fiel also wohl eher aus.

"Sie können hier links hinabgehen, passen Sie auf, die Böschung ist steil!"

Die Kriminalbeamtin hielt sich an einigen Zweigen fest, als sie sich durch mehrere Bäume, die hier wuchsen, hindurch zum Ufer der Isar begab. Sie begrüßte den Beamten mit einem knappen ´Morgen!´. Sie sah, dass er der dienstältere der beiden Polizisten war. Sie hatte schon einige Male mit ihm zu tun gehabt.

"Morgen Frau Wimmer! Tja, sieht nicht gut aus. Muss wohl heute Nacht passiert sein. Armes Luder."

Die Leiche lag direkt am Fuß der Brücke auf einigen mittelgroßen Steinen, die zur Zeit trocken geblieben waren, da die Isar wegen eines relativ trockenen Sommers und Herbstes wenig Wasser führte. Ihr Kopf lag auf der rechten Seite, lange Haare verdeckten aber das Gesicht. Ihr rechter Fuß war angezogen, der linke schwappte im Wasser. Neben der Leiche lag ein Trachtenjanker.

"Wissen wir schon, wer sie ist?"

"Bis jetzt noch nicht. Eine Vermisstenmeldung liegt auch noch nicht vor; ich habe schon nachgefragt." Der Beamte zuckte die Schultern.

"Diese Jacke da... haben Sie ihr die ausgezogen?" Es war eine rein rethorische Frage, das wusste sie.

"Frau Kommissarin, ich bin doch kein Anfänger. Also bitte!"

"Hm. Und wie kommt sie dann dahin?"

"Vielleicht hat sie sie in der Hand getragen, oder über die Schultern gelegt. Was weiß ich."

"Schauen Sie mal nach, ob sich da irgendetwas Brauchbares findet. Aber bitte mit Handschuhen!"

Der Beamte streifte sich dünne Gummihandschuhe über, dem Beispiel der Kriminalkommissarin folgend. Diese bückte sich nieder, um das Gesicht der Leiche zu betrachten.

"Fehlanzeige, Frau Wimmer! Da ist absolut nichts Verwertbares. Ein Fahrschein von der Tram, etwas Kleingeld, ein Papiertaschentuch. Leider kein Ausweis. Also, ich vermute mal, die kam von irgendeinem Fest, ist dann mitten in der Nacht allein nach Hause gelaufen, wahrscheinlich sturzbesoffen, dann hat sie sich übergeben müssen, und ist hier runtergefallen. Ein Unfall, wenn auch ein etwas seltsamer Unfall."

Ingeborg Wimmer sah ihn kopfschüttelnd an. "Nein, ich glaube nicht, dass das ein Unfall war. Es sei denn, sie hat sich das hier selber zugefügt! Schaun Sie mal!"

Sie hatte die Haare vorsichtig etwas zur Seite genommen, jetzt konnte man gut die linke Seite ihres Gesichtes erkennen. Eines Gesichtes, auf dem sich deutlich der Abdruck einer Hand sehen ließ.

Der ältere Beamte stöhnte leicht auf. "Mei, so a liabs Dirndl..."

"Ob sie ein liebes Mädchen war, wie Sie sagen, wird sich noch herausstellen! Aber ich denke mal, wir haben hier einen Tatort, den wir besser absperren sollten. Auch oben bei der Figur. Vielleicht findet sich noch etwas. Wie sieht es denn mit einer Handtasche aus? Haben wir da was?"

"Nichts, Frau Kommissarin. Entweder hat sie keine dabei gehabt, oder sie ist in den Fluss gefallen."

Ingeborg Wimmer lächelte müde. "Wenn oben auch keine liegt, dann ist sie in den Fluss gefallen! Wer hat die Leiche denn überhaupt gefunden?"

"Eine junge Frau, der hier am frühen Morgen mit ihrem Hund langgelaufen ist. Nicht hier, sondern drüben auf der anderen Seite. Nur so konnte sie das arme Ding überhaupt sehen. Der Kollege hat ihre Personalien aufgenommen und sie wieder nach Hause geschickt. Gab ja keinen Grund für sie, hier lange zu warten, bei der morgendlichen Kälte, die es jetzt wieder hat."

"Auch wahr. Und wann genau war das?"

"Das war kurz nach 6 Uhr."

Sie sah auf ihre Uhr. "Also vor ca. zwei Stunden. Und wieso hat es so lange gedauert, bis man mich benachrichtigt hat?"

"Nein nein, Frau Wimmer! Sie irren sich! Es ist erst eine Stunde her, dass wir die Nachricht bekommen haben. Es ist doch erst kurz nach sieben!"

Sie sah ihn skeptisch an. Es war wohl zu früh für eine Märchenstunde.

"Winterzeit, Frau Kommissarin. Sie haben wohl vergessen, Ihre Uhr zurückzustellen!"

Theatralisch fuhr sie sich mit der Hand über die Augen. "Mein Gott! Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet??" Sie blickte ihn mit irren Augen an. "Das bedeutet, dass man mich schon um halb sieben aus dem Bett geklingelt hat!!" Sie kniff dem verdutzten Beamten ein Auge und lächelte ihn an, dann nahm sie ihr Handy und wählte die Kurzwahl der Polizeiwache. "Ja, danke, auch so! Ich brauche mal einen Arzt, und die Spurensicherung. Ja, ich weiß, es ist Sonntag und noch frühmorgens... nein, ich hab´s mir auch nicht ausgesucht. Nein, wenn wir noch lange warten, können die Kollegen in Passau den Fall übernehmen!" Sie gab den genauen Fundort der Leiche an, beendete dann das Gespräch und wählte die Nummer ihres Chefs. "Morgen Chef! Ja, ich weiß... ja ja, aber Sie sagten mal, Sie wollten bei jeder Leiche informiert werden." Sie berichtete ihm kurz die erkennbaren Einzelheiten, dann klappte sie ihre Handy zu. Gemeinsam mit dem älteren Beamten kletterte sie wieder nach oben, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass der Tatort einigermaßen gesichert war.
"Meine Herren! Befehl vom Chef! Hier wird überhaupt nichts angerührt, bevor der Rick da ist! Er hat gesagt, er wolle sich beeilen!"

Sie hätte Kriminalhauptkommissar Rick sagen können. Aber das tat niemand. Wann immer es ging, sagten alle nur ´der Rick´; das war viel schöner. Den jüngeren Beamten wies sie an, seine Kamera aus dem Streifenwagen zu holen und einmal jenen Handabdruck zu fotografieren; man wusste ja nie, wie lange dieser sich noch im Gesicht der jungen Frau zeigen würde. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und betrachtete nachdenklich die Figur des auf einer hohen Säule stehenden Friedensengels auf der anderen Isarseite, die im ersten Morgenlicht golden aufleuchtete.



15. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 12.11.12 21:59

Meine Gedanken kreisen um die Begriffe "Freiheit" und "Gerechtigkeit". Wieviel gibt es davon in unserem Leben oder wieviel können wir uns selbst aneignen? Und wieviel Leidenschaft darf ich erleben?
16. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AlterLeser am 13.11.12 13:46

Hi Daniela,
nun bin ich ja froh das meine Unkerei nicht zutraf und die Monika noch lebt,
wäre ja auch gemein gewesen wo sie den Stress in der Kirche überstanden hatte
da wäre das Schicksal ganz gewaltig gemein gewesen wenn sie nicht überlebt hätte.

Klaus, den ja Dani aus Köln scheinbar als ihren Freund ansieht, ist trotz der Radikalkur des
Haarschneidens, scheinbar nicht zu helfen, er träumt in seinem Zimmer der Zeit der Babara hinterher.
Dies kann die Monika dann ja wieder aufleben lassen, bin gespannt wie es weiter geht.

Dir danke ich für deine Fortsetzung und
Grüße Dich als der alte Leser Horst

17. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 16.11.12 00:11

Hi Daniela,

Deine Fortsetzung enthält echt starken Tobak: eine junge Frauenleiche. Ob das am Ende nicht doch Monika ist Das wäre echt erschreckend, denn das würde ich ihr dann doch nicht wünschen - ebenso wie für jedes junge Mädel. Und der Handabdruck deutet ja auf eine Gewalt hin, die beabsichtigt oder unbeabsichtigt zu solcher Folge geführt habe könnte. Echt erschreckend, und ziemlich außergewöhnlich.

Trotzdem, ich freue mich wirklich, daß Du diese fantastische Geschichte fortsetzt, und freue mich ebenso auf die noch folgenden Teile!!!

Keusche Grüße
Keuschling
18. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 18.11.12 22:00

Und schon ist wieder eine Woche vorbei! Die Tage werden immer dunkler, es fängt schon an, zu nerven. Gut also, dass wir diese Geschichte hier haben! Ja, es stimmt, einer unserer Protagonisten wird tot aufgefunden ... so ist halt das Leben. Aber wer es ist, das zu erfahren verlangt noch viel Geduld!
Ein Dank all denjenigen, die mir geschrieben haben. Da ich kein Geld mit dieser Geschichte verdiene ist es für mich der einzige, schöne Lohn!! Bis nächste Woche herzliche Grüße von Eurer Daniela.

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Mai III.

Auch Monika grübelte und grübelte. Wie hatte Agnes, ihre liebe Nachbarin und Danielas Tante, sich ausgedrückt, als diese sie noch am Osterdienstag in der Klinik besucht hatte? Enthaltsamkeit, hatte sie gesagt. Und wenngleich sie nicht direkt von sexueller Enthaltsamkeit sprach, so doch von geistiger Enthaltsamkeit. Als ob das viel ändern würde. Und wenn sie nicht an Sex denken durfte, an was dann? Objektiv betrachtet war es in der heutigen Gesellschaft doch komplett unmöglich, nicht von morgens bis abends ständig auf genau dieses Thema gestoßen zu werden. Sex ist doch das, was diesen Planeten am Laufen hält, egal was alle anderen sagten. Und bitteschön, ihr sollte man nicht vormachen, dass zum Beispiel Hohes Kulturgut wie eine Ballettaufführung nichts mit der Sache zu tun hatte, oder eben auch dämliches Tanzstundengeschwofe. Wenn es wirklich etwas gab, das sie hasste, dann war es dieses ewige Nicht-in-den-Mund-nehmen-wollen all jener, die klugscheißerisch daherredeten und es nicht eingestehen wollten, dass letzten Endes alles irgendwie immer auf dasselbe hinauslief: auf Sex.

Dass der letzte Zuwachs ihrer Gesellschaftsanalyse nun auch die Kirche nicht verschont ließ, schmerzte sie. Es ließ sie orientierungslos im Raum treiben, hatte ihr etwas entzogen, das während der letzten Jahre ein sicher geglaubtes Fundament dargestellt hatte. Ja, fast wünschte sie sich Pastor Flemming zurück, obwohl dieser doch beinahe für ihren Tod verantwortlich gewesen wäre.
Aber sie war ein guter Mensch. Egal, wieviel Schuld sie auf sich geladen hatte, so hatte sie sich immer bemüht, ein guter Mensch zu sein. Längst hatte sie ihrem alten Pastor vergeben, er konnte ja schließlich nichts dafür, dass er ausgerechnet an jenem Abend einen Herzinfarkt bekommen hatte! Wäre das nicht geschehen, wäre all ihr neues Elend, diese Leere, gar nicht erst entstanden.

Monika verließ die Bank, auf der sie einige Zeit gesessen hatte. Es war herrlich, endlich wieder sommerliche Temperaturen genießen zu können, und ebenso schön, die dicken und entstellenden Winterklamotten gegen leichtere Sachen in fröhlichen Farben auszutauschen. Das einzige, was im Moment noch leicht störte, war die Tatsache, dass längeres Sitzen auf harten Bänken immer noch etwas schmerzhaft war. Aber sie hatte keinen Grund, zu klagen. Die tiefen Verletzungen waren gut abgeheilt, es hatten sich keine Komplikationen eingestellt.
Sie nahm ihre Mappe, nachdem sie ihren Laptop darin verstaut hatte, und machte sich auf den Heimweg. Sie hatte im Internet nach Antworten auf ihre drängendste Frage gesucht, aber keine gefunden. Der vermutlich einzige, der sie hätte beantworten können, lag jetzt unter einem dicken Stein auf dem Friedhof am Perlacher Forst. Warum hatte er es getan? Warum hatte er sie gequält?
Doch schon bei dieser Frage musste sie sich eingestehen, nicht zu wissen, ob sie überhaupt richtig lag. Was hatte er zu ihr gesagt, als er sie kurz nach der Osternachtsmesse zur Strafbank geführt hatte? Wir müssen Buße tun. W I R. Nicht D U.
Vergleichsfälle, über die sie im Internet hatte lesen können, waren allesamt ganz anderer Natur. Sexueller Natur. Hier aber schien es so, als hätte ein alternder Kirchenmann nur den Geboten seiner Kirche gehorcht, dass nämlich ein Sünder für seine Taten büßen müsse, wollte er oder sie auf eine Vergebung seiner oder ihrer Sünden hoffen. Es war kompliziert. Hatte er sie auch nur ein einziges Mal unsittlich berührt? Nein. Und hatte er nicht einfach nur eine uralte Vorrichtung seiner Kirche vorgefunden, etwas, auf das sie selber ihn erst aufmerksam gemacht hatte? Diese seltsame Strafbank in der kleinen Seitenkapelle? War sie für den Pastor nicht einfach nur ein neuentdecktes, aber altes, probates Mittel auf dem Weg zur Vergebung gewesen? Statt dreimal den Rosenkranz zu beten?

In der Tram blieb Monika stehen. All ihre Überlegungen führten immer nur zu derselben Frage: warum, wieso und weshalb? Bei genauerem Nachdenken konstatierte sie, dass sich erst in jüngster Zeit das Verhalten des Pastors zum Abnormen verändert hatte. Erst seit wenigen Monaten hatte er ein ganz spezielles Interesse für sie entwickelt, hatte er angefangen, sie als Sünderin zu betrachten. Was mochte dahinterstecken? Hatte sie sich irgendetwas zu Schulden kommen lassen, ohne sich dessen bewusst zu werden? Aber wieso hatte er gesagt, wir müssen Buße tun?


Der andere Gedanke, der sie ebenfalls nicht losgelassen hatte, war jene Enthaltsamkeit. Schon jetzt, auf dem Weg nach Hause, war sie an mindestens drei großen Reklametafeln vorbeigekommen, die alles andere als Enthaltsamkeit propagierten.
Was jedoch nicht das einzige Problem war. Egal, wie sehr sie sich anstrengen würde, enthaltsam zu sein, es würde nicht reichen, solange eine andere Person über diesen Punkt andere Vorstellungen hatte. Wie sie es auch drehte und wendete, an dieser Person würde alles scheitern, an ihr würde sie nicht vorbeikommen, was sie schon wenige Tage nach ihrer Entlassung aus der Klinik hatte feststellen müssen. Fieberhaft hatte sie überlegt, was zu tun sei, sich aus dieser Klemme zu befreien, und war schließlich auf den einzigen Ausweg gekommen, der ihr Enthaltsamkeit garantieren konnte, auch wenn die Lösung keine neue war.

Monika schloss die Haustür auf, rief laut ´hallo!´ und ging gleich in die Küche, weil sie Durst hatte und sich ein Glas Leitungswasser holen wollte, etwas, das mindestens genauso gut war wie teures Mineralwasser.

"Hallo Schatz!" Ihre Mutter blickte von ihrer Zeitungslektüre auf. "Na, wie geht´s? Alles okay?"

"Klar, Mama. Alles prima. Warum fragst du?" Sie vermochte es nicht, den vorwurfsvollen Unterton ihrer Gegenfrage zu verbergen. Langsam nervte diese ewige Fragerei; früher hatte sie sich nicht halb so oft nach ihrem Wohlbefinden erkundigt.

"Och, nur so." Pia blätterte ihre Zeitung um. Vielleicht war diese Antwort die schlimmste die sie geben konnte.

"Nur so... nur so!! Immer ist es nur so! Wenn du dir ernsthaft Sorgen um mich machst, dann sag das bitte richtig, aber hör mir mit diesem dämlichen nur-so-Scheiß auf!" Monika trank einen Schluck Wasser und musste sich beherrschen, nichts zu verschütten.

"Entschuldige, Kleines! Ich... ich habe dummes Zeug geredet." Sie stand auf und ging auf ihre Tochter zu. "Weißt du, aber das habe ich ja schon gesagt, das war auch für mich ein Schock. Dass mein kleines Mädchen da von so einem Unhold..." Sie umarmte Monika von hinten.

"Er war kein Unhold! Eher eine arme Seele, die der Teufel geritten haben mag! Und ich bin kein kleines Mädchen mehr!" Monika entwand sich dem Griff ihrer Mutter. "Ist Post für mich gekommen?"

"Er hätte dich fast umgebracht!"

"Nein, Mama! Er ist selber dabei draufgegangen. Kapierst du das nicht? Was mit mir geschehen ist, war ein Unfall, nichts als ein dämlicher Unfall!"

Ihre Mutter schien das Argument nicht anzufechten. "Wartest du auf irgendetwas? Vielleicht auf einen Brief von Daniela?"

"Nein. Ich warte auf einen Abholschein vom Postamt!" Und schon war es heraus. Egal, früher oder später hätte sie es sowieso sagen müssen.

Ihre Mutter runzelte verwundert die Stirn. "Du hast etwas bestellt?"

"Ja, Mama. Ich habe etwas bestellt. Um es genau zu sagen: ich habe einen neuen Keuschheitsgürtel bestellt. Der alte war ja hinüber, nachdem sie den im Krankenhaus aufgeschnitten hatten." Monika knallte ihr Glas auf den Tisch; es fiel ihr schwer, ihre Gefühle zu kontrollieren.

"Oh! Ja... Hmm..." Geistreich war es nicht, was Pia von sich gab. "Einen neuen Keuschheitsgürtel? Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Stimmt, der alte war ja Schrott. Man hatte mir gesagt, du könntest froh sein, ihn getragen zu haben, andernfalls hättest du viel schlimmere Verletzungen davongetragen. Wann soll er denn kommen?"

"Ich weiß es nicht. Ich hatte die Firma gebeten, bei mir eine Ausnahme von den normalen Lieferzeiten zu machen. Eigentlich müsste er innerhalb der nächsten ein, zwei Wochen kommen."

"Du gibst mir die Schlüssel?"

Monika sah sie an. War das eine Frage gewesen? Oder doch eher eine Aufforderung? Man hätte erwarten können, dass ihre Mutter bereits ihre Hand nach den Schlüsseln ausstreckte, aber dem war natürlich nicht so. Wer die Schlüssel bekommen sollte, war der springende Punkt in ihren Überlegungen gewesen. Behielte sie sie selbst, könnte man wohl kaum von einem Keuschheitsgürtel sprechen. Würde sie sie jemand anderem geben, dann wäre der Familienfrieden dahin. Ihre Mutter würde es ihr nie verzeihen. Wie auch immer, es war fraglich, ob ein neuer Keuschheitsgürtel ihr jene Enthaltsamkeit ermöglichen würde, von der Agnes als einem Ausweg aus ihrem Dilemma gesprochen hatte.
Sie nahm ihre Tasche unter den Arm und ging zur Tür. "Ja, Mama, ich gebe dir die Schlüssel!"
Dann ging sie in ihr Zimmer.

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Er hatte sie Anfangs des Monats gefunden. Er hatte sich gewundert, wieso seine Oma nicht ans Telefon ging, als er wiederholt bei ihr angerufen hatte, und hatte Schlimmes befürchtet. Aber dass es hatte so schlimm kommen können, hatte er nicht erwartet.
Er war dankbar, dass er einen eigenen Schlüssel zum Haus hatte, denn andernfalls würde seine Oma heute wohl nicht mehr leben. Klaus hatte die Tür aufgesperrt, laut ihren Namen gerufen, aber keine Antwort erhalten. Es war totenstill im Haus.
Noch in der Diele war ihm aufgefallen, dass die Tür zum Keller offen stand. Licht brannte und deutete auf einen schlimmen Unfall hin. Er blickte hinab und sah seine Oma am Fuße der steilen Holztreppe liegen, bewusstlos.

Er hatte genau gewusst, was er tun musste. Zuerst hatte er sich vergewissert, dass ihr Puls noch schlug. Es war noch Leben in der alten Dame, die durch seine Berührung aus ihrer Starre erwacht war und heftig zu jammern angefangen hatte. Wie er sah, war ihr rechter Knöchel stark angeschwollen, ob dieser gebrochen oder nur verstaucht war, konnte er nicht sagen.
Was ihm allerdings einen Schock versetzte war ihr Gesicht. Kinn und Nase wiesen heftige Spuren eines Aufpralls auf, um ihren Mund sah er getrocknetes Blut; wahrscheinlich hatte sie sich bei dem Fall auf die Zunge gebissen.

Die Oma gab ein unverständliches Lallen von sich, als er sie aufhob und unter Aufbietung aller Kräfte nach oben in ihr Zimmer beförderte. Was nun? Sollte er einen Krankenwagen rufen? Alte Leute hielten normalerweise nichts davon, in verkeimten Krankenhäusern unterzukommen.
Neben dem Telefon seiner Oma fand Klaus, was er suchte. Auf einem großen Zettel waren diverse Notrufnummern eingetragen, deutlich war dort die Nummer ihres Hausarztes zu lesen. Er rief an, musste einige Minuten warten, konnte dann aber den Notfall schildern. Man bat ihn, zu warten; der Arzt würde sofort kommen! Klaus freute sich, dies war sozialer Service der in Deutschland längst nicht mehr der Normalfall war.

Bis zum Eintreffen des Arztes verging nicht einmal eine halbe Stunde. Dieser nahm eine erste Untersuchung vor und gab anschließend Entwarnung. Der Knöchel war nur verstaucht, was allerdings für die Patientin nicht unbedingt angenehmer sein musste, ihr hohes Alter in Betracht ziehend. Schlimmer war die Verletzung im Gesicht. Er hatte die Wunde gereinigt und verbunden, und Frau Meisner dann ein Breitbandantibiotikum gegeben, da man mit Entzündungen durch die schmutzige Treppe rechnen musste. Gebrochen sei nichts, aber die alte Dame bedürfe einer gewissenhaften Pflege.

Klaus hatte ihm versichert, dass er es als selbstverständlich ansah, diesen Dienst zu übernehmen. Er hatte ihm von seiner Ende April zu Ende gegangenen Beschäfigung als Pfleger eines Behinderten erzählt, woraufhin der Arzt auf eine Einweisung ins Krankenhaus verzichtete und ihm aufmunternd auf die Schulter geklopft hatte: "Kümmern Sie sich um Ihre Großmutter! Sie werden sehen, dann wird sie schneller gesund, als wenn wir sie ins Krankenhaus bringen lassen. Sie müssen damit rechnen, dass es ca. zwei bis drei Wochen dauern wird, bevor Ihre Großmutter wieder aus dem Bett kann, solche Verstauchungen in dem Alter sind eine üble Sache. Schlimmer ist es, dass sie im Moment keine feste Nahrung zu sich nehmen kann, ich sage Ihnen noch genau, was Sie da machen müssen. Befolgen Sie alles, wie ich es Ihnen sage, und lassen Sie sich diese Medikamente hier aus der Apotheke schicken! Mit Komplikationen wird nicht zu rechnen sein, Sie müssen also nicht die ganze Zeit über an ihrem Bett sitzen, Sie müssen ja auch mal Einkaufen und so. Aber denken Sie daran, dass Ihre Großmutter im Moment nur schwer sprechen kann! Aber auch das wird sich im Laufe der Woche bessern. Ihre Großmutter hatte wirklich einen Schutzengel, junger Mann! Hätten Sie sie nicht rechtzeitig gefunden, dann hätte das böse ausgehen können!"

Klaus hatte den Hausarzt seiner Oma verabschiedet, nicht ohne ihm für seinen prompten Einsatz auf herzlichste zu danken. Dann war er allein in der Küche zurückgeblieben, jetzt wieder einmal mit einer vollkommen neuen Lebenssituation konfrontiert. Jetzt würde er selber Hilfe brauchen, die Frage war nur, von wem.


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Daniela fiel es mehr als schwer, sich auf die anstehenden Abiturprüfungen zu konzentrieren. Immer wieder glitten ihre Gedanken ab, immer wieder fragte sie sich, wie es wohl Monika ginge, und auch Klaus, mit dem sie immerhin schon eine ganze Nacht zusammen verbracht hatte, wenn auch nicht ganz unfreiwillig, und eigentlich war er in jener Nacht ja auch nicht Klaus, sondern Barbara gewesen.
War denn nicht alles andere, was sie hier krampfhaft zu lernen versuchte, vergebliche Liebesmüh? Wen würde es in zwei oder drei Monaten überhaupt noch interessieren, was sie über die Hypothenuse wusste, wenn es ihr jetzt schon klar war, dass sie niemals in ihrem Leben wieder etwas mit diesem seltsamen Ding zu tun haben würde? Nun ja, die allgemeine Hochschulreife mochte eine feine Sache sein, berechtigte sie einen doch zum Studium aller Fächer, aber im Grunde genommen sollte man nach dreizehn Schuljahren mehr die Betonung auf Reife legen, denn auf Hochschul-.
Sie zweifelte nicht daran, dass sie gerade in den letzten sechs Monaten auf diesem Gebiet wesentlich mehr zugelegt hatte, als auf dem Gebiet des Wissen-Sammelns. Trotzdem - und da unterschied sie sich doch sehr von vielen Klassenkameraden - spürte sie ganz instinktiv, dass das Leben in all seiner Kompliziertheit gerade erst begonnen hatte. Glaubten einige der Jungs in ihrer Klasse, nach gerade bestandenem Führerschein sofort ein Auto mit 200 Sachen über die Autobahn steuern zu können, so wusste sie, dass dem wohl eher nicht so war. Nun ja, seufzte sie leise, wie war doch das schöne Sprichwort? Einbildung ist auch eine Bildung!

Waren Männer von Natur aus so draufgängerisch? Daniela überlegte, ob man ihr wohl eines Tages den Nobelpreis für die Lösung dieser Frage überreichen würde. Übermäßig viel Kontakt hatte sie bisher noch nicht zum anderen Geschlecht gehabt, da waren natürlich ein, zwei Jungen ihrer Klasse, die es mal versucht hatten; mit Jens hatte sie eine längere Beziehung gehabt, bis auch diese in die Brüche gegangen war. Und dann war da Klaus... Oder doch eher Barbara? Es fiel ihr verdammt schwer, ihn einzunorden. Ja, da war auch etwas Draufgängerisches bei ihm gewesen, aber aufgrund ihrer Erlebnisse an Ostern hatte sie doch gemerkt, dass seine Persönlichkeit viel komplexer sein musste, als sie mit dem üblichen Mann-Frau-Schema erklären zu können.

Sie starrte ihr Handy an, das schon seit Stunden keinen Pieps mehr von sich gegeben hatte. Der normale unbeschwerte, lustige Kommunikationswechsel schien unterbrochen, seit auch alle Mitschüler in letzter Minute noch das eifrige Lernen für sich entdeckt hatten. Niemand schickte SMS´s, niemand rief an. Sie musste das ändern.
Längst hatte sie die Nummer eingespeichert. Es war Zeit, dass sie sich endlich bei ihr meldete, viel zu lang schon hatte sie es aufgeschoben.

Ihr Handy klingelte nur wenige Male, dann hörte sie ein erfreutes ´DANI!!´. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. "Hallo! Ich dachte, es ist an der Zeit, dass ich mich mal bei dir melde. Ist ja schon ein paar Wochen her, und... nun ja, vielleicht rufe ich auch nur an, weil ich keinen Bock mehr auf dieses blöde Lernen hier habe!"

Ein leichtes Kichern war zu hören. "Kann ich gut verstehen, Dani. Mir ging es letztes Jahr nicht anders. Man meint, alle Bücher mindestens dreimal durchgearbeitet zu haben, und trotzdem hat man immer das Gefühl, nichts zu kapieren und nichts zu wissen. Wann ist es denn so weit?"

"Bald, viel zu bald schon." Genauer mochte Daniela es nicht beantworten. "Und du, wie geht es so?" Es fiel ihr schwer, die Frage auszusprechen.

Wieder dieses Kichern. "Danke der Nachfrage. Furzen kann ich schon wieder, ohne dass es wehtut!" Daniela bemerkte, dass Monika keine Probleme damit hatte, sich verständlich auszudrücken. "Und ich gehe auch wieder zur Uni. Von nichts kommt ja nichts!"

"Schön, Moni! Sag mal, mit Messe dienen ist jetzt wohl nichts mehr, oder?"

Es gab eine kurze, kaum wahrnehmbare Pause. Dann antwortete Monika, diesmal jedoch mit einer ganz anderen Stimme: "Nein! Schluss, aus, vorbei! Leider. Ich hatte das eigentlich immer ganz gern gemacht. Und du? Gehst du noch?"

"Ja. Ich gehe noch zum Messe dienen. Ich kann ja nach so kurzer Zeit nicht gleich wieder aufhören. Ich bin jetzt für Pfingsten eingeteilt, gleich dreimal."

"Und... schickst du mir wieder so ein kleines Filmchen, wie zu Weihnachten?" Lachen war zu hören.

"Wohl eher nicht!"

Das Lachen am anderen Ende der ´Leitung´ verstummte. "Weißt du, Dani, was wir da gemacht haben..."

"...war verdammt schön, Moni!" setzte Daniela den Satz fort.

"Es war geil." Monika schwieg einen Moment. "Ich weiß nicht, ob es wirklich schön war."

Schweigen.

Daniela spürte, dass dieses Thema ihre Freundin bedrückte. "Kommst du nicht bald mal wieder nach Kölle? Wir könnten mal wieder etwas zusammen unternehmen!"

"Ist denn schon wieder Karneval bei euch im Rheinland?" Man sah förmlich, wie Monika den Kopf schüttelte.

"Nö. Leider nicht. Aber bis zur Köln Pride ist es nicht mehr so lang hin. Wir könnten..."

"Nein. Nein, Moni! Es... es geht nicht. Es ist nicht richtig. Wir müssen enthaltsam sein, wir dürfen nicht..."

"Enthaltsam?? Moni, wovon redest du? Steckst du schon wieder im KG?? Ich dachte, der wäre bei deiner Befreiung kaputt gegangen?"

"Nein.... ja... Ach scheiße!" Daniela hörte ein leises Schluchzen. Das Gespräch hatte eine negative Wendung genommen. "Ich habe einen neuen Keuschheitsgürtel bestellt, eine Spezialanfertigung diesmal."

"Oh!" Eine Spezialanfertigung?? Daniela beschloss, lieber nicht zu fragen. Monika würde es selber sagen, wenn sie es sagen wollte.

"Ja, ich wusste nicht... Ach Scheiße, scheiße, scheiße!!!" Daniela hörte einen Laut, so als würde Monika mit der Faust auf den Tisch schlagen. "Dani! Mir geht es beschissen! Ich weiß einfach nicht mehr, was richtig und was verkehrt ist. Und dummerweise sieht es im Moment eher so aus, als sei alles verkehrt und nichts richtig! Verstehst du? Es hat sich in meinem Bekanntenkreis rumgesprochen, was mir passiert ist. Alle scheinen jetzt zu wissen, dass ich ein Freak bin. Nur ich selber, ich weiß überhaupt nicht mehr, wer oder was ich bin. Und Sex geht mir sowas von am Arsch vorbei im Moment! Vielleicht wird das ja besser, wenn endlich der neue KG kommt, aber ich weiß es wirlich nicht. Ach, Mist hoch zehn!"

Daniela schwieg betreten. Ihre arme Freundin! Zu gern hätte sie sie jetzt in den Arm genommen, hätte sie sie ein wenig trösten und aufmuntern wollen, aber all das war hier am Telefon eher nicht möglich. Vielleicht sollte sie das Thema wechseln? "Sag mal, hast du in letzter Zeit mal was von Klaus gehört?"

"Von Klaus?" Das Schluchzen verstummte. "Ach so, ja, Klaus." Sie sprach den Namen so aus, als müsse sie sich erst besinnen, wer gemeint war. Es war klar, dass sie ihn immer noch als Barbara in Erinnerung hatte. "Nein, eigentlich nicht. Traut sich wohl nicht so recht, hier mal anzurufen. Aber ich weiß, dass er jetzt mehr oder weniger drüben bei seiner Oma wohnt; die alte Dame ist vor einigen Tagen wohl ihre Kellertreppe runtergefallen und Klaus hat sie dort unten gefunden. Jetzt soll sie bettlägerig sein... ein Pflegefall. Keine Ahnung, wie das da weitergeht. Aber du hast scheinbar auch keinen Kontakt zu ihm, wenn ich das richtig verstehe?"

Daniela gab zu, dass es sich so verhielt, wie Monika vermutete. Beide Mädchen unterhielten sich noch eine Weile über Belanglosigkeiten, dann verabschiedete Daniela sich, denn irgendwie hatte sie das ungute Gefühl, schon wieder vergessen zu haben, was sie eben noch gelernt hatte. Es hatte ihr gut getan, Monika angerufen zu haben, auch wenn es sie sehr beunruhigte, zu hören, wie schlecht es ihr ging. Monika hatte nicht mehr erwähnt, wie genau dieser neue KG aussehen sollte, was sie etwas ärgerte.
Dass Klaus jetzt bei seiner Oma wohnte war eine interessante Neuigkeit. Vielleicht sollte sie einmal von sich hören lassen? Daniela beschloss, ihm einmal zu schreiben, aber erst nach den überstandenen Abiturklausuren. Dann stand sie auf und ging nach unten um sich von der Mutter etwas Schokolade zu stibitzen, denn Nervennahrung, das brauchte sie jetzt erst einmal!

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Bereits am zweiten Tag seiner neuen Pflegearbeit stellt Klaus fest, dass es anstrengender war, als er erwartet hatte. Nicht physisch, wohl aber psychisch. Seine Oma, die trotz der schmerzstillenden Mittel, die er von der Apotheke erhalten hatte, in einem weg jammerte, tat ihm leid, aber mehr als ihr die beste Hilfe zukommen zu lassen vermochte er auch nicht.
Wie der Arzt schon vermutet hatte, waren beide Verletzungen zwar nicht weiter tragisch, wohl aber recht hartnäckig. Bei einem alten Menschen heilt es halt nicht mehr so flott, wie bei jüngeren. Es würde noch lange dauern, bis sie wieder aufstehen könnte, und sprechen konnte sie nur unter großer Mühe.

Als fünf Tage vergangen waren traute er sich zum ersten Mal, seine Oma für ein paar Stunden allein zu lassen. Er musste dringend zu sich nach Hause, nach Hause in seine kleine Dachwohnung, mal nach dem Rechten sehen.

Er schloss die Tür zum Treppenhaus auf und bemerkte erst jetzt den großen Stapel diverser Reklamesendungen, der sich unterhalb des Briefschlitzes aufgehäuft hatte. Seit Ostern war er nur wenige Male hier gewesen, und nie hatte er Lust verspürt, nachzusehen, wo welcher Schinken am billigsten war, oder welch andere Supersonderangebote ihn eventuell zum Kauf verlocken konnten. Dieser ganze Konsum war sowieso nicht seine Welt.
Diesmal nahm er den ganzen Packen mit nach oben und legte ihn zur schnellen Durchsicht auf den Küchentisch. Bald hatte er alles bis auf zwei Briefe in den Mülleimer sortiert. Die beiden Briefe, die ihn leicht nervös machten, nahm er mit ins Sofa. Aus dem Kühlschrank holte er sich eine Cola, dann setzte er sich, Messer in der Hand, ins Sofa und öffnete den ersten Brief, der seinen Namen trug.

Es war ein Gruß von Daniela. Sie schrieb, Monika hätte sie gebeten, ihm nun endlich die CD mit der Videoaufnahme zu geben, was genau das sei wisse sie leider nicht, aber er selber wüsste wohl, was gemeint sei. Außerdem solle sie von Monika grüßen und ihm ausrichten, dass es keine weiteren Kopien davon gebe. Ein paar nette Worte von Daniela folgten, in denen sie die Hoffnung hegte, dass der Albtraum, den er in den letzen Monaten erlebt habe, nun endlich vorbei sei und dass sie hoffte, ihn - Klaus - spätestens zum Sommer wiederzusehen und eventuell dass nachzuholen, was sie beide an Ostern aus diversen Gründen nicht miteinander hatten tun können.
Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als er die CD in der Hand hielt. Monika hatte Wort gehalten. Er war nicht mehr erpressbar, nicht mehr ihr Spielzeug. Sie würde ihn nie mehr dazu zwingen können, Frauenkleider anzuziehen!

Der zweite Brief war ominöser. Auf dem Umschlag stand nur ´Für dich!´, einen Absender gab es nicht. Klaus öffnete ihn und zog einen einzigen, zusammengefalteten Zettel hervor. Er erhielt nur eine einzige kurze Nachricht, die ihm augenblicklich das Herz bis in den Hals schlagen ließ: "Hallo Barbara! Ich vermisse dich!! Melde dich bald mal!! E."
Es lief ihm kalt den Rücken runter. Wer mochte das geschrieben haben? Und mit einem Mal hörte er wie aus weiter Ferne eine Stimme, die in seltsamem Dialekt fragte: "Wär est Großes E Ponkt??" Vor seinem geistigen Auge sah er einen bedröppelten Primaner, bei dem der Lehrer ein recht privates Briefchen gefunden hatte und welcher nun, Entdeckung befürchtend, vor dem Rektor erschienen war. Pfeiffer hieß der Schüler, mit einem äff vor dem ei und zwei hinterm ei, und in seiner Not entriss er dem Lehrer das Corpus delicti, knüllte es zusammen und fraß es auf.
Trotz der Erinnerung an einen seiner Lieblingsfilme war Klaus das Lachen im Halse stecken geblieben. In aller Schnelle hatte er das Ausschlussverfahren angewandt und festgestellt, dass von nur einer möglichen Person auch nur eine übrig geblieben war! Eine, die sich ihm nie mit Namen vorgestellt hatte! Und mit einem Mal realisierte er, dass genau diese Person ihn nicht einmal würde zwingen müssen, Frauenkleider anzuziehen! Die Frage war nur, wie sollte er sich bei ihr melden, wenn er weder Namen, noch Handynummer oder Adresse hatte?



Seine Großmutter hatte ihn schon sehnsüchtig erwartet. Sie hatte Hunger bekommen, konnte sich aber nur mit einem dünnen Brei ernähren, den Klaus ihr zubereiten musste. Er versprach, sich sofort darum zu kümmern. Aus der Küche konnte man das Geräusch eines Mixers hören, dann aber war Stille. Was nun? War der Junge eingeschlafen?
Bald aber kam er zu ihr. Er sah nachdenklich aus. Vorsichtig half er seiner Oma in eine mehr sitzende Stellung, dann drückte er ihr das Gefäß mit dem langen Trinkhalm in die Hand. Sie nickte dankbar.

"Sag mal, Oma, was hast du denn bloß im Keller gewollt? Wenn du nicht so unvorsichtig gewesen wärest, dann könnten wir jetzt schön draußen im Garten sitzen, statt diese Nummer hier abzuziehen."

Sie blickte ihn an, für einen Moment schien sie erstaunt über diese Frage, dann sah sie weg. Sie bemühte sich, deutlich zu sprechen, auch wenn es ihr schwer fiel. "Kompott geholt."

"Kompott geholt? Du hast Kompott geholt? Ach so. Mensch, Oma, hättest du denn nicht auf mich warten können? Die Kellertreppe ist doch mindestens so steil wie die Treppe zum Dachboden. Und jetzt haben wir die Misere!"

Seine Großmutter zuckte mit den knochigen Schultern und trank weiter ihre flüssige Nahrung. Sie bemühte sich, weiterzusprechen, aber es tat weh, und Klaus schien gar nicht mehr zuzuhören. Er hatte eine Zeitschrift aufgeschlagen und lustlos darin geblättert, bis er plötzlich aufstand und sich zum Gehen wendete.

"Klaus! ---- Becher!!", brachte sie mühsam hervor.

Klaus reagierte nicht. Noch einmal wiederholte die alte Dame beide Worte, aber ihr Enkel ging bloß weiter Richtung Tür.

"Barbara!!"

Er blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Glaswand gelaufen. Langsam drehte er sich um und sah seine Großmutter mit verschreckten Augen an. Dann beeilte er sich, aus dem Zimmer zu kommen.

Die alte Dame sank zurück in ihre Kissen. Es war ihr so rausgerutscht. Einer plötzlichen Eingebung folgend hatte sie den Namen ausgesprochen. Eine Absicht hatte nicht dahinter gesteckt. Jetzt aber schloss sie die Augen vor der Wahrheit, die urplötzlich in ihr Leben getreten war.



19. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 18.11.12 22:38

Daniela, wunderschöne Fortsetzung, mit interessanten Begebenheiten und auch sehr viel Menschlichkeit. Monika steckt voll in einer Krise, die Du hervorragend dargestellt hast. Ich hoffe sehr, daß sie dort wieder herausfindet, und sich nicht verliert. Sehr schön fand ich auch den Ausflug zur "Feuerzangenbowle" - ein Film, den ich ebenfalls liebe. Und ich bin gespannt darauf, wie die Entwicklung von Klaus weitergehen wird. Es ist gut, daß er seine Oma noch rechtzeitig gefunden hat, war aber echt überrascht, als sie plötzlich "Barbara" rief... Die Intuition von älteren Menschen scheint ans Mysteriöse zu grenzen.

Ich freue mich schon auf den nächsten Teil!

Keusche, aber dennoch liebe Grüße
Keuschling
20. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von fiasko am 19.11.12 01:56

Auch wenn eine Woche Wartezeit recht lang ist , so ist es diese Geschichte doch wert, immer wieder weiterzulesen.
Vor allem, wenn man davon ausgehen kann, daß auch dieser Teil ein ´echtes´ Ende bekommen wird, und nicht wie so viele andere ansich gute Texte, irgendwann ohne erkennbaren Grund einfach abbricht.

Ich wollte, ich könnte solche Texte schreiben.
Aber wenn es in der Schule nach meinen Aufsatz-Noten gegangen wäre, wäre es im "Deutsch" eine "5" oder sogar "6" im Zeugnis gewesen.


Zitat

Seine Großmutter hatte ihn schon sehnsüchtig erwartet. Sie hatte Hunger bekommen, konnte sich aber nur mit einem dünnen Brei ernähren, den Klaus ihr zubereiten musste.


Schau mal nach Frisubin oder Diben, das hift in solchen Fällen weiter.

21. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 19.11.12 21:30

Libe Dani!
Danke auch für die heutige Fortsetzung. In Ergänzung zu den anderen Postings nur soviel: Rein organisatorisch bewundere ich, wie es Dir gelingt, die verschiedenen Fäden weder zu verwirren noch zu verlieren. Du machst das super weshalb ich schon auf das nächste Wochenende sehnlichst warte.
Maximilian
22. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 25.11.12 22:00

Es ist 22 Uhr! Endlich geht dieser trübe, langweilige Tag zu Ende! Hier, wo ich wohne, hat es fast den ganzen Tag geregnet, und um halb fünf ist es schon wieder dunkel. Doch in vier Wochen ist Weihnachten, wenigstens ein Licht, auf das man sich freuen kann!

Eine Schrecksekunde gab es in dieser Woche, als das Forum mehrmals nicht zu erreichen war. Wie man las, ist ein neuer Server installiert worden. Ausfälle, wie z. B. im Dezember 2010, sind also wohl nicht mehr zu befürchten. Ich möchte allerdings noch einmal die Bitte der Admins weitergeben, ein wenig für das Forum zu spenden. Allerdings nicht ohne meine frühere Aufforderung zu wiederholen, einmal so etwas wie eine Bilanz vorzulegen.

Danke all denen, die mir geschrieben haben!! Es kostet nichts, und für mich ist es die einzige Freude, die ich habe. Diese Woche habe ich wieder ein wenig geschrieben; es fehlen nur noch die beiden allerletzten Schlusskapitel, es wird aber noch lange dauern, bis wir so weit im Text sind - Ausdauer ist also angesagt! Ach, übrigens, hier bekommt Ihr jeden Sonntagabend eine Fortsetzung, nicht zu lang und nicht zu kurz, bis weit in den Frühling hinein. Ob solche eine Geschichte, obendrein noch die Fortsetzung von "Herbstferien " und "Frust", für den Leser angenehm ist, oder ob er sich lieber anderen Geschichten hingibt, die über zehn Jahre hinweg in Minikapiteln vor sich hindümpeln, mag jeder selber wissen!

Ich vermisse Grüße von manch früherem Leser... ich hoffe nicht, dass schon welche abgesprungen sind!! Okay, ich weiß, im Moment geschieht noch nicht so viel, aber das kommt schon noch....

Viel Spaß beim Lesen wünscht Euch Eure Daniela!

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Klaus hatte sich in aller Eile seine Jacke geschnappt und war hinausgelaufen in den milden Maiabend. Jetzt war das passiert, was nicht hätte passieren dürfen. Immer wieder hörte er im Geiste die Stimme seiner Oma, die unerwartet laut seinen Namen gerufen hatte - nein, das stimmte nicht, ihren Namen hatte sie gerufen, Barbaras Namen, und er hatte darauf reagiert.
Ziellos lief er durch einige Straßen des Viertels, sein Leben hatte plötzlich die Richtung verloren, die es, trotz aller Spielereien mit Monika, doch immer gehabt hatte. Was hatte es so plötzlich ausgelöst? Nein, es war nicht die CD , die er von Monika zurückbekommen hatte, sondern jener andere, so kurz gehaltene Brief von Großes E Punkt. Eva??
Klaus war sich nicht sicher, ob sie wirklich Eva hieß, so wie das liebe Mädel in der Feuerzangenbowle. Er solle sich mal wieder melden, hatte sie geschrieben. Nein, auch das stimmte ja nicht, denn es war ja Barbara, die sich mal wieder melden sollte. Sie sollte sich bei ihr melden, nicht er. Aber wie sollte er... sie das machen, wenn sie keine Adresse hatte? Wenn sie nicht einmal den Namen von ihr wusste.

Er fühlte sich unwohl. Er merkte, wie Klaus Barbara bei ihren Überlegungen im Wege stand. Wie lange hatte er jetzt schon ohne sein feminines alter ego gelebt? Bestimmt schon über einen Monat. Er würde es ändern müssen, daran konnte es keinen Zweifel geben.

Klaus blickte auf seine Uhr. Es war erst früher Abend, die Geschäfte hatten noch nicht geschlossen. Es gab für ihn nur einen Weg. Bald hatte er das kleine Kino erreicht, in dessen Nähe der Supermarkt lag, in dem sie arbeitete. Aus irgendwelchen Gründen hatte er nicht mehr hier eingekauft, seit sie in seinem Leben aufgetaucht war. Nicht, weil er sie nicht mochte, sondern weil sie ganz einfach zum falschen Zeitpunkt gekommen war, zu einem Zeitpunkt, da er noch Monika gehörte, falls man es so nennen durfte.
Er trat ein, blickte sich um. Viel Kundschaft war nicht da, an der Kasse saß eine andere Frau. Sie war nicht zu sehen. Klaus nahm sich ein Herz und fragte die Dame, ob sie ihm helfen könne. Er beschrieb sie - Eva? - so genau wie möglich und sagte, er müsse sie unbedingt sprechen, aber es war schnell klar, dass er hier keine Auskunft würde bekommen können. Die Kassiererin sah ihn genervt an und gab schließlich die Antwort, eine solche Kollegin nicht zu kennen. "Junger Mann, das muss vor meiner Zeit gewesen sein! Ich bin ja erst seit einigen Monaten hier. Da kan ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Aber vielleicht rufen Sie später noch einmal im Büro an, wenn die Chefin da ist. Vielleicht kann sie Ihnen weiterhelfen." Klaus erhielt noch die Telefonnummer, dann bedankte er sich bei der Frau.

Missmutig beschloss er, noch einmal seine Wohnung aufzusuchen, bevor er wieder zu seiner Oma zurückkehren musste. Es war ja nicht einmal sicher, dass sie all das hineingelegt hatte, was er im Moment befürchtete.
Was er jetzt brauchte, waren zwei Dinge! Ein Whisky und einen Namen. Es war ihm klar, dass er den nächsten Schritt würde tun müssen; nach ihrer vergeblichen Kontaktaufnahme würde sie keine zweites Mal kommen.
Klaus fand die Flasche, die er in einer sehr dekorativen Pappschachtel belassen hatte, zog sie hervor. Unten am Boden der Flasche klebte der Kassenbon, den er, aus welchem Grund auch immer, zusammengefaltet in die Schachtel gelegt hatte; wahrscheinlich um jederzeit sehen zu können, wie teuer so ein Zeug war. Noch einmal las er den Preis, wunderte sich darüber, so viel Geld ausgegeben zu haben, dann legte er den Bon zurück und goss sich ein Glas ein.
Nicht zuviel, denn er war kein solider Trinker, aber genug ihn wenigstens für einen kurzen Moment etwas auf andere Gedanken zu bringen. Ob Monika wohl immer noch diesen Black Label hatte?

Ungeduldig wartete er bis kurz vor neun, dann nahm er sein Handy und wählte die Nummer des Supermarkts.

"Hallo? Ja, guten Abend! Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, aber Ihre Kollegin meinte, es wäre besser, Sie einmal um Ihre Hilfe zu bitten. Mein Name ist Klaus. Ich hatte vor einiger Zeit einmal eine junge Dame kennengelernt, die bei Ihnen an der Kasse sitzt, und würde Sie gern bitten, mir eventuell mit einer Adresse oder Telefonnummer weiterzuhelfen."

"Ja, bitte, um wen handelt es sich denn? Wie war der Name, sagten Sie?"

Klaus merkte, wie ihm heiß und kalt wurde. "Klaus. Klaus war der Name."

"Nein, ich meine den Namen meiner Kollegin??" Es lag eine gewisse Ungeduld in der Stimme.

"Ich.... äh, ich kann sie Ihnen beschreiben... Also, sie hatte relativ langes Haar..."

"Junger Mann!! Ich brauche einen Namen! Was meinen Sie, wieviele junge Frauen hier bei mir arbeiten, die alles langes Haar haben! Aber wenn Sie den Namen nicht kennen, dann fragen Sie sie doch besser, bevor Sie mir hier meine kostbare Zeit stehlen. Guten Abend!!"

Das war deutlich! Klaus starrte einige Sekunden auf das tutende Handy, so als könne er noch auf eine nette Zugabe hoffen. Aber er sah ein, dass auch die Hoffnung irgendwann einmal starb.

Und zwar zuletzt.

Es dauerte seine Zeit, bis er zur Ruhe kam, musste sich dann aber sputen, denn er wollte seine Großmutter nur ungern allzu lange allein lassen. Er kam gerade noch rechtzeitig, denn die alte Dame musste dringend zur Toilette, etwas, das sie allein noch nicht schaffte. Zwar hatte sie eine Krücke als Gehhilfe bekommen, aber der Umgang damit war ihr ungewohnt und wollte erst gelernt werden.

"Ah, Klaus, da bist du ja endlich! Warst noch ein bisschen an der Luft?"

"Ja, Oma. Ich kann ja schließlich nicht den ganzen Tag hier hocken und Händchen halten!" Kein Wort von Barbara, dachte er.

"Sollst du ja auch nicht. Ich bin ja so schon so dankbar, dass du dich um mich kümmerst. Komm, hilfst du mir mal zur Toilette?"

Sie wirkte freundlich. Vielleicht freundlicher als sonst? Oder war es einfach nur so, dass er im Moment auf jede noch so geringfügige Änderung achtete wie ein Seismometer?
Nachdem er seine Oma versorgt hatte, verlief der restliche Abend in gemütlichem Beisammensein vor dem Fernseher. Klaus hatte sich etwas zu essen gemacht, anschließend die Küche aufgeräumt und den Müll weggeworfen. Dann hatte er die Großmutter bettfertig gemacht und sich selbst in sein kleines Zimmer zurückgezogen.

Irgendetwas irritierte ihn. Da war einerseits die wenig zufriedenstellende Antwort seiner Oma, sie habe Kompott aus dem Keller geholt, als sie so fürchterlich auf der Treppe gestürzt war, da war aber auch noch etwas anderes. Bloß was? Er hatte, als er die Küche aufgeräumt hatte, irgendetwas gesehen, war sich aber nicht sicher, was genau es war. Er stand noch einmal auf und ging hinunter in die Küche. Er schaltete das Licht ein, sah gewissenhaft nach, aber da war nichts.
In der Diele blieb er stehen. Linker Hand war die Tür zum Keller. Er öffnete sie, fand den Schalter für die etwas spärliche Kellerbeleuchtung. Was hatte seine Oma denn bloß gewollt? Kompott holen?? Das kannst du meiner Großmutter erzählen, dachte er und musste plötzlich lachen. Wie komisch!! Seine Großmutter hatte es ja ihm erzählt!
Vorsichtig nahm er die steilen Stufen hinab. Hier unten gab es nur einige wenige kleine Räume. In einem von ihnen befanden sich tatsächlich auf einem hölzernen Bretterregal eine ganze Reihe von Weckgläsern, in denen sich eingemachtes Obst befand. Vergilbte Etiketten deuteten auf den nicht mehr sonderlich appetitlich aussehenden Inhalt und auf eine längst verflossene Zeit hin. Das, was er hier vorfand, war vor über einem Jahrzehnt von der Oma eingekocht worden; er erinnerte sich noch recht gut an sommerliches Birnenpflücken in ihrem Garten.
Klaus blickte sich um, konnte aber auch hier unten nichts entdecken, was ihn auch nur ein Jota weitergebracht hätte. Unzufrieden mit sich selbst und der Welt begab er sich wieder in sein Zimmer. Morgen war ein neuer Tag.


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Daniela machte sich Sorgen. Ihr Gespräch mit Monika war alles andere als beruhigend gewesen. Es war klar, dass es nach den schrecklichen Erlebnissen jener düstren Osternacht eine psychische Reaktion geben musste, aber was sie nun von ihrer Freundin am Telefon gehört hatte, hatte ihr doch zu denken gegeben.
Bisher war es ihr nicht bewusst gewesen, wie sehr Monika nicht nur unter den rein körperlichen Folgen ihrer Nacht auf der Messdienerstrafbank zu leiden hatte, sondern viel mehr noch unter dem Verlust einer für eine gewisse Sicherheit und Geborgenheit sorgenden Struktur in ihrem Leben. Der alte Pastor war wohl nicht durch einen anderen, sicherlich jüngeren Geistlichen zu ersetzen, falls sich überhaupt noch jemand finden ließe. Wahrscheinlicher war doch, dass auch diese kleine, alte Kirche bald in eine Bibliotek, ein Lebensmittelgeschäft, oder, schlimmer noch, eine Diskotek umgewandelt wurde. Falls sich die Gemeinde nicht als lebensfähig erwies. Lebensfähig bedeutete: Kirchgänger, Gläubige, Geburten und Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Ein spirituelles Leben, das in der Welt irgendwo irgendwann verloren gegangen war. Wer brauchte denn noch den Kontakt zu Gott, wenn er alle Fragen bei Wikipedia beantwortet bekommen konnte??

Aber auch vor ihr selber hatte sich eine hohe Mauer des Zweifels aufgetan. Erwachsenenmessdiener hin oder her, sie war eben kein Kind mehr, keine kleine Messdienerin, die man mit Sackhüpfen und sommerlichen Zeltlagern auf den Geist der christlichen Gemeinschaft einschwören konnte. Sie selber hatte ganz andere Beweggründe gehabt, jetzt noch, als Abiturientin, bei den Messdienern einzusteigen. Einerseits hatte es an Monikas schwer zu widerstehender Dominanz gelegen, andererseits aber viel mehr an ihrem eigenen, seit Jahren unerfülltem Wunsch, sich das schwarz-weiße Gewand der Dienerschaft Gottes überzustreifen, oder, weniger prosaisch ausgedrückt, Ministrantin zu werden. Sie hatte sich damals einfach nicht getraut, als der Kaplan mit dem Anmeldeformular in die Klasse gekommen war, hatte Angst gehabt, sich irgendeine vermeintliche Blöße zu geben, vielleicht etwas von ihrer Coolness zu verlieren, die sie sich hart erarbeitet hatte.

Jetzt aber, nachdem sie sich eigentlich schon an ihre neue Rolle als Messdienerin gewöhnt hatte, jetzt war plötzlich der Fluch des Zweifels über sie gekommen. War der Münchner Pastor nur ein Einzelfall gewesen, oder aber ließ sich das, was ihn beherrscht hatte, auch bei anderen Geistlichen finden? Wobei Daniela sich nicht einmal sicher war, was genau den alten Pastor dazu getrieben hatte, sich so zu versündigen. Der Gedanke an jahrelangen, krankhaft unterdrückten Sex lag immer schnell auf der Hand, aber es mochte auch ganz andere Gründe gegeben haben. Vielleicht hatte er auch ganz einfach aus einer recht archaischen Glaubensauffassung von Sünde und Sühne gehandelt, auch das mochte eine Möglichkeit sein.
Trotzdem war sie eine Spur misstrauischer geworden. Nicht zuletzt dank jenes Gesprächs mit Schwester Hildegard vor einigen Tagen, als sie nach einer weiteren Messdienerstunde gerade nach Hause gehen wollte.

Sie hatte noch die Kuchenkrümel vom Tisch abgewischt, an dem sie alle gesessen hatten, als die Ordensschwester, die für die Messdienerarbeit in dieser Gemeinde zuständig war, sie noch einmal ansprach.

"Daniela, sag mal, ich habe da von solch schlimmen Dingen in einer Münchner Gemeinde gehört." Sie sah sie prüfend an. "An den Ostertagen," setzte sie hinzu.

Daniela wusste nicht, wie sie reagieren sollte. "Ja," antwortete sie leise und senkte den Blick.

"Eine Messdienerin soll da..." Sie schwieg, sichtlich erschüttert. "Es wird Schlimmes gemunkelt. Ich habe es von Mitschwestern aus München. Einige Male gebrauchten sie ein Wort, dass du auch nanntest, als wir unser erstes Gespräch hatten, vor Weihnachten noch. Erinnerst du dich?"

Daniela erinnerte sich gut. Aber sie schüttelte den Kopf.

"Vielleicht weißt du noch, dass ich einen Witz gemacht hatte, wenn auch einen recht schlappen Witz. Ich sagte, so etwas gebe es nicht in unserer Kirche. Nur bei den Eishockeyspielern, bei den Kölner Haien gebe es so etwas." Die Nonne legte eine weitere Kunstpause ein. "Eine Strafbank," sagte sie schließlich.

Zum wiederholten Mal wischte Daniela über den Tisch, der bereits ganz frei von Krümeln war. "Kann sein," sagte sie vorsichtig. "So genau erinnere ich mich nicht mehr."

Schwester Hildegard verzog den Mund. Es war klar, dass sie ihr diese Antwort nicht abnehmen wollte. "Kanntest du das Mädchen?"

Daniela wischte ein weiteres Mal. Sie biss sich auf die Lippen.

"Letztes Jahr bist du hier bei uns ja nicht ganz freiwillig angefangen. Wenn ich mich recht entsinne, hatte eine Freundin aus München dich hier angemeldet, nicht wahr? Ist es ... ist es diese Freundin, der das alles passiert ist?"

Daniela erstarrte mitten in der Bewegung. Ihre Wisch-und-weg-Taktik hatte nicht funktioniert. So genau hatte sie bisher niemand auf den Vorfall angesprochen. "Ja," antwortete sie, ohne jedoch aufzuschauen.

"Ich glaube, sie kann dem Herrgott danken, dass nicht mehr passiert ist. Diese Strafbank, wie du sie genannt hast, muss ja ein furchtbares Ding sein?"

Daniela hatte keinen Zweifel daran, dass dieser letzte Satz eine Frage gewesen war. "Ja, furchtbar," stammelte sie verlegen. Noch immer lag ihr nichts an einer Unterhaltung über dieses Thema.

"Du hast sie gesehen?"

Warum konnte sie sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie nickte mit dem Kopf. Sie hatte Angst vor der nächsten Frage. Aber es kam eine andere Frage, als die, die sie erwartet hatte.

"Kannst du sie mir beschreiben?"

Jetzt blickte sie auf. Warum wollte Schwester Hildegard es so genau wissen? War es einfach nur Neugier? Oder doch Anteilnahme? Sie erklärte der Ordensfrau, wie genau die uralte Strafbank aussah und wie sie funktionierte. Aber während ihrer Beschreibung wünschte sie sich die ganze Zeit, ihre Worte mögen, sobald sie ihren Mund verließen, in unverständliches Volapük verwandelt werden.

Die Nonne schien sich mentale Notizen zu machen. "Ah... ja, ich verstehe. Und wenn man dann dort festgesetzt ist, hat man keine Chance....?" In ihrer Stimme schwang etwas mit, das Daniela nicht mochte. Etwas, das mehr war als pure Neugier. "Aber woher solltest du das wissen..."

"Nein!" Daniela räusperte sich. "Nein, ich weiß es nicht. Aber ich muss jetzt nach Hause. Noch etwas lernen für die Prüfungen in der nächsten Woche."

Schwester Hildegard bedankte sich bei ihr für die genaue Auskunft und bat sie, ihrer Freundin in München einen Gruß zu übermitteln. Dann öffnete sie ihr die Tür und widmete sich ihren Plänen.


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Klaus hatte die Nacht auf dem klapprigen Sofa in seinem Kabuff unterm Dach verbracht. Er war am Abend hier hochgekommen, um endlich einmal wieder das tun zu können, was er immer hier oben getan hatte: sich seiner Fantasie hinzugeben, sich treiben zu lassen, sich selbst zu befriedigen. Die Bilder der vielen Frauen, die er an die Wände geklebt hatte, stimulierten ihn, ließen sein Glied zum ersten Mal seit Monaten wieder hart werden, ohne dass er noch irgendwelche Schmerzen verspürte, wie in den ersten Wochen nach seiner Befreiung aus dem Keuschheitsgürtel. Aber er schaffte es nicht, zum Höhepunkt zu kommen. Immer wieder tauchten Bilder von seinem alter ego vor ihm auf, von seiner dunklen, verborgenen Seite. Dieses Ding da zwischen seinen Beinen... Er hatte verlernt, damit umzugehen. Nun gut, es würde wieder kommen, wenn er sich nur etwas Zeit ließe.

Klaus hatte unruhig geschlafen, die ganze Nacht war ihm etwas im Kopf herumgegangen, ohne dass er es richtig hatte fassen können.
Zu allererst wickelte er ein Bonbon aus, das die Oma ihm abends noch gegeben hatte. Ein kleines Betthupferl, hatte sie gesagt, nachdem sie mehrmals mühevoll das Wort Bon wiederholt hatte, ohne dass Klaus dahintergekommen war, was sie eigentlich meinte. Und das mit dem Betthupferl war so unverständlich gewesen, dass er es selber so zusammengereimt hatte.
Das Bonbon-Papier klebte an seinem Finger, als er es zusammengeknüllt auf den Tisch werfen wollte. Bonbon, dachte er. C´est bon! Auch erinnerte er sich an den Spruch über einer Kirchentür: Bonum intra, melior extra. Er wusste nicht, ob dieser Spruch wirklich stimmte, dass man gut eintrat und besser wieder austrat; zu selten war er aus eigenem Antrieb in die Messe gegangen. Und das da mit dem ´besser austreten´, das schienen viele heutzutage ja ganz anders zu verstehen.

Kassenbon. In einem Geschäft aber mochte es stimmen. Man hatte etwas gekauft, was man haben wollte, was man zum Leben brauchte, und verließ dann das Geschäft wieder in einem besseren Zustand als zuvor. Und man bekam sogar einen Bon mit!
Plötzlich merkte er, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Er hatte gestern beim Aufräumen in der Küche etwas gesehen! Flüchtig nur, aber doch wohl lange genug, dass es zumindest eine Spur in seinem Unterbewusstsein hinterlassen hatte.
Er strampelte die warme Decke von sich, ließ sie achtlos auf den nicht gerade sauberen Fußboden gleiten und beeilte sich, Hose und Sweat-Shirt anzuziehen. Dann sprang er die Treppe hinab und stürzte hinaus in den Garten.
Die Mülltonne! Für einen Moment hatte er Angst gehabt, wie in einem billigen B-Film dem Müllwagen hinterherlaufen zu müssen, aber gar so aufregend ist das wirkliche Leben nicht! Er öffnete den Deckel, auf dem seltsamerweise immer noch stand, dass man keine heiße Asche einfüllen sollte, obwohl er absolut niemanden mehr kannte, der etwas anderes als Gas- oder Fernheizung hatte, und zog den zusammengeknoteten Müllbeutel hervor, den er gestern hineingeschmissen hatte. Der Einfachheit halber riss er ein Loch hinein und schüttete den Inhalt auf eine der Platten des Gehweges. Da! Ein Kassenbon von seinem letzten Einkauf für die Oma! Er überflog den Bon und fand schließlich die Zeile, die er nie zuvor bewusst wahrgenommen hatte: ´Es bediente Sie Frau Meyer´. Und plötzlich wusste er, dass er noch eine Chance hatte!



Klaus nahm sich die Zeit, sich ordentlich um seine Großmutter zu kümmern. Immerhin hatte er eine verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, die er nicht einfach in den Wind schießen konnte. Dennoch schaffte er es kaum, seine Ungeduld zu zügeln. Er musste sehen, dass er so schnell wie möglich zu sich nach Hause kam, um herauszufinden, ob er das große Los gezogen hatte, oder ob es eine Niete war.
Trotzdem er sich beeilte war es fast schon elf Uhr geworden, bevor er aus dem Haus kam. Er bestieg seinen Roller, warf den Motor an und fuhr so schnell, wie es das kleine Maschinchen erlaubte, zu jenem Haus hinüber, in dem er seit einigen Monaten die kleine Dachwohnung bewohnte.

Er schloss auf, warf seinen Helm auf das kleine Schränkchen und stürzte atemlos ins Wohnzimmer, wo er seine Whiskyflasche aufbewahrte. Er stellte den Schmuckkarton auf den Tisch, öffnete ihn und zog die Flasche heraus. Für einen Moment setzte sein Herz ein, zwei Schläge aus, als er keinen Bon am Boden der Flasche kleben sah, dann aber warf er einen Blick in den Boden des Kartons und sah dort den gesuchten Zettel liegen. Mit zitternden Fingern fischte er ihn hervor, las, wie gestern schon, den Preis auf der einen Seite, bevor er den zusammengefalteten Zettel umdrehte. Das hatte er gestern nicht getan! Dort standen einige kryptische Angaben, dann Datum und Uhrzeit seines Kaufs, und schließlich, unter all diesen Angaben, diejenige, die er suchte: Es bediente Sie Fr. Kallipke.
Kallipke?? Kein Wunder, dass sie ihren Namen nicht hatte nennen wollen!

Flugs griff er zum Handy, tippte die Nummer des Supermarktes und konnte vor lauter Herzklopfen kaum das Besetztzeichen hören. Verdammt verdammt!! Er mahnte sich zur Ruhe, überlegte noch einmal, was er eigentlich sagen wollte - es durfte nicht wieder in die Hose gehen. Wie hatte Lisbeth Salander aus seinem Roman das immer genannt? Konsequenzanalyse.

Sie würde nicht ihn sprechen wollen. Sie wollte Barbara. Im Grunde genommen war dies das einzige, was er mit ziemlicher Sicherheit wusste. Er kannte sie ja kaum; nur einige wenige Male war sie überhaupt bei ihm gewesen. Und er hatte nie Sex mit ihr gehabt... was aber ein ziemlich dehnbarer Begriff war, seit selbst ein amerikanischer Präsident einmal alle Eide geschworen hatte... "I did not have sex with that woman!"
Er musste sich konzentrieren... sie musste sich jetzt konzentrieren. Er drückte die Wahlwiederholungstaste seines Handys, diesmal kam ein Rufzeichen. Es war gottlob nicht dieselbe Stimme wie gestern Abend, die sich meldete.

"Hallo! Entschuldigen Sie bitte die Störung..." Verdammt, wieso entschuldigte er sich denn schon wieder "... ich hätte gern einmal mit Frau Kallipke gesprochen." Banges Warten.

"Mit Eva?"

Also doch! Eva! "Ja, bitte, wenn es möglich wäre."

"Tut mir leid. Das ist nicht möglich. Frau Kallipke arbeitet nicht mehr bei uns." Pause.

"Oh!" Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. "Vielleicht könnten Sie mir Evas Telefonnummer geben?"

"Tut mir leid. Das ist nicht möglich." Konnte sie denn immer nur das sagen? "Wer spricht denn?"

"Barbara. Sie hatte mich gebeten, sie zu kontaktieren..."

"Warten Sie bitte einen Moment!"

Klaus hörte, wie die Dame am Telefon scheinbar nach etwas suchte, dann vernahm er ganz leise das Tuten eines anderen Telefons. Schließlich hörte er seine Gesprächspartnerin wieder. "Eva --- Ja, ich bin´s. Ich habe hier eine Bekannte von dir im Telefon, die meint, du hättest sie gebeten, dich anzurufen. Scheinbar hast du vergessen, ihr deine Handynummer mitzugeben. ---- Ja ---- ja --- Barbara --- ja, okay, mach ich! Okay du, mach´s gut, und lass dich mal wieder blicken. Ciao!"

Die Stimme wurde wieder lauter. "Hallo?? Sind Sie noch da?"

"Ja, ich bin noch da." Nun sag schon, was Sache ist, du alte Kuh! Mach es nicht so spannend!

"Sie haben Glück! Eva - Frau Kallipke - lässt Sie grüßen und sagt, sie käme in einer halben Stunde zu Ihnen, wenn´s recht ist."

Klaus bedankte sich höflich, beendete das Gespräch und rannte dann auf die Toilette, wo er sich übergab.


%%%

Annegret Meisner litt Qualen. Die alte Frau hatte vergeblich versucht, einmal allein aus dem Bett hochzukommen, aber ihr schlimm verstauchter Fuß wollte einfach nicht besser werden. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass der Heilungsprozess sich so sehr in die Länge ziehen würde. Vielleicht lag es aber auch an diesem furchtbaren Brei, den sie seit ihrem Sturz als einzige Nahrung zu sich nehmen konnte.

Qualen litt sie aber auch wegen ihres gescheiterten Versuchs, eine dumme Verfehlung der Vergangenheit ungeschehen zu machen. Langsam begriff sie, dass sie die Mauer des Schweigens, die sie jahrelang vor sich aufgebaut hatte, nicht länger würde halten können. Das Fundament war morsch und brüchig geworden, denn das Fundament, auf welchem ihr Lügengebäude aufgebaut war, war ihr eigener, langsam verfallender Körper.
Unvermittelt hatte sie erkennen müssen, dass es nicht schön war, alt zu werden. Dass man in vorher ungeahntem Maße von der Hilfe anderer abhängig werden konnte, anderer, die plötzlich freien Zugang zu Dingen erhalten konnten, die nicht für sie gedacht waren. Lebensgeheimnisse, die nicht länger geschützt werden konnten.

Sie fragte sich, wer eigentlich hatte beschützt werden sollen. Lange hatte sie geglaubt, im guten Sinn zu handeln, eher andere vor deren eigenen Fehlern schützen zu müssen, aber sie konnte sich nicht länger vor der Erkenntnis verschließen, dass sie selber es gewesen war, die das Licht der Öffentlichkeit gescheut hatte, wenn sie das ihr angetragene Wissen weitergegeben hätte.

Kraftlos ließ sie sich in ihre Kissen zurückfallen. Sie wusste, dass es zu spät war, etwas zu bereuen. Instinktiv hatte sie gepürt, dass der Schaden, den sie zwar nicht zu verantworten , den sie aber auch nicht verhindert hatte, als noch Zeit gewesen war, dass dieser Schaden längst eingetreten war.

Barbara!

Immer wieder musste sie über jene Schrecksekunde nachdenken, in der sie diesen Namen ganz plötzlich ausgestoßen hatte. Immer wieder sah sie die fatale Reaktion ihres Neffen, der wie vom Blitz getroffen stehen geblieben war und sich zu ihr umgedreht hatte, den Schrecken in den weit aufgerissenen Augen. Auch wenn es nur die eine berühmte Schrecksekunde gewesen war.
Seitdem dies am Tage zuvor geschehen war, hatte sie immer wieder versucht, eins plus eins zusammenzuzählen. Seine immer seltener werdenden Besuche bei ihr. Das Klingeln eines Handys aus der Kirche, als sie versucht hatte, ihn anzurufen. Diese junge Frau mit ihrem wehenden Petticoat, die sie mehrmals auf einem Roller gesehen hatte, der genauso aussah, wie der von Klaus. Egal, wie sie es drehte und wendete, es kam immer dasselbe Ergebnis dabei heraus: sie kapierte es nicht.

Instinktiv spürte sie, dass seit gestern irgendetwas Neues vorgefallen sein musste. Klaus hatte abwesend gewirkt, hatte nicht, wie sonst üblich, seine kleinen Scherze mit ihr getrieben. Im Laufe des Morgens hatte er immer wieder verstohlen auf die Uhr geschaut, wie jemand, der es verdammt eilig hat.
Hatte er etwas gemerkt? Sie hatte, trotz ihrer Behinderung, mitbekommen, wie er durchs Haus geschlichen war. Und sie hatte das charakteristische Quietschen der Kellertür gehört. Was hatte er gesucht? Was auch immer, bis jetzt schien er noch nichts gefunden zu haben, dessen war sie sich sicher. Eines war ihr durchaus klar: würde er etwas finden, dann würde es unausweichlich zu einer Reaktion kommen, einer Reaktion, vor der sie sich mehr fürchtete, als vor dem eigenen Tod.

Die alte Frau Meisner schloss die Augen. Sie hielt den Atem an, so als hoffe sie, der Tod würde ihr gnädig entgegenkommen, wenn sie jetzt nur lange genug die Luft anhielte, aber er kam nicht, ließ sich nicht einfach herbeizwingen, wollte ihr kein Schlupfloch bieten. Sie würde es ausbaden müssen, würde für ihr Schweigen büßen müssen, so wie schon Pastor Flemming für das seine.

Fieberhaft überlegte sie, ob ihr nicht irgendjemand würde helfen können. Gab es jemand, den sie um einen kleinen Gefallen bitten konnte, ohne diese Person ins Vertrauen zu ziehen?
Erst jetzt begriff sie, wie isoliert sie ihr Leben zugebracht hatte. Ihre Tochter lebte seit Jahren schon im Ausland. Zur Nachbarin auf der anderen Seite des Grundstücks hatte sie jeglichen Kontakt abgebrochen. Die letzte Person, mit der sie immer noch zusammengekommen war, der Pastor, war tot. Ebenso tot wie viele ihrer Nachbarn, in deren Häuser junge Familien eingezogen waren, mit denen sie nie etwas zu tun haben wollte.
Sie war in seiner Hand. Außer ihm gab es keine andere Person mehr in ihrem Leben. Sie wünschte sich, nie wieder ihre Augen öffnen zu müssen.


23. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 25.11.12 22:37

Hi Daniela,

wunderschöne Fortsetzung, die zwar einige Fragen aufklärt, beispielsweise wer E. war, aber doch auch einige hinterläßt, so etwa was das dunkle Geheimnis der Oma betrifft (teils wohl schon etwas gelüftet in früheren Episoden, aber nie völlig), und was wohl im Keller zu finden ist. Schön allerdings, daß Klaus den Kontakt zu Eva wiederherstellen konnte. Wie leicht kann so ein Kontakt im realen Leben einfach verlorengehen, da hat er viel Glück gehabt.

Es bleibt spannend, wie es nun mit Monika weitergehen wird, und wie Daniela ihr nun helfen kann. Und es ist wirklich merkwürdig, daß Schwester Hildegard ein so großes Interesse an Strafbänken entwickelt...

Freue mich schon auf nächsten Sonntag!

Keusche Grüße
Keuschling
24. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 01.12.12 20:58

Liebe DAniela!
Wenn "Dir" wirklich ein paar Leser "abgesprungen" sind, so kann das daran liegen, dass jedes Forum eine Mitgliederfluktuation hat. Das bedeutet aber auch, dass Du sicherlich neue Leser hast, die es halt bisher nicht so wissen, wie sie das Lob für Deine Schilderungen formulieren sollen. Nur zu schreiben "toll" oder "gut" wäre einfach zu wenig. Die Qualitäten Deiner Schilderungen sind nicht so einfach auf einen Nenner zu bringen. Nicht umsonst hast Du Dir beim Schreiben so viel Mühe gemacht.
Besten Dank
Maximilian
25. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AlterLeser am 02.12.12 20:26

Hi Daniela,
vorangesetzt mein dankeschön für das prompte Erscheinen der Fortsetzung.

Jetzt bin ich von Dir aber verunsichert, was mag Klaus seine Oma noch haben was Klaus vielleicht in ihrem Keller entdecken kann? Scheint ja was größeres zu sein. Dir ist es gelungen mich nach der Lektüre mit einigen Fragen zurück zulassen.

Wie schon deine anderen Storys gefällt mir der Anfang von ¨Agonie¨ sehr gut. Lese immer erst quer und danach erst so richtig langsam damit ich nichts überlese. Bitte weiter so.
Das brauch ich hier nicht hin zu schreiben da du ja deine Story zu 98% fertig hast. Also steht die pure Freude ins Haus. Mal sehen.

So zum Schluß bitte erwarte nicht zu viel von den Leser in unserem Forum die lesen gerne kommentieren schon mal einige Kapitel und tanken danach nur die Freude der Geschichte. Laß dich aber davon nicht abhalten weiter deine Story zu posten, bitte.

Lg der alte Leser Horst.

02.12.2012
26. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 02.12.12 22:00

Der erste Schnee ist gefallen, passend zum Winteranfang und 1. Advent. Jetzt wünsche ich allen Lesern viel Vergnügen mit unserer kleinen Geschichte. Langsam wird es spannender... Und wie immer auch ein Dank an die Leser, die mir geschrieben haben!!!

Bemerkt bitte, dass ich die nächsten beiden Sonntage verreist bin, weswegen man nicht mit dem üblichen Zeitpunkt für die Fortsetzung rechnen kann. Aber ich werde mich bemühen, es irgendwie hinzubekommen! Eure Dani

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Es war ganz einfach. Er würde sich totstellen, würde einfach nicht auf ihr Klingeln reagieren. Klaus hatte sich den Mund ausgespült und einen Schluck Wasser getrunken. Es ging ihm besser, aber nur ein wenig. Er wusste, dass er unverzeihlichen Mist gemacht hatte, hatte einen Moment lang vergessen, dass diese Frau ihn gar nicht haben wollte. Diese Frau - Eva, jetzt hatte er ja einen Namen - wollte Barbara. Aber Barbara lebte nicht mehr. Sie war dahingeschieden, als die Ereignisse um Ostern alles wieder ins Lot gerückt hatten.

Er hatte kein Verlangen verspürt, sie wiederzubeleben. Jedesmal, wenn er in den Spiegel geschaut hatte, hatte er nur noch Klaus sehen können. Im Stillen musste er Daniela dafür danken, dass sie ihm die schulterlangen Haare geschnitten hatte, für ihn war es wie eine Befreiung gewesen.

Gerade überlegte er, wie lang wohl eine halbe Stunde sein mochte, als es klingelte. Sein Herz begann zu rasen, nur mit Mühe konnte er sich zur Ruhe zwingen. Lass sie klingeln, bis ihr der Finger abfällt, dachte er. Wie lange mochte sie durchhalten? Irgendwann würde sie kapieren, dass er nicht zu Hause war. Dann aber fiel ihm sein Roller ein, den er direkt neben dem Eingang abgestellt hatte, und sein Puls beschleunigte sich wieder.

Dann wurde es still. Nur der eigene Herzschlag wummerte noch in seinen Ohren. Er wollte schon erleichtert aufatmen, als er das Gefühl hatte, dass sich ein anderer Laut in seine Herztöne eingeschlichen hatte. Es waren eindeutig Schritte zu vernehmen, Schritte, die langsam seine Treppe hinaufkamen.
Sein Mund war staubtrocken. Er wagte es nicht, auch nur mit den Augen zu blinzeln. Gebannt starrte er auf seine Wohnungstür. Jemand klopfte zaghaft an.

"Barbara??"

Es war ihre Stimme! Wie hatte sie die Haustür öffnen können? Das Klopfen wurde lauter.

"Barbara?? Bist du zu Hause? Ist was passiert? Brauchst du Hilfe?"

Was hätte er sagen sollen? Wie hätte er es in Worte fassen können, was in den letzten Wochen passiert war? Und dass Barbara keine Hilfe mehr brauchte? Er beschloss, allen anderen Wünschen feierlich zu entsagen, wenn nur der eine Wunsch jetzt in Erfüllung ginge, dass sie wieder gehen möge. Bitte geh! Hau ab! Lass mich in Ruhe! Es gibt keine Barbara mehr!!

Er hörte ein leises Kratzen von der Tür, dann sah er, wie ein dünnes Stück Plastik durch den Türspalt geschoben wurde. Das Plastikding - was immer es auch sein mochte - wurde durch den Türspalt nach unten gezogen, es gab ein kurzes Klacken und die Tür sprang auf.


Sie erstarrte, als sie ihn sah. Sie legte ihren Kopf leicht auf die Seite und runzelte die Stirn.

"Hallo Eva!", sagte er.

Sie schwieg. Statt einer Antwort ließ sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen, indem sie ihr einen leichten Fußtritt verpasste. Sie verzog den Mund zu einer Schnute: "Barbara wollte mich sehen..."

Klaus senkte den Blick. Stimmte es denn nicht, was sie gesagt hatte? "Sie... sie ist nicht da."

"Nicht?" Sie ging in sein kleines Schlafzimmer, öffnete ihren Kleiderschrank und warf diverse Sachen aufs Bett. "Komm!"

Er wusste nicht, warum er ihren Worten folgte. Sie zog ihn ins Zimmer. "Ich warte im Wohnzimmer auf dich! Zehn Minuten. Wenn du dann nicht kommst, dann gehe ich!"
Sie ließ ihn allein. Er zog sich aus, schlüpfte in BH und Miederhöschen, streifte die Feinstrumpfhose über seine Beine. Dann füllte er die Cups seines BHs mit den künstlichen Brüsten, so wie er es den ganzen Winter über getan hatte. T-Shirt und Petticoat folgten, dann ein dünner Pullover, sein gepunkteter Rock, der breite Elastikgürtel, seine high heels.
Es fühlte sich gut an. Aber es war falsch.

Eva saß im winzigen Wohnzimmer und blickte auf die Uhr. Die Minuten verstrichen, aber Barbara kam nicht. Als zehn Minuten vergangen waren, stand sie auf und ging hinaus ins Flur. Sie legte ihre Hand auf die Türklinke und drückte diese runter. So blieb sie stehen und wartete weitere zwei Minuten.
Es war so still. Auch aus dem Schlafzimmer kam kein Laut mehr. Sie ging zur Tür, klopfte leise an. "Barbara?"
Sie antwortete nicht. Was sollte sie machen? Vorsichtig öffnete sie. Barbara saß auf dem Bett, zusammengesunken, verstört. Sie hatte ein Makeup-Set neben sich liegen. Ihre Hände zitterten.

"Ich... ich kann nicht..." Tränen liefen ihre Wangen hinab.

"Schhhh! Schon gut, Kleines! Wart mal, ich helfe dir. Hast du irgendwo ein Papiertaschentuch? Ah, ich seh schon!"

Er ließ sich fallen. Fallen in ihre Obhut. Es war schön. Aber es war falsch.

Geschickt machte sie ihr das Gesicht, half ihr mit der Perücke, die sie in einer Schublade fand. Dann zog sie sie hoch und schmiegte sich an sie. "Hallo Barbara", flüsterte sie. "Ich habe dich vermisst... du... du hast mir gefehlt! Ich dachte schon, du lebst nicht mehr."

Statt einer Antwort spürte sie nur, wie Barbara heftig und unkontrolliert aufatmete. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Brust. "Sie war tot."

"War sie? Du meinst, ich habe eine Tote zum Leben erweckt?" Eva lachte leise. "Es geschehen also doch noch Zeichen und Wunder!" Ihre Hand fühlte Barbaras weiche Brüste. Sie griff in ihren Schritt und fühlte eine Beule, die dort nicht sein sollte.
Ihre Stimme wurde ernst. "Du hast sie sterben lassen? Du weißt, dass das bestraft werden muss!?"

Barbara nickte. Klaus war weg.

"Hast du deinen Keuschheitsgürtel noch? Und den BH?"

Sie zeigte ihr, wo sie die Sachen aufbewahrte.

"Zieh sie an! Beides! Pass aber mit deinem makeup auf! Und wart mal, die hier nehme ich besser gleich an mich!" Sie zog die Schlüssel von den kleinen Schlösschen, dann ging sie wieder zurück ins Wohnzimmer.

Wieder saß sie im Sofa und wartete. Diesmal würde sie bis zum Ende warten. Entweder bis zum Ende ihrer Beziehung, oder bis Barbara käme. Sie sah auf ihre Uhr. Die Minuten vergingen. Wie lange würde Barbara brauchen? Sie würde sich wieder ausziehen müssen, um in ihre Keuschheitsdinger zu schlüpfen. Eva sah auf die kleinen Schlüssel in ihrer Hand. Es war das erste Mal, dass sie sie hatte. Im Grunde genommen wusste sie nicht einmal, was sie mit ihnen anfangen sollte, denn sie war nicht an Klaus interessiert.
Sie sah sich um. Es gab einige halb vertrocknete Blumen auf der kleinen Fensterbank, sie hob einen der Blumentöpfe hoch und legte die Schlüssel darunter. Dann setzte sie sich wieder ins Sofa.
Sie erschrak, als sie plötzlich jemanden hinter sich spürte. Klaus, oder Barbara?

Barbara lächelte sie unsicher an. "Besser?", fragte sie.

Eva stand auf, legte ihre Hände auf Barbaras Brüste. Sie spürte den harten Stahl unter ihren Fingern. Sie griff ungeniert in den Schritt, jetzt war es so, wie es sein sollte. Sie küsste Barbara leidenschaftlich. "Danke. Du bist meine beste Freundin, Barbara. Es war einsam ohne dich in den letzten Wochen!"

Barbara ließ es zu, denn es war schön. Egal, ob richtig oder nicht.

"Sag mal, wollen wir deine Wiederbelebung nicht feiern? Hast du was im Kühlschrank?" Ohne eine Antwort abzuwarten sah sie selber nach; gähnende Leere war alles, was sie fand, von einem Glas Oliven abgesehen. "Hm? Nicht gerade viel. Komm, wir gehen aus! Was brauchst du? Jacke, Tasche? Alles hier, wie ich sehe."

Eva war ihr voraus an die Garderobe gegangen. Barbara zögerte. "Du willst ausgehen? Mit mir? So?" Eine lächerliche Frage. Er hatte mehrere Monate als Frau verbracht, hatte sich daran gewöhnt, in Frauensachen auf die Straße zu gehen. Auch an das Einkaufen. Jetzt aber war er unsicher. Seine Hand glitt in seinen Schritt, federnd sträubten sich seine Petticoats gegen die Berührung. Er drückte fester. Da war nichts.
Sie atmete tief durch. Eva half ihr in die Jacke. Dann verließen beide die Wohnung.


Eva hatte sich bei ihr untergehakt. Sie war etwas kleiner als Barbara, die obenderein auch noch hohe Absätze trug. Zusammen gaben sie ein durchaus nett anzusehendes Paar ab, allerdings ein Paar, welches an seiner sexuellen Orientierung keinen Zweifel ließ. Barbara atmete erleichtert auf, dass wenigstens die Zeiten vorbei waren, in denen lesbische Paare noch einer Art Hexenverfolgung unterlagen. Lange war das noch nicht her; er wusste, dass selbst seine Großmutter kein gutes Haar an Menschen ließ, die anders als normal waren, also heterosexuell. Seltsamerweise war Sex nie ein Thema gewesen, über das man hätte diskutieren können, alles wurde immer nur totgeschwiegen, so als könne man unbequeme Wahrheiten durch Schweigen allein aus dem gesellschaftlichen Leben verbannen. So, wie sie jetzt neben Eva durch die Stadt schlenderte, dürfte ihre Oma sie nie sehen! Hatte denn die alte Dame überhaupt eine Vorstellung davon, was es sonst noch alles so gab? Wohl eher nicht. Woher sollte sie diese auch haben? Wer sein Leben lang immer nur in ´Heiligen Schriften´ liest, der würde nie einen offenen Zugang zu all jenen Dingen bekommen, die dort höchstens unter dem Begriff Teufelswerk zusammengefasst waren.

"Wo gehen wir hin, Eva?", fragte sie das Mädchen neben sich, während ein warmer Windhauch unter ihren Petticoat griff. Verschämt drückte sie ihre hochfliegenden Röcke an sich.

"Nun ja, viel gibt das schmale Budget einer Studentin nicht her. Wie wäre es mit McDoof?"

Sie studierte? "Nennst du das feiern?"

"Hast du einen besseren Vorschlag?"

Nein, Barbara hatte keinen besseren Vorschlag. McDonald´s war nie so ganz verkehrt. Man brauchte nicht lange auf sein Essen zu warten, wusste, was man bekam, wurde schnell satt und seltsamerweise meist genauso schnell wieder hungrig.
Eva ging ihr voraus durch die große Drehtür. Sie stellten sich an einer kurzen Schlange an, überlegten beide, was sie nehmen sollten, als Barbara plötzlich ein Gespräch hinter sich aufschnappte, das sie äußerst nervös machte.
"....kann man ja sagen was man will, aber meiner Meinung nach sind die Pommes bei BurgerKing besser! Was meinst du dazu, Andrea? Du musst das doch wissen... ach nee, ihr Italos kennt euch ja nur mit Spaghetti aus!" Es folgte ein dummes Lachen, so als freue sich der Sprecher, einen ungemein guten Witz gemacht zu haben, dann antwortete die angesprochene Italienerin, allerdings mit einer Stimme, die Barbara sofort herumfahren ließ. Andrea!! Sie erinnerte sich sofort an diesen Typ! Der Abend in der Kirche, als sie... nein, als er mit ihr.... nein, als er mit ihm dasselbe gemacht hatte, was er Monate zuvor mit Daniela gemacht hatte.
Barbara tat genau das, was sie besser hätte bleiben lassen: sie starrte den Italiener mit dem für deutsche Ohren weiblichen Vornamen an, als wäre sie gerade dem Leibhaftigen persönlich begegnet. Aber im selben Augenblick riss Eva sie herum, zärtlich, aber bestimmt, und gab ihr einen tiefen Zungenkuss.
Barbara hörte nur ein lautes ´Santo cielo! Che bello!´ hinter sich, dann war ihre Konzentration abgelenkt, denn sie musste dringend Luft holen; außerdem war es Zeit, ihre Bestellung aufzugeben. Als sie sich schließlich wieder umdrehte, waren die jungen Leute verschwunden, mit ihnen Andrea. Hatte er etwas gemerkt? Barbara erhaschte einen Blick in einen Spiegel; Eva hatte sie besser zurechtgemacht, als es ihr je selber gelungen war. Man hätte schon recht heftig am Makeup kratzen müssen um zu sehen, dass sie keine richtige Frau war. Und dazu kam noch, dass es an jenem Abend in der Kirche dunkel gewesen war, und der Italiener sich aus anatomischen Gründen nie seinem - ihrem - Gesicht genähert hatte.

Barbara und Eva fanden einen freien Tisch in einer Ecke. Das Paar hatte schon genug neugierige Blicke auf sich gezogen, vielleicht nicht so sehr Eva, wohl aber Barbara mit ihrem raschelnden Petticoat. In einer Stadt wie München gab es zwar nichts, was es nicht gab, aber die Petticoatmode vermochte auch ein halbes Jahrhundert nach ihrer größten Blütezeit immer noch vielen den Kopf zu verdrehen. Irritiert stellte Barbara fest, dass sie mehr Blicke junger Männer auf sich zog, als mehrere junge Mädchen in knappen Miniröcken, die gerade durch die Drehtür hereingekommen waren.

"Und, wie fühlst du dich?", fragte Eva zwischen zwei Bissen.

"Gut."

Eva grinste sie an. "Da bin ich wohl gerade noch rechtzeitig in dein Leben zurückgekehrt, Barbara! Sag mal, wer hat sich eigentlich diesen blöden Namen für dich ausgedacht?"

Barbara reagierte sauer. "Was heißt hier: blöder Name? Deiner ist ja wohl auch nicht viel besser!" Vergeblich bemühte sie sich, eine Tomatenscheibe nicht aus ihrem Burger fallen zu lassen.

"Wieso? Eva ist doch ein schöner Name! Sogar Wall-E hat sich in eine Eva verliebt!"

"Ich meine deinen Nachnamen! Callypso, oder so ähnlich. Auf jeden Fall echt scheiße!"

"Kallipke! Findest du nicht, dass du ein wenig frech wirst? Aber da habe ich etwas für dich! Solch eine Unverschämtheit kann ich schließlich nicht einfach durchgehen lassen!" Eva begann in ihrer geräumigen Tasche zu kramen. Mit lautem Scheppern warf sie etwas auf den Tisch, das Barbara sofort erkannte. "Hier, zieh das mal an! Und keine Widerrede, sonst kannst du mich gleich wieder vergessen!"

Barbara blickte entsetzt auf die blank polierten Schenkelbänder, die Eva vor ihr auf den Tisch geworfen hatte. Beide waren bereits mit einer sehr kurzen Kette miteinander verbunden. Schnell blickte sie sich um; noch hatte keiner zu ihnen hinübergesehen. Eiligst nahm sie die Dinger mit ihren langen Ketten und legte sie sich unter der Tischplatte auf den Schoß.
"Wo hast du denn die her?"

"Ich hab sie eingesteckt, als wir bei dir zu Hause waren. Du hattest zum Anziehen ja nur den Keuschheitsgürtel und deinen Keuschheits-BH mit ins Schlafzimmer genommen!" Eva gab sich keine Mühe, ihre Stimme zu senken. Zwei Mädchen, die am Fenster saßen, begannen leise zu kichern. "Also los, mach schon, zieh dir die Dinger an! Ich hab ja nicht den ganzen Tag Zeit!"

"Wie jetzt", stammelte Barbara, die vor lauter Scham einen hochroten Kopf hatte, "hier?"

"Das ist mir egal. Du kannst dir die Dinger hier anlegen, oder du kannst es auf der Toilette machen, falls du lieber damit durch den ganzen Laden gehen möchtest." Sie zuckte die Schultern. "Ist mir, ehrlich gesagt, total egal. Aber mach hin!"

Barbara musste schlucken. Irgendwie war es doch gerade so schön gewesen, und jetzt kam es schon wieder ganz anders! Sie stand auf, schlüpfte in ihre Jacke und stopfte die beiden Metallreifen mit den klirrenden Ketten unter den weichen Stoff. Hier am Tisch würde sie so etwas nicht machen!
Genervt drückte sie sich an den beiden Mädchen vorbei, die ihr neugierig hinterherschauten. Bloß nicht reagieren!, dachte sie.
Sie suchte die Toilette auf, die glücklicherweise gerade frei war. War sie sauber? Ja. Eines musste man diesen McDonald´s Leuten ja lassen, Dreck hatte bei ihnen keine Chance!
Eiligst setzte sie sich auf den Deckel der Toilette, schlüpfte aus ihren high heels und steckte ihre Füße durch beide Stahlreifen, die ja mit einer sehr kurzen Kette miteinander verbunden waren. Die Reifen selber waren, genauso wie ihr BH und der Keuschheitsgürtel, mit einer schwarzen Gummikante unterfüttert. Es war schon einige Monate her, dass sie das zweifelhafte Vergnügen der Schenkelbänder gehabt hatte, sie erinnerte sich zu gut daran, welche Restriktionen ihr die verdammten Dinger auferlegt hatten. So kam es, dass sie nun doch einige lange Minuten zögerte, bis sie die langen Ketten an den seitlichen D-Ringen des Keuschheitsgürtels befestigte. Erst wiederholtes Klopfen an die Tür brachte sie dazu, die kleinen Schlösser einzusetzen und zuzudrücken. Mit einiger Mühe schlüpfte sie wieder in ihre Schuhe und ordnete ihre Röcke, bevor sie die Tür öffnete.
"Wurde aber auch Zeit! Ging das nicht schneller?" Eines der beiden Mädchen vom Fensterplatz stand vor ihr und sah sie herausfordernd an. "Ich wollte schon fragen, ob ich ablecken kommen soll?" Dann, schneller als Barbara reagieren konnte, griff diese ihr unter den Rock. "So ein hübscher Rock! Siehst ja echt totschick aus, Süße! Hat die Oma dir was aus ihrem Kleiderschrank geliehen??" Sie lachte laut auf und drängte sich dann an ihr vorbei durch die Tür. "Nun mach schon Platz, sonst piss ich hier gleich noch alles voll!"

Barbara vermied es, ihr in die Augen zu blicken. Irgendwie spürte sie, dass von dieser Frau etwas höchst Negatives ausging. Mit sehr vorsichtigen Schritten ging sie zurück an ihren Platz und sah, dass von Eva nichts mehr zu sehen war.
Sie ist bestimmt nur zum Rauchen nach draußem gegangen! Beruhige dich! Barbara setzte sich noch einmal hin, stellte fest, dass all ihre Sachen noch da waren, dann aber merkte sie, dass Eva ihre eigenen Sachen schon mitgenommen hatte. Auf dem Tisch lag eine Serviette, auf der etwas geschrieben stand.
Barbara! Ich bin mal kurz weg. Musste schnell mal was erledigen. Bin in spätestens einer Stunde bei dir zu Hause. Die Schlüssel liegen auch alle bei dir! bis dann! E.

Sie zwang sich zur Ruhe. Eine Stunde? Nun gut, kein Grund zur Panik. Mach einfach alles, wie sonst auch immer. Bring dein Tablett weg. Zieh deine Jacke an und vergiss die Handtasche nicht! Niemand beobachtet dich!

Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass kein Gedanke schlimmer war als derjenige, dass sie von niemandem beobachtet wurde. Wenn sie nur etwas schneller gehen könnte! Warum hatte sie sich denn bloß diese verdammten Schenkelbänder angelegt? Sie bemühte sich, nicht ständig zurückzublicken. Dann aber fiel ihr auf, dass die Schrittkette zwischen ihren Beinen laut schepperte. Oder kam es nur ihr so laut vor?
Folgte ihr jemand? Sie blieb stehen und sah sich verstohlen um indem sie so tat, als suche sie etwas in ihrer Handtasche. Nein, da war niemand. Aber dass sie niemanden sah bedeutete ja eigentlich nicht, dass da wirklich niemand war.
Barbara stolperte weiter, jetzt doch einen kleinen Schritt schneller als vorhin. Als sie an der Peter und Paul-Kirche vorbeikam wählte sie den kleinen Pfad, der hinter der Kirche lang ging. Sie wusste nicht, warum sie es tat. Eine Abkürzung war das ja eigentlich nicht.
Schritte! Sie hörte deutlich Schritte hinter sich! Doch jedes Mal, wenn sie stehen blieb, verstummten auch die Schritte. Was war das?

Klaus fühlte sich mehr als unwohl. Was sollte das hier alles? Wieso war er in diese Rolle zurückgefallen, und was hatte er sich denn bloß dabei gedacht, sich einer wildfremden Person so auszuliefern? Wohl nicht ganz bei Trost, oder?
Er ging langsam weiter und stellte fest, dass die Schritte, die er gehört hatte, nur seine eigenen waren, deren hartes Geklackere von der Kirchenmauer reflektiert wurde. Er blieb stehen und verschnaufte einen Moment. Höchstens noch eine Viertelstunde, dann wäre er wieder bei sich zu Hause!

Er erinnerte sich, dass es im Winter Wochen gedauert hatte, bevor er seine neue Rolle wirklich angenommen hatte. Ständig hatte er Kontrollblicke in alle Himmelsrichtungen ausgesandt, ständig Angst gehabt, andere Leute könnten seine wahre Identität, sein wahres Geschlecht enthüllen. Erst nach und nach war es ihm gelungen, selber die ihm aufgezwungene Rolle anzunehmen, sich als Barbara zu fühlen. Egal, was die Leute über ihn - über sie - dachten. Jetzt aber waren seit Ostern schon wieder einige Wochen ins Land gegangen, seine Barbara-Identifikation hatte ihn wieder verlassen. Jetzt fühlte er sich nur wieder wie ein verkleideter Mann; ein Mann, der Angst hatte, jemand könne mit dem Finger auf ihn zeigen.

Noch ein letztes Mal sah er sich um, bevor er das kleine Törchen zum Vorgarten öffnete und in den schmalen Weg zum Seiteneingang einbog. Er fand seine Schlüssel, schloss auf und beeilte sich, die Treppe zu seiner Dachwohnung hochzukommen. Oben kickte er die blöden Schuhe von sich, ließ Jacke und Handtasche achtlos auf den Boden fallen und ging sofort ins Wohnzimmer um nachzusehen, wo Eva die Schlüssel zu seinem Keuschheitsgeschirr hingelegt hatte.
Nein, da war nichts. Vielleicht doch im Schlafzimmer? Er sah im Bett nach - Fehlanzeige. Nichts lag im Schrank oder auf dem ´Nachttisch´ - eigentlich nur ein umgedrehter, stabiler Pappkarton.
In der ´Küche´ war auch nichts. Sollte er wirklich den ganzen Zuckertopf ausschütten? Ach, Quatsch, das war hier doch kein Spionageroman!

Irgendwo hörte er sein Handy läuten. Er fand es in seiner Handtasche, die noch im winzigen Flur auf dem Boden lag. "Oma?? -- Nein, es wird wohl etwas später werden -- ja doch, ich bemühe mich zu kommen, so schnell es geht -- tschüss!"
Klaus sah auf die Uhr. Es ging schon auf 16 Uhr zu. Es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis Eva endlich kam. Was sollte das denn bloß? So mir nichts dir nichts zu verschwinden? Bestimmt gab es gar keine wichtigen Dinge, die sie erledigen musste. Vielleicht hatte sie ihn nur testen wollen?
Müde setzte er sich in einen Sessel und wartete. Sollte er sich vielleicht schon einmal ausziehen? Aber was hätte er anziehen sollen? Solange er diese Dinger am Leib trug gab es nichts, das er hätte anziehen können.

Wann kam sie denn endlich?? Es war schon Viertel nach fünf, soeben hatte seine Großmutter ein zweites Mal angerufen. Langsam brach ihm der Schweiß aus. Und wenn sie ... wenn sie gar nicht mehr kam?? Ein eiskalter Gedanke griff nach ihm, wollte ihn einfach nicht mehr loslassen. Nein nein nein!! Was nicht sein darf kann auch nicht sein!! Seine Hand verkrampfte sich im Stoff seines gepunkteten Petticoatrockes. So Nein, unmöglich! Langsam begriff Klaus, dass er ein Riesenproblem hatte. Wenn nicht bald etwas geschah, dann hatte soeben sein letztes Stündlein geschlagen!

Es war halb sechs, als er die Haustür zuschlagen hörte. Endlich!! Dem Himmel sei Dank!! Wahrscheinlich hatte sie es wieder mit ihrer Kreditkarte gemacht, oder was sie da benutzt hatte. Dann klopfte sie an die Wohnungstür.
Als Klaus öffnete gefror ihm das Blut zu Eis. Und er kapierte schlagartig, dass sich seine Probleme gerade um eine Zehnerpotenz verschlimmert hatten!

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"Ach, so bald schon?" Pia, Monikas Mutter, war sichtlich überrascht. Agnes, ihre Nachbarin und gute Freundin seit vielen Jahren, hatte sie angerufen.

"Was heißt hier: so bald? Alles geht geht einmal vorüber..."

"...alles geht einmal vorbei...", kompletierte sie den angefangenen Liedtext. "Und, weißt du schon Genaueres?"

"Nein, so genau wusste sie es selber ja nicht. Aber wahrscheinlich im Juli, spätestens im August. Auf jeden Fall bevor das nächste Semester anfängt."

"Na, auf jeden Fall schön für Dich! Endlich wieder etwas Leben in der Bude! Und Monika wird sich bestimmt auch freuen! Die ist in letzter Zeit sowieso so komisch, mit gebremstem Schaum sozusagen. Seit das da an Ostern passiert ist." Es fiel ihr schwer, dieses das da beim Namen zu nennen.

"Kann man ja auch gut verstehen. Oder etwa nicht? Ich hatte sie Ostern ja im Krankenhaus besucht und ein langes Gespräch mit ihr. ... Das arme Kind!" Man konnte hören, dass Agnes dies alles immer noch nahe ging.

Mein armes Kind!, dachte Pia. "Ja, du hast recht. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung was in diesen Pastor gefahren ist. Mein Kind so zu misshandeln." Ungewollt hatte sie jetzt doch das Wort mein stärker betont als misshandeln. "Aber sie hat es ja überlebt, Gottseidank."

Agnes teilte ihr noch mit, dass es im Sommer dann Schwierigkeiten geben würde, aber sie hatte der Freundin versichert, das sei alles kein Problem, sie würde gern helfen, Platz hätte sie schließlich genug.

Pia legte auf und dachte über das Gespräch nach. Das waren ja vollkommen unerwartete Neuigkeiten. Obwohl, und da hatte Agnes nicht ganz unrecht, man hätte es sich leicht an zehn Fingern abzählen können, auch wenn dann immer noch zwei Finger fehlten. Jetzt, im Mai, waren bereits die ersten zehn Monate vergangen. Wie schnell doch wieder einmal die Zeit verflogen war.
Es war vollkommen klar, dass sie Agnes versprochen hatte, auszuhelfen. Schließlich konnte sie die Freundin und ihre nette Nichte nicht im Stich lassen.
Sie ging in die Küche, schaltete den Wasserkocher ein und angelte die Büchse mit dem Schnellkaffee aus dem Schrank. Als das Wasser kochte goss sie sich eine Tasse auf und setzte sich an den Küchentisch. Sollte sie Monika davon erzählen? Sie wankte hin und her. Einerseits schien das Mädchen im Moment genug mit sich selbst zu schaffen zu haben, andererseits war da diese kalte Lustlosigkeit bei ihrer Tochter zu spüren, kaschiert hinter übereifrigem Lerneifer, was für sie vollkommen ungewöhnlich war. Vielleicht würde diese Nachricht sie etwas aufmuntern? Vielleicht aber auch nicht? Im Grunde genommen war es ja gut, dass sie sich mit vollem Elan wieder auf ihr Studium gestürzt hatte, besser als wenn sie sich masturbierend auf ihr Zimmer zurückgezogen hätte.

Es war ihr gar nicht recht, dass sie im Moment die Kontrolle über das Mädchen verloren hatte. Nicht, dass sie diese im Laufe der Jahre immer und jederzeit ausgeübt hätte, aber allein die Gewissheit, dass sie als Mutter das geeignete Kontrollmittel besaß und jederzeit an ihr anwenden konnte, hatte sie bisher von dümmlichen Sexeskapaden abhalten können. Pia wusste, dass Männer gefährlich waren, und sie hatte nie eine Gelegenheit ausgelassen, dieses Wissen ihrer Tochter begreiflich zu machen.
Aber da gab es noch etwas anderes, was ihr Sorgen bereitete. Es war ihr erst Wochen später aufgegangen, was überhaupt geschehen war, denn das einzig ungewöhnliche war, dass Monika sie Anfangs des Monats gebeten hatte, den Weihnachtsgruß mit dem surfenden Weihnachtsmann und seinem Koala an den eigenen PC weiterzusenden. Wieso interessierte sie sich Monate später für diesen elektronischen Weihnachtsgruß? Sie hatte Monika ihre Bitte sofort erfüllt, denn alles, was irgendwie lustig war, schien das beste Heilmittel für sie zu sein. Jetzt aber grübelte sie darüber nach, ob nicht vielleicht doch etwas ganz anderes dahinter steckte.

Sie hörte das Geräusch, als die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Wenig später kam Monika zu ihr in die Küche.

"Hallo Mama! Mei, ist das warm heute! Sieht ganz so aus, als käme jetzt der Sommer!"

"Zeit für Sommerkleider, meinst du? Dass du immer noch in der Jeans rumläufst!?"

"Ach Mama! Aber vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich morgen einen Rock in die Uni anziehen. Ist doch auch viel freier so! Übrigens komme ich morgen später, wir haben noch eine Arbeitsgruppe."

"Eine Arbeitsgruppe?" Was sie da wohl zu arbeiten hatten? "Vielleicht solltest du doch besser bei der Jeans bleiben! Du hast ja auch gar keine passenden Schuhe zum Rock."

"Ja was denn nun??" Monika spürte instinktiv, dass mehr hinter der Bemerkung ihrer Mutter lag. "Du meinst wohl, mit einer Jeans sei ich besser beschützt? Ach Mama! Eine Jeans ist doch genauso schnell ausgezogen wie..."

"Einen Rock braucht man gar nicht auszuziehen!", unterbrach die Mutter ihre Tochter.

"Ich hab doch nichts mit Kerlen, Mama!" empörte Monika sich. "Das weißt du doch!"

"Ich, ja. Aber die Kerle wissen das doch nicht. Mir wäre es allemal lieber, dein neuer Gürtel käme bald. Und dass ich dann den Schlüssel bekomme!"

Monika zog die Nase hoch und verzog ihren Mund zu einer ärgerlichen Grimasse. Würde ihre Mutter denn nie damit aufhören? Hatte sie denn überhaupt kein Vertrauen in sie? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! Das war - ganz im Sinne Lenins - immer der Leitfaden ihrer Mutter gewesen. Aber ob es wohl stimmte, dass Väterchen Stalin noch eines obendrauf gesetzt hatte, indem er Totschießen ist am besten! hinzugefügt hatte? Es schauderte sie bei dem Gedanken, irgendwo gewaltsam zu Tode zu kommen, nur weil die Mutter... Nein. Sie schüttelte den Gedanken sofort wieder von sich. Ihre Mutter würde sie beschützen wollen, nicht sie umbringen. Die Frage war nur, wie weit ihre Mutter gehen würde.
"Aber Mama! Darüber haben wir doch schon gesprochen. Natürlich bekommst du den Schlüssel. Ist ja auch blöde, dass mein neuer Keuschheitsgürtel noch nicht da ist." Sie lachte und setzte seufzend hinzu: "Es kann sich nur noch um Monate handeln!"

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Er bemühte sich, keine Übelkeit hochkommen zu lassen. Klaus war auf dem Weg zu seiner Oma, die in der Zwischenzeit ein weiteres Mal bei ihm angerufen hatte. Es war spät genug geworden.

Obwohl alles schnell gegangen war. Er hatte keine Wahl gehabt. Und er wusste, dass er ab jetzt auch keine Wahl mehr haben würde. Immer noch hörte er das spöttische va bene, va bene, und dann, als er bereits auf halber Treppe war, noch diesen dämlichen Spruch: Quod licet Jovi, non licet bovi! Was Jupiter gefällt, gefällt dem Vieh nicht! Und es war klar, dass er das Vieh war.

Unklar war, wie es nun weitergehen würde. Klaus versuchte sich auszumalen, was schlimmstenfalls geschehen könnte, aber seine Fantasie hatte massive Aussetzer. Die Fäden waren ihm aus der Hand geglitten, und ab jetzt musste er das auf sich zukommen lassen, was er monatelang unter Aufbietung aller Kräfte hatte vermeiden können.
War der Weg immer so weit gewesen? Seine Beine wurden schon auf halber Strecke müde, mühsam stolperte er weiter. Klaus dachte im Moment nur an seine Oma, die dringend seiner Hilfe bedurfte. Wahrscheinlich war das der ganze Schwachpunkt seiner persönlichen Betreuung, dass er nie für ein back-up gesorgt hatte, jemand der mal einspringen konnte, wenn er selber unpässlich oder verhindert wäre.

Sein Puls war bei 180, als er endlich in die Straße einbog, in der seine Großmutter wohnte. Hier war alles, wie es immer gewesen war. Gleich würde alles anders sein.



Die alte Frau Meisner war verzweifelt. Sie musste mehr als dringend zur Toilette, aber immer noch kam sie nicht ohne Hilfe aus ihrem Bett. Wo blieb denn bloß der Junge? Was war denn nur in ihn gefahren, sie heute so zu vernachlässigen? War das nun der Dank dafür, dass sie sich lange Jahre um ihn gekümmert hatte?
Endlich hörte sie, wie er den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür öffnete. Ungewöhnlich harte Schritte waren aus der Diele zu hören. Hatte er jemanden mitgebracht? Dann vernahm sie das Knarren der hölzernen Treppenstufen, als er sich zu ihr ins obere Stockwerk begab.

Sie hörte leises Klirren, wie von einer Kette, dann einen unterdrückten Fluch. Ein Schatten legte sich auf den Gang vor ihrer offenen Zimmertür, dann kam jemand ins Zimmer, den sie sofort als das Mädchen wiedererkannte, das sie mehrmals mit Klaus´ Roller gesehen hatte. Dennoch ergriff sie eine unbestimmte Furcht, es könnte etwas mit dem Jungen passiert sein.
Sie richtete sich in ihrem Bett auf. "Wer ... wer sind Sie?" brachte sie mühsam hervor.

"Ich bin Barbara!"

"Bar...!!" Ja, mit dem Jungen war etwas passiert. Sie sank zurück in das Bett, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre Hand krampfte um ihr Herz, dann fiel sie reglos baumelnd über die rechte Bettseite.

27. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 02.12.12 23:07

Hi Daniela,

erst einmal meinen herzlichen Dank für diese wieder einmal hervorragende Fortsetzung, und Dir an dieser Stelle auch einen schönen ersten Advent!

Bei mir ist der erste Schnee schon früher gefallen, der allererste sogar schon einige Zeit her, aber der, der zur Zeit noch liegt, schon vor einigen Tagen. Aber schön zu hören, daß es bei Dir zeitgleich zum ersten Advent so war, was sehr passend ist.

Ich hoffe sehr, daß die alte Frau Meisner nun nicht durch den Schock, auf Barbara zu treffen, einen Herzanfall bekam und dadurch starb, sondern allenfalls eine gnädige Ohnmacht erlebt, nachdem diese Wahrheit über Klaus nun absolut sichtbar geworden ist. Aber vielleicht kann er sich noch rauswinden, daß Barbara nur von Klaus geschickt wurde, nachdem sie fast österlich wiederauferstanden ist... Auch wird spannend werden, wann Monika´s neuer KG kommen wird, und welche Features er haben wird. Genauso, wie sich wohl die Sache mit Klaus oder Barbara mit Eva weiterentwickelt, und ob Klaus wirklich Barbara als neue Identität wiederentdeckt mit Hilfe von Eva, oder Klaus Eva dafür bestrafen wird.

Eine kleine Kritik habe ich dennoch: Quod licet Jovi, non licet bovi. "licet" und das englische "like" (gefallen) mögen durchaus voneinander abstammen, was ich nicht genau weiß. Was ich aber weiß ist, daß "licet" von "licere" (= erlaubt bzw. möglich sein) abstammt, so daß die korrekte Bedeutung dieses Spruchs frei übersetzt ist: Was dem Jupiter erlaubt/möglich ist, ist dem Rindvieh noch lange nicht erlaubt/möglich. Dennoch hoffe ich, daß Du mir diese kleine Dummschwätzerei meinerseits nicht verübelst - denn dazu ist die Gesamtkonstruktion Deiner Geschichte einfach zu genial, und ich bewundere Dich dafür.

Keusche Grüße
Keuschling
28. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 03.12.12 22:17

Brrrrrrrrrrr... diesmal bekam ich ein Gruseln!
Trotzdem auch dafür ein Dank, aber es geht halt nicht immer alles in Frieden aus.
29. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von BaldJean am 04.12.12 13:22

@Keuschling: Daher auch das Wort "Lizenz", was nichs anderes als "Erlaubnis" bedeutet. Der James Bond Film "Lizenz zum Töten" zeigt das auch auf; Doppelnullagenten dürfen bekanntlich töten.
30. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 04.12.12 22:25

@BaldJean: Vielen Dank für Deinen Einwurf, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Und es freut mich immer wieder, etwas Neues lernen zu dürfen! Das macht dieses Forum hier echt speziell und sehr interessant!
31. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 09.12.12 22:51

Heute möchte ich meinen Lesern einen winterlichen Adventsgruß aus meinem Urlaubsort senden. Es ist schön, wieder einmal für einige Tage verreist zu sein, auch wenn es daheim gerade das schönste Winterwetter war, das man sich vorstellen konnte. Wo ich jetzt bin?? Ja, da bin ich bei meiner heutigen Fortsetzung wohl etwas unvorsichtig gewesen....

Auch am nächsten Wochenende kann es noch zu winterbedingten... äh, reisebedingten Verspätungen kommen!

Eure Daniela

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Oktober III.

Ingeborg Wimmer lehnte sich in ihrem Wagen zurück. Es würde etwas länger dauern, bis ihr Chef käme; er wohnte in einem Vorort und hatte eine ziemliche Strecke zu fahren. Auch wenn jetzt, so früh am Morgen, auf den Straßen nichts los war, würde es bestimmt eine knappe Stunde dauern.

Das arme Ding. Im Laufe ihrer Arbeit hatte sie immer gegen allzu große Anteilnahme ankämpfen müssen. Hinterbliebenen Trost spenden war nicht ihre Aufgabe, dafür waren andere zuständig. Ihre Aufgabe bestand darin, eine Tat restlos aufzuklären und den Schuldigen der Staatsanwaltschaft zu übergeben. Möglichst schnell, wie immer. Sie wusste, dass die Spuren eines Kriminalfalls fast genauso schnell verwischten, wie Spuren am Strand. Klar, neue Techniken hatten jetzt Dinge wie den DNA-Abgleich hervorgebracht, aber was nützte das schönste Profil, wenn man niemanden hatte, mit dessen Profil man es vergleichen konnte. In einer Großstadt wie München konnte man schließlich nicht die gesamte Bevölkerung bitten, eine Speichelprobe abzugeben.
Sie zündete eine neue Zigarette an und überlegte, wie man dies wohl in Zukunft handhaben wollte. Würde man gleich bei der Geburt eines Kindes jedem Säugling eine DNA-Probe abnehmen? Und diese dann in einem Register speichern? Eine Art biologischer Vorratsdatenspeicherung? Und was, wenn man dann noch einen Schritt weiterginge? Jedem Jugendlichen bei Erreichen des vierzehnten Lebensjahres so ein Ding unter die Haut schoss, wie man es bei wertvollen Haustieren schon machte? Jeder ließe sich so problemlos pr. GPS orten.
Ihr wurde heiß und kalt bei dieser Vorstellung. Verbrechen ließen sich so sicherlich nicht verhindern. Die komplette Kontrolle eines Menschen zerstörte doch das freie Individuum, ohne welches eine freie Gesellschaft gar nicht möglich war. Sie dachte an den Satz einer Berlinerin, den diejenige während des Zusammenbruchs 1945 in ihr Tagebuch geschrieben hatte und den sie irgendwo einmal aufgeschnappt hatte: >Jeder misstraut jetzt jedem. Es ist der Zusammenbruch der Zivilisation<.

Heftiges Klopfen an ihre Seitenscheibe riss sie aus ihren Gedanken. Wie sie sah war die zuständige Ärztin bereits eingetroffen. Sie öffnete ihre Wagentür und stieg aus.
"Hallo! Ja, tut mir ja leid, dass wir Sie schon so früh aus dem Bett holen mussten."

"Guten Morgen." Die beiden Frauen begrüßten sich. Scheinbar kannten sie sich bereits von früheren Einsätzen. "Ach, halb so wild. Die Nacht selber war ja ruhig gewesen. Vor zwei, drei Wochen war das noch schlimmer, da kommen immer die ganzen Schnapsleichen vom Oktoberfest zu uns rein. Was haben wir denn diesmal?"

Frau Wimmer ging ihr zur Brüstung der Brücke voraus. "Eine junge Frau. Wird wohl kaum älter als Zwanzig sein. Sie muss hier über die Brüstung gegangen und dabei zu Tode gekommen sein." Sie deutete nach unten, wo die Leiche noch immer lag.

"Na, dann schauen wir sie uns mal an. Wissen wir schon, wer sie ist?"

"Nein. Wir haben nur ihre Jacke gefunden, die unweit der Frau auf den Steinen lag. Keine Handtasche, kein Handy."

"Sie hatte ihre Jacke nicht an? Seltsam."

Ingeborg Wimmer beantwortete ihre Frage. Nicht, dass dies für die Ärztin von Belang gewesen wäre, aber es war klar, dass diese gern wissen wollte, was vorgefallen war. Vorsichtig hangelten die beiden Frauen sich zum Fundort der Leiche am Isarufer hinab.

"So, da wären wir. Ich weiß, Sie werden wie immer keine voreiligen Angaben machen wollen, aber wie immer interessiert mich im Moment erst einmal die Frage, wann in etwa ungefähr, und dies möglichst genau, die Frau gestorben ist, und ob sie evt. vorher vergewaltigt wurde. Lassen Sie sich ruhig Zeit; wir warten eh noch auf unseren Chef!"

Die Ärztin kniete neben der Leiche nieder, holte ein Thermometer aus ihrer Tasche und schlug den Dirndlrock der Verstorbenen hoch, um erste Untersuchungen anzustellen. Aber schon nach zwei Sekunden erstarrte sie in der Bewegung. "Frau Wimmer! Eins können wir wohl schon einmal ausschließen: vergewaltigt wurde sie auf jeden Fall nicht. Unter keinen Umständen!"

Die junge Kriminalkommissarin, die sich etwas abseits gestellt hatte, um nicht im Wege zu stehen, blickte verdutzt auf. "Wie bitte? Wie können Sie sich nach nur einem Blick da so sicher sein? Das habe ich ja noch nie erlebt."

"Kommen Sie," antwortete die Ärztin. "Kommen Sie und sehen Sie selbst. Das hier habe ich auf jeden Fall auch noch nie erlebt!"

Ingeborg Wimmer wunderte sich über die kryptische Anwort, ging aber zu ihr und blickte unter den hochgehobenen Rock. Was zum Teufel!?? Sie schaute die Ärztin an, sprachlos, denn es stimmte, so etwas hatte sie noch nicht gesehen. Dann wandte sie sich ab und zog die andere mit sich, denn beide standen fast schon mit den Schuhen im Wasser.
"Kommen Sie. Vielleicht warten wir doch besser, bis der Rick da ist. Kann ja nicht mehr allzu lange dauern. Möchte wetten, dass der so was auch noch nicht gesehen hat. In der Zwischenzeit nehmen Sie vielleicht Ihre Messungen vor, Luft- und Wassertemperatur. Über den Todeszeitpunkt können Sie sicherlich noch nichts sagen?"

"2 Uhr 18", antwortete die Ärztin und verblüffte die Beamtin damit bereits zum zweiten Mal an diesem Morgen. Sie bemerkte deren leichte Verlegenheit und beeilte sich hinzuzufügen: "Ihre Armbanduhr. Sie hatte auf ihrer Hand gelegen, sodass Sie die Uhr wohl noch nicht gesehen haben. Das Ziffernblatt ist eingeschlagen, sicherlich als sie mit ihrer Hand hier auf einen der Steine aufschlug. Ihre Hand muss sie sich dabei gebrochen haben. Fraglich ist allerdings..."

"Was? Was ist denn fraglich?"

"Fraglich ist, ob das auch wirklich der Todeszeitpunkt war. Ich kann im Augenblick nicht mit Sicherheit sagen, dass der Sturz für sie lethal war."

"Sie meinen...?" Ingeborg Wimmer sah geschockt hoch.

"Ja. Es wäre durchaus möglich, dass sie den Sturz selber überlebt hat."

"Man hätte sie retten können?"

Die Ärztin zuckte mit den Schultern. "Das kann ich vor der Obduktion nicht sagen. Ich nehme mal an, sie hat sich bei dem Sturz schwere innere Blutungen zugezogen, an denen sie dann gestorben ist. Wie lange sie wirklich tot ist, wird die Untersuchung zeigen. Sie wissen ja, Restkörpertemperatur, Nachttemperatur, Wassertemperatur der Isar, und so weiter und so fort. Aber ich denke mal, Sie können bereits jetzt davon ausgehen, dass das, was heute Nacht geschehen ist, um genau achtzehn Minuten nach Zwei geschehen ist."

Die Kommissarin atmete tief durch. Was mochte hier, mitten in der Nacht, geschehen sein? Irgendjemand hatte Schuld am Tode dieser jungen, vielleicht nicht sonderlich hübschen Frau. Dumm war es, dass man noch keine Handtasche gefunden hatte, obwohl sie den jüngeren Streifenbeamten gebeten hatte, einmal ein Stück weit das Ufer flussabwärts abzusuchen; man konnte ja nie wissen. Aber bis jetzt hatte er noch nichts gefunden.
"Kommen Sie. Gehen wir erst mal wieder nach oben. Wir können uns in den Streifenwagen setzen und etwas aufwärmen. Ist ja in dieser Jahreszeit jetzt doch nicht mehr so warm am Morgen. Und sicherlich hat mein Chef noch Fragen an Sie!




Juni I.

Endlich war es Sommer geworden! Die Kastanienblüte war fast schon wieder vorbei, aber dank einer vorübergehenden Kälteperiode Ende Mai hatten sich die Obstbäume etwas länger Zeit gelassen, so dass die Birnbäume im Garten seiner Oma noch in voller Blüte standen.
Klaus hatte inzwischen den nächsten Band der spannenden Millenium-Trilogie angefangen. Er saß draußen am Tisch und genehmigte sich einen kalten Saft. Nachdenklich betrachtete er die herrlichen Zweige über seinem Kopf. Ja, hier hatte er als Kind - was ja noch nicht soo lange her war - der Großmutter beim Pflücken geholfen.

Es war gut, dass die letzten Wochen vorübergegangen waren, ohne das Schlimmste anzurichten. Ungern nur dachte er an jenen Abend zuurück, als er - als Barbara - zu seiner Oma ins Zimmer getreten war und die alte Frau ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte.
Sie hatte immer etwas Theatralisches an sich gehabt. Wie sie da urplötzlich zusammengesunken war, da hatte er schon einen Moment geglaubt, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen, aber er hatte sofort ihren über die Bettkante leblos baumelnden Arm genommen und ihren Puls gefühlt.

"Alles in Ordnung, Oma?"

"Oh mein Gott!", stammelte diese nur. "Warum musst du mir das antun, Bub?"

"Bub? Was für ein Bub denn diesmal, Oma? Es hat sich ausgebubt, siehst du das denn nicht?" Trotz seiner misslichen Lage fand er seine Replik klasse, sie erinnerte ihn stark an etwas, das Heinz Erhardt im Film Drei Mann in einem Boot einmal gesagt hatte. "Nun komm, mach hier nicht einen auf tot-umfall und so. Ich hätte wahrlich mehr Grund dazu, als du. Also, ich mach uns jetzt einen Tee und helfe dir erst einmal auf die Toilette, dann können wir sehen, wie wir damit umgehen."

Schweigend hatte sie seine Hilfe akzeptiert. Ihre Hilfe?? So genau wusste er es selber nicht. Klaus oder Barbara, das war hier die Frage. Wo aber würde er eine Antwort finden können?
Sie hatte nicht viele Fragen an ihn gehabt. "Du musst das wieder ausziehen, Klaus! Du bist doch ein Mann! Das ... das geht doch nicht." Und wieder hatte sie sich ans Herz gegriffen.

"Nein Oma, das geht nicht." Im selben Moment, da er dies sagte, ging ihm auf, dass er damit etwas anderes meinte, als was sie gesagt hatte. Er konnte diese Sachen nicht ausziehen, denn er hatte die Schlüssel für KG und BH nicht finden können, ganz zu schweigen von diesen nervigen Schenkelbändern.

"Warum tust du es dann? Willst du mich umbringen?"

"Quatsch, Oma! Mit dir hat das nicht das Geringste zu tun." Er sah, dass sie ihren Blick von ihm abwandte. "Es ... es ist ein Spiel. Ja, ein Spiel, das ich mit jemandem spiele."

Die alte Frau Meisner schwieg. Immer noch bereitete ihr das Sprechen Mühe. Und sie wusste sehr wohl, dass ihr Neffe sich gehörig irrte, wenn er annahm, dass es nichts mit ihr zu tun hatte. Und siedenheiß fiel ihr ein, dass das, weswegen sie überhaupt in den Keller gegangen war, doch immer noch da unten liegen musste. Sie schloss die Augen und drehte sich schließlich auf die Seite zum Zeichen, dass sie jetzt nicht weiter darüber sprechen wollte. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Fuß bald wieder besser würde, damit sie das tun konnte, was sie tun musste.


Er hatte durchaus verstanden, dass seine Oma im Moment keinen besonderen Wert auf eine gepflegte Unterhaltung legte. Wichtig war, dass sie ihm nicht den Kopf abgerissen hatte, wiewohl er natürlich gut wusste, dass sie das in ihrer momentanen Verfassung gar nicht gekonnt hätte.
Er war noch bis in den späten Abend geblieben, hatte, so gut es ging, seine Großmutter versorgt, dann aber gedacht, es sei wohl besser, wieder in seine Wohnung zurückzukehren; vielleicht würde er die kleinen Schlüssel ja doch noch finden.

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Endlich war eine Nachricht des Herstellers gekommen! Monika riss förmlich den Brief auf, sobald sie ihn in der Küche gefunden hatte. Sie hatte jetzt wirklich lange genug auf ihren neuen Keuschheitsgürtel gewartet.
Enthaltsamkeit, hatte Agnes ihr gesagt. Sie hatte es redlich versucht, aber bei immer besser werdendem Sommerwetter fielen ihre Versuche immer kärglicher aus. Sex war immer ein wichtiger Motor für sie gewesen, auch wenn es kein Sex mit Männern war.
Sie las die wenigen Zeilen, schmiss dann aber enttäuscht den Brief zurück auf den Tisch.

"Mist!"

"Was ist denn los, Schatz?", fragte ihre Mutter, die gerade zur Tür hereingekommen war. "Schlechte Nachrichten?"

"Wie man es sieht. Die schreiben, dass es krankheitsbedingt zu Lieferungsproblemen gekommen ist. Wahrscheinlich werde ich noch einige Wochen auf meinen neuen Keuschheitsgürtel warten müssen. Ach scheiße!"

Pia war nicht schlecht erstaunt. Dass man bei diesen Firmen immer mal mit Schwierigkeiten rechnen musste, war hinreichend bekannt. Aber dass ihre Tochter förmlich danach lechzte, endlich wieder in einen Keuschheitsgürtel eingeschlossen zu werden, war nicht leicht zu verstehen. Im Laufe der Jahre hatte sie allerdings die Erfahrung gemacht, dass ihre Tochter in diesen Dingen sowieso ein wenig von der Norm abwich, um es vorsichtig auszudrücken.

"Ja, das ist wirklich dumm. Ich würde mich auch besser fühlen wenn ich dich bereits sicher verschlossen wüsste. Mir ist ja schon aufgefallen, dass deine Röcke immer kürzer werden."

"Mama, die Röcke werden immer kürzer, weil die Tage immer wärmer werden. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich bei fast 30° noch wie ihr damals im Maxi-Look herumlaufe? Im Herbst oder Winter ist das ja okay, aber jetzt doch nicht."

Pia lächelte ihre Tochter an. "Natürlich nicht. Ihr könnt ja froh sein, dass ihr heutzutage nicht mehr so sehr einem bestimmten Modediktat unterworfen seid, wie wir damals. Irgendwie war das doch blöd, die langen Dinger im Sommer, und im Winter haben wir uns doch einen abgefroren, nur weil man unbedingt Mini tragen musste." Sie legte eine kleine Pause ein. "Sag mal, hast du mal in letzter Zeit etwas von deiner kleinen Freundin gehört?"

"Meine kleine Freundin?" Monika überlegte einen Moment, ob eventuell Barbara gemeint sein könnte, dann aber wusste sie, dass sie sich wohl irrte.
"Meinst du Daniela?"

"Ja. Die müsste doch jetzt eigentlich mit ihrem Abitur durch sein. Vielleicht willst du sie mal wieder zu uns einladen?"

Monika horchte auf. Zu uns einladen? Mal wieder Bis jetzt war Dani doch immer bei ihrer Tante zu Besuch gewesen. Hatte ihre Mutter sich einfach nur vertan?
"Nee, das ist jetzt gerade mal nicht so günstig. Ich habe im Moment gar keine Zeit, mich um sie zu kümmern, und ich meine auch, sie hatte etwas von einer längeren Reise nach dem Abi erzählt, USA, oder so."

"Und dann?"

"Und dann was?"

"Nun ja, ich meine, sie wird doch wohl nicht in den Staaten bleiben wollen, oder? Also ich möchte nicht in dem Land leben ... die mit ihrer bescheuerten Doppelmoral!"

Monika verstand sehr wohl, was ihre Mutter meinte. Dennoch warf sie ihr einen fragenden Blick zu.

"Na ja. Stell dir mal vor, dort werden Eltern zu empfindlichen Geldbußen verknackt, wenn sie mit ihren Kindern irgendwo baden gehen und die kleinen Mädchen dann kein Bikinioberteil tragen. Also ich meine, kleine Kinder, keine Jugendlichen jetzt. Das ist doch krankhaft! Und woher kommt andererseits das ganze Pornozeugs? Dreimal darfst du raten!"

Monika verzichtete aufs Raten. Im Augenblick war sie doch eher sauer über den Brief und die neue Wartezeit. Stattdessen nahm sie den vorigen Gesprächsfaden wieder auf. "Ich glaube, sie will studieren. Soziologie, oder so was in der Richtung. Warum?"

"Ach, nur so. Will sie denn in Köln bleiben?"

"Keine Ahnung. Darüber haben wir noch nie gesprochen. Ich glaube, sie hat es selber noch nicht so richtig gewusst, als wir uns das letzte Mal gesehen haben."

"Na, vielleicht fragst du sie mal. Würde mich schon interessieren. War doch ein nettes Mädchen." Pia holte eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank. "Lust auf ein Glas? Komm, lass uns rausgehen in den Garten. Wir können uns hinten an den Tisch setzen!"

Monika folgte gern ihrer Mutter hinaus. Es war ja auch wirklich viel zu schön, um seine Zeit im Haus zu verbringen. Die beiden Frauen setzten sich an den Tisch, nachdem Pia ihn oberflächlich gesäubert und eine Tischdecke darauf ausgebreitet hatte.
Sie nickte ihrer Mutter zu, als diese ihr zuprostete. Lange hatte sie nicht mehr an Daniela gedacht. Und - dieser Tisch hier ...

Es tat fast ein wenig weh. Plötzlich wallte die Erinnerung in ihr hoch. Daniela die oben auf dem Tisch stand, in der Zwangsjacke, Gasmaske auf dem Kopf. Und die roten Buchstaben auf dem nackten Gesäß: 18.15 St. PP. Sie blickte über den Bretterzaun. Der blühende Birnbaum. Im Oktober hatte er gelbes Laub. Und in seinen Zweigen hatte sich jemand versteckt: ein Laub-bub! Fast hätte sie sich an diesem schönen Wortspiel verschluckt! Dann aber überzog ein zufriedenes Lächeln ihren Mund. Klaus! Was er wohl gerade machte? Seit Ostern hatte sie nichts mehr von ihm gesehen - leider auch nicht von Barbara. Ob sie sich mal wieder nach ihm erkundigen sollte? Sie hatte ja immer noch die Schlüssel zu seiner kleinen Dachwohnung.

Monika wusste nicht, dass Klaus keinen Steinwurf von ihr entfernt im Garten seiner Oma saß und auf Verbrecherjagd durch die Gassen Stockholms war, zusammen mit Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander.

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Endlich! Es war Freitagnachmittag. Daniela saß am Küchentisch und freute sich, dass sie alles gut überstanden hatte. Die mündlichen Abiturprüfungen waren weniger schlimm gewesen, als befürchtet, und die Noten sogar besser, als erhofft. Das ganze Lernen hatte sich also doch ausgezahlt. Jetzt konnte es also an das große Vergessen gehen!
Sie hatte diverse Modezeitschriften vor sich liegen und blätterte unschlüssig darin herum. Was sollte sie denn bloß zur morgigen Zeugnisübergabe und Abschlussfeier anziehen? Viel gab ihr Kleiderschrank nicht her, und da sie seit Monaten schon fast ihr gesamtes Taschengeld für ihre große USA-Reise zurückgelegt hatte, hatte sie auch keine Lust gehabt, extra nur für diesen Tag sich etwas Neues zu kaufen.
Und in einen Spiegel mochte sie schon gar nicht mehr schauen. Ihr Haar war immer noch fast streichholzkurz, nichts, in das man eine vernümftige Frisur hätte bringen können! Es war schlichtweg zum Verzweifeln.
Als sie nach Ostern wieder nach Hause gekommen war, blieben die schrägen Kommentare nicht lange aus. Einige Jungen und Mädchen in ihrer Klasse hatten sich offenkundig lustig über sie gemacht, einige wenige mitleidsvoll gefragt, was denn bloß mit ihr passiert sei, dass sie ihre langen Haare ab hätte und jetzt so schlimm aussehe. Sie hatte sich damit herausgeredet, es sei so eine Wohltätigkeitsaktion gewesen, bei der eine Haarpflegefirma 500 Euro an ein indisches Kinderheim spendete, für jede oder jeden, der sich die Haare schneiden ließe. Eine Erklärung, die ihr sowohl Anerkennung als auch Hohn und Spott einbrachte. ´Und was machen die indischen Kinderchen jetzt mit deinem Haar?´ war eher eine der harmlosen blöden Bemerkungen, denen sie sich ausgesetzt sah.
Aber auch diese Diskussion verstummte nach einigen Tagen. Sie hatte sich für alle anderen in Luft aufgelöst, nur halt für Daniela nicht, die jedesmal, wenn sie ihr Spiegelbild sah, sich am liebsten eine Mütze über den Kopf gezogen hätte.
Ganz langsam nur wuchs ihr Haar nach, viel zu langsam, wie sie fand. Aber dennoch hatte ihre Mutter sie vor einigen Tagen zum Frisör geschickt, damit der noch irgendetwas retten konnte, was doch längst verloren war. Gerettet hatte dieser, indem er noch etwas mehr abschnitt und ihr zu einer regelrechten Jungenfrisur riet, da diese doch gut zu ihrem Gesicht passen würde. Es zeigte sich, dass dieser Kölner Figaro sein Handwerk durchaus verstand, was aber nichts daran ändere, dass sie immer noch ein fremdes Jungengesicht anschaute, jedes Mal wenn sie in den Spiegel blickte.

Mist verdammter! Sie warf das Blatt, in dem sie mit zunehmendem Frust gelesen hatte, auf den Tisch. Lautes Poltern von der Treppe ließ darauf schließen, dass ihr Bruder im Anmarsch war.
Er trat ein, holte sich ein Eis aus dem Gefrierschrank und setzte sich dann an den Tisch gegenüber seiner Schwester. "Morgen", sagte er, nachdem er einen Blick auf das Modeheft geworfen hatte.

Daniela sah auf ihre neue Uhr. Ein Wunderwerk der Technik. Sie ging immer auf die Sekunde genau. Diese Uhr hatten ihr die Eltern zum Abitur geschenkt. Es war fast schon drei Uhr.
"Morgen?? Falls du es noch nicht gemerkt hast, es ist schon Nachmittag. Sind dir die Computerspiele ausgegangen, oder wieso treibt es dich aus deinem Zimmer, kleiner Bruder?"

Er schaute sie, halb belustigt, halb verärgert, an. "Ich brauchte dringend mal ein Eis, große Schwester." Und er genoss es, ihre Reaktion auf seine leicht obszönen Gesten zu sehen, die er mit seinem Eis ausführte.

"Lass doch diesen pubertären Quatsch!"

"Hast du so etwas eigentlich schon einmal...?"

Daniela verstand durchaus, was er meinte. Dummerweise konnte sie nicht verhindern, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Er schüttelte seinen Kopf. "Zzz zz ... Du steigst in meiner Achtung. Übrigens habe ich nicht etwas ´Guten Morgen!´ gesagt, sondern nur ´morgen´."

"Ja ja. Und morgen ist der Tag, auf den wir dreizehn Jahre lang hingearbeitet haben, das brauchst du mir nicht zu erzählen."

Ihr Bruder schüttelte noch einmal seinen Kopf, diesmal abwehrend. "Nein, das meinte ich gar nicht. Ich meinte nur, morgen kannst du dein Versprechen einlösen!"

"Mein Versprechen?? Was für ein Versprechen denn?" Sie sah ihn argwöhnisch von der Seite an. An ein Versprechen konnte sie sich nicht erinnern.

Er lächelte amusiert in sich hinein. "Weißt du es wirklich nicht mehr? Du hast es mir im April gegeben, als du nach München fuhrst."

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Leises Gläserklirren und der Geruch einer Zigarette hatten Klaus aus seinen Überlegungen gerissen. Bis jetzt hatte er die Stille des Gartens genossen, hatte in seinem spannenden Buch gelesen und sich durch den Kopf gehen lassen, was in jüngster Zeit geschehen war, jetzt aber vernahm er undeutliche Gesprächsfetzen: ".... netter Kerl ... zu weit gegangen ... vermisse sie schon ein wenig ... Barbara..." Spätestens als er diesen Namen hörte wurde er richtig aufmerksam.
Den Stimmen entnahm er, dass dort, nur wenige Meter von ihm entfernt, Monika mit ihrer Mutter an deren Gartentisch Platz genommen hatte. Das Gespräch schien lange eine Art Selbstgespräch der Mutter zu sein, erst jetzt begann Monika, ihr zu antworten.

"Wie meinst du das, Mama?"

"Nun ja, ich dachte bloß..." Ein Hubschrauber, der laut knatternd über das Haus hinweg flog, verwehte ihre Gedanken. Ausgerechnet jetzt!, ärgerte Klaus sich. Aber zu seiner Beruhigung setzte Monikas Mutter noch einmal neu an. "Ich dachte bloß, wo du doch keine Lust auf Männer hast, sie wäre doch eine gute Alternative!"

"Mama!!" Monikas Stimme klang entrüstet.

"Und??"

"Sie ist doch nicht richtig... nee!"

Klaus spitzte die Ohren. Hoffentlich kam jetzt nicht ein weiterer Hubschrauber. Hatte er das richtig mitbekommen, oder spachen die beiden Frauen von Barbara? Und was hatte Pia da gerade für einen seltsamen Vorschlag gemacht?

"Deshalb ja, mein Schatz. Sieh mal, auch wenn man keine Männer mag, so kann Sex mit ihnen eine ganz nette Abwechslung sein. Und wenn man dann einen kennt, der doch im Grunde genommen eher so etwas wie eine Frau mit Schwa nz ist, dann hat man doch das große Los gezogen!"

"Du hast vielleicht Vorstellungen! Als ob das alles so einfach wäre! Ja, okay, ich vermisse Barbara schon ein wenig. Als Frau war sie okay. Aber du scheinst ja doch was anderes im Sinn zu haben."

"Sie ist lange nicht mehr da gewesen. Fast scheint es so, als sei sie vom Erdboden verschluckt worden."

"Sie hatte wohl keinen Grund mehr, zu kommen."

Klaus musste ihr im Stillen recht geben. Mit der belastenden DVD, die sie ihm hatte zukommen lassen, hatte sie kein Druckmittel mehr gegen ihn in der Hand.

"Vielleicht gibt es sie gar nicht mehr", hörte er die Mutter mutmaßen. Dann schwiegen die beiden Frauen sich aus. Bis Pia das Gespräch erneut fortsetzte. "Ah, das hat gut getan! Sag mal, Moni, ich habe dich bis jetzt noch nicht danach gefragt, aber, hast du irgendeine Ahnung, was den Pastor dazu geritten hat, solche Sachen mit dir anzustellen. Ich meine, dass ist doch nicht normal für einen Geistlichen." Sie zögerte etwas, dann setzte sie noch ein unsicheres ´oder?´ hinzu.

"Nicht wirklich. Natürlich habe ich mir so meine Gedanken gemacht..." Sie zögerte, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Ihre Mutter unterbrach sie nicht. "Ich ... ich weiß nicht. Aber ich glaube, das ist nicht auf seinem Mist gewachsen."

"Du meinst, da hat noch jemand im Hintergrund mitgewerkelt?"

Monika zögerte mit ihrer Antwort. Dann aber sagte sie etwas, das Klaus nicht recht verstand. "Ja, ich glaube schon. Der alte Drachen." Die Kopfbewegung, mit der Monika ihre Worte untermauerte, konnte Klaus nicht sehen. Dann hörte er, wie beide Frauen aufstanden und zurück ins Haus gingen.



Er blieb noch lange sitzen. Sie vermisst mich! Dann aber überlegte er, dass das so ja nicht stimmte. Monika vermisste Barbara, nicht aber Klaus. Vielleicht sollte er - sollte sie - bald mal wieder Kontakt mit ihr aufnehmen?
Aber es stimmte, dass Barbara von der Bildfläche verschwunden war. Er hatte Glück gehabt, denn Eva hatte sich zurückgehalten. An jenem Abend nach seinem mehr oder weniger erzwungenen coming-out war er zurück in seine Wohnung gegangen, wo eine Überraschung auf ihn gewartet hatte, die ihn fast um den Verstand gebracht hätte.

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"Das Dirndl!!? Nie im Leben!! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich ausgerechnet zur Abifeier morgen DAS Kleid anziehe? Hier in Köln??"

Er nickte nur.

"Vergiss es!" Daniela war außer sich. Jetzt war ihr Bruder wirklich von allen guten Geistern verlassen. Sollte er das blöde Kleid doch selber anziehen!

"Du hast es mir versprochen!"

"Was? Was habe ich dir versprochen?" gab Daniela verärgert zurück.

"Du hattest mir vesprochen, dass ich einmal einen Tag bestimmen darf, an dem du dein Dirndl anziehen musst. Und das habe ich jetzt getan. Morgen!"

Daniela befand sich in einer unangenehmen Zwickmühle. Bisher waren ihr gegebene Versprechen immer heilig gewesen, und sie wollte auf keinen Fall riskieren, dass ihre Glaubwürdigkeit Schiffbruch erleiden sollte. Aber ... nein, das konnte sie nicht. Nicht morgen! Als sie im Herbst einmal im Dirndl in die Schule gekommen war, war es schon schlimm genug gewesen. Morgen aber, so vor versammelter Elternschaft und allen Lehrern? Nein, das ging einfach nicht! Basta. Trotzdem aber wollte sie ihr Versprechen nicht brechen.
"Also, morgen ist echt schlecht. Da habe ich schon was vor..."

"Aber noch nichts zum Anziehen, wie ich sehe", unterbrach er sie.

"...aber wie wäre es denn mit Sonntag?" Sie sah ihn mit bittendem Hundeblick an.

Ihr Bruder verzog eine Schnute, ein sicheres Anzeichen dafür, dass ihm ihre Antwort nicht passte. Er schien einen Moment zu überlegen, dann aber hellte sich sein Gesichtsausdruck wieder auf. "Morgen!", beharrte er schließlich auf seiner Forderung. Dann aber setzte er, zu Danielas größter Verwunderung, etwas hinzu, was sie seit Jahren nicht mehr von ihm gehört hatte: "Hanni und Nanni?"

Hanni und Nanni! Augenblicklich stürmten Bilder aus lustigen Kindertagen auf sie ein. Verwegene Spiele, die sie mit ihrem Bruder gespielt hatte. In ihrer Überraschung sah sie ihren Bruder an, als hätte sie gerade eine Erscheinung gehabt. Hatte er das ernst gemeint?
"Okay", sagte sie, wohl wissend, dass sie damit gerade ihr Grab geschaufelt hatte. Aber auch das ihres Bruders, und das war es die Sache wert.

"Wann?", fragte er mit eigentümlich flackendem Blick.

"Sonntag. Lass es uns gleich am Sonntag machen. Ich hab ja nicht mehr lange, bis es nach Amerika los geht."

"Wo?"

"Wo wo wo, sagen alle Tiere im Zoo. Im Zoo. Okay?"

Er nickte nur. Sein Lächeln war allerdings verschwunden. Auch Daniela hatte keinen Grund, zum Lachen. Hanni und Nanni am Sonntag, das würde sicherlich lustig werden. Aber auch nur, wenn sie den morgigen Tag überhaupt überlebte!

32. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 10.12.12 00:27

Hi Daniela,

ich hoffe, Du hattest einen superschönen 2. Advent!

Vielen Dank für Deine spannende Fortsetzung!!!

Eine Vergewaltigung kann also bei der Tragödie der jungen Frau ausgeschlossen werden - also entweder, weil sie eben keine Frau war, oder, was mir wahrscheinlicher erscheint, weil sie in einem KG steckte. Das rückt Monika allerdings wieder näher ins Spektrum der möglichen Opfer. Aber da sind ja dann noch die übrigen Utensilien: Dirndl und Uhr. Beides Accessoirs von Daniela. Die letztere Option erscheint mir noch erschreckender, auch wenn Monika einen solch frühen Tot wohl genausowenig verdient hat. Und wer mag hinter der Tat stecken, selbst wenn er oder sie nicht direkt ein Mörder war, der oder die dies beabsichtigte mit seiner bzw. ihrer Handlung? Wie gesagt, es bleibt spannend.

Ebenso bleibt spannend, wie nun Klaus oder Barbara sich weiter verhalten wird. Wird er sich entscheiden, zu Barbara zu werden, oder wird er den Weg zu sich selbst, Klaus, zurückfinden?

Danielas Bruder scheint echt fiese Gedanken zu haben. Daniela im Dirndl beim Abiball - das wird sicher ein denkwürdiges Ereignis, daß sie sicherlich überleben wird - wenn es auch ewig in ihrem Gedächtnis bleiben wird, ebenso wie ihr Auftritt bei vielen anderen Anwesenden. Hanni und Nanni im Zoo wird sicher auch spannend, aber wird daran möglicherweise nicht heranreichen.

Vielen Dank Dir, daß Du die Adventszeit wirklich zu dem machst, was sie eigentlich ist: Zeit der Erwartung und der Besinnung. Denn ich freue mich schon sehr auf die kommende Fortsetzung, dann zum 3. Advent - wie schnell doch die Zeit vergeht...

Dir auf jeden Fall einen superschönen Urlaub und eine sichere und angenehme Heimreise!

Keusche Grüße
Keuschling
33. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Muwatalis am 10.12.12 01:23

Hallo Ihr Lieben!

Schließe mich Keuschlings Wünschen an.

Möchte noch auf die Bemerkung zum Gesicht der Toten hinweisen.
Noch ist nicht sicher, dass die Tote nicht etwa Barbara sein könnte.

Herzlichst!

Muwatalis
34. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 17.12.12 08:26

(Diesmal leider etwas verspätet, keine Zeit mehr am Sonntagabend!)


Hallo an alle Leser aus den Winterferien!! Schon ist es der 3. Advent, wie doch wieder die Zeit vergeht! Mir geht es gut, und wie wir heute lesen können, unseren Protagonisten ebenfalls, obwohl....

---

Er hatte den Heimweg nach seinem coming-out bei der Oma gut überstanden, immerhin war es nicht so ganz ungefährlich für ein junges Mädchen, noch am späten Abend in high heels und Petticoat allein unterwegs zu sein. Besonders nicht, wenn eine dumme Kette zwischen den Beinen es am schnellen Davonlaufen hinderte. Jetzt aber war er doch froh, als er endlich seinen Schlüssel in das Schloss seiner Wohnungstür stecken und sich daheim entspannen konnte. Der Tag war schließlich aufreibend genug gewesen. Er konnte nur hoffen, dass er wenigstens jetzt die Schlüssel zu seinem Keuschheitsgürtel und -BH finden würde. Eva hatte doch gesagt, sie seien in der Wohnung.
Müde kickte er seine Pumps von den Füßen. Ahh! Welche Wohltat! So ganz würde er wohl nie verstehen, wieso Frauen solch anstrengendes Schuhwerk trugen. Andererseits, als Mann fand er Frauen langweilig, die immer nur flache Schuhe trugen. Es war halt kompliziert.

Klaus holte sich einen Saft aus dem Kühlschrank und ging dann in das kleine Wohnzimmer. Das Licht im Flur hatte er bereits gelöscht, kein Grund, dort Geld und Energie zu verballern, wo man sie nicht brauchte. Er betätigte den Lichtschalter im Wohnzimmer, aber das Zimmer blieb dunkel. Nanu?
Etwas unsicher rutschte er auf dünnen Strümpfen vorwärts, es gab da noch eine kleine Stehlampe mit einem Fußschalter. Aber bevor er so weit gekommen war spürte er plötzlich eine Hand, die sich auf seinen Arm legte.

"Nicht!"

Seine Reaktion hätte kaum heftiger sein können. "Himmel, Arsch und Zwirn!", schrie er laut auf, versuchte einen Schritt rückwärts zu machen, wobei ihn allerdings die Schrittkette hinderte, so dass er statt dessen vorwärts fiel, genau auf das Sofa, genau auf eine Person, die dort saß und scheinbar schon auf ihn gewartet hatte. Er merkte, wie er mit seinem stählernen BH genau gegen den Kopf dieser Person stieß, die nun ihrerseits anfing zu fluchen und sich bemühte, von ihm loszukommen.
"Welcome home!", hörte er Eva sagen.

Er rappelte sich im Dunkeln hoch, setzte sich neben sie und entschuldigte sich für die ungewollte Attacke. Dann musste er lachen, zum ersten Mal an diesem Tag, und bald fiel auch Eva in sein Lachen ein.

"Mann, hast du mich erschreckt!", sagten beide wie aus einem Mund, und beide mussten nun noch mehr lachen.

"Bloß gut, dass ich den Saft noch nicht aufgemacht hatte!"

"Sag mal, gehst du immer so stürmisch vor? Vor dir muss sich ein anständiges Mädchen ja richtig in achtnehmen!", scherzte Eva. "Und dass du mir mit deinen Stahltitten gleich den Schädel einschlagen willst, ist ja nicht gerade die feine englische Art."

"Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein!" erinnerte Klaus sie.

Eva rieb sich den Kopf. "Na, besser nicht! Sag mal, wieso steckst du eigentlich immer noch in diesen Sachen? Und wo bist du überhaupt gewesen? Ich sitzte schon seit Stunden hier und warte auf dich!"

Klaus berichtete ihr von dem, was er in der Zwischenzeit erlebt hatte. Den Besuch von Andrea verschwieg er ihr aber.

"Du bist so bei deiner Großmutter gewesen?? Und sie hat dich so noch nie vorher gesehen??" Eva konnte sich das Lachen nicht verkneifen. "Hat sie es denn überlebt?"

"Beinahe nicht. Aber glaub mir, es hat einige Zeit gedauert, bis mir klar wurde, dass sie wieder einmal theatralisch übertrieben hatte. Einen Herzinfarkt also."

"Warum hast du dich denn nicht vorher umgezogen? Sag bloß, du hast die Schlüssel nicht gefunden? Ich habe gar nicht nachgesehen, als ich gekommen bin."

Er antwortete ihr, er habe alles abgesucht, aber leider keine Schlüssel gefunden.

"Oh du Ärmster! Wart mal, ich hole sie sofort!" Sie stand auf, ging hinüber zum Fenster und kam dann mit den kleinen Schlüsseln zurück. "So, jetzt aber!" Sie griff unter seine Röcke und begann, ihn sanft an den Beinen zu streicheln. Ihre Hand glitt immer höher, bis sie auf seinem Keuschheitsgürtel zu ruhen kam. Dann aber zog sie sie zurück. "Sag mal, und was bekomme ich, wenn ich dich da jetzt rauslasse?"

Er war trotz seiner mentalen Erregung müde. "Einen Kuss?"

"Bloß einen Kuss? Ach, dann gehe ich wohl doch besser nach Hause", gab sie in gespielter Enttäuschung zurück.

"Nein, warte! Du kannst alles haben, was du willst!" Er hatte ihre Hand ergriffen und sie ins Sofa zurückgezogen, als sie Anstalten machte, aufzustehen.

"Alles? Na fein. Dann lass uns besser gleich ins Schlafzimmer gehen!"

Sie hatte ihn mit sich gezogen und er hatte keinen Widerstand geleistet. Es gibt halt Momente im Leben an denen man wissen muss, dass man nur verlieren kann, wenn man versucht, sich seinem Schicksal zu entziehen.



Klaus klappte sein Buch zu. Wie Lisbeth Salander. Sie hatte ja auch gewusst, dass es falsch sein konnte, den Schw*****nz einzuziehen. Auch wenn sie gar keinen hatte!

Er stand auf und streckte sich. Der heutige Tag war ruhig verlaufen. Auch zeigte seine Großmutter endlich Anzeichen einer baldigen Genesung. Das Sprechen bereitete ihr jetzt keine Probleme mehr. Dass sie aber auch so unglücklich hatte stürzen müssen! Wie hatte es nur zu dieser schlimmen Gesichtsverletzung kommen können?
Noch einmal rief er sich in Erinnerung, was seine Oma ihm erzählt hatte. Angeblich hatte sie Kompott holen wollen. So weit so gut. Er war ja bereits im Keller gewesen und hatte festgestellt, dass es dort tatsächlich einige Weckgläser mit Birnenkompott gab. Auf dessen Genuss er allerdings gern verzichtet hätte, denn das eingekochte Obst war schon jahrealt.
Irgendetwas stimmte nicht. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er erkannte, dass sie ihn die ganze Zeit über angelogen hatte!

Bisher war Klaus immer davon ausgegangen, dass seine Oma Kompott holen wollte, dass sie also auf dem Weg in den Keller gewesen war, als sie auf der Treppe ausgerutscht und so schwer gestürzt war. Warum? Ganz einfach, weil er nirgendwo ein zerbrochenes Glas gefunden hatte. Es gab schlichtweg nichts, was darauf hindeutete, dass sie bereits unten gewesen war. Wie aber war es zu den Gesichtsverletzungen gekommen, wenn sie abwärts gegangen war? Hätte sie dann nicht mit dem Hinterkopf aufschlagen müssen? Sich möglicherweise sogar das Genick gebrochen?
Es konnte nur eine Antwort geben: seine Oma war gestürzt, als sie schon wieder auf dem Weg nach oben war. Sie war vorwärts gefallen, nicht rückwärts. Mit anderen Worten: sie hatte bereits gefunden, was sie holen wollte! Oder aber nicht. Vielleicht hatte sie nichts gefunden. Warum aber hatte sie ihn angelogen? Denn ein Glas mit Kompott hatte sie auf jeden Fall nicht holen wollen.

Er überdachte alles noch einmal ganz genau. Er hatte doch nichts gefunden, was ihn auf eine Spur gebracht hätte. Also gab es auch nichts. Nein, falsch! Dass man nichts sieht, bedeutet nicht, dass es nichts gibt! Er würde ganz einfach noch einmal von vorne anfangen müssen!

Dummerweise klingelte gerade jetzt sein Handy. Er sah auf das Display und staunte nicht schlecht, als er sah, von wem die SMS kam. Das warf nun erst einmal alle seine Pläne über den Haufen! >HALLO BARBARA<, las er. >HAST DU LUST AUF EINEN ABENDSPAZIERGANG? SOLL ICH BEI DIR VORBEIKOMMEN??<




Juni II.

Sie lebte noch! Das war immerhin die Hauptsache, denn sie hatte nicht vor, in einem Leichensack in die Vereinigten Staaten transportiert zu werden, wie so viele andere.
Daniela saß auf ihrer Bettkante, hatte das Notebook auf ihrem Schoß und starrte auf die vielen Bilder der gestrigen Schulabschlussfeier, die ein eifriger Mitschüler bereits bei Flickr hochgeladen hatte. Ein ehemaliger Mitschüler, so musste es jetzt ja wohl heißen. Seltsam, dass alles vorbei war. Mit einem Mal spürte sie das große Loch, das sich vor ihr auftun wollte. Bloß gut, so dachte sie, dass sie von einer Cousine nach New York eingeladen worden war, die dort bei einer Model-Agentur arbeitete. Zusammen wollten die beiden Mädchen in den kommenden zwei Monaten die Neu-Englandstaaten bereisen.

Ekelhaft! Es gab kaum ein Bild, auf dem sie nicht zu sehen war. Entweder nur sie allein, aufgenommen aus allen möglichen Richtungen, mal etwas klein bei der Zeugnisübergabe auf der Bühne, mal mit dem Zoomobjektiv herangeholt, sodass man jedes einzelne Haar erkennen konnte.
Sie sah schlichtweg beschissen aus. Bis Ostern hatte sie ihre harten Gesichtszüge noch gut hinter ihrem langen Haar kaschieren können, jetzt aber sah sie aus wie ein Junge, den man zur Strafe in ein Dirndl gesteckt hatte. Natürlich hatte man das alles mit offener Hähme kommentiert. Natürlich hatte sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Aber natürlich wusste sie auch, was viele ihrer ehemaligen Mitschüler heute mit diesen Bildern anfangen würden.

Das Schlimmste war, sie hatte keine Ahnung, wer genau diese Bilder gemacht hatte. Gestern hatte doch jeder jeden fotografiert! Da hatte sie keine Ausnahme gemacht. Es konnte ja auch jemand aus einem anderen Leistungskurs sein, jemand, mit dem sie nie zusammengekommen war. Irgendso ein alter Arschlecker! Und sogar eine Frau konnte hinter diesen Bildern stecken! Der Name des Flickr-accounts sagte ihr rein gar nichts, KOELNABI12, das konnte ja von jedem kommen.

Frustriert klappte sie ihr Notebook zu. Auch wenn das Fest toll gewesen war, die Erinnerung daran würde auf ewige Zeiten schmerzhaft bleiben. Bestimmt würde man noch in dreißig Jahren bei zukünftigen Klassenfesten über ihr Aussehen lästern!


Aber noch war ja nicht aller Tage Abend! Hanni und Nanni! Wann hatten sie zum ersten Mal dieses gewagte Spiel gespielt? Es war auf jeden Fall Jahre her. Irgendwann im Laufe ihres Heranwachsens hatten sie und ihr Zwillingsbruder festgestellt, dass sie sich in Größe und Aussehen sehr ähnelten. Und sie hatten spaßeshalber einmal ihre Kleider getauscht. Und beide hatten anschließend lachend vor dem großen Spiegel gestanden und sich gut gefühlt, denn beide wussten, dass ihnen die Natur einen Streich gespielt hatte: ihr Bruder hatte feine, weiche Gesichtszüge, wohingegen sie ein eher eckiges Gesicht hatte, das nur mit einigen Tricks - lange Haare und makeup - ein einigermaßen feminines Aussehen erhielt. Tauschten sie hingegen ihre Kleider, so schien alles richtig zu sein; sie brauchte sich nicht ihres knabenhaften Aussehens zu schämen, und er konnte seiner Phantasie freien Lauf lassen.
Sie erinnerte sich, dass sie dieses Spiel eine ganze Zeit lang getrieben hatten, bis es ihnen im Laufe der Pubertät doch albern vorkam. Jeder versuchte, so gut es ging, sich in die von der Natur vorgegebene und von der Gesellschaft aufgezwungene Geschlechterrolle einzuleben, ein Kleidertausch kam ihnen da nicht mehr in den Sinn.

Und jetzt? Einen Kleidertausch hatten sie seit Jahren nicht mehr gemacht. Wie konnte ihr Bruder denn nur auf diese blöde Idee kommen? Nun, es sollte ihr egal sein. Sie hatte auf jeden Fall ihr Wort gehalten. Wenn er unbedingt Lust hatte, sich im Zoo zum Gespött aller Affen zu machen, ihr sollte es recht sein. Sie wusste, ihre Eltern waren zu irgendeinem Sommerfest eingeladen, von der Seite würde es also keine Probleme geben. Fragte sich nur, ob ihr Bruder das wirklich durchziehen wollte.


Als die Eltern sich am frühen Nachnmittag verabschiedet hatten, war es Zeit, in Aktion zu treten. Daniela staunte nicht schlecht, als sie das Zimmer ihres Bruders betrat.
"Nun, Brüderchen, bereit für die Hinrichtung?"

Er hatte an seinem Schreibtisch gesessen, vor sich hatte er einen großen Spiegel aufgestellt. Langsam drehte er sich um. "Na, wie gefall ich dir?"

Ihr blieb für einen Moment die Luft weg. Ihr Bruder hatte sich ihre Schminkutensilien ausgeliehen, scheinbar wusste er, wie er damit umgehen sollte. Er hatte bereits einen weißen BH angezogen und diesen irgendwomit ausgepolstert, es sah natürlich und nicht übertrieben aus. Auf einem weißen Plastikkopf vor sich hatte er eine blonde Langhaarperücke stehen.
"Überwältigend. Wenn du jetzt fertig bist, dann komm rüber und ich ziehe dir das Kleid an."

Als er wenige Minuten später in ihr Zimmer kam hätte sie ihn fast nicht erkannt. Sie half ihm in ihr Dirndl und wählte ein Paar Schuhe für ihn aus. "So, dann sind wir hier ja fertig und können von mir aus gehen."

"Ich bin fertig. Aber was ist mit dir? Wir müssen doch noch einen richtig hässlichen Jungen aus dir machen. Es heißt schließlich Kleidertausch, so wie früher. Ich ziehe deine Sachen an und du ziehst meine an."

Daniela sah ein, dass sie daran nicht gedacht hatte. Minuten später hatte ihr Bruder sie bereits in eine seiner furchtbaren baggy jeans gesteckt, eine Hose, die sie schlichtweg widerlich fand. Dann kam er mit einer breiten Elastikbinde auf sie zu.

"Und was soll das jetzt?", fragte sie unsicher.

"Du gehst schließlich als Junge in den Zoo. Da können wir die nicht gut mitnehmen!" Er kicherte über seinen blöden Witz, während er auf ihre Brüste zeigte.

Widerwillig ließ sie ihn gewähren, schon nach wenigen Wicklungen hatte sie das Gefühl, ersticken zu müssen. "Nicht so eng, verdammt noch mal! Das ist ja schlimmer als Monikas Korsett!"

Er hielt augenblicklich inne. "Wie bitte? Was für ein Korsett?"

"Nichts. Nichts was dich was angeht. Bist du endlich fertig? Und was soll ich darüber anziehen?" Er gab ihr ein langes, unförmiges T-shirt. "Man, das ist ja echt schlimm, in was für ollen Klamotten du so rumläufst. So, war´s das jetzt?" Daniela musste noch seine Baseball cap aufsetzen, außerdem bekam sie seine Basket shoes zum Anziehen, dann waren sie beide fertig. Wie sie sah strahlte er über beide Backen, sie hingegen hatte jetzt schon das Gefühl, drei Meilen gegen den Wind zu stinken.
Als er vor ihr die Haustür öffnete und dort eine kleine Sekunde stehen blieb, sicherlich um eine erste Unsicherheit abzuschütteln, sah Daniela ihre Chance gekommen, wenigstens für etwas Gerechtigkeit zu sorgen. Mit einem schnellen Griff zog sie ihm die Perücke vom Kopf. Er erschrak sichtlich und drehte sich zu seiner Schwester um.

"Was soll das? Gib mir sofort die Perücke zurück!"

"Nix da! Die Perücke bleibt hier! Ich trage so etwas ja auch nicht. Kleidertausch, sagtest du. Du darfst also nur Sachen von mir tragen. Eine Perücke gehört nicht dazu!" Dann schob sie ihn zur Tür hinaus. Auf der Treppe ordnete sie noch einmal seine Haare, die sowieso länger als ihre eigenen waren, dann fasste sie ihn um die Taille und machte sich auf den Weg zum Bus.

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Bereits auf dem Heimweg hatte Klaus gespürt, dass er ein Problem erster Güte hatte. Sie traute sich nicht. Er hatte keine Ahnung, was Monika von Barbara erwartete; das ganze Arrangement kam ihm ziemlich nebulös vor. Zwar hatte er noch vor nicht einmal einer Stunde selber gehört, dass Monika Barbara vermisste, aber dass ihr Anruf so plötzlich gekommen war, wollte ihm nicht schmecken.
Wieder bei sich zu Hause verspürte er aufkommende Übelkeit. Nein, es geht nicht! Schnell hatte er sein Handy geholt und Monika vorgeschlagen, man möge sich doch besser am Sonntag im Englischen Garten treffen.
Monika hatte sofort akzeptiert.

Bereits in der Früh war Klaus aus dem Bett gefallen. Heute! Er hatte einen ganzen langen Samstag damit verbracht, mit Barbara darüber zu streiten, ob sie auf eine neue Kontaktaufnahme eingehen sollte, oder besser nicht. Das Ergebnis fiel fifty fifty aus, mit einem kleinen Vorsprung für den Versuch. Es war ja nicht mehr so, wie noch im Winter und Frühjahr. Diesmal machte er wirklich freiwillig mit, nicht nur halbwegs.
Ja, er hätte es nicht abstreiten können: da war etwas in ihm, was es durchaus genoss, wenn er sich in Barbara verwandelte. Es war eine Flucht vor dem eigenen Ich, vor seiner männlichen Schwäche, denn von männlicher Stärke hatte bei ihm nie die Rede sein können.
Gut, dass ihr keine Mädchen seid!, diesen dummen Satz hatte er während seiner Zeit im Gymnasium so oft zu hören bekommen, dass er irgendwann, eines Tages, angefangen hatte zu überlegen, ob sich seine Welt nicht eventuell doch in ein Paradies verwandeln würde, wäre er wirklich eins. Doch die Probe aufs Exempel hatte für ihn erst in diesem Winter stattgefunden, nicht unfreiwillig, aber bestimmt auch nicht gegen seinen Willen.

Jetzt stand er im dampfenden Badezimmer und überlegte, was er anziehen sollte. Ungern erinnerte er sich an seinen letzten Besuch des Englischen Gartens, an Karsamstag, als er dort mehrere Stunden als Messdienerin verkleidet an ein Brückengeländer gefesselt auf jemanden warten sollte, von dem er nicht wusste, wer es sein könnte. Bis schließlich Daniela auftauchte.
Er trocknete sich ab. Es war herrlich, endlich wieder die Vorzüge einer heißen Dusche genießen zu können. Während des Winters war das lange Zeit nicht möglich gewesen, da hatte Monika dafür gesorgt, dass er zu diesem Zweck zu ihr kam, wo sie sich um seine Körperpflege kümmerte. Dieses furchtbare Melken! Er verstand diese Frau einfach nicht! Schon dieser ganze Messdienerquatsch. Dann ihre bizarren Einfälle. Dieses Domina-Gehabe! Und dass sie scheinbar nie verstanden hatte, dass ab einem gewissen Zeitpunkt das alles für ihn gar nicht sonderlich spannend war, als seine monatelange Keuschhaltung nur dazu geführt hatte, dass er eine vorübergehende Impotenz entwickelt hatte. Sie war gar nicht mehr in der Lage gewesen, ihn sexuell zu dominieren, weil es dieses Gefühl, weder körperlich noch mental, für ihn gar nicht mehr gegeben hatte. Und nach seiner Befreiung hatte es Wochen gedauert, bis alles wieder richtig funktionierte.

Als er jetzt darüber nachdachte, was sie anziehen sollte, merkte er jetzt auch wieder die aufkommende sexuelle Erregung. Für ihn war es schön, aber für Barbara? Wie würde Monika reagieren, wenn sie plötzlich unter ihrem Rock ein erigiertes Glied vorfand?? Das war die Frage. Er sah auf die Uhr, noch war Zeit genug, es herauszufinden.

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Monika hatte lange über den Vorschlag ihrer Mutter nachgedacht, eventuell wieder einmal Kontakt zu Barbara aufzunehmen. Bisher hatte sie dies tunlichst vermieden, auch aus Scham über all das, was sie in den zurückliegenden Monaten mit ihm angestellt hatte.
Aber vielleicht hatte ihre Mutter gar nicht so unrecht mit ihrer Behauptung, eine Transe wie er könne der richtige Umgang für sie sein? Sie wusste durchaus, dass alle sie für eine Lesbe hielten, was aber nur bedingt den Tatsachen entsprach. Klar, sie hatte in ihrem Reifungsprozess Umgang mit Frauen gehabt - Sofie war eine davon gewesen - aber sie hätte nicht sagen können, dass sie nur auf Frauen stand. Es war bisher eher so gewesen, dass sie gar nicht auf Männern stand. Weswegen die Sache mit Barbara durchaus einen Versuch wert war.

Als ihr all dies klar geworden war kam ihr auch der Gedanke, so vielleicht auch endlich diesem gläsernen Dildo zu entkommen, den Pia immer noch zum gelegentlichen Einsatz kommen ließ, wobei das Wort Einsatz in diesem Falle durchaus wörtlich zu verstehen war. Entschlossen hatte sie daraufhin Klaus/Barbara noch am selben Nachmittag eine SMS geschickt und ihr ein Treffen am Abend vorgeschlagen.
In angespannter Ungewissheit hatte sie die folgende Stunde verbracht, denn es war höchst unklar, ob sie überhaupt noch etwas von ihr wissen wollte; Grund genug ihr böse zu sein hatte sie ja auf jeden Fall. Dann aber hatte sie eine Antwort erhalten, in der Barbara ein Treffen im Englischen Garten für den Sonntagnachmittag vorgeschlagen hatte.

Es war immer wieder erstaunlich, wie sehr dieser wunderschöne alte Park im Laufe der Jahreszeiten sein Aussehen veränderte. Das letzte Mal, als sie am Ostersamstag hier gewesen war, hatten alle Beete voller Narzissen und Tulpen gestanden, die noch immer kahlen Bäume ließen ungehinderte Blicke auf zwitschernde Vögel zu, die wohl schon eifrig mit dem Nestbau beschäftigt waren. Und das Mal davor, das war um Weihnachten gewesen, als sie, dick eingemummelt, einen herrlichen Winterspaziergang mit ihrer Mutter gemacht hatte. Da war die Luft klar und rein gewesen, und außer dem knirschenden Schnee unter den Schuhsolen hatte man kaum einen Laut gehört.
Jetzt tummelte sich hier das Leben! Schon am frühen Nachmittag waren Scharen von Menschen unterwegs, viele, hauptsächlich ältere Leute, würden sich noch zur Kaffeezeit einfinden. Auch der Biergarten am Chinesischen Turm war bereits gut besucht. Monika war extra etwas früher gekommen und hatte sich einen etwas abseits stehenden Tisch ausgesucht und eine Apfelschorle bestellt. Jetzt war sie nur noch gespannt, wann Barbara kommen würde - falls überhaupt.

Sicher war gar nichts. Sicher könnte sie sein, wenn sie mit ihr in einigen Stunden im Bett landen würde. Aber nur unter der Bedingung, dass sie sich nicht ausziehen würde. Denn mit Klaus hatte sie rein gar nichts am Hut.
Als es gegen drei Uhr immer voller wurde verlor sie bald den Überblick. War denn nun ganz München auf den Beinen? Aber man konnte es gut verstehen, denn Sommer war jetzt, da wäre der dumm, der noch bis in den Juli warten wollte, wenn es dann doch wieder nur tagelang regnete. Jung und alt wogte auf den sandigen Wegen hin und her, Kinder schrien und lärmten, Japaner knipsten sich gegenseitig, immer die rechte Hand zum Victory-Zeichen erhoben, und viele nahmen die Gelegenheit wahr, sich mit einem feschen bayrischen Mädchen im Dirndl ablichten zu lassen.

Fast hätte sie sich an ihrer Schorle verschluckt, als sie sah, dass ausgerechnet Barbara Opfer einer solchen japanischen Foto-Attacke geworden war. Wenn die wüssten!! Sollte sie einmal hinübergehen und sagen: "She is a man!"?
Ihr Herz schlug schneller als sie sah, dass Barbara sich alle Mühe gegeben hatte, das beste aus sich zu machen. Und es schlug noch schneller, als sie direkt auf sie zukam und sie fest umarmte. Keine Spur von verklemmter Zurückhaltung.

"Hallo Moni!" Sie schaute sie direkt an. "Ich darf doch Moni sagen, oder?"

"Barbara!" Sie nickte bloß. Sie verstand sofort, wonach sie gefragt hatte. "Ja, natürlich. Das andere da, das ist vorbei. Es war... es war..."

"...nur ein verrücktes Spiel, nicht wahr?"

"Ja." Sie bestellten ein Glas Weißwein für Barbara, auch Monika nahm eins für sich.

"Wie geht es dir?", fragten beide plötzlich wie auf Kommando. Beide lachten. Sie hatten sich viel zu erzählen. Aber sie klammerten das aus, was sie zuvor gemeinsam erlebt hatten.

"Komm, setz dich hier rüber", forderte Monika sie auf. Immer noch war sie diejenige, die die Initiative ergreifen musste. Sie legte einen Arm um ihren Rücken. Deutlich konnte sie das stabile Rückenband des Keuschheits-BHs unter dem Mieder spüren.

"Oh!"

Barbara wurde leicht rot. "Ich dachte, es würde dir so besser gefallen."

"Du hast wirklich...?" Sie brachte den Satz nicht zu Ende; schon hatte sie unter dem klapprigen Holztisch mit ihrer Hand in Barbaras Schritt gegriffen. Dort war nichts, wenn man einen soliden Stahlgürtel als nichts bezeichnen wollte. Plötzlich machte sie eine verblüffende Entdeckung an sich selber. Hatte sie bisher das nicht interessiert, was unter dem stählernen Gürtel verschlossen war, so war es plötzlich umgekehrt. Zum ersten Mal, seit sie ihn selber in das Ding eingesperrt hatte, hatte sie das Bedürfnis, auszupacken, was vor fremdem Zugriff versperrt war. Hing all das mit ihrem österlichen Höllentrip zusammen? War sie dadurch ein anderer Mensch geworden?

"Schlüssel habe ich leider nicht mehr", flüsterte sie in sein Ohr. Klang hier vielleicht leise Furcht mit, er könnte sie jemand anderem anvertraut haben?

Barbara lächelte. Nein, aus Monika konnte man nicht schlau werden. "Wofür willst du denn die Schlüssel?", fragte er in neckischem Ton.

Monika schaute in ihr Weinglas. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann trank sie zügig aus und stellte ihr Glas etwas heftiger als erforderlich zurück auf den Tisch. "Ich will Sex. Ich will Sex mit dir, Barbara. Richtigen Sex. Und wenn du es nicht willst, dann ist es besser, du stehst jetzt auf und lässt mich hier sitzen. Es ist deine Entscheidung."

Barbara wäre fast das Glas aus der Hand gefallen. Diese Frau war wirklich immer wieder für eine Überraschung gut. Auch sie trank ihr Glas aus, dann sah sie Monika mit einem seltsamen Kopfschütteln an und stand auf. "Die Schlüssel liegen auf dem Küchentisch", sagte sie und zog sie hoch. "Komm, lass uns gehen!"


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Verärgert hängte Daniela ihr Dirndl auf einen Bügel und es dann zum Lüften auf den Balkon. Es hatte nach Männerschweiß gerochen, da konnte ihr Bruder noch so beneidenswert gut in ihrem Kleid ausgesehen haben.
Die ganze Hanni-und-Nanni-Aktion hatte ihr überhaupt nichts eingebracht. Wieso nur wusste er sich so gut in Frauenklamotten zu bewegen? Sie war mehrere Stunden lang fast ununterbrochen neben ihm hergelaufen und hatte bald schon die gierigen Blicke viele Männer gesehen, die sich auf ihn gerichtet hatten. Und kein einziger Blick irgendeiner Frau hatte ihr selber gegolten, was die Vermutung nahe legte, dass sie hässlich aussah. Wieso also trugen Jungen solch schlimme Sachen? Diese bescheuerte Hose, die ihr fast um die Knie hing? Sicherlich nicht um beim anderen Geschlecht Eindruck zu hinterlassen, wie ihr langsam klar geworden war. Irgendetwas verhielt sich bei Männern anders, als bei Frauen. Ihnen schien die Aufmerksamkeit von Frauen eher egal zu sein, wohingegen Frauen sich im Grunde genommen immer so kleideten, dass Männer sie möglichst attraktiv finden sollten.

Natürlich hatte es auch im Zoo belustigte Blicke gegeben, und nicht nur von den Affen. Kommentare wie Guck mal die da! waren auch hier zu hören gewesen. Aber meist kamen sie von gleichaltrigen jungen Frauen, die mit dieser Mode nichts anzufangen wussten. Und wie hatte ihr Bruder reagiert? Hatte er die ihm angedachten Qualen erlitten, wollte er möglichst rasch zurück in die sichere Wohnung? Nein, nichts von alledem. Entweder hatte er stur geradeaus geblickt, oder er hatte die Person, die ihn gerade dumm angequatscht hatte, mit einem breiten Grinsen bedacht. Nur viel reden wollte er lieber nicht, denn er hatte seine Stimme nicht so gut im Griff wie Klaus, der ja einige Monate zum Üben gehabt hatte.

Gelitten hatte sie höchstens selber. Die elastische Binde, die sie um die Brust gewickelt hatte, schmerzte sie mehr und mehr. Als sie sie endlich zu Hause wieder abnehmen konnte, betrachtete sie besorgt ihre Brüste im Spiegel. Würden sie je wieder ihre hübsche Form annehmen? Im Moment sahen sie eher so aus, als hätte ein Elefant auf ihnen gestanden!
Daniela zog sich ihren BH wieder an und hatte den dummen Verdacht, dieser sei im Laufe des Tages um mindestens zwei Nummern größer geworden. Gut, dass die Körbchengröße nicht zu den biometrischen Angaben im Pass gehörten - so hier würden die Amis ihr auf jeden Fall die Einreise in Gods own country verweigern.

Sie beschloss, das ganze Wochenende mit seinen Festen und Zoobesuchen als irgendwie verunglückt aus dem Gedächtnis zu streichen. Sie konnte nicht immer gewinnen. Die nächsten acht Wochen hätte sie besseres zu tun, als sich darüber noch Gedanken zu machen, und dann, wenn sie wieder nach Hause kam, würde sie wissen, ob sie bei der Studienplatzvergabe das große Los gezogen hatte. Wenn ja, brauchte sie sich sicherlich nicht einmal um eine Studentenbude Sorgen zu machen!
35. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AlterLeser am 17.12.12 11:36

Hi Daniela,
nach dem ich mehrmals gestern Abend geschaut hatte, hatte ich doch gleich Angst bekommen
du könntest vielleicht erkrankt sein und ich müßte auf die nächste Fortsetzung warten aber das
warten hat sich gelohnt.
Dafür meinen Dank.

Was wird jetzt mit Klaus? Er scheint wieder in die Fänge von Monika zu geraten., allerdings hat
diese eine Konkurrentin durch Eva erhalten. Genau zwischen diese beiden Mühlsteine wird
nun Klaus zerrieben. Eigentlich hat er nun keine Chance der Barbara zu entfliehen, nur eben
unter welcher Domina er dies tun muß!??

Nun haben ich erfahren das der ¨fiese¨ Bruder von Daniela ein Zwillingsbruder ist.
Hatte bis jetzt immer gedacht der wäre einige Jahre jünger als Daniela.
Vielleicht habe ich aber diesen Aspekt überlesen.

Zum Schluß freue ich mich auf deine Fortsetzung.

LG der alte Leser.

♥♥♥
36. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 19.12.12 20:56

Hi Daniela,

auch ich war sehr froh, daß es sich nur um eine Verzögerung gehandelt hat - aber Du hattest die Möglichkeit dazu ja schon angekündigt gehabt. Ich hoffe, Du hattest einen schönen Urlaub.

Ja, für Klaus könnte es in der Tat nun schwierig werden. Er sitzt zwischen den Stühlen und kann sich noch nicht einmal entscheiden, wer er nun wirklich ist. Und irgendwie scheint er noch nicht mal zu merken, daß er sich immer tiefer reinreitet. Ich hoffe, er wird noch früh genug gerettet, bevor er sich vollends im Chaos verliert.

Danielas Bruder scheint ja wohl heimlich "geübt" zu haben, was sein Auftritt als TV angeht... Hoffentlich findet Daniela bei ihrem USA-Besuch bald über ihre üblen Erlebnisse hinweg.

Dir noch eine tolle Adventszeit, Daniela!

Keusche Grüße
Keuschling
37. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 23.12.12 22:00

Ist denn tatsächlich schon wieder Sonntag?? Der 4. Advent schon! Ich bin wieder bei mir zu Hause, hatte schöne Tage bei meinen Freunden, wo es sehr winterlich war. Aber auch hier ist gerade heute der Winter wieder zurückgekehrt, so um Mitternacht fing es an, zu schneien, und im Laufe des Vormittags bis ca. 16 Uhr gab es einen veritablen Schneesturm.
Jetzt aber genug der Vorrede; weiter im Text!!

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Monika hatte, als Barbara vom Tisch aufgestanden war, einen kurzen Augenblick befürchtet, dass jetzt alles vorbeisein könnte, eigentlich noch bevor es richtig angefangen hatte, durfte dann aber beruhigt aufatmen, als diese ihre Hand ergriff und sie von ihrem Platz hochzog.
Einen Moment, der ihr lang vorkam, standen die beiden sich ganz nah gegenüber, ihre Augen versanken ineinander, die Blasmusik, die für eine zünftige Stimmung gesorgt hatte, verschwand in den Hintergrund.
Was war das? Unsicher wandte sie ihren Blick ab. Wieso hatte sie plötzlich dieses Herzklopfen? Was hatte dieser Blick denn nur bei ihr ausgelöst?

Liebe?

Ihr wurde leicht unwohl, als sie diesen Gedanken in ihrem Kopf fand. Sie mochte ihn nicht, denn mit ihm hatte sie bisher nichts anfangen können. Nicht weil sie mit Liebe nichts anfangen konnte, sondern weil sie wusste, dass sie sie nicht kontrollieren konnte.

Sie liebte eine Frau. Eine Frau, die es gar nicht gab.

Monika versuchte, es irgendwie zu überspielen. Kein einziges Mal in den vergangenen Monaten hatte sie Ähnliches gespürt, und sie war nun wahrlich oft genug mit ihm zusammen gewesen. Mit ihm, ja. Mit ihr eigentlich nicht. Zwar hatte sie ihre ganze Kraft darauf verwandt, Klaus unter Kontrolle zu halten, aber wahrscheinlich war genau das auch das Problem, denn Barbara war bisher immer nur ihr höchst eigenes Fantasieprodukt gewesen, und in solche sollte man sich besser nicht verlieben, will man überleben.
Sie legte ihren Arm um Barbaras Taille, als sie sich auf den Weg machten. So war sie nie mit ihr zusammen gewesen. Diese unbekümmerte, wohltuende Nähe - was in ihren Ohren doch besser klang als Liebe - hatte sie nie vorher erlebt.

Monika spürte den harten Wulst des Keuschheitsgürtels, den Barbara unter ihrem Dirndl trug. Ihre Finger glitten zum faltig abfallenden Dirndlrock hinab, ertasteten den Schrittreifen, der das verbarg, was ihr immer noch leichtes Kopfzerbrechen bescherte. Ein schwer zu kontrollierender Mix aus sich widersprechenden Gefühlen hatte sie ergiffen, denn bisher hatte sie noch nicht das Vergnügen gehabt. War es überhaupt ein Vergnügen?

Plötzlich musste sie lachen. Barbara blieb stehen und sah sie bloß fragend an. Monika schüttelte bloß ihren Kopf. Alles in Ordnung, lass uns weitergehen!

Sie fühlte sich dumm, wie ein kleines Mädchen, als ihr aufgegangen war, dass sie wie ein Kind reagiert hatte. Am liebsten hätte sie sich gleich hier und jetzt, eventuell auf der Toilette, über Barbara hergemacht, aber die Verpackung hinderte sie daran! Oh, wie mochte es ihm erst gehen??
Sie biss sich auf die Lippe. Barbara mochte noch so hübsch und überzeugend aussehen, aber das da, was sie selber so sorgfältig versperrt hatte, war und blieb wohl auch in alle Zeiten männlich. Klar, eine Operation mochte das ändern, aber sie wusste wohl, dass eine solche immer nur geschlechtsangleichend war. Kein operierter Mann besaß eine Klitoris, kein Transsexueller konnte Kinder gebären.

Sie blieb stehen, als sie den Druck ihrer Blase bemerkte. "Du, ich muss mal. Wartest du hier auf mich?"

Barbara sagte, dass sie mitkommen wollte. Mitkommen? Aufs Frauenklo? Fast hätte sie laut gefragt. Hätte Barbara besser aufs Männerklo gehen sollen? So, im Dirndl?
Erst als sie die Toilette betraten und Monika den typischen Geruch wahrnahm und das Geräusch der klappernden Türen hörte, erinnerte sie sich an das letzte Mal, als sie hier gewesen war. Das war während der Herbstferien gewesen, als sie nach Daniela gesucht und diese schließlich in einer misslichen Lage auf der Herrentoilette gefunden hatte. Diese verdammten Schweine, die ihr das angetan hatten!
Instinktiv verweilte sie einen Augenblick an der Tür, vergewisserte sie sich zuerst, ob die Luft rein war. Dann öffnete sie die Tür der Behindertentoilette, griff Barbara am Arm und zog sie mit sich hinein - Keuschheitsgürtel oder kein Keuschheitsgürtel, das war jetzt egal.

Es war schwer auszumachen, wer wen küsste. Nach einer sehr kurzen Schrecksekunde hatte Monika sein Gesicht zu ihr herübergezogen und ganz automatisch etwas getan, was beide verblüffte. Barbaras unmittalbare Reaktion war Abwehr, dann aber stellte sie fest, dass es gar nicht so übel war, endlich das tun zu können, auf das sie bereits im Januar einmal spekuliert hatte, als Monika sie das erste Mal in ihre neue Wohnung mitgenommen hatte.

Monika hatte dieser fast magnetischen Kraft nicht widerstehen können, die von der anderen Person ausging. Es war ihr gelungen, ihr Projekt mit dem schönen Namen Barbara. Sie hatte eine Frau aus diesem dummen Jungen gemacht, eine Frau, für die man sogar so etwas wie Liebe empfinden durfte. Gedankenverloren driftete sie ab, ließ es zu, dass Barbara tief mit ihrer Zunge in ihren Mund eindrang. Und fühlte sich plötzlich leer und unausgefüllt, wie nur eine Frau es empfinden kann.
Sie wollte mehr! Am liebsten gleich jetzt und hier. Ihr Körper wollte es. Jetzt, nachdem sie sich von einigen selbstauferlegten Beschränkungen befreit hatte, auch dank des langen Gesprächs, das sie mit Agnes noch in der Klinik geführt hatte, jetzt begann ihr Körper ganz normale Bedürfnisse zu entwickeln, Bedürfnisse, wie sie bei jeder jungen Frau vorkommen.
Ohne nachzudenken schlug sie Barbaras Dirndlschürze und -rock hoch, tastete sie mit der Hand entlang ihrer Beine, hoch und höher, bis dorthin, wo ihre zitternden Finger nicht weiterkamen, weil sie von einer stählernen Barriere gestoppt wurden.
Sie versuchte nachzudenken, aber dazu brauchte das Hirn Sauerstoff, und der wurde immer knapper. Barbaras Lippen hatten sich eng an ihre eigenen angesogen, beider Atem ging stoßweise hin und her, ließ keinen klaren Gedanken mehr zu.
Ihre Hände drückten gegen Barbaras Brüste unter der weißen Dirndlbluse, aber auch hier war außer dem stählernen BH nichts zu fühlen. Egal, wie fest sie zupackte.

Barbara sah nur noch Sterne. Sie spürte den verzweifelten Druck auf ihre Brüste nicht, sah nur diese klammernde Hand, die in unnützer Heftigkeit ihre weggesperrten ´Brüste´ bearbeitete. Und sie spürte die andere Hand, die plötzlich das haben wollte, was monatelang gar nicht mehr zu ihrem Körper gehören durfte, weil Frauen so etwas nun einmal nicht hatten. Was war denn nur plötzlich in Monika gefahren?

Mit einiger Anstrengung machte diese sich schließlich von Barbara los. Heftig atmend fuhr sie sich übers Gesicht, dann sagte sie: "Komm, lass uns gehen!"

"Wohin?"

"Zum Küchentisch! Wohin denn sonst?"

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Der Anruf kam als sie gerade zum x-ten Mal den Inhalt ihres Rucksacks überprüfte. "Hallo? Ja, ich bin es. Wie bitte? Wann? Oh!" Das war dumm, vielleicht sogar mehr als dumm. Hatte sie denn nicht deutlich gesagt, dass sie in die USA fahren wollte und für die kommenden zwei Monate nicht mehr zur Verfügung stehen würde?

Aber die Anruferin ließ sich nicht abwimmeln. "Ja, entschuldige, Daniela, ich weiß ja, dass du mitten in den Reisevorbereitungen steckst. Aber ich kann niemand sonst erreichen. Alle sind irgendwie weg."

"Ich bin eigentlich auch schon weg!"

Die Frau lachte. "Uneigentlich aber habe ich dich doch noch erreicht, oder?"

"Ja, aber ich stehe bereits am Fuß der Freiheitsstatue und..." Dummerweise musste sie nun selber lachen.

"Willst mich wohl anlügen, was? Das muss aber bestraft werden, Daniela!" Die Stimme hatte plötzlich einen harten Ausdruck angenommen.

Daniela zögerte mit der Antwort. Was hatte die andere gerade gesagt? So etwas hatte sie von ihr bisher noch nicht gehört. Mit einem Mal wurde ihr ganz anders. "Nein, bestimmt nicht. Nur ein wenig geschummelt. Nichts, wofür ich bestraft werden müsste." Da war es wieder. Als sie das Wort aussprach hatte sie das leichte Ziehen im Unterleib sofort gespürt. Sie schloss die Augen. Warum war sie eigentlich noch hier? Warum war sie nicht gleich nach den mündlichen Abiturprüfungen gefahren? Weg, weg von all diesem Seltsamen, diesem Bizarren, das sich wie ein mentaler Bandwurm in ihr Bewusstsein geschlichen hatte? Sie hätte sich den nervigen Auftritt im Dirndl sparen können, hätte heute nicht in diesen gammeligen Jungensachen im Zoo herumrennen müssen, neben ihrem Bruder, der in ihrem Dirndl zwanzigmal besser aussah, als sie selbst.

"Schade", sagte die Frau. "Ich hätte sie dir gern einmal gezeigt ... muss doch mal ausprobieren, ob ich alles richtig gemacht habe."

Was hätte sie gern mit ihr ausprobiert? Daniela merkte, wie der Bandwurm gierig um sich fraß. Sie bemühte sich, das leichte Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. "Wann?", fragte sie.

"Um 18 Uhr. Und sei pünktlich, denn Unpünktlichkeit wird ganz bestimmt bestraft!" Es folgte ein heftiges Atemholen, dann sagte sie noch: "Und ich hoffe, du hast für heute Abend noch keine großen Pläne, oder so. Nicht, dass ich dich noch persönlich vom Empire State Building runterholen muss!" Dann klickte das Telefon; sie hatte aufgelegt.

"Scheiße", murmelte Daniela, während ihre Hand sich in ihrem pochenden Schritt verkrampfte.

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Vorsichtig angelte die alte Frau Meisner nach ihrem Stock. Sie hatte lange genug in ihrem Bett gelegen, es war Zeit, zu handeln. Sie konnte es sich einfach nicht erlauben, noch länger zu warten. Mit jedem Tag, der ging, wuchs die Gefahr der Entdeckung. Es war schon erstaunlich genug, dass der Bub die Dose noch nicht gefunden hatte.
Bisher hatte sie innerhalb des Hauses eine ziemlich monströse Gehhilfe benutzt, die ihr Gehilfe - ihr Enkel! - vorsichtig durch die Wohnung schob, während sie sich auf dem Sitzbrett niedergelassen hatte. Aber das waren keine großen Ausflüge gewesen, vom Bett ins Bad und wieder zurück. Leider war ihr Haus nicht sonderlich behindertengerecht eingerichtet, so dass ihre Aktivitäten auf das Obergeschoss beschränkt gewesen waren.

Meilenweit entfernt vom Kellergeschoss!

Jetzt aber hatte ihr allgemeiner Gesundheitszustand sich verbessert. Sie konnte wieder richtige Nahrung zu sich nehmen, im Bett hatte sie begonnen, mit einem uralten Deuser-Band ihre schlappen Muskeln wieder aufzubauen. Sie musste es jetzt einfach versuchen, koste es, was es wolle.

Vorsichtig stützte sie sich auf ihren alten Stock. Ja, es ging. Es musste gehen! Schnell sah sie, dass die Treppe hinab ins Erdgeschoss ein großes Hinderniss darstellte. Aber die Treppe war relativ breit und besaß ein solides Geländer, an dem sie sich gut festhalten konnte. Noch immer bereitete ihr der verletzte Fuß Schmerzen, noch immer hatte sie keinen festen Halt. Vorsichtig, Stufe für Stufe, quälte sie sich hinab.
Als sie unten ankam war der alten Dame die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. Wie sie jemals wieder hochkommen sollte, daran mochte sie im Moment lieber nicht denken.
Es war warm im Haus, was ihren alten Knochen gut tat. Frau Meisner spürte die Energie, die wieder durch ihren Köper flutete. Aber wie lange diese anhalten würde, konnte sie nicht wissen. Hoffentlich lange genug.
Entschlossen tastete sie sich zur Kellertür vor. Sie öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Diese verdammte Treppe? War das überhaupt eine Treppe? Oder nicht doch eher eine Stiege? Linker Hand war ein dünner, wackliger Handlauf, die Stufen so schmal, wo sollte sie da ihren Stock aufsetzen? Sollte sie erst einen Schritt machen, oder doch besser zuerst den Stock aufsetzen? Sie entschied sich für den Stock, setzte ihn vorsichtig auf die Treppenstufe, und konnte gerade noch zurücktaumeln, als der alte, morsche Gummipfropf auseinanderbröselte und der Stock mit lautem Gepolter die Treppe hinabfiel. Sie selber griff mit der anderen Hand ins Leere, schwankte zurück und bekam Übergewicht, sodass sie mit unvermittelter Wucht auf die Seite fiel, weil sie noch im Fallen versucht hatte, sich zu drehen. Sie hörte ein schreckliches, knirschendes Geräusch, dessen Quelle in ihrer Hüfte zu liegen schien, und wusste im selben Augenblick, dass gerade eine Art Supergau stattgefunden hatte.

Mit letzter Kraft schloss sie die Kellertür, indem sie sie mit dem gesunden Bein zutrat, dann kroch sie in die Küche weiter, denn nur hier würde sie erklären können, wieso sie nach unten gegangen war. Plötzlich fiel ihr der unsinnige Reim eines Liedes ein, das sie voller Begeisterung als Kind gegrölt hatte, und plötzlich wusste sie, dass es zu Ende war, wenn nicht noch ein Wunder geschehe. Es brechen die morschen Knochen, wenn alles in Scherben fällt... Ja, alles würde jetzt in Scherben fallen, denn an Wunder glaubte sie schon lange nicht mehr.

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Der Heimweg zu Barbaras kleiner Dachwohnung war beiden unendlich lang vorgekommen. Jetzt aber hatten sie das alte, gemütliche Haus erreicht, Barbara hatte die Tür aufgeschlossen und war gleich darauf ins Bad gestürzt, denn ihr drohte bereits die Blase zu platzen.

Das hätte ich auch einfacher haben können, dachte sie, als sie sich umständlich den Schritt trocknete. Vielleicht hätte sie doch erst in die Küche gehen , die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel nehmen und aufschließen sollen? Egal wie man es macht, man macht´s verkehrt! Aber das Urinieren im Sitzen war nicht so schlimm, sie hatte sich längst daran gewöhnt. Dumm war nur, dass es ihr trotz aller Übung immer noch nicht gelungen war, das Kleine Geschäft halbwegs spritzerlos über die Bühne zu bringen.
Sie ordnete ihre Kleider, zog an der Strippe, denn das Klo hatte immer noch einen altmodischen Wasserkasten oben an der Wand, dann wusch sie sich die Hände. Sie atmete noch einmal tief durch, als sie daran dachte, was gleich geschehen würde.

Als sie aus der Toilette rauskam sah sie auf dem Weg zur Küche Monika, die sich bereits nackt ausgezogen hatte und gerade dabei war, das Wohnzimmerfenster zu öffnen. Ein Zettel flog bei dem Luftstrom vom Wohnzimmertisch, sie bückte sich, ihn aufzuheben.

Barbara machte die wenigen Schritte in die Küche. Ihr Herz klopfte, sie musste sich zwingen, halbwegs ruhig zu bleiben. Aber welcher Mensch hat in solch einer Situation seine Hormone noch unter Kontrolle?
Auf dem Küchentisch lagen keine Schlüssel. Nanu? Hatte sie die Schlüssel mittags wo anders abgelegt? Oder hatte sie sie in eine Schale getan? Nein, auch nicht. Vielleicht in die Schublade? Nichts.
Sie überlegte. Wo hatte sie ihre stählerne Unterwäsche angelegt? Ach, natürlich, im Schlafzimmer! Wahrscheinlich hatte sie sie auf den Bettkasten gelegt.

Sie ging hinüber und sah nach. Nein, auf dem Bettkasten waren sie auch nicht. Langsam wurde sie unruhig.

"Barbara!??" Dass Monika ausgerechnet jetzt nach ihr rief war extrem störend.

"Ja?"

"Barbara! Wer ist Großes E Punkt?"

Sie wankte, als sie dies hörte. Für einen Moment drohte ihr schwarz vor Augen zu werden, dann ging sie unsicher ins Wohnzimmer, blieb aber in der Tür stehen. Monika stand dort, wie der liebe Gott sie erschaffen hatte, ein Anblick der alles in ihm durcheinander brachte. Dirndl hin oder her. Wie er sah hielt Monika einen weißen Zettel in der Hand.

"Was ... was meinst du?", stotterte er mit sichtlicher Mühe.

"Ich meine diesen Zettel hier. Er hatte auf dem Tisch gelegen. Da hat jemand einen Gruß für dich hinterlassen! Soll ich ihn dir vorlesen?" Monikas Stimme hatte etwas Gereiztes an sich.

Wie er sah machte sie sich nicht einmal die Mühe, ihre Brüste mit dem Arm zu bedecken. Irgendweshalb, einem Reflex folgend, schloss er seine Augen, seine Hand fuhr in seinen Schritt, wo er statt eines steil und machtvoll aufgerichteten Gliedes nur die glatte Oberfläche des vermaledeiten Keuschheitsgürtels spürte. Statt einer Antwort nickt er bloß.

"Also hier steht: Du willst dich doch wohl nicht ohne mich vergnügen?? Damit du noch etwas mehr davon hast habe ich die Schlüssel mitgenommen. Wir sehen uns dann! Kuss, E." Monika senkte den Arm und starrte ihn ungläubig an. Dann kam sie, wie sie war, zu ihm hinüber und begann noch einmal, ihn leidenschaftlich zu küssen. Ihre Hand rutschte unter seinen Rock. Und während sie ihn weiterküsste, fragte sie ihn: "Sag, dass ich mich irre. Dass das hier nicht stimmt. Ich will jetzt von dir gef ickt werden, Barbara. Richtig. Jetzt oder nie!"

Er riss sich mühsam von ihr los, heftig nach Atem ringend. "Tut mir leid", stammelte er.

"Es tut dir leid? Du meinst, du hast die Schlüssel nicht hier? Und wenn du sie nicht hast, wer hat sie dann?"

"Hast du ja selbst gesehen! Großes E Punkt."

"Und wer ist diese ominöse Fremde? Oder ist es ein Typ?"

"Ich hab nichts mit Männern!" Er bemühte sich, weiterzusprechen, bevor sie ihm ansehen konnte, dass auch das nicht so ganz stimmte. "Sie heißt Eva. Mehr weiß ich eigentlich auch nicht."

"Eva?", echote Monika, während sie bereits dabei war, sich ihre Sachen wieder anzuziehen. "Einen Nachnamen hat sie nicht?"

"Kallipke. Eva Kallipke. Du kennst sie nicht."

"Noch nicht!", rief Monika laut zurück, während sie bereits die Wohnungstür öffnete. Ohne sie wieder hinter sich zuzumachen stürmte sie die kurze Treppe hinab. "Die wird mich kennen lernen! Die bring ich um!", war das Letzte, was Klaus noch hörte, bevor seine Freundin wutentbrannt zur Haustür hinausstürmte.



Klaus taumelte zurück. Er ließ sich aufs Sofa fallen, fühlte sich urplötzlich sterbensschwach. Er zitterte am ganzen Leib. Barbara war wieder weit weg. Die ganze vertrackte Situation hatte nur dazu geführt, dass er plötzlich wieder ein Mann in Frauensachen war.
Eva!! Wieso hatte die hier auftauchen müssen, ausgerechnet heute, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo das größe Abenteuer seines Lebens bevorstand? Das war einfach nicht gerecht! Was hatte er denn Böses getan, dass das Schicksal ausgerechnet ihm immer so übel mitspielte? Dicke, salzige Tränen quollen aus seinen Augen und liefen seine Backen hinab, er war wirklich am Ende seiner Kräfte angekommen.

Und jetzt? Er richtete sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. ´Hör auf zu flennen!! Richtige Jungs heulen nicht!´, hörte er eine Stimme wie aus weiter Ferne an sein Ohr dringen. Eine Stimme, die er nicht hören wollte und sofort wieder verdrängte.
Er hatte keine Wahl. Er musste warten, bis Eva zurückkam - falls das heute noch der Fall war, oder er musste so, wie er war, wieder zu seiner Oma zurückgehen. Kein Problem, denn sie hatte ihn bereits mehrmals als Barbara gesehen.

Er sah auf die Uhr und überlegte, wie lange er wohl warten solle. Er konnte nur hoffen, dass Monikas frommer Wunsch nicht wahr würde, bevor Eva mit den Schlüsseln zu ihm gekommen war.

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Es war zehn Minuten vor sechs als Daniela ihr Fahrrad aus dem Ständer zog und verärgert feststelle, dass das Vorderrad platt war. Sie fluchte leise vor sich hin. Jetzt würde sie zu spät zur Messe kommen. Zwar nicht direkt, denn die Messe selber fing erst um Viertel nach sechs an, aber halt eben auf den letzten Drücker, und das mochte Schwester Hildegard gar nicht gern.

Verdammt. Sie überlegte einen Moment, ob sie das Rad noch in aller Schnelle flicken könnte, etwas, das sie von ihrem Bruder gelernt hatte, aber dann sah sie plötzlich, dass jemand das Ventil herausgedreht hatte.
Das ist ja wie in einem Krimi! Sie merkte, wie ihr trotz der sommerlichen Hitze ein leichter Schauer den Rücken hinablief. Irgendjemand hatte die Luft aus ihrem Reifen gelassen! Schwester Hildegard?? Nein, unmöglich, das konnte einfach nicht sein. Oder doch? Vielleicht wollte Schwester Hildegard ja, dass sie zu spät käme!

Wenn sie jetzt losliefe, könnte sie es mit einigem Tempo gerade noch schaffen. Aber eine japsende Messdienerin war sicherlich das Letzte, was die Leute in der Kirche sehen wollten. Vielleicht hatte sie doch noch eine Chance. Sie wusste, wo das Flickzeug lag, und sie wusste auch, dass es Reserveventile gab.
Daniela rannte zurück ins Haus, fand in Windeseile den kleinen Kasten mit dem Flickzeug, brauchte aber dummerweise geschlagene fünf Minuten, die Luftpumpe zu finden, die irgendjemand nach dem letzten Gebrauch nicht wieder an ihren Platz gelegt hatte. Als sie sie schließlich am neu angeschraubten Ventil ansetzte war es bereits nach sechs Uhr. Leider gab die Pumpe mehr Geräusch als Luft von sich, fast alles zischte laut am Ventil vorbei. So wurde es fast fünf nach sechs, bevor sie sich in den Sattel schwingen und auf den ca. zwei Kilometer entfernten Weg zur Kirche machen konnte.

Atemlos erreichte sie die Kirche knappe fünf Minuten später. So schnell war sie selten unterwegs gewesen! Bloß gut, dass sie nur ein loses Top und einen kurzen Jeansrock trug, andernfalls hätte sie sich zu Tode geschwitzt. In der Sakristei, in der es immer mindestens zehn Grad kälter zu sein schien, fröstelte sie augenblicklich und beeilte sich, ihre Gewänder anzuziehen. Der lange schwarze Messdienerrock klebte an ihren verschwitzten Beinen, mit dem weißen Rochett verhaderte sie sich. Schnell machte sie noch ihre Haare zurecht, was dank ihrer Kurzhaarfrisur eine Sache von fünf Sekunden war, dann begleitete sie den Priester, der schon ungeduldig gewartet hatte, hinaus in den Kirchraum. Wie sie sah war die Kirche halbwegs gut besucht, wahrscheinlich hatten viele Gläubige den Besuch der Messe wegen des guten Wetters in den Abend verschoben. Immerhin hatte sie sich nicht umsonst angestrengt.

Die Messe verlief ruhig, nur mit der Ausnahme, dass Daniela etwas mehr als sonst zu tun hatte, da sie ja allein gekommen war. Aber da der Priester auf eine Predigt verzichtete war alles nach nur einer Dreiviertelstunde überstanden.
Daniela ging in der Sakristei zurück zu ihrem Schrank und wollte sich gerade ihre Messdienerkleidung ausziehen, als plötzlich Schwester Hildegard, wie aus dem Boden gewachsen, vor ihr stand und sie am Arm ergriff. Daniela fuhr vor lauter Schreck zusammen und gab einen Laut der Überraschung von sich.

"Nun? Hat da jemand ein schlechtes Gewissen?", fragte die Ordensschwester sie, während sie sie mit kaltem Blick musterte.

"Schlechtes Gewissen?", gab Daniela zurück. "Ich wüsste nicht, warum ich eins haben sollte."

"Weil du zu spät gekommen bist! Du hast es ja nur auf den allerletzten Drücker geschafft; beinahe hätten wir ohne dich anfangen müssen."

Daniela blickte wie ein ertappter Sünder zu Boden. "Entschuldigung", stammelte sie verlegen.

Aber Schwester Hildegard ging nicht darauf ein. Sie griff das Mädchen am Arm und zog sie mit sich fort. "Komm, ich muss dir etwas zeigen. Nein, nicht hier. Es ist unten in der Krypta."

Daniela wunderte sich. Sie wusste sehr wohl, dass es unter der Kirche eine Krypta gab, hatte dort aber noch an keiner Messhandlung teilnehmen müssen. Es war selten genug, dass die Krypta genutzt wurde, wenn überhaupt, dann höchstens einmal für einen Ausländergottesdienst oder eine familiäre Feier, bei der die Teilnehmerzahl begrenzt war.
Sie folgte der Schwester die nur spärlich beleuchtete Treppe hinab. Es ging durch einen langen Gang, die Schwester öffnete die zweiflügelige Tür zur Krypta, schaltete das Licht ein und bedeutete ihr, ihr in den stillen Raum zu folgen. Daniela merkte sofort, dass die Temperatur hier unten sicherlich keine 20° betrug, mit anderen Worten: es war eisig. Sie war froh, dass sie immer noch ihre langen Gewänder trug, in ihrem kurzen Top und Jeansrock hätte sie sicherlich gefroren. Die Luft wirkte abgestanden, ein Hauch von Weihrauch hing noch im Raum; wie lange es her war, dass man ihn zuletzt genutzt hatte, vermochte sie aber nicht zu sagen.

Die Nonne zog sie jetzt hinter sich her, hin zu einer Seitentür, die sie mit einem Schlüssel, der im Schloss steckte, aufschloss. Ein neuer Gang, eher eine Art Abstellkammer, kam zum Vorschein. Daniela fröstelte.

"Was ist das hier, Schwester Hildegard?" Sie erblickte diverse Devotionalien, nebst einer Unzahl kleiner, weißgelber Fähnchen an hölzernen Stangen auch ein größeres, viereckiges Tuch aus feinstem Stoff, das an den Ecken an langen Stangen montiert war und nun angestaubt in einer Ecke stand.

"Nun ja, man könnte es eine Art Rumpelkammer nennen", antwortete die Ordensfrau ihr. Alles Dinge, über die der Zahn der Zeit hinweggegangen ist. Das Ding da hinten...", sie deutete auf das große Tuch, "ist ein sogenannter Himmel. Früher, als wir hier in Köln zu Fronleichnam noch eine Prozession durch die Straßen machten, da wurde dieser Himmel von vier Gemeindedienern getragen - schwarzer Anzug, weiße Handschuhe, und unter diesem Himmel ging der Pastor und trug die Monstranz, während die Gläubigen, die die Straße mit schönsten Blumenornamenten und jungen Birkenbäumchen geschmückt hatten, niederknieten. Aber das gibt es hier bei uns schon lange nicht mehr. Zu viele Autos, zu wenig Gläubige, tja..." Sie ließ einen lauten Seufzer hören. "Aber deswegen habe ich dich nicht mirgenommen. Ich will dir etwas zeigen und mal deine Meinung dazu hören."

Der Gang - die ´Rumpelkammer´ - endete an einer weiteren Tür, die relativ neu aussah. Eigentlich nur eine ganz billige Tür vom Baumarkt, die in eine hölzerne Bretterwand eingelassen war. Dennoch war sie mit einem modernen Schloss gesichert, wie Daniela sofort feststellte. Aber das vielleicht Bemerkenswerteste war die eigentümliche Verzierung, die rund um die Tür angebracht war. Diese bestand auf einem dicken Wulst ineinander verflochtener Zweige, wie sie von einem Brombeerstrauch kommen mochten, auf jeden Fall waren sie voll spitzer Dornen, wie Dani prüfend bemerkte. Oben über der Tür war ein Schild angebracht, das mit breitem Pinselstrich geschrieben das Wort Confiteor trug. Daniela merkte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten.

Die Nonne lachte, ein unangenehmes Lachen, das sich im düsteren Gang verpflanzte. "Ja, du siehst, ich habe mir redlich Mühe gegeben! Zugegeben, es ist nicht gerade Rodins Höllentor, aber... nun ja..." Sie brachte den Satz nicht zu Ende, während sie einen Sicherheitsschlüssel von einer Kette nestelte, die sie um den Hals trug. Dann sperrte sie die Tür auf.

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Damit möchte ich nun all meinen Lesern ein gesegnetes Weihnachtsfest wünschen! Und ich habe ein kleines Geschenk für Euch!! Ich habe ja nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich meine Fortsetzungen immer deshalb erst um 22 Uhr bringe, weil ich möchte, dass sich alle erst einmal ihren Familien widmen können.
Aber es ist mir auch bewusst, dass es bestimmt eine Menge Leser gibt, die das Weihnachtsfest allein, ohne Familie oder Freunde, verbringen werden. Deshalb werde ich die Fortsetzung bereits zu Weihnachten bringen, da habt auch Ihr etwas, auf das Ihr Euch freuen könnt! Wann genau sie kommt, sage ich aber noch nicht! Soll ja etwas spannend bleiben!

Weihnachtliche Grüße, Eure Daniela 20
38. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 24.12.12 22:26

Hi Daniela,

eine sehr spannende Fortsetzung, vielen Dank dafür!

Die Entwicklung von Monika ist sehr interessant. Sie hat zu echten Gefühlen gefunden, die sie offenbar jetzt auch wirklich ausleben will. Es scheint fast so, als hätte sie Barbara geschaffen, weil sie sich dies mit Klaus nie erlaubt hätte sonst. Also quasi ein Akt zur Selbstbefreiung, zumal sie jetzt ja Sex mit Klaus will, sogar dafür kämpft. Die Gefühlslage von Klaus ist dabei sehr nachvollziehbar, er fühlt sich total verstrickt. Da kann man nur hoffen, daß er bald Klarheit für sich wiederherstellt, wer er ist und was er will. Eine Idee davon scheint er ja zumindest zu haben.

Eine Dose also, die Frau Meisner suchte, und so unbedingt sicherstellen will. Was der Inhalt wohl ist? Diesen zweiten Bergungsversuch hat sie ja jetzt ziemlich teuer bezahlen müssen. Zumindest bin ich froh, daß sie noch lebt - und hoffentlich bald gefunden wird. Jedoch wird das wohl ein weiteres ungewolltes Outing für Barbara dann werden, vor den Rettungskräften, die er hoffentlich noch rechtzeitig rufen kann.

Ich bin gespannt, wie Daniela in Deiner Geschichte die Strafbank findet, die sie offenbar erwarten wird...

Daniela, Dir herzlichen Dank für Deine guten Wünsche. Es ist wirklich schön, wie Du insbesondere für die sorgst, die Weihnachten allein feiern müssen. Auch Dir ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest!

Liebe und weihnachtliche Grüße
Keuschling
39. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 26.12.12 10:37

Ein kleines Weihnachtsgeschenk für alle, die sich heute sonst zu Tode langweilen würden! Gute Spannung beim Lesen wünscht Eure Daniela!
PS: Danke auch für die Weihnachtsgrüße an mich!! Freue mich immer, auch über Kommentare hier zur Geschichte! Lob oder Kritik, traut Euch ruihg mal, ein wenig zu schreiben --- und ich gehe mal davon aus, dass man sich angemeldet hat und vielleicht schon einmal dem Forum eine kleine Gabe in Form einiger kleiner Münzen hat zugutekommen lassen!!

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Er konnte nicht länger warten. Klaus sah, dass es bereits nach acht Uhr war, höchste Zeit, sich um die Großmutter zu kümmern. Dass Eva ´wir sehen uns dann´ geschrieben hatte, musste rein gar nichts bedeuten. Vielleicht würde sie erst am späten Abend noch einmal kommen, vielleicht aber auch nicht.
Dennoch zögerte er etwas. Sollte er wirklich so gehen? Im Dirndl? Aber er spürte, dass er keine Lust hatte, sich jetzt noch einmal umzuziehen. Männliche Kleidung fiel sowieso flach, solange er den stählernen BH trug, denn dessen Beulen ließen sich unter keinem Hemd verstecken. Also im Dirndl! Missmutig schnappte er sich seine Handtasche und verließ die Wohnung.

Es wollte ihm nicht gelingen, wieder in sein alter-ego zu schlüpfen. Immer noch war sein ganzes Denken von jener missratenen Aktion bestimmt, jener missratenen männlichen Aktion. Im Geiste sah er sich wieder und wieder, wie er mit steifem Glied in Monika eindrang, wie er sie endlich nehmen konnte, wie er ihr zeigen konnte, dass er trotz aller Verwandlungen immer noch ein Mann war. Aber diese Bilder hatte er nur, wenn er die Augen schloss, wenn er seiner unerfüllten Fantasie freien Lauf ließ; in Wahrheit war nichts davon auch nur annähernd geschehen. In Wahrheit begleitete Barbara ihn, erinnerte ihn als Reflektion seines unerfüllten Selbst, wann immer er an einem Schaufenster vorüberging, ließ ihn nicht mehr los, krallte sich mehr und mehr an ihm fest.

Im Zimmer seiner Oma brannte noch kein Licht. Aber es war ein heller Sommerabend, die Sonne war noch nicht einmal untergegangen. Er schloss mit seinem Schlüssel die Haustür auf, wünschte sich ein weiteres Mal, schnell wieder unter Barbaras beschützenden Mantel schlüpfen zu können, aber es wollte im Moment nicht gelingen. Bewusst ließ er die Haustür laut ins Schloss fallen; seine Oma sollte hören, dass er endlich gekommen war.

Gespannt wartete er auf ihren üblichen Begrüßungsruf, auf ihr ´Bub, bist du es?´, aber es herrschte gespenstische Stille in der alten Villa. Nanu? Dann vernahm er leises Wimmern, das aus der geöffneten Küchentür kam.

Als er seine Großmutter mit gebrochener Hüfte auf dem Küchenfußboden liegend vorfand, hätte er sie beinahe wütend angeschrien. Nur mit Mühe hatte er sich vor gerade einmal einer halben Stunde vom Sofa hochgerappelt, hatte er sich zusammengerissen, obwohl alles in ihm nur noch nach einer Bettdecke über dem Kopf schrie, und jetzt kam noch eine Katastrophe. Mehr ging nicht, das spürte er sofort, aber jetzt kam es darauf an, wenigstens noch solange einen kühlen Kopf zu bewahren, bis der Krankenwagen seine Oma abgeholt hatte.

Trotz ihres Jammerns verstand er, dass sie Hunger gehabt hatte, dass sie hier in der Küche aber ausgerutscht war und sich wohl die Hüfte gebrochen hatte. Oberschenkelhalsfraktur, dachte er und erinnerte sich an einen Kursus, den er letztes Jahr absolviert hatte. Das würde mindestens mehrere Wochen im Krankenhaus bedeuten.
Jetzt gab es nur noch eine Hürde zu nehmen. Er musste schleunigst einen Rettungswagen anrufen. Die Sanitäter würden ihm Fragen stellen, und er würde sie beantworten müssen. Er. Aber er steckte in einem dämlichen Dirndl, und Sanitäter waren keine Leute, denen man etwas vormachen konnte. Andererseits konnte er nur darauf hoffen, dass solche Leute von ihren Hausbesuchen wohl allerhandlei gewohnt waren, er wäre bestimmt nicht der erste Transvestit, der ihnen begegnete. Falls er überhaupt ein solcher war.

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Daniela hatte Angst, ihr weißes, frisch gestärktes Rochett könnte schmutzig werden, aber als Schwester Hildegard die Tür öffnete und das Licht einschaltete, sah sie einen kleinen, relativ sauberen Raum. Eigentlich war dieser nur das abgeteilte Ende des Ganges, in dem sie sich befanden, durch die eingesetzte Bretterwand war hier aber ein separater Raum entstanden, ein Raum, zu dem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur Schwester Hildegard einen Schlüssel besaß.
Warum, konnte Daniela sofort sehen. Fast die gesamte Breite des Raums wurde von einer almodischen Kniebank eingenommen, allerdings einer Bank ohne Sitzgelegenheit. Die Buchablage, also jenes Teil, auf das man beim Beten die gefalteten Hände zu legen pflegte, war über und über mit langen, spitzen Heftzwecken besetzt, an einer soliden Öse waren Handschellen mittels eines kleinen Vorhängeschlosses befestigt.
Vor dieser Kniebank, an der Wand, hing ein mittelgroßes Kruzifix, das links und rechts von zwei Kerzen beleuchtet werden konnte.

Sie wollte gehen, diesen Ort der Finsternis so schnell wie möglich wieder verlassen, aber die Nonne stand hinter ihr und blokierte die Tür.

"Nun, was sagst du?"

"Was haben Sie mit mir vor? Lassen Sie mich gehen!" Es klang wie aus einem schlechten Film.

"Nichts. Ich wollte nur mal wissen, ob meine Konstruktion so halbwegs richtig ist, oder nicht. Du hast doch das Ding in München gesehen, Daniela."

Daniela musste schlucken. Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. "Nein", antwortete sie. "Nein, so stimmt das nicht. Da fehlt doch das Wichtigste, die Sitzbank mit den messerscharfen Stacheln. So, wie es jetzt ist, kann man sich ja immer noch irgendwie auf den Allerwertesten setzen."

"Ja, ich weiß. Aber sieh mal hier, ich habe die ganzen Teile schon beieinander. Da muss nur noch ein wenig geschraubt werden. Ich denke mal, in ein paar Tagen werde ich es fertig haben."

Daniela fiel ein Stein vom Herzen. "In ein paar Tagen bin ich weit weg", murmelte sie erleichtert.

"Schade. Aber Luise wird ja noch hier sein." Luise war das andere Mädchen, das mit ihr zusammen im Herbst zu den Messdienern gekommen war. Sie war etwas jünger und führte sich manchmal ziemlich albern auf, wie Daniela fand. "Etwas verschärftes Training wird ihr gut tun!"

Verschärftes Training! Daniela lief es eiskalt den Rücken runter. Sie wagte es nicht, etwas zu sagen. In einer Ecke sah sie etwas Stuhlähnliches, daneben eine Tüte mit langen, sehr spitzen Nägeln. Sie schlug die Arme um sich.
"Mir ist kalt. Ich hole mir hier unten noch den Tod. Schwester Hildegard, eine Erkältung kann ich mir jetzt nicht leisten, so kurz vor meiner Reise."

"Du hast recht, Daniela. Ich wollte ja auch nur mal deine Meinung hören. Wenn du zurückkommst, dann kannst du das fertige Ergebnis sehen. Wie lange bleibst du denn in Amerika?"

"Acht Wochen. Im August komme ich wieder zurück." Vielleicht sollte ich besser dort bleiben?

"Dann meld dich ruhig wieder bei mir. In den Sommerferien können wir immer Messdiener brauchen, Daniela! So, dann lass uns mal wieder zurück in den Sommer gehen!"

Wenige Minuten später saß Daniela wieder auf ihrem Fahrrad und radelte durch den immer noch schwülwarmen Sommerabend zurück nach Hause. Eine Gänsehaut hatte sie immer noch.

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"Wohin bringen Sie sie?" Es war Klaus gerade noch rechtzeitig eingefallen, sich bei einem der Sanitäter zu erkundigen, bevor sie mit seiner Großmutter davonfuhren.

"Ins MRI. Kommen Sie morgen mal vorbei, dann kann man Ihnen sicherlich genauer sagen, wie lange ihre Großmutter im Klinikum bleiben muss. Aber ich denke mal, mit ein paar Wochen können Sie bestimmt rechnen." Der Sanitäter hatte ihm sachlich geantwortet, aber der Blick, den er ihm gleichzeitig sandte, sprach Bände.

Klaus schloss die Tür hinter den beiden, nachdem er sich von seiner Oma verabschiedet und versprochen hatte, am nächsten Tag zu ihr ins Krankenhaus zu kommen. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Haustür, wobei er laut und geräuschvoll ausatmete. So ein scheiß Tag!

Er hatte die beiden Sanitäter, einen Mann im mittleren Alter und eine noch recht junge Frau, hereingebeten und sie sofort in die Küche geführt. All das ging ohne viel Worte ab. Fragen, ob sie sie gefunden hätte und wann und wo, ließen sich noch mit wenigen Worten beantworten. Man stellte fest, dass die Anwesenheit eines Notarztes nicht erforderlich war; die alte Dame konnte problemlos versorgt werden. Sie wurde auf eine Tragbahre geschnallt und in den Rettungswagen gebracht. Dann waren beide Sanitäter eingestiegen und er hatte ins Haus zurückgehen können.

Heftiges Klopfen an die Tür schreckte ihn noch einmal hoch. Hatten sie etwas vergessen?

Es war die Frau, die entschuldigend dreinblickte. "Es tut mir leid, dass ich Sie noch einmal stören muss. Aber wir brauchen noch Angaben zu Ihrer Person."

Klaus merkte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. "Muss das sein?", fragte er zögerlich.

"Nur für die Akten. Machen Sie sich keine Sorgen."

"Keine Sorgen??" Er sah sie verdattert an.

"Nun ja..." Sie schien nicht recht zu wissen, wo sie hinschauen sollte. Dann streckte sie die Hand nach ihm aus, allerdings ohne ihn zu berühren. "Ein hübsches Dirndl..."

"Danke." Klaus wich ein wenig zurück. "War es das schon?"

"Nein. Ich brauche Ihren Namen und Ihre Anschrift. Oder wohnen Sie mit hier im Haus?" Sie hatte einen Vordruck auf einem Klemmbrett, den Stift schreibbereit in der rechten Hand.

"Nein. Ich meine, nein, ich wohne nicht hier. Ich heiße ... Barbara." Er hatte es nicht geschafft, es flüssig, in einem Satz, zu sagen. Wie er sah, hatte sie den Stift aufs Papier gesenkt, aber sie schrieb nicht.

Die junge Sanitäterin sah ihn an. Sie zögerte. "Sind Sie sicher, dass ich das schreiben soll? Es könnte ... es könnte kompliziert werden. Für Sie. Falls Sie verstehen, was ich meine."

Er verstand es sehr gut. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Monatelang hatte er im Winter als Frau gelebt, aber das war eine dunkle Jahreszeit, da hatte er sich unter einem langen Mantel verstecken können; großartigen Kontakt hatte er selten zu Fremden gehabt. Vielleicht abgesehen von dem Behinderten, den er betreute, aber der war sowieso nicht ganz richtig im Kopf. Die jetzige Situation war neu.
Er schüttelte den Kopf. "Nein, vielleicht haben Sie recht. Es könnte Probleme geben. Immerhin bin ich ihr einziger Angehöriger hier in München. Meine Mutter ist die einzige Tochter; sie lebt in Italien. Also schreiben Sie..." Er nannte ihr seinen richtigen Namen und die Adresse.

Die Sanitäterin notierte alles auf ihrem Vordruck. "Glauben Sie mir, das ist besser so."

"Und ihr Kollege? Muss der...??"

"Nein, muss er nicht. Der muss jetzt nur noch fahren. Was ich hier schreibe, bekommt er nicht zu sehen. Und was wir zu sehen bekommen haben, bekommen andere nicht zu wissen." Sie lächelte ihn an. Dann geschah etwas Unerwartetes. Sie beugte sich vor, griff in seinen Schritt, gab ihm einen tiefen Zungenkuss, und flüsterte: "Danke Barbara. Sie sehen toll aus! ... Oh, was ist das?" Mit einer raschen Bewegung hatte sie seinen Rock angehoben und seinen blitzenden Keuschheitsgürtel freigelegt. Sie sah ihn höchst erstaunt an, dann lachte sie, klopfte mit der Hand gegen den KG und fragte: "Braucht es hier vielleicht einen Sanitäter? Ich hätte um elf Uhr Feierabend!"

Klaus war wie versteinert. Ein hilfloses Lächeln huschte über sein Gesicht, sein Kopf machte unkontrollierte Bewegungen. Er hörte noch, wie die Tür wieder geschlossen wurde und der Wagen davonfuhr. Dann ließ er sich auf den Fußboden sinken.
Ein Loch im Boden wäre ihm jetzt gerade recht gewesen. Der heutige Tag hatte ein schlechtes Karma, so viel stand fest. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch atmete. Er überdachte seine Situation. Seine Affären schienen komplett unüberschaubar. Da gab es Daniela, die nur Klaus wollte. Monika, die nur Barbara wollte. Eva, die nahm was sie kriegen konnte, sich selber aber immer in der Deckung hielt. Andrea als großes Fragezeichen. Und war nicht gerade noch eine weitere Person hinzugekommen? Wieso übte er auf andere Menschen als Barbara solch eine Anziehungskraft aus? Es war Zeit für einen längeren Urlaub, oder die Klapsmühle. Eins von beiden!

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Als Monika am nächsten Morgen aufwachte, war sie stocksauer. Enthaltsamkeit, hatte Agnes ihr gesagt. Ja, aber doch nicht... so! Wer mochte diese neunmal verfluchte Eva Kallipke sein? Von dieser Tussie hatte sie noch nie zuvor gehört. Scheinbar war sie ein ernst zu nehmender Konkurrent.
Sie sprang aus dem Bett und eilte auf die Toilette. Konkurrenz belebt das Geschäft, so hieß es, aber Monika war klar, dass das in diesem Fall wohl eher nicht stimmte. Sie konnte keine Konkurrentin gebrauchen, erst recht keine, die plötzlich die Schlüssel zu seinem Ding da besaß. Verdammt verdammt!!
Erneut spürte sie die unerfüllte Geilheit in sich aufsteigen. Sie hätte sich selber Linderung verschaffen können, denn seit Wochen schon lag ihre Knospe ungeschützt, aber sie zuckte immer wieder zurück, schaffte es nie, ihre Hand lang genug dort zu lassen, wo es am schönsten war.

Sie musste auf andere Gedanken kommen. Hatte sie sich schon bei Daniela gemeldet und eine gute Reise gewünscht? Nein. Also nahm sie ihr Handy, das immer griffbereit in ihrer Nähe lag, und betätigte die Kurzwahl für Danielas Nummer.

"Ja?" Ihre Stimme klang müde.

"Morgen Dani! Ich wollte dir nur mal schnell noch eine gute Reise wünschen. Wann geht´s denn los?"

"Übermorgen. Sag mal, weißt du wie spät es ist? Noch nicht einmal sieben!"

"Ja. Etwas früh, ich weiß. Aber ich konnte nicht mehr einschlafen; muss erst heute Nachmittag zur Uni."

"Schon gut. Jetzt stehen wohl ´ne Menge Prüfungen an, Klausuren und so?"

"Leider. Würd auch lieber mit dir durch die USA bummeln. Und sonst so? Was macht die Liebe?" Es war klar, dass sie nicht von der Liebe sprach.

"Nix is. Eigentlich schon seit Ostern nicht mehr. Ist echt langweilig."

"Gehst du noch Messe dienen?" Eine bessere Frage fiel Monika nicht ein. Das Gespräch schleppte sich nur mühsam dahin.

"Ja. Gestern Abend noch. Ich..." Daniela stockte. Sie ließ ihr Handy sinken und fuhr sich mit der anderen Hand über die Augen. War das wirklich passiert? Hatte Schwester Hildegard sie wirklich nach der Messe mit in die Krypta genommen und ihr dort ihr höchspersönliches Höllentor gezeigt? Oder hatte sie all das nur geträumt? Die Erinnerung kam ihr sehr real vor. Vielleicht doch etwas zu real für einen Traum?

"Dani?? Bist du noch da?"

"Ja. Mir war das Handy runtergefallen. Du, danke für deinen Anruf. Aber ich bin schlecht drauf im Moment. Reisefieber oder so, keine Ahnung. Ich glaube, ich brauche noch ´ne Mütze voll Schlaf."

Monika wünschte ihr alles Gute und eine glückliche Heimkehr und bat sie, ab und zu mal etwas auf ihrer Facebook-Seite zu schreiben, dann unterbrach sie das Gespräch. Unmittelbar darauf klingelte ihr Handy selber.

"Barbara?" Das war bisher noch nicht vorgekommen, dass sie bei ihr angerufen hatte. "Scheiße", murmelte sie.

"Ja, das war echt scheiße. Tut mir leid, Monika. Glaub mir, das war für mich schlimmer, als die drei Monate vor Ostern."

"Geiler Bock!" Hoffentlich bekam sie das jetzt nicht in den falschen Hals. "Ne, entschuldige. Hab´s nicht so gemeint."

"Schon gut. Du hast ja recht. Meine Oma ist ins Krankenhaus gekommen. Gestern Abend. Sie ist gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen."

"Ach du scheiße. Na ja..." Gerade rechtzeitig fiel ihr noch ein, dass sie eigentlich keine sonderliche Symphatie für Klaus´ Großmutter hegte. "Und, ist das jetzt mehr Arbeit für dich? Ich meine... vielleicht sollten wir bald mal wieder... vorausgesetzt, diese blöde Tussie lässt dich irgendwann mal wieder aus deinem KG raus?" Sie biss sich auf die Lippe. Derartiges Drängeln war ungewohnt für sie. Aber sie fühlte, dass ihr keine Zeit für vorsichtiges Taktieren blieb. Sie wollte es, und sie wollte es jetzt.

"Klar doch, Monika. Wenn ich zurückkomme." Er atmete deutlich hörbar aus.

"Wenn du zurückkommst? Von wo?", fragte sie ungläubig.

"Kann sein, dass ich mal meine Mutter besuche. Hab sie lange nicht mehr gesehen. Weißt du, meine Oma muss mindestens drei Wochen im Krankenhaus bleiben, sie liegt im MRI. Und nun ja, ich finde, ich habe mich lange genug um sie gekümmert. Also, ich melde mich dann wieder, wenn ich zurück bin. Versprochen! Kuss!!" Er ließ dem Wort noch zwei laute Schmatzer folgen, dann klappte er sein Handy zu.

"Und? War es so schlimm?", fragte die Frau, die neben ihm lag, während sie wenig lustvoll über jene stählerne Beule streichelte, unter der sie nicht ohne Grund sein Glied vermutete. "Warum hast du sie eigentlich nicht gefragt, ob es irgendwo noch einen Zweitschlüssel gibt? So hast du doch gar nichts davon!" Sie griff fester zu, machte die Bewegungen, die normalerweise für eine feuchte Reaktion sorgten, und widmete sich dann noch einmal diesem raffinierten, stählernem BH. Das blöde Ding musste doch irgendwie abzumachen sein?

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Sowohl Eva als auch seine Oma hatten ein Nachsehen mit ihm. Eva, weil sie ihm die Schlüssel noch am Vormittag vorbeibrachte, glücklicherweise, als seine nächtliche Besucherin das Haus schon wieder verlassen hatte. Und seine Oma, weil diese nichts dagegen hatte, dass er den Wunsch hegte, endlich einmal wieder seine Mutter besuchen zu wollen.

"Und pass gut auf dich auf, Bub! Und grüß mir die Mama; hoffentlich kommt sie bald mal wieder nach München! Vielleicht schafft sie es ja doch noch in diesem Sommer? Oder im Herbst, da wäre es doch auch schön. Sie könnte dann mit dir aufs Oktoberfest...." Die alte Dame stockte, so als wäre ihr gerade etwas eingefallen. "Nun ja, vielleicht doch besser nicht."
Klaus sah, wie sie die Augen schloss und scheinbar eine Art Gebet vor sich hin murmelte.

"Glaubst du, dass Beten hilft, Oma?"

"Wenn nur ich es glaube, bestimmt nicht. Du musst es schon selber glauben."

"Ich weiß schon lange nicht mehr, was ich glauben soll. Richtig, oder verkehrt, das ist hier die Frage."

"Gut, oder böse, das ist hier die Frage!", nahm sie seinen Satz auf. "Du darfst es dir nicht zu leicht machen, Bub. Aber vielleicht bist du noch zu jung, um zu begreifen, dass das Leben..."

"...eine Hühnerleiter ist: kurz und beschissen! Ja ja, ich weiß, Oma, du hast es oft genug gesagt."

"Eigentlich wollte ich den Spruch von der Klobrille anbringen", protestierte seine Großmutter.

"Man macht viel durch!?"

Sie nickte schwach. "Ja, genau den. "Du bist noch jung..."

"So jung nun auch wieder nicht! Und glaube mir, ich habe schon genug durchgemacht." Er ärgerte sich leicht. Immer diese blöden Sprüche. Nie hatte sie ein richtiges Gespräch aufkommen lassen, wenn er jemanden brauchte, dem er sich anvertrauen konnte. Immer hatte sie alles abgeblockt, immer hatte sie alles mit dummen Sprüchen und kleinen Witzchen ins Lächerliche gezogen. Lachen ist die beste Medizin, hatte sie immer und immer wieder betont. Und seine Tränen als Freudentränen missdeutet.

Er gab ihr eine Wangenkuss und versprach, spätestens Mitte Juli wieder zurück zu sein, möglicherweise eher. Das Krankenhauspersonal hatte ihm versichert, dass er sich keine Sorgen machen solle; seine Oma würde nach dem Krankenhausaufenthalt erst einmal in einem Pflegeheim aufgenommen, bevor man sie wieder nach Hause entlassen würde. "Und grüßen Sie ´Bella Italia"´, hatte ihm der Arzt noch zugerufen, als er das MRI verließ.

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Oktober IV.

"Derrick? Sagten Sie Derrick?", fragte die Ärztin sie.

Ingeborg Wimmer lachte, während sie sich eine Zigarette anzündete. Sie blies den Rauch aus und klärte die andere auf. "Nein, nicht ´Derrick´, sondern ´der Rick´. Ein kleiner Unterschied, wie Sie sicherlich heraushören können. Unserem Chef schmeichelt es, und Männer sind ja so furchtbar eitel. Aber wenn Sie ihn sehen, dann werden sie feststellen, dass es zwischen diesem komischen TV-Inspektor und unserem Hauptkommissar keine Ähnlichkeiten gibt." Sie nahm einen weiteren Zug und fügte dann noch ein stilles ´Gott sei Dank´ hinzu.

Die Ärztin schüttelte den Kopf. "Sachen gibts! Aber ich glaube, er kann froh sein, dass er mit unserem Münchner verglichen wird, nicht mit diesem Schimanski. Blöder Prügelbulle. Verstehe gar nicht, wieso man den Zuschauern immer so einen Müll auftischt."

"Vielleicht weil dieser Müll spannender ist als unsere methodische Arbeit?"

"Vielleicht. Aber wenn ich mir richtig alte Krimis ansehe, die mit Felmy als Haferkamp oder Klaus Schwarzkopf als Kommissar Finke oben in Kiel, das waren doch auch spannende Krimis, obwohl da nicht immer alles nur auf plumpe Action ausgerichtet war."

Wimmer zuckte die Schultern. "Tja, da ist wohl mal irgendwann etwas in der Entwicklung der Menschheit schiefgelaufen! ´Schneller, weiter, höher??´ R-ücksichtslos, T-riviell, L-angweilig!! Damals fanden es die Leute ja schon spannend, wenn der Veigl mit seinem Hund da im Präsidium rumlief." Sie drückte ihre Zigarette mit dem Stiefel aus und steckte den übriggebliebenen Rest zurück in die Schachtel.

"Gesund ist das gerade nicht, was Sie da machen!", ermahnte die Ärztin sie.

"Das Leben ist sowieso ungesund. Jeden Tag verliert man 24 Stunden..."

"So kann man es natürlich auch sehen. Bisher dachte ich immer, man gewinnt jeden Tag 24 Stunden hinzu."

"Die da unten auf jeden Fall nicht." Wimmer machte eine Kopfbewegung Richtung Isar. "Wo bleibt er denn nur?"

"Ist Ihnen das blauweiße Bändchen aufgefallen, dass die junge Frau am Handgelenk trug?"

Die Kriminalbeamtin überlegte einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf.

"Vielleicht könnte ich Ihnen da schon ein wenig weiterhelfen. Mein Sohn hatte letztes Wochenende auch so ein Ding am Handgelenk, vielleicht weiß der mehr?"

Ingeborg Wimmer blickte sie überrascht an. "Das wäre nicht schlecht. Es muss sich um irgendein Fest handeln nehme ich mal an. Wenn Sie ihn mal fragen könnten, könnte uns das vielleicht schon entscheidend weiterbringen. Sie wissen ja, man muss innerhalb der ersten paar Stunden schon einen Roten Faden finden, danach dann wird es schwierig mit der Aufklärung."

Die Ärztin nickte und nahm ihr Handy. "Ich rufe ihn gleich mal an. Wenn ich ihm sage, dass er an einer Mordermittlung teilhaben kann, dann bekomm ich ihn sicherlich schon wach."

"Und ich frage mal die Kollegen, ob nicht einer zufälligerweise eine Thermoskanne heißen Kaffee dabei hat."


Wenige Minuten später hatte sie tatsächlich zwei Becher heißen Kaffee aufgetrieben, während die Ärztin mit ihrem Sohn sprach.
"Ja, sag ich doch, ein blauweißes Bändchen, am Handgelenk, mit so´ner Plombe dran. So was hattest du doch auch letztes Wochenende. .... Was? Hattest du nicht? Ich hab´s doch gesehen! ... Ach, nun spinn nicht rum! Was heißt hier, dein Bändchen sei weißblau gewesen! Also, du hattest auch so eins! Und woher?" Sie hörte einige Momente gespannt zu und genehmigte sich einen Schluck Kaffee.
"Was?? Was für eine Party?? Aber nicht das Oktoberfest, oder?" Sie notierte sich etwas auf einen Zettel. "Okay. Gibt es da auch eine Adresse oder so was? ... Aha, ja, ich schreibe mit. Okay, super, die Kripo München dankt jetzt schon. Und jetzt schlaf weiter! Tschüss!"

"Oktoberfest?", fragte Wimmer.

Die Ärztin schüttelte den Kopf. "Geidi-Gaudi, sagte er."

"Wie bitte? Was ist das denn? Geidi-Gaudi.... nie gehört!"

"Er meinte, es sei eine Abkürzung für ´Geile Dirndl Gaudi´. Den Rest kann man sich dann ja denken. Das ist nur was für die jüngeren Semester, natürlich erst ab achtzehn, weil es da Alkoholausschank gibt. Aber in der Realität sind die wohl schon ein paar Jahre jünger. So genau wird da wohl nicht kontrolliert."

"Hmm. Aber sagten Sie nicht, ihr Sohn sei bereits letztes Wochende bei dieser komischen Geidi-Gaudi gewesen? Unsere Leiche hier ist dafür aber doch wohl ein bisschen frisch, meinen Sie nicht?"

"Die Gaudi findet an drei Samstagen Ende Oktober und Anfang November statt. Gestern war das zweite Mal! Eine Adresse habe ich auch!" Sie schob der jungen Beamtin ihren Notizzettel hinüber, die noch einmal auf ihre Uhr schaute.

"Na, das ist doch schon was! Da wird sich der Rick aber freuen, dass wir schon was für ihn haben!"


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Damit wünsche ich nun allen Lesern einen geruhsamen zweiten Feiertag!


40. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 26.12.12 21:55

Hi Daniela,

also seit Klaus Barbara und verschlossen ist, kann er sich vor Verehrerinnen offenbar kaum retten - was für ihn wohl absolut noch verwirrender wird, als es ohnehin schon ist. Jetzt kommt auch noch eine Sanitäterin ins Spiel, die ihn aber wohl immerhin zu dem Anruf bei Monika motivieren konnte, und somit vielleicht sogar zur guten Samariterin für ihn geworden ist. Ein wohl absolut verwirrender Tag für Klaus, gefolgt von einem Tag, zu dem er zumindest wieder seinen Schlüssel bekommen hat. Ja, das Leben kann voller Überraschungen stecken - wenn auch das Timing oberflächlich betrachtet nicht ganz stimmt. Trotzdem, man könnte als männlicher Single-Leser durchaus in Versuchung kommen, sich jetzt auch ein Dirndl anzuschaffen...

Da hat Daniela ja noch mal Glück gehabt, daß die Strafbank noch nicht fertig war. Aber sie wird ja wieder aus den USA zurückkommen, und Schwester Hildegard wird sie sicher liebevoll als Meßdienerin wieder aufnehmen und sich ihr annehmen wollen. Ich hoffe nur für beide, daß es nicht solche Formen annehmen wird, wie bei dem fatalen Zwischenfall in München, der sich hoffentlich nie wiederholen wird.

Ja, Oma Meisner hat schon so viel erlebt, aber sie gibt ihr Wissen nicht einfach so her, sondern bleibt geheimnisvoll. Mit ihrem Unfall tut sie mir sehr leid, auch wenn er mit ihrer ewigen Geheimniskrämerei zu tun hat. Wenn sie Klartext geredet hätte, wäre wohl alles einfacher gewesen, und der Unfall hätte nie stattgefunden. Aber wer weiß, wie dunkel ihr Geheimnis am Ende ist, und wieviel es mit ihrer Tochter zu tun hat. Möglicherweise dürfen dann Klaus und Monika niemals mehr zusammenfinden, wenn das Geheimnis gelüftet wird - was aber dann vielleicht trotzdem das beste wäre.

Tod nach der Geidi-Gaudi - das ist niemandem zu wünschen, egal, wie die Umstände dazu nun wirklich waren. Die Ermittlungen werden wohl nun schnell voran kommen, hoffe ich.

Liebe Daniela, herzlichen Dank für diese weitere, spannende und lebensecht erzählte Episode!

Keusche, aber immer noch weihnachtliche Grüße
Keuschling
41. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 28.12.12 20:33

Brrr... die Schwester Hildegard entwickelt sich zu einem potentiellen Scheusal, Daniela bitte pass auf!
Euer Max, der meint, dass Klaus/Barbara auf der Flucht vor sich selbst ist.
42. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 30.12.12 22:00

Mit einem weiteren Abschnitt meiner die München-Trilogie abschließenden Erzählung "Agonie" möchte ich nun meinen treuen Lesern einen guten Rutsch hinüber ins neue Jahr wünschen!

Aber, welche Leser sind mir eigentlich noch geblieben? Fast möchte ich mit unserem Kasperle rufen: Seid Ihr alle da?? Ich weiß, meine Geschichte bietet nicht unbedingt das, was viele hier im Forum suchen, eine geile Nummer, etwas, das sich schnell konsumieren lässt. Aber sie ist trotzdem wichtig, denn sie erklärt uns, wie alles, was in den vorherigen Teilen geschah, hat kommen können.
So langsam wird es also auch bei mir wieder spannender! Und wir haben bis jetzt noch nicht einmal die Hälfte des Textes geschafft! Also, ich würde mich freuen, auch einmal wieder von bd8888, Toree, dem Alten Leser, Snolyn, Kochy 24, Fehlermeldung und Dennis 76 zu hören. Und ganz besonders danken möchte ich Keuschling und Maximilian 24, die mir mit ihren Kommentaren immer wieder eine große Freude bereiten!!

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Juli I.

"Er ist da!!", grüßte ihre Mutter sie überschwenglich, als Monika von der Uni nach Hause kam. Es war bereits Mitte Juli, die letzten Wochen waren vom Wetter her eher wechselhaft gewesen, aber da sie zur Zeit sowieso sehr viel zu tun hatte, war das weniger schlimm. Die letzten Wochen waren unspektakulär verlaufen, von Dani kam ab und zu einmal ein neuer Facebook Eintrag, immer mit schönen Fotos versehen, und von Klaus/Barbara hatte sie seit Wochen nichts mehr gehört. Das Nachbarhaus schien verwaist; so weit sie sehen konnte, war die alte Frau Meisner noch nicht wieder nach Hause zurückgekehrt.

Sie warf ihre Mappe auf den Tisch. "Wer ist da?"

Ihre Mutter wedelte mit einem Zettel. "Hier, der kam heute mit der Post. Ich war leider nicht zu Hause. Du wirst ihn selber beim Postamt abholen müssen." Freude klang aus ihren Worten, dann aber setzte sie leicht betrübt hinzu: "Heute geht das leider nicht mehr. Also morgen erst. Hoffentlich schaffst du es zwischen all den Seminaren und Vorlesungen." Dann lachte sie verschmitzt. "Falls nicht, kann ich ihn ja für dich abholen!"

Monika nahm den Zettel, den Pia ihr entgegenhielt. Er besagte nicht viel, eigentlich nur, dass der Paketdienst vergeblich versucht hatte, ein Paket für sie zuzustellen, sie dies aber nun selber bei der angegebenen Stelle abholen müsse. Adresse und Öffnungszeiten waren aufgedruckt, zusammen mit dem Hinweis, dass man eine Legitimation vorlegen müsse.
Im Moment war Monika leicht verwirrt. Hatte sie etwas bestellt? Es dauerte lange, bis der Groschen fiel. Ha! Dachte sie wirklich immer noch in solch antiquierten Formulierungen? Sie wäre die Letzte gewesen, die sich die D-Mark zurückgewünscht hätte! Bloß nicht all dieser Neo-Nationalismus, der sich in letzter Zeit in einigen EU-Ländern breitgemacht hatte! Politisch hatte sie sich zwar nie sonderlich engagiert, was aber nicht heißen sollte, dass sie keine Meinung hatte. Wenn es nach ihr ginge, wäre es an der Zeit, dass die Politiker endlich einmal eine echte Europäische Union schüfen, mit einer Verfassung und gleichen Rechten und Pflichten für alle. Nicht zuletzt die alarmierenden Vorkommnisse in Ungarn hatten sie davon überzeugt, dass Europa mehr sein müsse, als ein bloßes Lippenbekenntnis.

Der Keuschheitsgürtel!! Siedend heiß fiel es ihr wieder ein. In den letzten Wochen war es diesbezüglich sehr ruhig in ihrem Leben gewesen. Ihre Nachbarin Agnes hätte es möglicherweise Enthaltsamkeit genannt, aber in Wahrheit war es eher eine Sache von Angebot und Nachfrage: es war niemand da, der ihr ernsthafte Angebote gemacht hatte, und ihre Nachfrage war dementsprechend auf ein kaum messbares Niveau gesunken.
"Besser nicht, Mama. Ich schaff das schon."

Ihre Mutter kräuselte die Lippen. "Denk dran, was du mir versprochen hast!"

Monika blickte sie fragend an.

"Dass du mir den Schlüssel gibst!"

"Ja doch, Mama! Nun lass mir mal etwas Zeit. Vielleicht ist es ja gar nicht der KG. Und wenn, dann muss ich erst mal sehen, ob er passt und wie ich damit zurechtkomme. Also drängel nicht so."

"Ich will ja nur dein Bestes. Dass du nicht mehr ungeschützt... Du weißt..."

Nein, eigentlich wusste Monika es nicht. Genauer genommen, sie wusste es immer noch nicht. Musste sie sich dafür schämen, dass sie mit ihren einundzwanzig Jahren immer noch keinen Geschlechtsverkehr mit einem Mann gehabt hatte? Wo es heutzutage gang und gebe war, dass Dreizehn-, Vierzehnjährige schon mit dem erstbesten Kerl ins Bett sprangen? Nun ja, dachte sie, schämen müsse sie sich bestimmt nicht. Und aufgeschoben war ja auch nicht aufgehoben. Und müsste Barbara nicht auch bald mal wieder nach Hause kommen?


Es fiel Monika am kommenden Tag schwer, sich auf ihr Studium zu konzentrieren. Es konnte eigentlich keinen Zweifel daran geben, dass ihr neuer Tugendwächter endlich angekommen war. Endlich?
Gleich nach Ostern war sie überzeugt davon, genau das richtige zu tun, indem sie einen neuen Keuschheitsgürtel für sich bestellte. Sie hatte sich im Internet umgesehen, hatte diverse Hersteller gefunden und festgestellt, dass es im Grunde genommen keine besonderen Unterschiede gab. Nichts davon versprach wirkliche Sicherheit. Sie hatte ihre Suche schon fast aufgegeben, als sie endlich etwas ganz Neues auf dem Markt entdeckte. DAS könnte es sein!
Mittlerweile aber war es Sommer geworden, Ostern und die traurigen Erlebnisse, die zum Tode von Pastor Flemming geführt hatten, lag weit zurück. Sie fühlte, sie war reifer geworden.

Was man vielleicht als eine Gefahr sehen konnte. Zumindest schien ihre Mutter es so zu sehen. Die freudige Erleichterung, die aus ihren Augen geblitzt hatte, hatte eine deutliche Sprache gesprochen. Ihre Mutter war es, die sie so schnell wie möglich wieder verschlossen sehen wollte. Klar, dass sie nun nicht umhin kam, ihr den Schlüssel zu geben.
Aber da war diese andere, nagende Frage. Wem sollte sie den zweiten Schlüssel geben? Es musste eine Vertrauensperson sein, aber da war einfach niemand. Von ihren Kommilitoninen war niemand, dem sie jemals von ihren Vorlieben erzählt hätte. Sie musste still in sich hineinlachen. Oh ja, es gab da schon einige Männer, die liebend gern den zweiten Schlüssel genommen hätten, aber das wäre ein zu großes, unkalkulierbares Risiko gewesen.

Als Monika am Nachmittag zur Post ging und dort einen sperrigen, schweren Karton in Empfang nehmen wollte, blickte sie die Dame am Schalter mit großen Augen an. Sie zögerte etwas, während sie ihren Ausweis studierte und fragte dann, wie aus heiterem Himmel: "Danielas Keuschheitsgürtel?"

Monika erschrak. "Wie bitte? Was..."

Die Frau lachte. "Schon gut, Kleine. Ich dachte doch gleich, dass ich Sie schon einmal gesehen habe. Das ist aber schon einige Zeit her, da hatten Sie einen wichtigen Brief an eine Freundin geschickt..." Sie füllte ein Formular aus, riss etwas davon ab und stellte das Paket in eine Schleuse, aus der Monika es entnehmen konnte. Sie erinnerte sich nicht im Geringsten an das, was die Beamtin ihr erzählte. Doch, ja, sie hatte Daniela gleich nach ihrem Herbstferienbesuch die Schlüssel zu deren Keuschheitsgürtel und -BH nachgeschickt, aber dass sie dabei mit einer von der Post gequatscht hatte, war ihr total entfallen.

Sie zuckte mit den Schultern. "Nein, dieser ist jetzt für mich!" Dann ging sie und ließ die verblüffte Frau zurück.

Was nun? Monika ärgerte sich, dass sie mit dem Abholen nicht noch einige Tage gewartet hatte. Jetzt war klar, dass sie mit dem sperrigen Karton keine großen Ausflüge würde unternehmen können, es blieb ihr nur, umgehend nach Hause zu fahren und dann zu sehen, was kommen würde.



Wieder daheim schloss sie die Tür auf und stellte den Karton erst einmal im Flur auf den Boden. Monika hängte ihre leichte Jacke an die Garderobe und sah nach, wo sie ihre Mutter finden würde. Diese saß draußen im Garten in einem etwas altmodischen Liegestuhl, einer von der Sorte, bei denen man studiert haben sollte um ihn richtig aufzustellen.

Ihre Mutter blinzelte gegen die Sonne. "Moni?" Dann setzte sie sich auf, immer in Gefahr, mit dem klapprigen Liegemöbel vollends zusammenzubrechen. "Moni! Sie ist da!!"

Monika warf ihr Handy auf den Tisch. "Wer ist da?" Irgendwie kam ihr die Situation bekannt vor. Vielleicht gab es ja doch so etwa wie ein déjà-vu?

Ihre Mutter lachte triumfierend. "Haha! Gell, da staunst du. Hast von nichts was mitbekommen. Wo lebst du eigentlich??"

"In München?", gab Monika zurück, indem sie ein fragendes Gesicht aufsetzte. "Nun sag bloß nicht, dass ich dreimal raten darf, Mama!"

Ihre Mutter wirkte enttäuscht. "Nicht? Schade. Raten macht doch so viel Spaß. Aber wenn du nicht willst ... Claudia ist wieder da!"

"Claudia?" Monika war sichtlich überrascht. "Ist das ganze Jahr jetzt wirklich schon vorbei? Sie war doch erst im Winter dort runtergeflogen. Ich erinnere mich, dass sie in einem Brief was von Winter sprach."

"Wahrscheinlich, weil dort unten in Melbourne Winter war, als sie letzten Sommer da hinflog. Ja", nickte Pia nachdenklich, schon ist wieder ein Jahr verflogen." Ihr Blick glitt ins Unendliche ab. "Komisch, gestern waren sie noch Kinder, heute sind sie erwachsen und reisen sie in der Weltgeschichte herum, während andere, die gestern Erwachsene waren, heute pflegebedürftige Greise sind. " Pia machte eine leichte Kopfbewegung in Richtung ihrer Nachbarin.

"Hast du mal was von ihr gehört? Ist sie immer noch im Spital?"

"Wohl nicht mehr. Man sagt, sie sei in einem Pflegeheim, bis ihr Enkel wieder nach Hause kommt.... Klaus..."

"Barbara", murmelte Monika leise, aber doch laut genug, dass ihre Mutter es hören konnte. "Ich hatte gehofft..."

"DU hattest gehofft?? Was gibt es denn da zu hoffen? Jetzt fehlt nur noch, dass du dich ausgerechnet in diesen Typen verknallst!" Ihre Mutter ließ keinen Zweifel daran, dass sie empört war. "Moni, sei bloß vorsichtig, sonst endet das hier noch wie in einem billigen Roman!"

Monika streckte beide Hände abwehrend aus. "Schon gut, Mama! Nein, Klaus interessiert mich überhaupt nicht! Da kannst du ganz beruhigt sein."

"Beruhigt bin ich erst, wenn du in deinem neuen Keuschheitsgürtel steckst. Hast du ihn abgeholt?"

Monika nickte.

"Zeig mal her!"

"Später, Mama. Den muss ich mir nachher erst einmal in aller Ruhe selber ansehen. Und natürlich mal sehen, ob er passt. Und dann brauche ich eine gewisse Eingewöhnungszeit. Das geht alles nicht so von heute auf morgen. Und im Moment habe ich immer noch so viel um die Ohren; ich weiß gar nicht, ob ich jetzt überhaupt damit anfangen will. So in ein, zwei Wochen, dann ist bei mir das Schlimmste an der Uni überstanden. Also lass mir bitte ein wenig Zeit, ja?"

Ihre Mutter entschuligte sich dafür, dass sie so drängelnd war und versprach, ihrer Tochter alle Zeit der Welt zu geben. Später, als Monika auf ihr Zimmer ging, nahm sie den Karton mit nach oben und begann, ihn in aller Ruhe auszupacken. Als sie ihn endlich in der Hand hielt pfiff sie leise durch die Zähne; so etwas hatte sie wirklich noch nie vorher gesehen! Es gab halt doch immer wieder etwas Neues. Und mit einem Mal wusste sie auch, wem sie den zweiten Schlüssel geben konnte. Ein Gedanke, der sie für einige Sekunden fröhlich stimmte, dann aber doch eher verängstigte, denn so weit war sie bisher noch nicht gegangen.

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Klaus freute sich, als er zum ersten Mal seit Wochen wieder die Türme der Frauenkirche sah. Er stand am Fenster des Zuges, mit dem er von Rom aus zurück nach München gefahren war. Eine lange Fahrt, aber er hatte ja Zeit, und so konnte er etwas von der Landschaft sehen.
Die Wochen bei seiner Mutter hatte er sehr genossen. Die herrlichen Tage, die er dort verbracht hatte, konnte ihm keiner mehr nehmen. Und vielleicht war diese Zeit auch deshalb so schön gewesen, weil er sie frei von irgendwelchen Barbara-Eskapaden verbracht hatte.

Jetzt aber spürte er plötzlich doch eine gewisse Unruhe. Wie würde es von nun an weitergehen? Er hatte bestimmt keine Lust mehr auf dieses seltsame Spiel, hatte nicht vor, noch einmal der Dominanz irgendeiner Frau nachzugeben. Er atmete tief durch, als ihm klar wurde, dass alles nur von ihm selber abhing. Nur er konnte stark genug sein, einen Neuanfang zu schaffen. Das einzige, was er nicht wusste, war allerdings, wie groß in Wirklichkeit seine Schwäche war. Diese war der eigentliche Gegner, nicht irgendwelche starken Frauen.

Noch in Rom hatte seine Oma angerufen und von ihren Fortschritten berichtet. Die Operation war gut verlaufen, sie hatte das Hospital verlassen können und war vorübergehend auf der Pflegestation eines Altenheims untergekommen. Bald könnte sie nach Hause kommen können, vorausgesetzt, Klaus wollte sich ein weiteres Mal um sie kümmern.
Es stand für ihn völlig außer Frage, nicht dem Wunsch seiner Großmutter zu entsprechen. Jahrelang hatte sie ihm das geboten, was man ein Heim nennt, als die Eltern wegen ihrer Arbeit dazu nicht in der Lage waren. Zeit hatte er ja immer noch, erst zum Beginn des Wintersemesters könnte es knapper werden, aber bis dahin konnte man damit rechnen, dass die Oma wieder allein klarkommen würde.

Und Monika? Von ihr hatte er seit Wochen nichts mehr gehört. Würde sie den Kontakt zu ihm erneut aufnehmen? Ungern nur erinnerte er sich an jenen äußerst frustrierenden Abend, als dieser verfluchte Keuschheitsgürtel beide daran gehindert hatten, eine heiße Nacht miteinander zu verbringen.
Er spürte, wie sich seine Hoden bei dem Gedanken an den Keuschheitsgürtel leicht zusammenzogen. Besser nicht daran denken!
Von Daniela hatt er immer wieder tolle Bilder aus Amerika auf ihrer Facebook-Seite gesehen. Schön, dass sie so viel Spaß hatte! Ewig würde es nicht andauern! Irgendwann würde sie zurückkommen, und vielleicht hatte sie ja sogar den erhofften Studienplatz bekommen.
Als der Zug endlich mit kreischenden Bremsen im Hauptbahnhof zum Stehen kam und er ausstieg, stellte er fest, dass noch andere ungelöste Fragen auf ihn warteten. Eva zum Beispiel. Eva, von der er immer noch nicht wusste, wo sie eigentlich wohnte, oder wo sie jetzt arbeitete. Er konnte fast sicher sein, dass sie irgendwann wieder bei ihm zu Hause auftauchte, wenn sie nicht schon längst in seinem Sofa saß und auf ihn wartete. Und hatte er nicht noch kurz vor seiner Abreise etwas mit einer Sanitäterin gehabt? Auch wenn es mit ihr aus demselben Grund nicht geklappt hatte, wie schon bei Monika. Und dass es noch eine weitere Person gab, die genau wusste, wo er wohnte, wollte er lieber sofort aus seinem Gedächtnis verdrängen.

Es war ein einziges, heilloses Durcheinander. Plötzlich strahlte ihn der bayrische Himmel nicht mehr weißblau an, sondern kam ihm eher wie eine dunkle Gewitterwolke vor. Vielleicht war sein Besuch bei der Mutter doch keine so gute Idee gewesen? Er hatte der unbequemen Wirklichkeit entfliehen wollen, war jetzt aber bereits auf dem besten Weg, wieder genau dort anzukommen, von wo er sich aus dem Staub gemacht hatte. Er würde hart kämpfen müssen, das war ihm klar, wollte er sich wirklich aus diesem Sumpf befreien.

Schon in der Tram konnte er es nicht lassen, unentwegt nach bekannten Gesichtern Ausschau zu halten. Aber es war niemand da, der ihm auf die Schulter klopfte. Müde von der langen Reise ging er die letzten Meter zum Haus seiner Großmutter. Hier hatte er seinen Roller abgestellt, hier wollte er zuerst nach dem Rechten sehen. Mit etwas Glück fand er ja sogar noch ein Bier im Kühlschrank. Und hoffentlich keinen vergammelten Leberkäs!

Klaus schloss die Tür auf. Muffige Luft schlug ihm entgegen. Er unterdrückte den Impuls, laut ´hallo!´ ins Haus zu rufen. Er stellte seinen schweren Rucksack ab, streifte sich die dicken Schuhe von den Füßen und machte zuerst einmal die Tür zum Garten auf. Dann sah er im Kühlschrank nach und hatte Glück: es lag noch eine Flasche Paulaner da.
Er fühlte sich groggy und leicht benommen von der langen Zugfahrt, immer noch schwankte der Boden unter ihm. Vielleicht sollte er sich hinlegen? Ob es die Hängematte wohl noch gab, die er früher so gern benutzt hatte, wenn er seine Ferientage bei der Oma verbrachte? Er überlegte, wo sie sein könnte. Auf dem Speicher? Oder im Keller? Vielleicht doch eher im Keller. Vom Garten aus gab es einen separaten Kellereingang, dort stellte man auch die diversen Gartengeräte ab; es war also naheliegend, dass sich die Hängematte im Keller befand.

Im Flur öffnete er die Tür zur Kellertreppe. Nanu? Da hatte jemand das Licht brennen lassen! Mist! Er mochte es gar nicht, wenn man das Licht brennen ließ, schließlich war das die reinste Energieverschwendung. Und die Zeiten waren wohl allemal vorbei, wo man sich über so etwas keine Gedanken zu machen brauchte. Wie konnte ich nur so nachlässig sein? Vorsichtig stieg er die steile Treppe hinab. Dann aber stutzte er. Unten, am Ende der Treppe, lag ein Stock. Großmutters Stock! Wie mochte der hierhergelangt sein? Klaus überlegte einen Moment und rechnete sich aus, dass es eher unwahrscheinlich war, dass der Stock so ganz von allein während seiner Abwesenheit in den Keller gelangt sein könnte.

Seine Oma! Seine Oma musste es noch einmal versucht haben, in den Keller zu kommen! Was zum Teufel wollte sie denn bloß hier unten? Er gab sich einen Moment, alles noch einmal genau zu überdenken. Natürlich konnte hier nichts passiert sein, während er in Italien war. Es musste vorher passiert sein. Wahrscheinlich als er sein Oma in der Küche gefunden hatte. War sie dort gestürzt? Genauso gut konnte sie im Flur gestürzt sein, bei dem Versuch, in den Keller zu gehen, um WAS zu holen?

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Oktober V.

Hauptkommissar Rick fluchte, als er endlich die Isarbrücke erreicht hatte. Einen komplizierten Todesfall konnte er jetzt bestimmt nicht gebrauchen. Es war schon schlimm genug, dass er wieder einmal auf einen angenehmen Sonntagmorgen verzichten musste. Aber er hatte es ja selbst so gewollt. Leider war er einer von denen, die immer glaubten, unersetzlich zu sein, die es nie schafften, einmal ganz abzuschalten und die Kollegen ihre Arbeit tun zu lassen.
Es hatte einige Zeit gedauert, bis er es endlich in die Innenstadt geschafft hatte, vielleicht war sein alter Peugeot daran schuld, vielleicht aber auch nicht.

Als er ankam setzte ihn seine Mitarbeiterin in Kenntnis über die vorgefundene Lage.

"Und Sie glauben nicht, dass es ein Unfall war? Zuviel gesoffen und dann einfach da über die Brüstung gekippt?"

Wimmer schüttelte den Kopf. "Eher unwahrscheinlich, Chef. Hier, schaun Sie mal!" Sie zeigte ihm das Foto des Handabdrucks auf dem Gesicht der Toten. "Da hat jemand nachgeholfen, da bin ich mir sicher."

"Ein Kerl? Sieht mir nach einer ziemlich kleinen Hand aus."

Die Ärztin meldete sich zu Wort. "Nicht alle Männer haben Hände wie Schaufelbagger. Aber ich habe da auch meine Zweifel. Auf jeden Fall muss es ein recht junger Kerl gewesen sein. Oder eine Frau. Alles ist möglich..."

"...´Toyota´...", brummelte der jüngere der beiden Polizisten, der sich aber sogleich mit der Hand über den Mund fuhr, als alle anderen ihn ansahen.

"Und Sie, haben Sie unten am Fluss irgendetwas gefunden? Handtasche oder so?"

"Nein Chef. Nichts. Leider weder eine Handtasche noch Zigarettenstummel oder anderes. Und auch hier oben, Fehlanzeige."

"Fußabdrücke hier oben?"

Die Beamten sahen sich an und zuckten ratlos mit den Schultern.

"Wimmer!" Bruno Rick gab einige Anweisungen. "Schaun Sie mal bitte ganz genau nach, was Sie hier oben finden. Hier, in der Mauerecke, liegt eine dünne Schicht Schmutz. Vielleicht finden Sie dort einen Abdruck, man weiß ja nie. Ich gehe jetzt noch mal mit der Ärztin runter und sehe mir die Leiche an. Und Sie...", er wandte sich an den älteren Polizeibeamten, "Sie lassen schon mal einen Leichenwagen kommen, dass die dann sofort in die Pathologie gebracht werden kann." Er sah die Ärztin fragend an. "Haben Sie schon Ihre Messungen vorgenommen?"

Ingeborg Wimmer sprang ein. "Nein, Chef, hat sie noch nicht. Es gab da gewisse Schwierigkeiten. Die junge Frau war verschlossen..."

"Verschlossen?? Wie soll ich das jetzt verstehen? Hätten Sie vielleicht die Güte, mir das etwas genauer zu erklären?" Er mochte es gar nicht, wenn nicht alles sofort klar gesagt wurde.

"Sie trug einen Keuschheitsgürtel", klärte die Ärztin ihn auf. "Schwierig, da irgendwo etwas reinzustecken."

Hauptkommissar Rick fiel die Kinnlade runter. So etwas Bizarres hatte er noch nicht gehört. Und plötzlich verspürte er einen unwiderstehlichen Drang, sich die junge Frau einmal näher anzusehen, die dort unten vor wenigen Stunden ihr Leben ausgehaucht hatte. Er biss sich auf die Lippe. "Und der Todeszeitpunkt?"

"Den haben wir, Chef!", beeilte Wimmer sich, ihm mitzuteilen. "2.18 Uhr heute Nacht."

Ihr Chef sah sie leicht verunsichert an. "So genau?"

"Ihre Uhr war kaputt gegangen. Vermutlich bei ihrem Sturz."

Der jüngere Beamte konnte es nicht lassen, einen dummen Scherz anzubringen. "Es sei denn, sie hat sich zuerst selbst geohrfeigt, dann ihre Uhr an irgendetwas zerschlagen und ist schließlich über die Brüstung gesprungen..."

"Sie springen auch gleich über die Brüstung", brummte Rick. "Also gut, kommen Sie, schaun wir uns das noch einmal an." Er winkte der Ärztin, ihm zu folgen. Mit ihr im Schlepptau ging er vorsichtig die steile Böschung hinab, wobei er sich an einigen Baumstämmen festhielt.
"Verdammt!" An einer Rinde hatte er sich einen Fingernagel eingerissen. Auch das noch! Er hasste kaputte Fingernägel.

Unten am Wasser ließ ihm die Ärztin den Vortritt. Rick machte sich ein Bild der Unglückstelle, inbesondere wie die Leiche lag. Dann machte er sich an eine etwas genauere Untersuchung. Er hob ihren Rock an und besah sich das blanke Teil, welches ihren Unterleib so fest umschloss. Einen Slip trug sie nicht.
Rick verspürte eine seltsame Lust, den Keuschheitsgürtel zu berühren. Aber er unterdrückte den Impuls, zu leicht hätte er wertvolle Spuren zerstören können. Zu seiner größten Irritation verspürte er plötzlich eine Regung, die höchst ungelegen kam. Schnell ließ er den Dirndlrock wieder fallen. Was mochte diese Frau erlebt haben? Wer hatte sie in dieses schreckliche Ding eingesperrt? Und wie lange mochte es her sein, dass sie zum letzten Mal...?? Er atmete tief durch. Dieser Fall ging ihm jetzt schon an die Nieren, das spürte er.
Der Handabruck zeichnete sich immer noch in ihrem Gesicht ab. Er blieb einige Zeit neben ihr hocken, wollte der kriminalistischen Intuition genügend Raum lassen, aber irgendwie schien sie durch das blokiert, was er gerade gesehen hatte. Sanft strich er ihr die verwuselten Haare aus dem Gesicht, in wenigen Stunden würde sie auf einem blanken Stahltisch liegen... Stahl zu Stahl, dachte er. Dann richtete er sich auf.


Die Ärztin hatte geistig abgeschaltet. Es war ein Überlebenstrick, wenn man immer wieder mit dem gewaltsamen Tod konfrontiert wurde. An manchen Tatorten half der Gesang der Vögel, manchmal war es ein stark duftender Baum, der den Leichengeruch überdeckte. Hier war es das leise Rauschen der Isar, das ihre Aufmerksamkeit gefesselt hatte.
Panta rei, Alles fließt, dachte sie, als sie dem vorbeifließenden Wasser hinterherschaute. Auch das Leben. Nur dass wir es nie richtig bemerken, wie es jeden Tag ein Stückchen kürzer wird.
Sie fuhr herum als sie seinen erschrecken Ausruf hörte. Was zum Teufel?
Sie sah, wie ´der Rick´ ziemlich entsetzt auf seine ausgestreckte rechte Hand blickte, an deren Ende die Haare einen braunen Perücke baumelten.

"Verdammt! Und das hier ist niemandem aufgefallen??" Er winkte die Ärztin zu sich heran. Sie blickte verworren in ein kantiges Gesicht. "Das ist ja wohl ein Kerl, oder was soll das hier? Jetzt wird es erst richtig lustig! Kommen Sie, gehn wir wieder hoch!"

Hauptkommissar Rick schnaufte leicht, als er die Böschung wieder erklommen hatte. Die Zeiten, in denen er Zwecks Verbrecherjagd immer gut in Form gewesen war, waren lange vorbei. Er wischte sich die Hände an seiner braunen Jacke ab, dann wandte er sich an den diensthabenden Beamten. "So, alles gesehen. Sagen Sie den Leichenfritzen, sie können den Toten sofort eintüten. Spätestens mittag liegt der bei Ihnen auf dem Tisch!", fügte er hinzu, indem er die Ärztin ansah. Dann stieg er in seinen altersschwachen Peugeot, knallte die Tür zu und brauste davon, die andern ratlos und verwundert zurücklassend.



43. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 30.12.12 23:46

Hi Daniela,

nicht mir ist zu danken, nur und allein Dir, für diese großartige Geschichte!!!! Und daß sie sicherlich nicht einfach zu schreiben ist, da sie komplex aufgebaut ist, übertünchst Du hervorragend durch Deinen erfrischenden Schreibstil!

Aber jetzt mal zu der hier eingestellten, letzten Fortsetzung. Um beim Ende anzufangen: Die Leiche trägt also eine Perücke. Im ersten Moment würde das wohl für einen Mann sprechen, und Klaus oder Barbara würden dann in die engere Wahl fallen - wenn die Leiche überhaupt was mit den Protagonisten der Geschichte zu tun hat... Aber, eine Perücke allein und kantige Gesichtszüge machen noch keinen Mann. Daniela aus Deiner Geschichte hat schließlich auch einige Zeit einen Kurzhaarschnitt erleiden müssen, mit eher jungenhaft aussehendem Gesicht. Aus meiner Sicht stellt sich die Kripo und Polizei hier doch etwas stümperhaft an, wohl überfordert von dem, was sie sehen, das keinesfalls alltäglich ist. Immerhin, es bleibt spannend, wer es nun am Ende wirklich ist - denn es kommen immer noch alle Protagonisten infrage.

Wem wird Monika wohl jetzt den zweiten Schlüssel geben? Doch nicht etwa Barbara bzw. Klaus? Oder am Ende der Oma Meisner, die ihr zur Enthaltsamkeit geraten hat? Der neue KG von ihr macht mich echt neugierig, es scheint ja ein neues Produkt zu sein. Welche Features es wohl haben mag?

Klaus ist endlich wieder in München - aber anscheinend so verwirrt wie zuvor, ohne es sich recht eingestehen zu können. Der Besuch bei seiner Mutter hat ihn wieder etwas selbstsicherer gemacht offenbar. Es ist schon komisch, daß gerade ein Besuch bei seiner Mutter dies verursachen konnte, oder hat er nur Abstand gewonnen? Er hat nicht vor, noch einmal der Dominanz einer Frau nachzugeben, gerade nach einem Besuch bei seiner Mutter. Im Leben eines Mannes, direkt nach seiner Geburt, erfährt er doch gerade die Dominanz einer Frau als prägendes Erlebnis, die Erziehung durch seine Mutter. Es ist schon etwas komisch, daß dieselbe Person einige Jahre später vom heranwachsenden oder erwachsenen Mann dann gemeinhin erwartet, die tragende Rolle in einer Beziehung zu einer ihrer jüngeren Geschlechtsgenossinen zu spielen, die ihn dann nicht mehr dominieren können sollte. Aber zurück zur Geschichte: Nun scheint er ja langsam Lunte zu riechen, daß im Keller etwas oberfaul zu sein scheint. Mal sehen, ob seine jetzigen Untersuchungen von Erfolg gekrönt sind.

Sorry, daß mein Feedback nun so umfangreich ausgefallen ist. Ich will sicherlich nicht den Umfang Deiner Geschichte übertreffen, noch sie unnötig unterbrechen durch meine teils etwas abschweifenden Gedanken, noch will ich die Spannung durch meine Nachfragen und Analysen vermindern. Allein ist es so, daß mich Deine Geschichte sehr inspiriert. Und ich freue mich schon heute auf Deinen nächsten Teil!

Dir ebenfalls einen guten Rutsch nach 2013, und meine besten Wünsche für Dich dafür!

Liebe, wenn auch keusche Grüße
Keuschling
44. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Tommes am 31.12.12 02:45

Hallo Daniela,

ich bin immer fasziniert wenn ich deine geschichten lesen darf...

sie sind aus jeder Sichtweise detailgetreu geschrieben und den Spannungsbogen beherrscht du wohl auch sehr gut

ich freue mich sehr darauf den Werdegang der drei Protagonisten zu verfolgen

und naja wer da kalt liegt...ich wünsch es keinem aber immernoch sind drei im rennen..

nette Grüße Toommes
45. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von bd8888 am 31.12.12 07:47

Hallo Daniela
Ich möchte mich entschuldigen, dass ich nichts von mir höhren lies.
Deine Geschichte ist traumhaft. Du verstehst es perfekt die Spannung von einem zum anderen Teil noch mehr zu steigern. Ich will gar nicht spekulieren, wie die Geschichte weitergeht, sondern lass mich von dir immer wieder überraschen.
Danke und ein gutes und gesundes Jahr 2013
Liebe Grüße
bd8888
46. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Fred1971 am 31.12.12 11:23

Auch ich bin ein begeisterter Leser deiner Geschichte die ich von Anfang an verfolgt habe. Danke fürs Schreiben
47. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 31.12.12 19:51

Zuerst darf ich mich den Gedanken von Keuschling über die prinzipielle Mutterbeziehung anschließen. Ich denke darüber auch oft nach, wenngleich ich auch die Umkehrung in der Betrachtung, nämlich die Beziehung und den Einfluss der Eltern auf die Kinder nicht vernachlässigen will.
Trotz aller Spannung in der Geschichte werde ich (vielleicht jahreszeitlich bedingt) das Gefühl der Trauer nicht los. Ich muss jetzt immer wieder an das Wortspiel denken wonach Leidenschaft eben Leiden schafft. Also die Verbindung zwischen subjektiven Gefühlen und realer Kopfarbeit.
Liebe Daniela!
während ich im ersten Teil Deiner Trilogie noch vermutete und hoffte, dass möglichst viel davon Dir persönlich real passiert ist, hoffe ich jetzt mit Fortschreiten der Handlung darauf, dass immer mehr davon Deiner Fantasie entsprungen ist. Jedenfalls wünsche ich Dir, dass das Neue Jahr 2013 zwar interessant und spannend, aber hoffentlich nicht traurig und leidvoll wird.
Dein Leser Maximilian24
48. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Toree am 31.12.12 21:58

Hallo Daniela,

erst einmal DANKE, für die nächste sehr gute Geschichte hier.

Warum ich bei Frust keine Bemerkung zur Geschichte geschrieben habe, ist kurz gesagt. Arbeit und Probleme mit dem Rechner und Internet.
Vier Monate nach Abschluss der Geschichte war mir ein Kommentar dazu echt etwas stark verspätet.

Argonie ist spannend und, wie beide Geschichten, toll geschrieben. Jedoch bin ich heute beim lesen, auf eine Ungereimtheit gestoßen.
Versuche es mal einzufügen.

Zitat
Ingborg Wimmer sprang ein. \"Nein, Chef, hat sie noch nicht. Es gab da gewisse Schwierigkeiten. Die junge Frau war verschlossen...\"

\"Verschlossen?? Wie soll ich das jetzt verstehen? Hätten Sie vielleicht die Güte, mir das etwas genauer zu erklären?\" Er mochte es gar nicht, wenn nicht alles sofort klar gesagt wurde.

\"Sie trug einen Keuschheitsgürtel\", klärte die Ärztin ihn auf. \"Schwierig, da irgendwo etwas reinzustecken.\"

Hauptkommissar Wimmer fiel die Kinnlade runter. So etwas Bizarres hatte er noch nicht gehört. Und plötzlich verspürte er einen unwiderstehlichen Drang, sich die junge Frau einmal näher anzusehen, die dort unten vor wenigen Stunden ihr Leben ausgehaucht hatte. Er biss sich auf die Lippe. \"Und der Todeszeitpunkt?\"


Hm, ´der Rick´ hat den gleichen Familiennamen wie die Beamte, vom Kriminal Bereitschaftsdienst

Ansonsten bin ich auch erst einmal überfragt wer der Tote ist, wobei meine Tendens in Richtung Klaus/ Babara geht. Warum?......das weiß ich auch noch nicht habe da zwei Vermutungen, will aber erst noch ein bis zwei Teile warten.

Kann auch sein, ich liege total daneben.

Dir liebe Daniela einen guten Rutsch ins neue Jahr, und ich freue mich schon auf den nächsten Teil.

LG

Toree
49. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 01.01.13 14:06

Allen Lesern wünsche ich ein frohes und gesundes neues Jahr 2013. Danke für Eure vielen Zuschriften, es ist schön, dass meine Geschichte immer noch Freude bereitet.

Ein ganz besonderer Dank an Toree, der mich auf einen Namensfehler aufmerksam machte, der mir, trotz mehrfachen Kontrolllesens, nicht aufgefallen war.

Ja, die Geschichte entwickelt sich. Gab es im ersten Teil, "Herbstferien", noch Elemente, die auf eigene Erlebnisse gründen, so gab ich der Phantasie bereits im zweiten Teil, "Frust", freie Zügel. Wir alle haben gesehen, wohin es führen kann.

Hier jetzt im letzten Teil suchen wir nach Hintergründen. Diese wiederum sind in unserer Welt wesentlich realer, als wir es wahrhaben wollen...

Bis Sonntagabend grüßt Euch ganz herzlich Eure Daniela
50. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von kochy25 am 02.01.13 13:14

Hallo Daniela,

ein frohes neues Jahr wünsche ich dir und allen anderen Lesern hier. Auch wenn ich nicht immer etwas antworte, heißt das nicht, das ich nicht mitlese oder (gebannt) auf die nächste Fortsetzung warte (warten muß). So stellt sich auch diesmal einige "Filmriß - Fragen" auf, die warscheinlich, so wie ich deinen Schreibsteel so kenne - etwas anders geartet sind als vermutet. Z.B.: was denn Kaus Oma so geheimes im Keller verbirgt, was an Monikas neuem KG so besonderes ist, das selbst sie überrascht ist und wie passt die Nonne und der neue "Strafbeichtstuhl" da rein? "Darf" Daniels die funktion ausgibig "begutachten"?

Aber wie sonst auch mus meiner einer demütig auf den nächsten Teil harren und sich die Geschichte "weiterdenken" um dann zu erfahren das es sich dann doch anders zugetragen hat als erwartet.

kochy25
51. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 06.01.13 22:24

Sorry; eingeschlafen....

Ach, gingen die Wochen doch bloß etwas schneller vorüber...

Viel Spaß mit dieser Fortsetzung wünscht Euch eure Daniela!

--

Juli II.

Die beiden jungen Frauen begrüßten sich überschwenglich. "Mensch Claudia, du siehst ja echt klasse aus!"

Ihre langjährige Freundin schmunzelte. "Und das, obwohl ich gerade aus dem tiefsten Winter komme!"

"Tiefster Winter?", gab Monika verdutzt zurück. "Wieso? Ich denke, du kommst geradewegs aus Australien?"

Claudia schüttelte den Kopf. "Ach, Dummchen! Ich nehm dich nur etwas auf den Arm. Ja, unten in Melbourne mag jetzt Winter sein, da kann es sogar schon mal schneien, zumindest ganz unten auf Tasmanien, da waren wir sogar Ski fahren, aber ich bin in den letzen zwei Monaten ja bis hoch in den Norden von Queensland gereist, und da gibt es keinen Winter."

"Beneidenswert."

"Sag das besser nicht. Dort heißt der Winter wet season, und was die Queensländer unter wet, also nass, verstehen, kannst du dir gar nicht vorstellen."

"Und was macht man dann? Ich meine, wenn es vierundzwanzig Stunden lang immer nur regnet?"

"Sag lieber zweiundsiebzig! Dann fährt man zum Ayers Rock ins Rote Herz des Kontinents. Dort ist es angenehmer, obwohl es auch dort regnen kann."

"Ist das nun eigentlich australisch, oder gehört das Gebiet wieder den Ureinwohnern. Hat man denen nicht alles weggenommen?"

"Man hat ihnen das Gebiet zurückgegeben, und diese haben es dem australischen Staat gleich wieder verpachtet."

Monika machte ein nachdenkliches Gesicht. "Mir wird immer ganz schlecht, wenn ich daran denke, wie viel glücklich lebende Eingeborenenvölker von der Expansionslust des Weißen Mannes zerstört wurden."

"Tja, das ist eine schwierige Kiste."

"Sagt man nicht, die Aboriginies hätten eine 30.000 Jahre alte Kultur? Und dann kommen einige Leute aus Europa daher und machen alles in Kürze kaputt. Sie könnten noch friedlich weiterleben, wären wir nicht gekommen und hätten ihnen das Land geklaut."

Claudia schüttelte den Kopf. "Du siehst das nicht richtig. Es stimmt zwar, was du sagst, aber eben nicht so ganz." Sie verspürte keine große Lust, gleich am ersten Tag ihres Wiedersehens mit der Freundin eine solche Diskussion zu führen. Außerdem war es fraglich, ob Monika ihr würde folgen können. Gewisse Dinge verstand man erst, wenn man seine Nase hineingesteckt hatte, und das hatte Monika noch nicht, auch wenn ihr Vater Australier war.
"Sag mal, wie geht es denn sonst so? Hast du was Nettes hier in München erlebt? Irgendwelche neuen Kontakte?"

Monika schüttelte den Kopf. "Nö..."

"Hihihi! Die Reaktion kenne ich bei dir! Brauchst mir nichts vorzumachen!" Claudia zwinkerte ihr zu. "Ich habe gehört, dass Daniela hier gewesen ist? Im Herbst und zu Ostern auch noch mal?"

Monika nickte. Sie verzog den Mund zu einem schüchternen Lächeln. "Ja, ein nettes Mädchen, deine Kusine. Wir waren öfters zusammen." Sie vermied es, genauere Einzelheiten preiszugeben. Sie und Claudia waren zwar beste Freundinnen, aber man musste ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.

"Sie hat mir von euren KG-Spielchen berichtet. Scheint ja voll darauf abzufahren. Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich das Ding ein Jahr lang nicht mehr tragen musste. Und du, hast du deinen noch?"

Monika machte eine Schnute. "Ich habe jetzt einen neuen. Der ist etwas speziell, ohne abnehmbaren Onanierschutz, der ist fest angenietet."

"Oh! Das ist bestimmt nervig, auf Dauer!"

"Weiß ich nicht. Bis jetzt habe ich ihn nur auf meine Maße eingestellt, aber kaum mal so richtig getragen."

"Eingestellt?", fragte Claudia neugierig. Sie packte ein Stück Schokolade aus und steckte es sich in den Mund.

"Nein danke", wehrte Monika das ihr angebotene Stück ab. "Er hat hinten zwei Ketten, die über den Arsch laufen. Und die sind am Taillenreifen mit kleinen Schlössern festgemacht."

"Mehr Schlösser ist schlecht. Das bedeutet auch mehr Schlüssel."

"Ja. Aber die Schlüssel habe ich schon zu Daniela nach Köln geschickt."

"Die ist doch gar nicht zu Hause!"

"Eben! Deshalb ja."

"Aha! Und den anderen Schlüssel? Ich nehme mal an, das Ding lässt sich wie alle anderen Keuschheitsgürtel am Taillengurt verschließen?"

Monika lächelte sie unschuldig an. Dann bereitete sie der Freundin ihren Plan aus, einen Plan, den sie vorher schon mit Agnes abgesprochen hatte, auch wenn diese nicht ganz begeistert davon gewesen war.

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Pia war gerade dabei, einen leichten Sommersalat für das Abendessen herzurichten, zu dem auch Agnes und Claudia eingeladen waren, als eine nervtötende Melodie sie auffahren ließ. Was war das?
Es war das Handy ihrer Tochter. Monika hatte sich irgendeinen seltsamen Klingelton auf ihr Handy geladen, irgendsoein Metal-Zeug, mit dem sie nichts anfangen konnte; sie selber hatte eine Melodie von ABBA auf ihrem Handy.
Sie ließ den Salat Salat sein und blickte hinüber zu Monikas Handy. Dort tauchte das Bild einer hübschen Messdienerin auf, ein Bild, mit dem Pia im Moment nichts anfangen konnte. Erst als daraufhin der Schriftzug ´1 ANRUF VON BARBARA´ erschien, merkte sie, dass sie wohl nicht mehr so recht Fühlung hatte mit dem Wandel ihrer Tochter.

Barbara! Den ganzen Winter hindurch hatte es sich um diese Person gehandelt. Sie erinnerte sich noch an jenen seltsamen Nachmittag im Dezember, als Monika den Jungen in ein Dirndl gesteckt und zum Tee eingeladen hatte. Klaus, der Enkel von Annegret, konnte ihr manchmal schon etwas leid tun. Aber wieso rief er jetzt an? Sie wusste, dass der Junge nach dem neuerlichen Unfall seiner Oma sich einige Wochen freigenommen hatte, um seine Mutter in Rom zu besuchen. War er wieder zurück? Sie beschloss, ab jetzt ein wachsames Auge auf ihre Tochter zu haben.


Eine knappe halbe Stunde später kam Monika in die Küche. Sie hatte geduscht und sich für den Abend frische Sachen angezogen. "Hm!! Das sieht lecker aus! Ich mag so Salat mit Avocado, Mama! Fragt sich nur, ob Glück oder Hass?"

Pia sah ihre Tochter an, als hätte diese gerade eine biblische Prophezeiung von sich gegeben. "Das kommt wohl wie alles im Leben darauf an, von welcher Warte man es betrachtet, Moni. Wenn man Pech hat, kann das vermeintliche Glück schnell in Hass umschlagen!"

"Ach Mama! Was du schon wieder denkst! Ich fragte doch nur, welche Sorte Avocado es ist: die suerte, also Glück, oder die Sorte mit dem schönen Namen Hass."

Pia zuckte die Schultern. "Dein Handy hat gelärmt, als du im Bad warst. Außerdem heißt die Sorte nicht suerte, sondern fuerte, also kräftig."

Monika nahm ihr Handy vom Tisch und wischte leicht über den Bildschirm. Schlagartig veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Als Mutter konnte Pia tief in die verborgensten Spalten ihrer Seele blicken. Und als Monika sogleich in den Garten ging und, wie sie vom Küchenfenster aus sehen konnte, ein angeregtes Telefongespräch führte, das wusste sie Bescheid.

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Man hatte einen sehr netten Abend miteinander verbracht. Es gab original australisches FOSTER´S Bier, das Claudia in einem Supermarkt aufgetrieben hatte, dazu leckeres Essen und natürlich eine Menge spannender Geschichten von down under. Nur als nun Claudia ihrerseits nach den neuesten Ereignissen in München fragte, verstummte das Gespräch merklich. Keiner von denen, die alles miterlebt hatten, wollte die ganze Geschichte neu auftischen.
So war es nicht verwunderlich, dass Claudia ihr zum Abschied noch ein recht deutliches wir-sprechen-uns-noch ins Ohr flüsterte, denn es war ihr längst aufgegangen, dass alle mit etwas hinterm Berg gehalten hatten.

Auch Pia hatte leichte Spannungen verspürt, umsomehr als sie ständig mit einer sichtbaren Reaktion ihrer Tochter auf Klaus´ Anruf rechnete. Diese kam am nächsten Nachmittag, als Monika die Treppe von ihrem Zimmer herunterkam. Vielleicht einen Tick leiser, als sonst, weswegen Pia sofort hellhörig wurde. Als sie Monika sah, die bereits ihre Jacke in die Hand genommen hatte und drauf und dran war, ganz stickum das Haus zu verlassen, wusste sie Bescheid. Monika trug ihr Dirndl, und das war ein äußerst ungewöhnliches Vorkommnis, außerhalb der Oktoberfestsaison. Und wenn Mädchen Dirndl anzogen, hatte dies immer etwas Tieferes zu bedeuten.

Sie fing sie noch vor der Tür ab, indem sie sich einfach davorstellte und Monika den Weg versperrte. "Du gehst aus?"

"Siehst du doch!", antwortete Monika gereizt.

"Im Dirndl? Jetzt, im Juli?"

"Was dagegen? Andere tragen doch auch ihre Dirndl!"

"Moni, bisher hast du dieses Kleid nur zum Oktoberfest angezogen! Also mach mir nichts vor! Lass mal sehen!" Schnell hatte sie ihre Hand ausgestreckt und Monika den Rock hochgeschlagen. "Oho!", sagte sie, als sie sah, dass ihre Tochter so rein gar nichts unterm Rock trug. "Mir scheint, du hast was vergessen!"

Monika wurde rot. Auch das war ein untrügliches Zeichen, dass jetzt höchste Vorsicht geboten war. Ihre Mutter drehte sich kurz um und schloss die Haustür ab. Dann zog sie den Schlüssel ab, steckte ihn in die Tasche und angelte sich in einer schnellen Bewegung auch Monikas Schlüssel, der noch auf einer Garderobe lag.

"Was soll das? Willst du mich einsperren? Ich bin kein kleines Kind mehr!"

"Eben deshalb. Und Einsperren ist keine schlechte Idee. Ohne deinen Keuschheitsgürtel lasse ich dich in dem Aufzug nirgendwo hingehen!" Sie machte eine kleine Pause, dann sprach sie ihr mütteliches Verdikt: "Du hast die Wahl. Entweder du bleibst jetzt zu Hause, und wir machen uns einen gemütlichen Abend, oder du ziehst endlich deinen neuen Keuschheitsgürtel an, damit ich dich beruhigt gehen lassen kann. Also überlege es dir."

Inwendig begann Monika schon zu kochen. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Jahrelanges ´Training´ hatte ihr beigebracht, ihre Gefühle der Mutter gegenüber zu kontrollieren. Einen gemütlichen Abend, hatte ihre Mutter gesagt. Sie wusste genau, was das bedeutete. Für ihre Mutter bestanden ganz eigene Normen, was Gemütlichkeit betraf. Und darauf hatte sie bestimmt keine Lust.
Sie zog in kindischer Aufmüpfigkeit die Nase hoch und ging wieder nach oben. Aus ihrem Schrank holte sie den neuen Keuschheitsgürtel hervor und stieg hinein. Vorsichtig führte sie ihre Labien durch den schmalen Spalt im Schrittreifen. Das fest angenietete Stück Stahlblech mit den vielen Löchern - der sogenannte Onanierschutz, ließ ab sofort nur noch einen begrenzten Sichtkontakt zu ihrer Lustgrotte zu. Monika führte Schritt- und Taillenreifen auf ihrer Taille zusammen und schloss den Gürtel, begleitet von einem tiefen Seufzer, ab. Sofort wanderte ihre Hand dorthin, wo jetzt eine feste Barriere sie davon abhielt, sich selber etwas Gutes zu gönnen. Sie musste tief durchatmen, um dem Bedürfnis, einen lauten Schrei abzugeben, zu widerstehen. Dann ließ sie ihren Rock wieder fallen und ging zurück zu ihrer Mutter, die immer noch in der Diele wartete.

"Alles klar, meine Kleine? Es ist doch nur zu deinem Schutz! Nun zieh nicht solch ein Gesicht. Also lass mal sehen."

Monika hob den Rock etwas hoch. Ihre Mutter besah sich das gute Stück, ohne es anzufassen. Dazu würde sie dann noch früh genug kommen...

"Sieht ja proper aus! Alles gut verschlossen, ja? Nicht dass du mir da was vorschwindelst!"

Monika umfasste den unteren Teil ihres Schrittreifens und rüttelte einige Male daran. "Alles abgeschlossen, wie du siehst. Kann ich jetzt gehen?"

"Und die Schlüssel? Die willst du doch wohl nicht mitnehmen? Stell dir mal vor, du verlierst die irgendwo."

Monika machte ein ärgerliches Gesicht. Sie schlug ihre Schürze hoch und nestelte die beiden kleinen Schlüssel von ihrem Rock, die sie dort mit einer Sicherheitsnadel befestigt hatte. "Hier! Und jetzt lass mich endlich gehen!"

Pia lächelte zufrieden. Sie sperrte die Tür auf und gab Monika ihren Hausschlüssel. Zufrieden sah sie ihrer Tochter nach, die ganz eindeutig auf dem Weg zu einem Rendevous mit diesem Jungen war. Und dass im Moment die Geschlechterrolle wieder ganz normal verteilt zu sein schien, war offensichtlich. Aber, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, so sagte sie sich, auch wenn es ihr klar war, dass sie gerade einem bevorstehenden heißen Abend so ziemlich den Garaus gemacht hatte. Nun ja, so dachte sie, sie würde ihrer Tochter das geben, was dieser dumme Junge ihr nicht geben konnte, dafür würde sie schon sorgen, sobald Monika nach Hause käme.

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Klaus war nervös. Nicht noch einmal sollte alles schiefgehen. Er war hocherfreut, dass Monika so schnell seine Einladung zu einem Wiedersehen angenommen hatte und hatte sich dementsprechend bestens vorbereitet. Die Frage war nur: worauf?
Noch einmal blickte er in den kleinen Kühlschrank. Ja, da war alles da, was das Herz begehrte. Getränke, kleine Snacks. Auch in der Wohnung war es nicht mehr das Chaos, wie noch vor einigen Tagen, als er aus Rom zurückgekommen war. Er hatte diverse Zeitschriften weggeräumt, welke Blätter von den Pflanzen gerissen, Staub gewischt und war sogar mit dem kleinen Staubsauger, den Sofie in ihrer Wohnung hatte, einmal durch die wenigen Räume gegangen, auch wenn er das dumme Gefühl hatte, dass der Apparat hauptsächlich der Erzeugung von Lärm diente. Auf die Idee, eventuell einmal den Staubsaugerbeutel zu wechseln, kam er nicht.

Die größte Frage allerdings war eine ganz andere. Hatte er ein Verhältnis mit ihr? Beide waren beim letzten Mal auf anständigen Sex miteinander aus gewesen, aber da hatte es leider ein kleines Problem gegeben. Damals aber war er nicht als Klaus aufgetreten, sondern als Barbara. Und jetzt? Er hielt immer noch an seinem Vorsatz fest, damit gar nicht erst wieder anzufangen. So entschied er sich heute dazu, er selbst zu bleiben. Mehr als falsch konnte es nicht sein, dachte er, als er die Hand in die Hosentasche seiner neuen, in Rom gekauften, Shorts steckte.
Ein warmes, weiches Geschlecht lag dort unter seiner Hand. Kein Keuschheitsgürtel heute. Und er war sauber. Was auch immer geschehen mochte, er hatte sich gründlich geduscht, immerhin war man ein Kulturmensch. Und wenn es zum Höhepunkt kommen sollte, war er auch vorbereitet; eine Schachtel Kondome lag griffbereit neben dem Bett. Er konnte sicherlich nicht davon ausgehen, dass eine Lesbe wie Monika die Pille nahm.

Bei dem Gedanken an den höchstwahrscheinlich bevorstehenden Liebesakt spürte er, wie ihm sein Glied entgegenwuchs. Er war am Ziel angekommen, er musste nur noch das breite Zielband zerreißen und die Arme hochstrecken. Wenn alles klappte, wenn sie überhaupt kam.


Als es endlich klingelte bekam er feuchte Hände. Er öffnete seine Wohnungstür und drückte auf den Türöffner. Neugierig blickte er hinab.

Fast hätte er Monika in ihrem Kleid nicht erkannt. Sie kam mit entschlossenen Schritten die Treppe herauf, zögerte aber eine Sekunde, als sie ihn dort oben stehen sah. Dann lächelte sie ihn an. "Hallo Klaus! Schön, dass du wieder da bist!"

Ihr Lächeln wirkte gequält. Irgendetwas hatte einen Schatten über ihr Gesicht gezogen, was Klaus aber der sommerlichen Hitze zuschrieb. Er bat sie herein und bot ihr als erstes einen gut gekühlten Saft an.
Seine Hand zitterte leicht, als er ihr das Glas reichte. Er musste sich schwer beherrschen, nicht gleich über sie herzufallen. Monika sah umwerfend aus in ihrem Dirndl.

"Du siehst super gut aus, Moni! Hab dich ja seit letztem Herbst nicht in deinem Dirndl gesehen, damals bei der GeiDi-Gaudi."

Monika lächelte ihn an, nahm den Saft und setzte sich in das tiefe Sofa. Kurz einmal schien es, als würde ihr irgendetwas wehtun, dann aber ordnete sie ihren Rock, schob das eine Bein darunter und blieb ziemlich aufrecht sitzen. "Gefall ich dir? Schön..."

Auch Klaus hatte sich einen Saft genommen und setzte sich neben sie. Jetzt musste er nur noch den Moment abwarten, bis sie das Glas, welches sie fast wie ein Schild vor sich hielt, einmal auf den Tisch stellen würde. "Und ich?", fragte er neugierig.

Sie vermied es, ihn anzusehen. Sie hatte gehofft, Barbara zu treffen, nicht Klaus. "Ich.... ich vermisse Barbara ein wenig."

Klaus starrte in sein Glas. Was sollte er sagen? "Sie ist nicht mehr hier..."

"Sicher?" Es lag fast so etwas wie Verzweiflung in ihrer Frage.

Er antwortete nicht. Nein, sicher war gar nichts. Er rückte näher an sie heran, nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf den Tisch. Langsam führte er ihre Arme auf den Rücken. Er hatte gesehen, dass sie ihre Dirndlschürze falsch, also auf dem Rücken, gebunden hatte. Sicherlich kein Zufall. Mit Monika gab es keine Zufälle.
Behutsam ließ er die Bänder der Schleife über ihre Handgelenke fallen, dann zog er die Bänder an, langsam und stetig, fesselte auf subtile Weise ihre Arme auf dem Rücken zusammen und knotete schließlich die Bänder vorne auf ihrem Bauch zusammen.

"Was tust du?", hauchte sie kaum hörbar.

"Schhhh!" Von einer Ablage unter dem Couchtisch holte er etwas hervor, das er gebastelt hatte. Ein Gardinenring, den er mit mehreren Lagen schwarzen Isolierbands umwickelt hatte, an zwei Seiten hatte er einen dünnen, durchschnittenen Gürtel angenäht.

Monika schloss die Augen, als sie sah, was er ihr vor den Mund hielt. Wenigstens das, dachte sie und öffnete ihren Mund.


Klaus merkte, wie sein Puls schneller wurde. Er hatte den Zielstrich erreicht. Jetzt konnte er nur noch selber versagen. Er zog sich aus. Nein, von Versagen konnte keine Rede sein. Hätte er auch Monika lieber bei sich gehabt, nackt, ohne dieses verführerische Kleid?
Er half ihr aus dem Sofa hoch, ließ sein erigiertes Glied mit glänzender Eichel an ihrem Bein hochfahren, unter ihren Rock. Er merkte ein leichtes Zittern ihrer Schenkel.

Monika atmete heftig durch ihren weit geöffneten Mund. Gleich wäre der schöne Traum vorbei. Gleich würde er merken, dass ihm auch diesmal das Glück nicht hold war. Und dann? Dann gab es nur noch eines...

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Pia betrachtete enzückt den Godemichet, den sie aus seiner Verpackung hervorgeholt hatte. Sie reinigte ihn, dann ließ sie ihre Zunge spielerisch über den gläsernen Phallus gleiten.
Sie sah auf die Uhr. Wie viel Zeit würde vergehen, bis der schöne Traum, den diese beiden jungen Menschen miteinander träumen wollten, an der stählernen Realität zerbrach? Sie dankte dem Schicksal, dass sie zufällig mitbekommen hatte, dass Klaus wieder im Lande war. Es war höchste Zeit, dass sie endlich die Kontrolle zurückerlangte.

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Monika schlug die Haustür mit lautem Knall zu. Wieso war sie überhaupt so blöd gewesen, zu ihm zu gehen? Irgendwie war wieder einmal alles den Bach runter gegangen. Sie war gleich nach der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter zu Claudia hinübergegangen, hatte aber enttäuscht feststellen müssen, dass niemand, weder Claudia noch ihre Mutter Agnes, zu Hause war. Hätte es etwas geholfen, wenn Claudia zu Hause gewesen wäre? Vielleicht. Vielleicht hätte sie sie davon überzeugen können, keinen Blödsinn zu machen. Obwohl Claudias Schlüssel ihr in diesem Fall auch nicht richtig geholfen hätte.
Das wahre Problem lag ganz woanders. Das wahre Problem war Barbara, die Klaus sein wollte. Die es einfach nicht schaffte, sich zu ihrer wahren Identität zu bekennen. Eine Art inneres Outing, dachte sie. Nicht der Akzept der Anderen ist das größte Problem, sondern der des eigenen Ichs.

Er hatte für einen lähmend langen Augenblick auf ihren neuen Keuschheitgsgürtel gestarrt. Hatte hilflos am fest angenieteten Onanierschutz gerüttelt, und war dann in sich zusammengefallen. Seine Männlichkeit verschwand wie der Sonnenschein hinter einer dicken Wolke.
Monika stöhnte, versuchte ihn auf noch immer vorhandene Ausweichmöglichkeiten aufmerksam zu machen, aber sie sah, dass der Ofen endgültig aus war. Resigniert löste er ihre gefesselten Hände; sie nahm sich selber den Ringknebel aus dem Mund. Wortlos. Sprachlos. Dann verschwand er in sein kleines Schlafzimmer; Monika hörte ihn heulen. Für sie gab es hier nichts mehr zu holen.

Auf dem Weg nach Hause kochte sie vor Wut. Gerade war eine neue Person auf die Liste derer gekommen, denen sie irgendwann einmal den Hals umdrehen wollte. Wieder einmal war ihr Leben fremdbestimmt, hatte sie einem schlechten Gedanken nachgegeben. Enthaltsamkeit!! Ha!! Nur ihre Nachbarin konnte stolz auf sie sein, denn für Enthaltsamkeit war nun wirklich gesorgt. Wie konnte sie nur so blöd sein, sich einen neuen Keuschheitsgürtel zu bestellen? Voller Wut trat sie gegen eine leere Mülltonne, die scheppernd umfiel. Wenn sie Pech hatte, würde sie nie mehr aus diesem Ding herauskommen!


Als sie endlich wieder zu Hause ankam, war sie total frustriert. Enthaltsamkeit mochte ja was für durchgeknallte Nonnen sein, aber der normale Mensch braucht seinen Sex. Er ist ein Lebenselixier, etwas das einen Teil des Sinns des Lebens ausmachte. Verhindert man diese Funktion, dann ist der halbe Mensch schon tot.
Ihre Mutter lächelte mitfühlend, sagte aber nichts. Statt dessen bot sie Monika ein Glas Rotwein an, das diese dankbar annahm. Sie trank in großen Schlucken, es machte nichts, der Tag war sowieso kaputt, da konnte man auch sturzbesoffen ins Bett gehen.

Sie hielt der Mutter das Glas entgegen. "Mama?"

"Noch ein Glas, Moni?"

"Bitte. Ach, scheiß Männer...."

"War es so schlimm?" Ihre Mutter spielte mit ihren Fingern über ihr Weinglas.

"Schlimmer. Es war ja nichts. Er ist zusammengefallen wie ein Kartenhaus, als er sah, dass nichts ging."

"Tja..."

Monika leerte das zweite Glas. Der gute Wein half, zumindest vorübergehend. Probleme würde sie so nicht lösen können. "Ach verdammt, es wäre das erste Mal gewesen. Ich wollte doch endlich einmal wissen, wie es ist...., also mit einem Mann."

"Glaube mir, es ist nichts besonderes."Ihre Mutter war aufgestanden und hatte sich hinter sie gestellt. Langsam umspielten ihre Hände die gerüschte Kante der weißen Dirndlbluse, dann näherten sie sich dem Mieder, welches die Brüste ihrer erwachsenen, aber immer noch so jungen Tochter fest empordrückte. "Vielleicht kann ich ja...", hauchte sie Monika ins Ohr.

Monika gab ein lautloses Lachen von sich. Bitte! Versuche es ruhig. Sie stand auf und lehnte sich an die Wand. Sie sah, dass ihre Mutter ihren gläsernen Dildo zur Hand genommen hatte; mit der anderen Hand nestelte sie einen kleinen Schlüssel von einer Halskette.
Sie spürte wie die Hand ihrer Mutter unter ihren Rock glitt, wie sie probend über ihren Onanierschutz glitt. Lange Fingernägel versuchten, unter den gelochten Stahlbügel zu kommen, aber sie merkte nur noch ein periphäres Ziehen an ihren eingeklemmten Schamlippen.

"Sehr interessant, dieses Teil, Moni. Was meinst du, möchte deine Spalte aufgeschlossen werden? Möchte sie meinen gläsernen Freund hereinlassen?" Ihre Mutter schien keine Antworten zu erwarten. Resolut schlug sie jetzt den Dirndlrock ihrer Tochter hoch, während sie gleichzeitig ihre Brüste küsste. Sie klemmte den Rock unter der Dirndlschürze fest, dann beugte sie sich, Schlüssel in der Hand, hinab um ihrer Tochter den Keuschheitsgürtel aufzuschließen.

Sekunden später schoss sie wieder hoch und blickte Monika verwirrt an. "Was... was ist das jetzt?? Zwei Schlösser? Was ist das denn für ein seltsamer Keuschheitsgürtel? Hast du mir deshalb zwei Schlüssel gegeben?" Sie wartete keine Erklärung ab, stürmte mit entschlossenen Schritten hinüber zu ihrem kleinen Wandschrank, dessen Tür sie öffnete. Aus einem alten Kristallgefäß schüttelte sie einen zweiten Schlüssel hervor.
"Was soll das denn bloß, einen Gürtel mit zwei Schlössern? Wenn du mir dann beide Schlüssel gibst?" Sie schüttelte ratlos den Kopf, kniete sich wieder vor Monika hin und nahm einen der Schlüssel, mit dem sie das erste Schloss entfernte. Dann stellte sie fest, dass der zweite Schlüssel nicht für das zweite Schloss passte, sondern nur der Reserveschlüssel für ihr Schlösschen war.

Sie setzte sich ratlos auf den Boden. Das hatte es noch nie gegeben. Das war völlig neu. Unfassbar.
"Und... und wer hat den zweiten Schlüssel? Du weißt wohl, dass du nie aus diesem Ding rauskommst, wenn du gleich zwei Keyholder hast?"

Monika ordnete ihren Rock. Ihre Stimme war schwer geworden, als sie ihre Mutter aufklärte. "Das brauchst du nicht zu wissen, Mama. Eine Person meines Vertrauens. Es kommt nur darauf an, dass ich diesmal wirklich sicher bin." Sie brauchte nicht näher zu erklären, wem diese Feststellung galt. "Du musst nur wissen, dass du einmal pro Woche deinen Schlüssel bei Agnes in den Briefkasten schmeißt. Sie bekommt dann auch den zweiten Schlüssel und ich kann dort ordentlich duschen... und so. Agnes wird schon darauf achten, dass nichts geschieht. Anschließend dann wird sie deinen Schlüssel wieder in deinen Briefkasten werfen."

Pia sah ihre Tochter an, als müsste sie ihr den bevorstehenden Weltuntergang verkünden. "Moni, weißt du, was das heißt??" Kraftlos ließ sie ihren gläsernen Dildo zu Boden fallen. Monika nickte bloß. Ja, sie wusste ganz genau was es bedeutete. Einen ersten Schritt in die richtige Richtung.




52. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von kochy25 am 06.01.13 23:01

Hallo Daniela,

Also ist der KG mit "doppelverschluß" wo der nur aufgeht wenn beide Schlüssel da sind?

Also ist Moni bis auf weiteres in diesem KG eingesperrt ohne aussicht auf erlösung. Diese aussicht gefällt mir.

Schade nur das bereits wieder warten müssen angesagt ist.

Kann man die Uhr vorstellen das es die näxte Fortsetzung morgen gibt?

kochy25
53. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von master1104 am 07.01.13 13:45

Super Geschichte

Ich freue mich immer schon auf Montag.

Master1104
54. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 08.01.13 16:38

Probleme potenzieren sich! Armes Kind! Was muss alles geschehen damit Du reif und erwachsen werden darfst?
55. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 08.01.13 21:31

Hi Daniela,

also Pia wird mir echt unheimlich und unsympathisch zugleich. Sie scheint ja einiges im Leben erlebt zu haben, was sie offenbar psychisch doch etwas mitgenommen, wenn nicht deformiert hat. Aber wie sie mit Monika umgeht, ihrer eigenen Tochter, das finde ich ungeheuerlich. Sie überträgt ihre Komplexe und Neurosen ja geradezu auf sie. Daraus sollte sich Monika wirklich bald befreien. Aber immerhin konnte Monika Pia am Ende ja doch noch austricksen - wenn sie auch nicht sonderlich viel davon hat.

Klaus kann einem schon leid tun. So verwirrt, und dauernd neue Einschläge bei ihm. Trotzdem, statt über den eigenen Frust zu heulen, hätte er sich auch etwas mehr um Monika kümmern können. Oder geht es ihm am Ende auch nur um sich selbst?

Ich finde Deine Fortsetzung spannend, aber auch mit sehr interessanten und tiefgründigen Gedanken gewürzt (oh, ich komme mir schon fast wie der Schnauz vor: Wissenschaft, mit Humor gewürzt... was Deine Geschichte doch für einen öblen Einfluß auf mich zu haben scheint... ). Der Mix ist Dir mal wieder hervorragend gelungen. Vielen Dank!

Und wie üblich kann ich den nächsten Sonntag kaum abwarten...

Keusche Grüße
Keuschling
56. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 13.01.13 22:00

Mein Gott! Schon ist es wieder Sonntag! Wie doch die Zeit vergeht! Da werde ich mich etwas beeilen müssen, den Text schnell noch fertig zu bekommen. Es ist ja nicht damit getan, dass ich ihn irgendwann einmal geschrieben habe! Nein, jedes Mal, bevor ich etwas zum Forum hochlade, kopiere ich den Text des Tages in ein neues Dokument, lese alles noch einmal durch und setze dann die HTML-Codes ein, für kursiven und fetten Text. Eine Menge Arbeit, kann ich nur sagen. Und dabei sind wir noch nicht einmal halbwegs durch mit unserer Geschichte.
Heute mag es etwas langweiliger sein, muss ja auch mal sein, aber dafür dann wird es beim nächsten Mal richtig spannend! Herzliche Grüße an alle Leser, Eure Dani!

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Oktober VI.

Hauptkommissar Rick betrat mit gemischten Gefühlen das Präsidium. Was war denn gestern bloß in ihn gefahren? Die Feststellung, die Leiche einer jungen Frau vor sich zu haben, die von irgendjemandem mit diesem seltsamen Keuschheitsgürtel verschlossen worden war, hatte ihn wirklich erschüttert. Aber nicht aus Mitgefühl, wie er sehr wohl wusste. Nein, von diesem seltsamen Gürtel schien immer noch eine unvorstellbare Kraft auszugehen, so als wolle dieser noch über den Tod hinaus die Botschaft verkünden: Mich knackst du nicht! Bei mir hast du keine Chance! Er wusste, dass der Keuschheitsgürtel ihn an seiner empfindlichsten Stelle traf: seinem männlichen Selbstverständnis.

Als er dann aber erkennen musste, dass es sich bei der Leiche nicht einmal um eine Frau, sondern um einen jungen Mann handelte, schaffte er es kaum noch, den anderen gegenüber zu verbergen, dass hier gerade eine der Grundfesten seines Weltbildes zusammengebrochen war. Eine verschlossene Frau, nun ja, die passte noch in sein Denken, denn es bedeutete nur, dass es in ihrem Leben einen Mann gab, der nicht gezögert hatte, seinen ´Besitzeranspruch´ geltend zu machen. Sicherlich auf eine etwas drastische Weise, aber war nicht schon der sichtbar getragenen Ehering ein ebensolches Zeichen an die Umwelt:
Rühr diese Frau nicht an; sie ist vergeben!?
Aber ein verschlossener Mann? Es hatte ihm den Atem geraubt. Er hatte sich in seine Junggesellenwohnung zurückgezogen und stundenlang aus dem Fenster gestarrt. Er hatte keinen Dienst, und bevor nicht ein Bericht von der Pathologie auf seinem Schreibtisch lag, gab es keinen Grund, vorzeitig aktiv zu werden. Wimmer würde tun, was zu tun war.

Lange hatte er darüber gegrübelt, wieso ein Mann...?? Hatte er das freiwillig getan? Und wieso war er mitten in der Nacht so unterwegs gewesen? Als Tussie aufgebrezelt, aber verschlossen? Hatte es eventuell einen Streit auf dieser komischen GeiDi-Gaudi gegeben? Hatte irgendso ein Kerl Sex mit ihr haben wollen? Mit ihr? Nun ja, es war ja wohl auszuschließen, dass der Verstorbene überall herumposauniert hatte, dass er in Wahrheit ein Kerl war, oder? Oder war es vielleicht so gewesen, dass er Sex mit einer anderen Frau haben wollte, und sich dann mit seinem Schlüsselhalter gestritten hatte, weil dieser den Schlüssel nicht rausgeben wollte?
Er seufzte. Alles schien hier möglich. Aber zuerst wollte der Tote indentifiziert werden. Ganz normale, langweilige Polizeiarbeit. Bei männlichen Leichen oft etwas einfacher, wenn sie ihren Ausweis griffbereit in der Tasche hatten, bei weiblichen Leichen manchmal eine dumme Sache, falls man ihre Handtaschen nicht fand. Und seltsamerweise brauchten Frauen immer noch welche, von diesem seltsamen Utensil hatten sie sich scheinbar noch nicht emanzipiert.

Er fragte sich, ob man inzwischen die Handtasche gefunden hatte. Vielleicht aber gab es gar keine Handtasche, denn mit so etwas wussten viele Transen nicht recht umzugehen. Blieb nur die Hoffnung, dass jemand sie
- ihn! - als vermisst gemeldet hatte.
Mürrisch öffnete er die Tür zu seinem Büro. Die Verbindungstür zu Wimmers Zimmer stand offen; er hörte sie irgendetwas in den Computer tippen. Er warf seine Ledermappe auf seinen Schreibtisch, stellte sich in den Türrahmen und klopfte leise.

"Morgen, Wimmer! Gibts was Neues? Name, Alter, Anschrift?"

Kommissarin Wimmer tippte den Satz fertig, dann drehte sie sich zu ihm um. "Morgen, Chef. Nö." Sie war auch schon mal auskunftsfreudiger gewesen, dachte Rick.

"Keine Vermisstenmeldung?"

Wimmer schüttelte den Kopf. Er sah auf ihr Haar, wieder tauchte das Bild in seiner Erinnerung auf, wie die Perücke da an seinem Fingernagel hängen geblieben war. Für eine Sekunde senkte er seinen Blick und sah, dass seine Mitarbeiterin heute einen Rock trug. Er schloss die Augen. Niemand sollte jetzt in sein Inneres blicken können. Was, wenn sie von ihm.... Er sog tief die Luft ein. Er wusste, dass solche Gedankenspiele verboten waren. Es gab einige Beziehungen im Polizeigebäude, aber dass zwei liierte Ermittler im selben Team arbeiteten, davon hatte er noch nie gehört. Vielleicht auch besser so, denn solch eine Beziehung wäre verdammt kompliziert. Im Geiste sah er, wie er ihr den glänzenden Gürtel anlegte, ihn durch ihren Schritt zog und das Ganze dann mit einem soliden Schloss sicherte.
Klick! Mein.
Dann aber geschah etwas sehr dummes. Plötzlich spürte er eine Hand, die in seinen Schritt griff, die ihm einen engen, kalten Stahlgürtel anlegte, die süffisant lächelte, als sein Geschlecht in eine enge Röhre geschoben wurde, die dann, ohne auf sein Jammern zu hören, seine ungezügelte Geilheit abschloss. Gefangen! Ein Alphatier, das seiner Rolle beraubt wurde.

"Chef?? Ist Ihnen nicht gut? Soll ich ein Glas Wasser...?" Ingeborg Wimmer war besorgt von ihrem Stuhl aufgesprungen und hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt.
Er zuckte leicht zusammen, fing sich dann aber wieder. "Nein, danke, es geht schon wieder. Da muss mir wohl etwas auf den Magen geschlagen sein."

"Ja, ja", antwortete Ingeborg Wimmer. Wieso nur bekam sie das nicht mehr aus dem Sinn, was sie gestern gesehen hatte? Sie hatte noch gestern im Internet mehrere Bilder von diesen eigenartigen Stahlgürteln gefunden, hatte festgestellt, dass diese nicht ganz billig waren, dass es sich um echte Maßarbeit handelte und somit kein Kinderspielzeug war.
Vor sich auf dem Schreibtisch hatte sie eines der Bilder liegen, das sie gestern früh von der Leiche gemacht hatte. Sie hatte es gestern bereits eingehend untersucht, auf irgendwelche Spuren äußerer Gewaltanwendung, aber nichts finden können. Die eingesperrte Person hatte sich scheinbar mit ihrem Schicksal abgefunden.
Ihr selber aber ging es ganz anders. Nie würde sie sich mit solch einem Keuschheitsgürtel abfinden können! Niemals! Allein der Gedanke, irgendein Mann würde sich erdreisten, sie in solch einen Apparat einsperren zu wollen, ihr die Möglichkeit zu nehmen, sich abends, nach einem anstrengenden Arbeitstag, in der Wanne anständig entspannen zu können, allein dieser Gedanke ließ bei ihr den Wunsch nach verstärktem Nahkampftraining wieder aufkommen. Und dennoch war da irgendetwas, etwas seltsam Diabolisches, was dieser ganzen Sache anhaftete, und als sie jetzt ihren Chef sah, der - was ihr nicht verborgen geblieben war - sie taxierend angesehen hatte, dann konnte ihr heiß und kalt werden. Sie hatte natürlich auch vom Begriff des
Keyholders gelesen und darüber fantasiert, wer in ihrem Falle wohl einer sein möchte.

"Fassen wir uns also in Geduld, Wimmer. Spätestens heute Abend, so schätze ich mal, werden wir wissen, um wen es sich handelt. Und dann geht´s wieder an die üblichen Fragen: wer hat wann was, wie, wo, und weshalb gemacht? Hab ich was vergessen?"

Seine Kollegin schüttelte den Kopf. "Also die übliche Kleinigkeit. Vielleicht sollten wir mal damit anfangen, etwas über diesen .. Keuschheitsgürtel zu erfahren? Ich meine...." Sie hielt inne. Sie merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Etwas hektischer redete sie weiter. "... ich meine, vielleicht hat ja genau dieses Ding eine Bedeutung in dem Fall. Ich habe mir schon die Aufnahmen von gestern angesehen und glaube, hier oben auf dem Verschluss, da kann man einen Namen erkennen. Leider ist das Bild nicht gut genug, auch eine Vergrößerung bringt nicht viel, wir müssen warten, bis wir den originalen Keuschheitsgürtel hier haben." Sie reichte ihrem Chef die Fotos, die sie vorher ausgedruckt hatte.

"Wir bekommen das Ding hierher??" Seine Stimme hatte eine leicht alarmierte Note. "Will das heißen, die haben es in der Pathologie irgendwie aufbekommen?"

"Das hoffe ich doch!"

Rick sah sie entgeistert an. "Sie haben aber seltsame Wünsche..."

"Das hat mit meinen Wünschen gar nichts zu tun, Chef." Sie musste Luft holen, eine Pause einlegen, denn sie spürte, dass er ihr nicht glauben würde. Immerhin war er Polizist, und Polizisten glaubten selten etwas. "Gar nichts, Chef! Aber dieser Keuschheitsgürtel könnte für unsere Ermittlungen wichtig werden." Es fiel ihr schwer, das Wort auszusprechen.

"Haben wir schon einen Bericht vom Leichenflädderer?" Er bemühte sich, witzig zu wirken, um seine Unsicherheit zu übertünchen.
´Der Rick´ mochte keine Leichen, auch wenn sie bei ihm seine Lebensgrundlage darstellten, so abstrakt das auch sein mochte. Noch viel weniger mochte er es, wenn ihm in der Pathologie alles am Objekt gezeigt wurde. Leider ließ sich hier nie das Bild vom lebenden Objekt gebrauchen.

"Ist gerade reingekommen, Chef. Ich habe ihn mal kurz überflogen und will mal das Wichtigste zusammenfassen." Sie wedelte mit einem dünen Hefter vor seiner Nase herum.

"Ich bitte darum." Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und blickte auf den Schoß seiner Kollegin.
Schoß, dachte er. Man brauchte nur ein l einzufügen, dann wurde es zu... Der Gürtel sollte hier herkommen! Und dann?? Seine Hormone spielten verrückt.

Wimmer schlug den Ordner auf und blickte hinein. "Also, hier steht, dass sie natürlich nicht durch den Schlag auf die Wange, sondern durch den Sturz ums Leben gekommen ist. Sie hat sich eine Rippe gebrochen , welche dann einen Lungenflügel perforiert hat. Mit andern Worten, die war nicht sofort tot, hat möglicherweise noch bis zu einer Stunde dort unten gelegen."

Rick sah sie entgeistert an. "Sie??", echote er. "Von wem reden wir hier überhaupt? Der Kerl da mit der Perücke..."

"... war kein Kerl, Chef. Es soll auch Frauen geben, die Perücken tragen!" Sie bemerkte die Veränderung in der Haltung ihres Vorgesetzten. Plötzlich schien er gerader als vorher zu sitzen, seine Augen hatten wieder ihr normal listiges Funkeln.

"Also, ich hätte schwören können..."

"Besser nicht, Chef!"

"Na, dann ist ja wieder alles in Ordnung! Reden Sie weiter, Wimmer!"

Ingeborg Wimmer wunderte sich. Was war mit diesem Mann los? Und wie kam er dazu zu sagen, jetzt sei alles wieder in Ordnung? Oh je, hatte er wirklich geglaubt, es hätte sich um einen männlichen Transvestiten gehandelt, einen, dessen Schniedel in einem Keuschheitsgürtel steckte? Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie plötzlich verstand, was ihren Chef so sehr bedrückt hatte...


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Juli III.

Es war Zeit, endlich nach Hause zu kommen. Die alte Frau Meisner wartete schon seit geraumer Zeit auf ihren Enkel, und ein abschließendes Gespräch mit der Heimleitung. Jetzt hörte sie endlich seine Schritte durch den langen Korridor.

"Da bist du ja endlich, Klaus. Ich warte schon die ganze Zeit."

"Tut mir leid, Oma. Es ging nicht schneller." Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Können wir?" Er wollte das Gespräch hinter sich bringen. Nicht, weil er etwas gegen das Gespräch hatte, sondern weil er sich jedes Mal unwohl gefühlt hatte, sobald er dieses Pflegeheim betreten hatte. Irgendetwas war hier nicht richtig, vielleicht weil man instinktiv spürte, dass hier, allen herzlichen Beteuerungen zum Trotz, nicht das geboten werden konnte, was den kraftvollen Zusammehalt einer richtigen Familie ausmachte: die liebevolle Verbundenheit. Hier war der alte Mensch nur ein Name in einer Krankenakte, sonst nichts.
Deshalb freute Klaus sich, dass es seiner Großmutter wieder so gut ging, dass sie in zwei Tagen zurück nach Hause kommen konnte, vorausgesetzt, der Arzt gab grünes Licht.


"Ja bitte, kommen Sie herein!" Der Stationsarzt bat ihn und die alte Frau Meisner herein und klärte beide über den Stand der Dinge auf. Er hatte von seiner Warte aus nichts dagegen, dass Frau Meisner zum verabredeten Termin zurück in ihr Haus konnte. Es gab noch einige formelle Dinge zu klären, dann verabschiedete man sich voneinander. Klaus fuhr seine Oma, die immer noch im Rollstuhl saß, zurück in ihren Wohnbereich, wo man ihn einlud, zum Kaffee zu bleiben, was er dankend ablehnte.

"So, Oma, ich will dann mal wieder. Ich werde dann mal alles für den großen Empfang zu Hause herrichten. Du wirst in einem Taxi gebracht, brauchst dir da also keine Sorgen zu machen. Bis dann also!" Ein kurzer Abschiedsgruß, und schon war er wieder durch die Tür verschwunden.
Auf dem Weg zum Ausgang traf er noch einmal mit dem Arzt zusammen. "Ach, Herr Doktor!?"

"Nun? Haben Sie doch noch Fragen, junger Mann?" Er lächelte ihn verständnisvoll an. Es war ihm nichts Neues, dass Angehörige im Beisein ihrer pflegebedürftigen Mütter oder Väter eben doch nie nach allem fragten.

"Ja. Sagen Sie, meine Oma sitzt ja immer noch im Rollstuhl..."

"Ja, leider. Eine dumme Marotte, die sich hier eingeschlichen hat. Sehen Sie, unsere Patienten brauchen Zeit, sie sind nicht mehr so schnell. Aber Zeit ist Geld, in unserem Fall bedeutet das, wenn eine Pflegekraft in fünf Minuten drei Bewohner im Rollstuhl zu Tisch bringen kann, so schafft sie, wollte sie den langen Weg mit dem Bewohner zu Fuß zurücklegen, gerade mal einen. Wir müssten also neue Kräfte einstellen, und dazu fehlt uns das Geld. Sie wollen sicherlich wissen, wie gut Ihre Großmutter ohne den Rollstuhl zurecht kommt?"

Klaus nickte.

"Kein Problem. Die Physiotherapie sagt, Ihre Großmutter sei wieder so fit wie... wie..."

"Ein junges Fohlen?"

Der Mediziner lachte. "Na, das nun gerade nicht. Doch wohl eher wie ein alter Karrengaul. Aber sie dürfte wohl wieder allein zurecht kommen. Gibt es Treppen im Haus?"

Klaus bejahte das. Der Arzt meinte aber, es sei kein Problem, solagen seine Oma sich mit einem Stock gut abstützen könne und es ein ordentliches Geländer zum Festhalten gebe. Dann gab er ihm die Hand und brachte ihn noch bis zur Tür.

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Es ging wieder! Sie war heilfroh, dass der Heilungsprozess so gut angeschlagen hatte. Und sie wusste bereits, worum sie sich als erstes würde kümmern müssen, sobald sie wieder daheim war. Ein Wunder, dass der Bub immer noch nichts gefunden hatte!

Es galt, unangenehme Zeignisse ihrer eigenen Schwäche zu vernichten, bevor diese in falsche Hände kämen.

Sie raffte sich vom Rollstuhl hoch, nachdem sie an beiden Rädern die Bremsen angezogen hatte. Sie stand, und was das Wichtigste war, sie stand fest und sicher. Kein Wackeln mehr, kein Zittern in der Beinmuskulatur. In spätestens drei Tagen hätte sie das Problem aus der Welt geschafft!

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Klaus saß im Bus nach Hause. Sein Roller hatte nicht starten wollen, vielleicht hatte er einfach vergessen, zu tanken. Die ganze Tankerei ging ihm sowieso schon auf den Senkel. Warum fuhr er nicht einfach wieder mit dem Rad, so wie früher? Vielleicht nur, weil er ein faules Schwein war?

Zum x-ten Mal sah er auf das Display seines Handys. So, als würde sich dort irgendeine superwichtige Mitteilung materialisieren, wenn er nur lange genug hinsah. Aber nichts geschah. Und dass nichts geschah hatte sich im Laufe der Zeit als ein schwer zu akzeptierendes Handy-cap entpuppt: man war abgehängt, wenn man nicht ständig angesimst wurde, ein Langeweiler, nicht mal mehr ein Schreckgespenst.
Blieb wie immer nur die Möglichkeit, selber aktiv zu werden. Irgendjemand konnte man immer eine SMS schicken, und wenn man auch nur mitteilen wollte, dass man gerade happy war. Meist bekam man dann eine Mitteilung zurück, und dann war man mit seiner Freude schon nicht mehr allein. Eine tolle Entwicklung war das!
Vielleicht sollte er mal wieder bei Monika nachfragen? Er tippte einige Wörter ein: HI MONI! WIE GEHTS? HAST DU NICHT BALD MAL WIEDER LUST? L.G. Dann wartete er gespannt.
Er brauchte nicht lange zu warten, die Antwort kam schnell und war unmissverständlich: LUST SCHON.... ABER ES GEHT NICHT. DU WEISST WARUM. MONI

Klaus kratzte sich übers Kinn. Seit einigen Tagen hatte er sich nicht mehr rasiert, es war ein ungewohntes Gefühl für ihn, er merkte, dass sich seine Männlichkeit wieder in den Vordergrund drängte, und es irritierte ihn. Es irritierte ihn aber auch, dass Monika scheinbar immer noch in ihrem KG steckte. Ja, er brannte darauf, das mit ihr zu tun, was Männer mit Frauen taten, er wollte sie fic ken, aber nicht, weil er tiefere Gefühle für sie hegte, sondern um ihr zu zeigen, wer die Hosen anhatte. Sie hatte ihn erniedrigt, hatte ihn monatelang mit diesem furchtbaren Video erpresst, weil sie Männer hasste, und er war ihr Opfer geworden. Und er hatte gar nichts dagegen, dass sie in einem doppelt gesicherten Keuschheitsgürtel steckte, er hatte nur etwas dagegen, dass andere die Schlüssel hatten, nicht er und - er überlegte einen Moment - seine Oma. Dann hätte sie wirklich nichts mehr zu lachen gehabt!

Er sah aus dem Fenster. Der Verkehr hatte zugenommen und der Bus kam nur langsam voran. Aber es gab auch noch einen anderen Grund, auf Monika sauer zu sein. Sie hatte ihn dazu gezwungen, sich seiner Schwäche zu stellen. Sie hatte seinen wunden Punkt entdeckt. Nur deswegen war es ihr überhaupt möglich gewesen, das mit ihm zu machen, was sie gemacht hatte. Und kein Mensch mochte es, wenn seine Schwächen und Geheimnisse aufgedeckt wurden.


Einige Zeit später ging er die wenigen Treppenstufen zur Haustür seiner Oma hoch. Gut, dass sie wieder laufen konnte! Er würde sich nicht mehr im selben Umfang um sie kümmern müssen, wie vor ihrem schweren Unfall. Sie würde allein in ihr Schlafzimmer hoch kommen. Und wieder runter.
Mit einem Mal wurde ihm anders. Er hatte die ganze Zeit über die Frage verdrängt, was genau seine Großmutter immer wieder im Keller gesucht hatte. Jetzt aber musste er sichergehen!
Er eilte die steile Kellertreppe hinab. Diesmal hatte er eine kräftige Taschenlampe dabei, denn die Beleuchtung war zu schwach, um wirklich in jeden Winkel unter der Treppe dringen zu können. Aufmerksam betrachtete er die dort aufgestellten Dinge.
Wieso musste er plötzlich an Sherlock Holmes denken? Vor langer Zeit hatte er einmal von einer Episode gehört, wo dieser äußerst ungehalten über den Putzfimmel seiner Haushälterin gewesen war: sie hatte in seinem Arbeitszimmer überall Staub gewischt und damit ein für ihn wichtiges Archivierungssystem zerstört, denn normalerweise konnte er aus der Dicke der Staubschicht auf den Akten auf das Alter des Vorfalls schließen. Klaus kicherte leise in sich hinein. Ob ihm das auch gelänge?

Unterhalb der Treppe befand sich ein kleiner Abstellraum. Wie er sah, stand hier eine Art Schränkchen, das auf der Vorderseite keine Tür, sondern nur einen Vorhang hatte. Klaus schlug diesen zurück und erblickte das Innenleben eines längst überholten Schuhschranks. Stiefel, Schuhe und Pumps aus mehreren Jahrzehnten standen hier, fein aufgereiht, aber offensichtlich seit Jahren nicht mehr benutzt. Es fröstelte ihn als ihm klar wurde, dass seine Oma nicht immer eine alte Frau gewesen war, dass auch sie einmal ein Leben mit keinem schlechen Geschmack gehabt hatte. Obwohl ihm so manches Schuhwerk eher museal vorkam, an ihm hatte schlicht der Zahn der Zeit genagt.
Neben diesem Schuhschrank befanden sich mehrere Kartons, hier fand er diverse Hüte, die sie früher wohl einmal getragen haben mochte. Nur, nichts von alldem konnte auch nur den geringsten Grund für ihr beharrliches Tun abgeben. Ansonsten gab es hier, unter der Treppe und im anschließenden Kellergang, nichts von Interesse.
Warum nur sah er es nicht? Es musste hier sein, das wusste er genau. Aber was? Wo? Noch einmal schlug er den Vorhang des Schränkchens zurück. Unten, direkt auf dem Fußboden, standen einige Schachteln, in denen er Putzzeug vermutete, denn da gab es auch Putzlappen mit eingetrockneten braunen und schwarzen Flecken. Und daneben lag eine runde Dose, eine Dose in der früher einmal Nürnberger Lebkuchen gewesen waren. Diese hatte es immer zu Weihnachten bei der Oma gegeben.

Die Dose sah sauber aus.

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Pia kochte vor Wut. Wie kann sie mir das antun? Ihrer eigenen Mutter? Sie fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen, jedes Mal wenn sie an ihr kleines Mädchen dachte. Hatte sie nicht darauf gedrängt, dass Monika einen neuen Keuschheitsgürtel brauchte? Hatte sie sich nicht sehnlichst gewünscht, das Kind bald wieder verschlossen zu wissen?
Jetzt hatte sie mehr bekommen, als ihr lieb sein konnte. Sie verstand nicht, wie Monika diesen seltsamen, doppelt abgeschlossenen Keuschheitsgürtel überhaupt aushalten konnte. Denn dass sie jetzt wirklich keusch sein musste, daran war wohl nicht zu rütteln.
Früher, wenn sie noch bestimmte, wann und für wie lange Monika ihren Keuschheitsgürtel tragen musste, da war es anders gewesen. Sie hatte dem Jammern ihrer Tochter selten widerstehen können, wenn diese nach zwei, drei Tagen schon zu ihr kam. Schließ mich auf, Mama, ich halte es nicht mehr aus...

Es war nie ein Problem gewesen, sie zum Aufschließen zu bewegen. Der Keuschheitsgürtel hatte seine eigentliche Funktion bereits verloren, nachdem Monikas Vater wieder nach Australien gegangen war. Von da an war er eher eine Art erotisches Spielzeug gewesen, etwas, das anfänglich noch mit einer Art Ritter-und-Burgfräulein-Spiel verbrämt werden konnte, bis dann, vor einigen Jahren, auch ihre Tochter homoerotische Züge entwickelte. So, wie sie es sah, hatte sie ihr, der Mutter, das gegeben, was sie haben wollte. Aber sie hatte nie darüber nachdenken wollen, warum alles so gekommen war.

Jetzt hatte Monika dieses Spiel unterbrochen. Sie hatte ihr einen der beiden Schlüssel anvertraut, den anderen hatte sie vielleicht Agnes gegeben, obwohl das eher unwahrscheinlich war. So nett die Nachbarin auch war, aber erotische Spiele hatten bei ihr noch nie was gebracht. Wahrscheinlich hatte sie Claudia den Schlüssel gegeben. Pia seufzte. Würde sie ihr den zweiten Schlüssel geben, wenn sie sie höflich darum bat? Wohl eher nicht.

Ihre Tochter hatte sich freiwillig verschlossen. Verzichtete freiwillig auf Sex. Wenn sie es richtig verstanden hatte, wollte sie einmal in der Woche bei Agnes duschen gehen, und Agnes würde aufpassen, dass sie keine Dummheiten machte. Dummheiten? Konnte es denn eine größere Dummheit geben, als freiwillig auf Sex zu verzichten??

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"Thanks a lot!" Daniela nahm das Schreiben entgegen, das ihr Vater ihr postlagernd geschickt hatte. Komplizierter ging es ja kaum noch! Seltsamerweise hatte ihr Vater nie viel von modernen Kommunikationsmitteln gehalten, oft sagte er, er möge es gar nicht, dass unser schöner großer Planet in den letzten Jahren so klein geworden sei, weil jeder jedem jeden Furz von überall her quasi verzögerungsfrei mitteilen konnte. Und dann fügter er immer gern hinzu: Seid man bloß froh, dass eure Handys noch keine Geruchs-Apps haben!

Daniela wusste, dass ihre Rundreise durch einige der östlichen Staaten ihrem Ende entgegen ging. Ende Juli wollte sie in New York zurücksein, dort noch eine Woche bleiben und dann die Heimreise antreten. Jetzt befand sie sich noch in Charleston, South Carolina, wo sie zusammen mit ihrer Freundin vor einigen Tagen angekommen war.

Bettina, mit der sie seit einigen Wochen unterwegs war, hatte draußen vor dem Postamt gewartet. "Nun, was gibt´s? Jemand gestorben?"

Daniela lächelte gequält. während sie den Umschlag aufriss. "Nee... lass mal sehen... OH ! SUPER!!!"

Bettina schaute sie verwundert an. "Und??"

"Ich hab meinen Studienplatz!! Klasse! Dann weiß ich jetzt endlich, wie es demnächst weitergeht! Mal sehen, was der alte Herr noch so schreibt!"

"Gratuliere! Und wo, wenn man fragen darf?"

"An der LuMax...", murmelte Daniela abwesend.

"Lumax? Ich kenn nur meine Lumix", anwortete ihre Freundin, die dabei auf ihre tolle Kamera pochte.

"Ludwig Maximilian Universität in München. Zum Wintersemester geht es los und ich kann bei meiner Tante... Ach, Scheiße!!" Daniela ließ ihre Hand sinken. "So ein Mist. Immer wenn man denkt, alles klappt, dann geht wieder was schief. Ich lese gerade, meine Cousine ist wieder zu Hause." Sie erzählte ihr von Claudia, und dass diese nach einem Jahr in Australien jetzt wieder zurück in München war.

"Also das ist mal nicht so gut, Dani. Würd mal sagen, du bist zur falschen Zeit am falschen Ort. Wenn du nicht den ganzen Winter über in München zelten willst, dann müsstest du spätestens morgen in München sein. Soll ja nicht ganz leicht sein, da was zum Wohnen zu kriegen. Aber mach dir mal keinen Kopf, deine Cousine hat bestimmt Beziehungen."

Daniela zuckte hilflos mit den Schultern. Der Tag war ja mal kaputt.

"Komm, weißt du was? Den falschen Ort können wir jetzt so schnell nicht ändern, wohl aber die falsche Zeit!" Mit der Hand wies sie auf ein großes Reklameschild, das eine hübsch ausstaffierte Scarlett O´Hara zeigte.

"Moment mal, nicht so schnell. Vater schreibt, ich solle das mitgefügte Formular unterschreiben und unbedingt an die Universität zurückschicken. Andernfalls riskiere ich..."

Bettina unterbrach sie. "Ja doch. Das kannst du heute Abend machen. Guck mal, was das steht: ´Become a Southern Belle!´ Komm, da gehen wir jetzt mal hin und machen einen auf Scarlett!!" Sie zog die protestierende Freundin mit sich fort.


Bald schon fanden sie ein größeres Haus im alten Südstaatenstil. Auch hier wiesen mehrere Hinweisschilder auf die Möglichkeit hin, dass hier jedes Mauerblümchen in eine echte Südstaatenprinzessin verwandelt werden konnte.
Daniela blieb wie angewurzelt stehen, als ihr aufging, zu was Bettina sie gerade mitnehmen wollte.

Bettina lachte. "Hier, lies mal! Hier werden Träume wahr! Gib es doch ruhig zu, dass du wie jedes andere Mädchen auch immer schon davon geträumt hast, mal so ein Reifrockkleid anzuziehen."

"Der Reifrock ist nicht das schlimmste...", gab Daniela zu bedenken.

"Na dann gibt es ja keine Hindernisse. Wart mal, hier hängt eine Preistafel. Hm... Also, wenn ich das recht verstehe, dann ist das nicht so ganz billig." Sie verzog ihren Mund zu einer ärgerlichen Schnute.

"Dann lass uns wieder gehen!" Daniela klang erleichtert.

"Wart mal, hier steht... also, wenn man so ein Kleid nur mal so, für ein Foto, anziehen möchte, dann kostet das ´ne ganze Stange Geld. Wenn man aber bereit ist, für die Firma etwas Reklame zu machen, dann sind das nur 15 Dollar pro Person. Komm, das machen wir!! Ha, das wird ein Spaß!!" Ohne ein weiteres Wort von Daniela abzuwarten zog sie diese mit ins Haus hinein, nachdem sie geklopft und eine nette Dame ihnen geöffnet hatte.


Als beide Mädchen eine Dreiviertelstunde später wieder vor die Tür traten, war Bettina das anfängliche Lächeln bereits aus dem Gesicht gewichen. "Au Mann, ist das eng! Ich bekomme jetzt schon keine Luft mehr. Also, diese Tussie hat mich viel zu eng geschnürt. Und wie ist es bei dir?"

"Es geht so; ganz nett würde ich sagen." Trotzdem fächelte Daniela sich Luft zu.

"Du hast vielleicht Nerven! Und dabei bist du doch viel enger als ich geschnürt! Wie kannst du das bloß aushalten?"

Daniela antwortete nicht. Ein verschämtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Was hätte sie sagen sollen? Sie war sich nicht sicher, wie Bettina reagieren würde, sie war sich erst recht nicht sicher, ob es ihr gelänge, nur einen kleinen Teil ihrer Erlebnisse zu schildern. Am Ende würde alles nur so aus ihr heraussprudeln. Dann aber fiel ihr doch noch ein Ausweg ein.
"Ich hatte schon einmal das Vergnügen..."

"Was? Hast du schon einmal so ein irres Kleid getragen? Sag bloß!"

"Letztes Jahr, in den Herbstferien."

"Als du bei deiner Tante warst?"

"Ja. Allerdings nur im Traum, leider." Jetzt musste Daniela lachen. Lachen im Korsett ist scheiße, dachte sie. Aber dieses Korsett hier war nicht annähernd so eng geschnürt, wie das was sie Ostern angehabt hatte, dieses abschließbare Ding. Das war echt Folter gewesen.

"Ach!" Bettina warf leicht verärgert den Kopf zurück. Glaubte sie gerade noch, jetzt ein tolles Geständnis geliefert zu bekommen, so musste sie jetzt feststellen, dass sie ihrem eigenen Sensationshunger aufgesessen war. "Träume gelten nicht!"

"Es hatte sich aber ziemlich real angefühlt. Egal. Was machen wir jetzt?" Beide Mädchen sahen sich an.

"Wenn ich es richtig verstanden habe, sollen wir hier ein wenig im alten Viertel herumspazieren und uns fotografieren lassen, Blümchen und Handzettel verteilen. Ist ja alles hier im Korb. Also komm, lass uns gehen, falls man mit diesen verrückten Röcken überhaupt gehen kann. Wer hat denn bloß diese dämliche Idee gehabt?"

Beide machten sich auf den Weg. Die eine Hand trug das kleine Körbchen, mit der anderen Hand hielten sie einen der Reifen des überdimensionalen Reifrocks fest, ganz einfach um nicht ständig auf den Rocksaum zu treten. Es war ein ungewohntes, anstrengendes Gehen, und das enge Korsett machte es nicht gerade bequemer. Bereits nach einer knappen halben Stunde stöhnte Bettina auf.
"Mann, ist das nervig! Wie haben die das früher nur ausgehalten? Ich bin jetzt schon wie gerädert. Komm, setzen wir uns ein wenig auf die Bank dahinten!"

Sie steuerten die Bank an, Bettina ließ sich als erste darauf fallen, schnellte aber vor Schreck gleich wieder hoch, als ihr Reifrock ihr fast bis zur Nasenspitze entgegenwippte. "Verdammt! Kann man in diesem blöden Kleid nicht mal sitzen?"

Daniela hatte das selbe Problem. Das konnte ja heiter werden. "Sieht so aus, als machten wir das was falsch. Mal sehen.... ja, man muss erst einmal hinten die Reifen etwas anheben, dann kann man sich vorsichtig setzen."

"Ja, du hast recht", stimmte Bettina ihr zu. "Aber Sitzen nenne ich das nicht gerade. Eher geradesitzen. Ich glaube, die hat mich in ein viel zu enges Korsett geschnürt, das drückt ja hinten und vorne, beziehungsweise oben und unten. Nicht gerade bequem, so ein Ding."

"Nein", pflichtete Daniela ihr bei. "Aber irgendwie sind diese Kleider doch schön, findest du nicht? Ist doch was anderes als unsere dünnen Fähnchen!"

"Also ich habe kein Problem damit zu denken, was ich lieber am Körper habe. Diese Dinger hier sind doch eher was fürs Museum."

"Du hast gut Lachen, Bettina. Du kannst nachher wieder deine Jeans anziehen. Aber stell dir mal vor, du hättest damals gelebt. Da hatten die Frauen nichts anderes anzuziehen! Hosen für Frauen waren undenkbar!"

"Aber vielleicht sind sie ja ohne dieses enge Korsett ausgekommen? Kann ich gar nicht glauben, dass die das immer getragen haben."

"Tja, ich denke doch. BHs gab´s ja noch nicht, und die hätten damals doch nie ihre Kleider anziehen können, wenn sie sich nicht eng geschnürt hätten."


Die Diskussion erstarb. Selbst Reden war im Augenblick anstrengend. Die Mädchen machten sich wieder auf den Weg, durchstreiften das schöne, pittoresque Viertel aus dem 18. Jahrhundert, posierten für mehrere Touristen, verteilten Blümchen und Handzettel. Als sie eine Turmuhr ein Uhr schlagen hörten, schlug Bettina vor, man solle sich so langsam auf den Rückweg machen.

"Meinst du nicht, dass wir dann etwas früh zurückkommen? Wenn wir jetzt langsam zurückgehen, dann sind wir so gegen zwei wieder beim Kostümverleih. Zwei Stunden zu früh, wenn ich mich nicht irre."

Bettina drückte ihre Hand auf ihre enggeschnürte Taille und gab einen kläglichen Laut von sich. "Ja, mag schon sein. Aber um vier Uhr bin ich tot, wenn ich nicht vorher aus diesem Ding hier rauskomme! Mir ist schon ganz schwindelig vor lauter Atemnot."

"Du musst nur langsam und ganz ruhig atmen!" Daniela machte ein tröstendes Gesicht.

"Wenn ich überhaupt atmen könnte!! Für mich ist das hier ja ganz neu, hatte ja nicht so einen schönen Traum wie du!"

Es war klar, dass Bettina ihre Schmerzgrenze erreicht hatte. Langsam machten beide sich auf den Rückweg.




57. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von carpegenk am 13.01.13 22:58

Hallo Daniela,
immer noch ist es spannend, wer da im Oktober mit einer Perücke verstirbt, Klaus/Barbara ist es ja anscheinend nicht.
Mal gucken, wer von den Damen der Geschichte bis dann noch alles wie oft zum Friseur geht oder in einem Anfall/Einfall/Unfall die Haare lässt

Vielen Dank für die spannende Geschichte
carpegenk

58. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 13.01.13 23:45

Liebe Daniela!
In Deiner heutigen Einleitung hast Du wieder einmal erheblich untertrieben, jedenfalls für meinen Geschmack. Du hast zwar recht, dass ziemlich viele Zeilen der heutigen Fortsetzung dem besseren Verständnis dienen müssen, aber Spannung hast Du sehr viel aufgebaut. Vom KG bei der Polizei über die Dose im Keller bis zum Südstaatenerlebnis. Und das alles willst Du demnächst aufdröseln?
59. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 16.01.13 02:44

Hi Daniela,

ja, eine wichtige, in Deiner Geschichte wiederkehrende Frage: Warum sollte jemand denn sein oder ihr aktives Ausleben seiner oder ihrer Sexualität willentlich aufgeben, um freiwillig in Keuschheit zu leben?

Nun, ein Grund könnte sein, um entweder seine Geilheit dadurch absolut zu genießen, oder sie unter Kontrolle zu halten, etwa um mögliches Unheil dadurch abzuwenden. Oder droht etwa von Keuschheit Unheil? Die Kirchen mögen das wohl in Zweifel stellen - aber die Realität mag es dann durchaus einholen, wie ja auch in Deiner Geschichte thematisiert...

Hervorragende Fortsetzung, ich freue mich schon auf den nächsten Teil!!!! Und ich bin natürlich absolut gespannt darauf, was Klaus wohl in der Dose finden mag...

Keusche Grüße
Keuschling
60. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Fehlermeldung am 16.01.13 10:02

Hallo Daniela
ich melde mich nur für Kritik oder Danksagungen an bei dir ist es eine Danksagung mach weiter so


61. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 20.01.13 22:00

20. Januar. Endlich, der Dunkelwinter ist vorbei, jetzt kommt der hellere Teil, der uns ins Frühjahr hinüberführt. Was aber noch einige Zeit dauern wird. Seit einer Woche hat es hier Schnee und Frost, da ist es gut, dass wir noch eine Menge spannende Handlung vor uns haben!
Spannend wird es heute, womit ich nicht die relativ unwichtige Niedersachenwahlprognose um 18 Uhr meine. Nein, wir alle wissen: Sonntags um 22 Uhr, das ist der spannendste Moment des Wochenendes! Jetzt schon im dritten Winter in Folge!
Damit liebe Grüße an alle von Daniela!

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Der Deckel war angerostet. Er hatte es mehrere Male versucht, die Dose zu öffnen, jetzt aber eingesehen, dass er etwas Werkzeug brauchte. Er wusste, wo alles war und hatte bald einen Hammer und einen Schraubenzieher gefunden. In der Küche legte er die Dose auf den Fußboden, setze alsdann mit akrobatischer Verrenkung einen Fuß auf die Dose und begann, den Deckel mit dem Schraubenzieher zu bearbeiten. Vorsichtig ließ er ihn unter den Deckelrand greifen, immer wieder rutschte er ab, alles war echt idiotisch und er begann sich bereits zu fragen, was der ganze Blödsinn hier solle, als der Deckel endlich einen knappen Zentimeter nach oben rutschte.
Immerhinque! Jetzt drehte er die Dose ein bisschen, fand eine neue Stelle und schaffte es diesmal auf Anhieb, den Deckel wieder ein Stück höher zu befördern. Er wiederholte den mühseligen Vorgang einige Male, bis der Deckel endlich in hohem Bogen durch die halbe Küche flog und die Dose ihren Inhalt preisgab.

Es waren fünf Briefumschläge, alle mit sauberer Handschrift an seine Oma adressiert. Briefumschläge ohne Absender. Liebesbriefe??

Klaus hob die Dose auf, setzte sich an den Küchentisch und überlegte. Hatte er überhaupt irgendein Recht, so hinter seiner Großmutter hinterherzuspionieren? Wohl eher nicht. Aber die Neugier fragt nicht nach Recht oder Unrecht. Es schien ihm auch unwahrscheinlich, dass es alte Liebesbriefe waren. Hätte ihn dann nicht eine Hitler-Visage von den Briefmarken anstarren müssen? Nun ja, so alt war seine Oma nun auch wieder nicht. Eher wohl Briefmarken mit dem Konterfei von ´Papa´ Heuß. Diese hier aber schienen noch recht neu zu sein. Wie er feststellte, war das Porto sowohl in D-Mark als auch in Euro angegeben. Nanu?
Der gut lesbare Poststempel gab leider überhaupt nichts her. Irgendein mehr oder weniger anonymes Postzentrum, irgendwo in Deutschland. Schade, dass die Zeiten vorbei waren, als jede Stadt noch ihren eigenen Stempel hatte. Jegliche Individualität drohte ausgelöscht zu werden, alles im Zeichen von Effizienz und Sparsamkeit... Scheiße, dachte er.

Er nahm ein Glas Leitungswasser und sortierte dann die Briefe nach dem Datum des Poststempels. Der erste war Anfang Januar geschrieben worden, dann folgte einer im Februar und ein weiterer im März, dann, Anfang April, gab es die letzten beiden mit nur kurzem Zwischenraum.
Waren es diese Briefe, die für seine Großmutter so wichtig gewesen waren, dass sie zweimal Kopf und Kragen riskierte, nur um ihrer habhaft zu werden? Und wenn ja, wenn sie wirklich so wichtig waren, warum hatte sie ihn dann nicht einfach gebeten, in den Keller zu gehen und diese Dose für sie heraufzuholen? Weil er dann vielleicht Fragen gestellt hätte?
Und wenn ja, überlegte er weiter, während er einen großen Schluck zu sich nahm, was hätte daran so unangenehm sein können? Für seine Großmutter? Oder vielleicht gar für ihn. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er musste sie lesen. Seine Hand zitterte leicht, als er den ersten Brief dem Umschlag entnahm. Sein Herz schlug schneller, Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn.

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Monika hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen. Unerträgliche Sommerschwüle lag in der Luft. Sie hatte sich ausgezogen, hatte das ausgezogen, was auszuziehen ihr möglich war, und lag nun nackt auf ihrem Bett. Ihre Hand umspielte ihre Scham, ihr Atem ging schneller. Hier, hier war noch weiche, warme Haut, und hier, nur ein paar Millimeter weiter, hier war harter, kalter Stahl. Zwischen Haut und Stahl gab es eine runde Kante aus hautfreundlichem Neopren, eine Kante, die die Haut davor schützte, aufgerieben zu werden. Der Stahl aber beschützte sie vor anderen Dingen, vor Penissen, insbesondere männlichen, aus Kontrolle geratenen, und vor Fingern, insbesondere weiblichen, die in ihren Schoß eindringen wollten, die wieder und immer wieder auf der Suche nach aufwallender Hitze und entspannender Erlösung waren, die aber immer wieder an jener stählernen Barriere aufgeben mussten. Es war zum Verzweifeln.

Unruhig wälzte sie sich hin und her. Hatte sie das Taillenband zu eng bestellt? Sie fächelte sich mit einer Postkarte Luft zu, einer Postkarte, die Daniela ihr aus irgendeinem verschlafenen Nest an der Ostküste zugeschickt hatte. Zwei Mädchen in historischen Kleidern, Kleider mit enggeschnürten Taillen und ausladend weiten Reifröcken. Sie stutze. Erst jetzt betrachtete sie die beiden Mädchen genauer. Daniela? Zusammen mit ihrer Freundin Bettina? Bettina, die gequält lächelte? Wie das nun?
Monika fand eine kräftige Lupe in ihrem Schreibtisch, setzte sich zurück ins Bett und richtete den Schein ihrer Nachttischlampe auf das Foto. Daniela!! Einen Moment suchte sie nach sichtbaren Zeichen für jenes Loch, durch das man seinen Kopf stecken musste, um dann, mit dem eigenen Gesicht inmitten eines fiktiven Bildes, fotografiert zu werden, aber da gab es kein Loch, keine Fiktion. Sie betrachtete Danielas Hände. Die linke Hand hatte sie in die linke Hüfte gestemmt, ihre Finger gingen fast bis zur Mitte ihres steifen Mieders, sie musste sehr eng geschnürt sein. Ihre rechte Hand hatte das Mädchen um einen der oberen Reifen ihres Reifrocks gelegt, hielt diesen leicht angehoben. Den ausgestreckten Zeigefinger hatte sie fast parallel zu jener spitz nach unten zulaufenden Kante ihres Mieders gelegt, welches für die Kleider der damaligen Zeit so typisch war.
Sie verstand, worauf der Finger deutete, ohne dass gleich allen diese obszöne Botschaft deutlich wurde. Und sie verstand auch den symbolischen Sinn des umklammerten Reifens, der zusammen mit weiteren, nach unten immer breiter werdenden, ihren Rock stützte. Dieses Kleid war in sich eine Bastion, eine Festung, hier waren es die Reifen des weiten Rocks, der den Zugang zu jener Stelle vereitelte, auf die der Finger des Mädchens deutete.

Sie schloss die Augen. Bild und Lupe entglitten ihren Händen. Sie spürte heißes Feuer in sich emporlodern. Daniela! Oh, wie sie sie vermisste! Diese wunderschöne Nacht, die sie im Kölner Studentenwohnheim miteinander verbracht hatten! Würde es so etwas jemals wieder geben?
Sie verkrampfte. Ihre Hand lag auf ihrem Taillenreifen. Gesichert wie Fort Knox. Mit zwei Schlössern. Ihre Mutter hatte den einen Schlüssel. Claudia den anderen. Sie war sich sicher, dass keine von beiden sie aufschließen und dann gehen lassen würde, unverschlossen, unbeaufsichtigt. Einzig diese Absprache mit Agnes war notgedrungen von beiden akzeptiert worden, und Agnes bestand auf dieser Enthaltsamkeit.
Früher war es anders gewesen, früher hatte sie zu ihrer Mutter gehen können, die den alleinigen Schlüssel besaß, früher hatte sie etwas herumjammern müssen, um ihre Mutter zu erweichen, früher war sie immer noch irgendwie dorthin gekommen, wo sie hinwollte. Früher aber gab es auch dieses andere, an das sie nicht so gerne dachte, dieses andere, das vor vielen Jahren einmal als ein Burgfräulein-Spiel begonnen hatte, und das vor einigen Monaten mit diesem gläsernen Stab geendet hatte.

Daniela! Monika spürte, sie war eindeutig zu weit gegangen. Sie hatte die Kontrolle über sich verloren, hatte es ebenfalls als ein lustiges Spiel hingestellt, als im letzten Herbst alles angefangen hatte. Sie erinnerte sich an jenen Moment, als sie Daniela das erste Mal gesehen hatte, als dieser der Bademantel entglitten war und sie plötzlich in diesem weißen Korselett vor ihr stand. ´Bleib, wie du bist!´ hatte sie ihr ins Ohr geflüstert, und Daniela hatte das enge Kleidungsstück anbehalten, hatte sich vom ersten Moment an ihr unterworfen. Warum? Sie wusste es nicht. Sie hatte keine Antwort darauf, warum Menschen so sind, wie sie sind. Warum manche ein glückliches Leben haben, zufrieden mit sich selbst, und andere von überzogener Selbstdarstellung zerfressen werden, warum manche sich glücklich eingliedern können, andere immer nach Macht streben, nach Dominanz.

Selbstanalyse? Weit war sie damit noch nicht gekommen. War sie nicht selber jemand, der es genoss, Macht über andere zu haben? Aber warum? Agnes hatte einiges bei ihr in Gang gesetzt, hatte sie fast mit der Nase darauf gestoßen, aber noch immer hatte sich ihre Situation nicht wesentlich verbessert. Erneut steckte sie in einem Keuschheitsgürtel, aber sie erinnerte sich, dass Agnes bei ihrem Besuch im Krankenhaus gemeint hatte, dass Keuschheit widernatürlich sei. Statt dessen hatte sie von dieser Enthaltsamkeit gesprochen, als sei dies das Schlüsselwort. Sie war doch keine Nonne!! Sie wollte Sex, und nicht zu wenig!

Ihre Hände krampften ein weiteres Mal um Taillen- und Schrittreifen ihres neuen Keuschheitsgürtels. Sie zog und zerrte, drückte bis sie glaubte, all ihre Kraft verloren zu haben. Sie hatte sich selbst in eine unhaltbare Situation manövriert. Sie hatte eine Absprache mit drei sehr verschiedenen Menschen getroffen, ohne festzulegen, wie lange diese gelten sollte, beziehungsweise, wie sich diese wieder aufheben ließ. Eine Absprache für die Ewigkeit, dachte sie, während sie weinend unter ihrer Bettdecke Zuflucht suchte.

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Oktober VII.

Kriminalkommissarin Wimmer zog das Bild aus dem Drucker, das ihr gerade von der Pathologie übermittelt worden war. Man hatte Hautreste unter den Fingernägeln des Opfers gefunden und somit die Hoffnung gehabt, man könne eventuell eine DNA-Analyse machen und somit dem Täter einen Schritt näherkommen. Auch wenn dieser Schritt normalerweise in den Dschungel der Großstadt führte, denn hier konnte man nicht, wie in einem Dorf, die ganze Bevölkerung zum Speicheltest vorladen.
Jetzt aber hatte sich auch diese Hoffnung zerschlagen.

Sie ging durch die Tür ins Nebenzimmer, wo Hauptkommissar Rick gerade mit der Durchsicht einiger Papiere beschäftigt war. "Chef?"

"Was gibt´s, Wimmer? Haben sie den Täter?"

"Leider nein. Neues von der post mortem."

"So? Zeigen Sie mal her!" Rick ließ sich die Mappe geben und studierte das ausgedruckte Foto. "Hm, Oberschenkel, zwei lange Kratzer. Und was sagt uns das?" Er blickte sie herausfordernd an.

"Sie hat sich selber da gekratzt. Die Hautpartikel, die unter den Fingernägeln gefunden wurden, stammen von ihr selbst."

"Hm." Rick verzog das Gesicht. So etwas mochte er gar nicht. Eine Spur weniger, ein Rätsel mehr. "Blöde. Haben Sie eine Idee, Wimmer?"

Seine Mitarbeiterin überlegte einen Moment. Kurz huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, dann aber schüttelte sie den Kopf. "Nicht direkt."

"Indirekt aber schon?" Rick kannte seine Mitarbeiter. Er öffnete die unterste Schublade seines Schreibtisches, nahm eine kleine Schale hervor und stellte diese vor sich auf den Tisch. "Greifen Sie zu! Etwas Schokolade hilft immer!"

Ingeborg Wimmer lächelte ihn an. Ihr Chef verstand sich auf Frauen, das musste man ihm lassen. "Sie wollte uns ein Zeichen geben, Chef!", sagte sie, während sie mehrere der kleinen, bunten Linsen in sich hineinstopfte.

"Ein Zeichen, so so", wiederholte ihr Chef, ohne einen leicht sarkastischen Unterton zu verbergen. "Und was für ein Zeichen?"

"Keine Ahnung, Chef. Aber vermutlich eines, das Rückschlüsse auf ihren Mörder zulässt."

´Der Rick´ kratzte sich am unrasierten Kinn. "Wenn Sie ´Rückschlüsse´ sagen, dann höre ich da heraus, dass sie möglicherweise ihren Mörder erkannt hat. Warum aber hat sie dann nicht wenigstens einen richtigen Buchstaben hinterlassen? Aus diesen beiden Kratzern wird doch kein Mensch schlau!"

Wimmer nahm noch einige der süßen Dinger. "Vielleicht sehen wir das Entscheidende nicht. Also, warum hat sie nicht einen, sondern zwei lange, parallele Kratzer hinterlassen?"

"Na, ein einziger Kratzer hätte ja wohl überhaupt nichts ausgesagt, Wimmer."

"Genau. Es muss also etwas bedeuten, dass es zwei Kratzer sind! Vielleicht sind es zwei große I´s?"

"I. I. als Initialen? Quatsch, kein Mensch heißt so!" Jetzt brauchte er selber einige der bunten Schokolinsen. Man war in eine kreative Phase eingetreten.

"Und wenn es doch ein einziger Buchstabe sein sollte? Ein großes H vielleicht? Nur dass sie halt nicht mehr dazu gekommen ist, den Querbalken zu schreiben... äh, kratzen."

"Spekulationen bringen uns nicht weiter, Wimmer. Nein, ich glaube nicht, dass es ein Buchstabe sein sollte, auch kein doppeltes I."

Ein lautes Klopfen unterbrach alle Kreativität. Eine Mitarbeiterin des Archivs entschuldigte sich für die Störung, legte eine angeforderte Aktenmappe auf den Schreibtisch und wollte sich gerade wieder verdrücken, als Rick sie zurückpfiff. "Moment bitte, warten Sie mal. Sagen Sie, können Sie etwas mit diesen beiden Kratzern anfangen? Wir suchen einen Mörder..."
Die junge Frau nahm das Foto in die Hand und studierte es einen Augenblick sorgfältig. "Al-Kaida", sagte sie schließlich zum Erstaunen und grenzenloser Belustigung der beiden Beamten.

"Al-Kaida?? Sagenhaft, das muss ich Ihnen lassen! Wie sind Sie darauf gekommen?" Der Rick sah sie mit schiefem Seitenblick an.

Die Sekretärin wünschte sich weit weg. Was sollte das hier? Verarschen konnte sie sich auch allein. "Nun ja, diese langen und offensichtlich parallel gezogenen Schrammen erinnern mich ein wenig an das frühere Logo der Twin-Towers in New York... Sie wissen schon: 11. September." Sie strahlte den Kommissar an, zuckte dann mit den Schultern. "Aber wenn Sie eine bessere Erklärung haben - bitte, mir tut das nichts."Sprachs und verschwand wieder auf den Gang der ´Löwengrube´. Beinahe wäre sie auch gefressen worden.

"Netter Versuch", meldete Ingeborg sich zu Wort.

"Ja, da können wir uns ja gleich beim FBI melden", brummelte ihr Chef.

"CIA, Chef. Das FBI ist drüben nur für das Inland zuständig.

Rick reagierte nicht. Er hatte die Wand angestarrt, hatte gesehen, wie diese langsam nachgab, wie sich massiver Beton in tödlichen Staub verwandelte, wie Menschen durch diesen Staub hindurch auf den Erdboden knallten, wie ihre Körper aufplatzen und nie zu löschende Bilder im kollektiven Bewusstsein hinterließen. Waren wirklich schon zehn Jahre vergangen? Und wann hatte der letzte Mensch als Folge dieser Wahnsinnstat sein Leben verloren? Ein deutscher Soldat in Afghanistan, vor wenigen Tagen erst. Nein, er hatte nie etwas gegen den Islam gehabt. Aber seit dem 11. September vor mittlerweile elf Jahren wusste er, dass diese Religion ihren Anhängern etwas Falsches versprach, wenn sie behauptete, sogenannte Märtyrer kämen nach ihren Bluttaten direkt ins Paradies. Nein, so etwas konnte es nicht geben. Es war schlichtweg pervers, so etwas zu glauben.

Müde strich er sich mit der Hand übers Gesicht. "Wir brauchen Konkretes, Wimmer. Sehen Sie mal zu, dass Sie mehr über diese Geile-Dirndl-Sause erfahren. Irgendjemand muss das doch organisiert haben. Haben wir ein ordentliches Foto von der Toten? Wenn nicht, dann fahren Sie in die Pathologie und lassen Sie sie dort ein wenig herrichten; die wissen dort, wie man das macht. Vielleicht kann Ihnen auch die Ärztin noch sagen, wo dieses Sause stattfindet. Noch Fragen?"

"Gaudi, Chef. Nicht Sause!"

"Na, nu sausen Sie mal ab! Ich will Ergebnisse. Wenigstens muss die Leiche schnellstens identifiziert werden. Ich werde sofort mal bei der Vermisstenstelle nachfragen, ob da schon was vorliegt. So, und jetzt ab dafür!"





Juli IV.

Klaus hatte die vier Briefumschläge vor sich auf den Küchentisch gelegt. Die Frage, ob dies ein Eingriff in die Privatspäre einer anderen Person war, stellte sich im Augenblick nicht mehr. Er entnahm dem im Januar geschriebenen Umschlag den ersten Brief. Er war nicht besonders lang, die Schrift war regelmäßig und noch wenig ausgeprägt, zeigte höchstens dass sich jemand Mühe beim Schreiben gemacht hatte.

Ettal, den 10. Januar

Liebe Frau Meisner! Jetzt sind wir wieder hier zurück und unser Alltag hat längst wieder begonnen. Seit einigen Tage liegt dicker Schnee, wann immer wir können sind Nick und ich draußen zum Skilaufen. Liegt bei Ihnen auch Schnee?
Gern denken wir beide an die schönen Tage zurück und ich möchte Ihnen von Herzen danken, dass ich das Weihnachtsfest mit Ihnen und Nick verbringen durfte. Hier wäre es doch längst nicht so schön gewesen!
Nick hatte mir schon seit dem Sommer immer wieder von Ihnen erzählt, oft habe ich ihn beneidet, wenn er am Wochenende zu Ihnen nach München fahren konnte. Ich selber hatte leider niemanden hier in der Nähe, den ich hätte besuchen können.
Ettal gefällt uns beiden sehr gut. Alle sind hier sehr nett zu uns und wir glauben, dass wir hier bestimmt einige gute Jahre verbringen können.
Jetzt höre ich, dass zum Abendessen gerufen wird. Da will ich mich lieber beeilen, denn wir sollen pünktlich sein.
Noch einmal vielen Dank für die schöne Zeit!!
liebe Grüße von Thomas


Thomas!? Klaus traute seinen Augen nicht. Welcher Thomas? Doch nicht etwa der ´ungläubige Thomas´? Er merkte, wie sich leichte Übelkeit bei ihm bemerkbar machte. Er schloss die Augen, sah einen eher zierlichen, zehnjährigen Jungen vor sich, der mit feuchten Augen ein Weihnachtsgeschenk auspackte.
Ohne Pause nahm er sich den zweiten Brief vor, den vom Februar.

Ettal, 23. Februar

Liebe Frau Meisner! Das war wirklich eine tolle Überraschung, dass ich Sie wieder besuchen durfte!! Vielen vielen Dank!! Auch Nick war wohl froh, für einige Tage mal von der Schule wegzukommen. Schade nur, dass das Wetter in München längst nicht so schön war, wie hier. Aber wir haben beide die Ruhe und den Frieden in Ihrem Haus sehr genossen.
Hier ist es in den letzten Wochen doch etwas stressiger geworden. Wir müssen jetzt viel mehr Schularbeiten machen, als vorher. Nick kommt wohl nicht mehr so gut mit wie noch vor Weihnachten. Aber er hat jetzt einen neuen Tutor bekommen, Pater Ruprecht, die üben jetzt immer noch am Abend, da wird das wohl bald wieder besser. Nick mag ihn ganz gern, sagt, dass er nicht so steif wie die anderen Lehrer ist. Ich kenne ihn nur von einigen Nachtwachen, es muss ja immer ein Lehrer während der Nacht Aufsicht haben, ist wohl Gesetz oder so.


Es folgten einige nette, aber belanglose Zeilen über den Winter und über einen neuen Lehrer, dann fuhr der Schreiber fort: Gern will ich auf Ihren Wunsch eingehen und mich, so gut es geht, um Nick kümmern. Ich schreibe Ihnen dann auch mal, wie es ihm geht und ob er schulische Fortschritte macht. Kein Problem für mich. Für Nick tue ich doch alles... und für seine liebe Oma!
liebe Grüße aus Ettal sendet Ihnen Thomas


Er begann zu zittern. Das hier war nicht gut. Sein Herz schlug schneller, schlug ihm bis in den Hals hinauf. Die Kehle war trocken, ausgedörrt. Pater Ruprecht! Seine Hand ballte sich zu einer Faust.
Klaus schob die Briefe von sich. Er stand auf. Sollte er die letzten drei auch noch lesen? Vielleicht wäre es gut, wenn jemand bei ihm wäre. Aber wer? Gab es irgendjemand, der ihn würde wieder aufbauen können, wenn er zusammenbrach? Einen Arzt, einen Sanitäter? Nein, gab es nicht. Wohl aber eine Sanitäterin! Daheim, in seiner kleinen Dachwohnung, hatte er ihre Nummer. Aufgeschrieben für den Fall der Fälle, ohne zu wissen, was für ein Fall das sein sollte. Jetzt wusste er es.

Klaus packte die Briefe wieder in die Dose, verschloss sie, sorgfältig darauf achtend, dass der angerostete Deckel nicht wieder verklemmte, dann machte er sich auf den Weg.
Er hatte Glück. Er erreichte die Frau schon beim ersten Versuch, und sie hatte frei. Sie versprach, sofort zu ihm zu kommen.


62. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Toree am 20.01.13 22:46

Hallo Daniela,

erst einmal herzlichen Dank für den neuen Teil.

Aber ich bin am Grübeln!!!

Hatte ich zuerst gedacht, Klaus währe der Tote von der Isar, war der zweite Gedanke an Daniela (was ja immer noch sein kann). Aber was mich nun verwundert, die zwei Kratzer!
Wie passen die in die Geschichte

Hmm, eine Person mit einem ´H´ im Namen.....neee, nicht das ich wüste.

Al- Kaida, also A K
Die einzige Person mit einem A im Namen ist Agnes.
Einen Nachnamen für Agnes wüßte ich jetzt nicht.
Muss mal zurück schauen und neu lesen.

Ich glaube Klaus wird sich noch auf einiges gefasst machen müssen.

Man wieder sieben Tage warten bis zum nächsten Teil!!!



LG

Toree
63. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AK am 21.01.13 13:15

AK wäre dann wohl ich. Ich bin es aber nicht gewesen, schwöre

Mal wieder ein super Teil dieser Geschichte. Danke Daniela.
64. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AlterLeser am 21.01.13 15:15


Hallo Daniela,
verfolge regelmäßig, wie noch mehr, deine schöne Story. Durch den
¨kriminellen Teil¨ blicke ich noch nicht durch, Daniela kann es nicht sein
denn die ist zur Zeit in den Staaten, hat ja Monika sogar eine Fotokarte
von sich im Dirndl geschickt. So wie ich deine Storys bis jetzt kenne wirst du
uns nicht dumm sterben lassen.
Dank Dir für deinen Fleiß. Ich lese deine Storys immer wieder mit Genuss.

Mfg der alte Leser Horst

65. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 22.01.13 22:24

Dass die alte Frau Meisner eine "Leiche im Keller" hat, war schon klar. Dass dabei aber ein Kousin von Klaus heraus kommt, ist doch eine Überraschung. Obwohl der Bezug zu Ettal und zum Pastor (wir würden in München dabei wohl einen Pfarrer vermuten) lässt noch tiefer blicken. Ich bin schon gespannt, welche Hilfe Klaus bei der Aufarbeitung der Briefe erhält.
Ja, und die arme Monika! Die ist ja jetzt förmlich in eine Sackgasse gefahren. Nachdem sie mir immer schon (manchmal trotz ihrer Sturheit und Strenge) irgendwie sympatisch war, wünsche ich ihr, dass sie da bald wieder heraus findet.
Und Dir, liebe Daniela20, wieder einmal ein Kompliment, insbesondere dafür wie Du es schaffst mich (uns?) in sadistischer Weise auf die Folter zu spannen.
Dein Maximilian
66. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 23.01.13 00:19

Hi Daniela,

erst einmal wieder einmal herzlichen Dank für einen weiteren, atemberaubenden Teil Deiner Geschichte. Jetzt kommt also ein Thomas ins Spiel, und Klaus scheint nahe dem Zusammenbruch zu sein deshalb. Aber mag es am Ende nur deshalb sein, weshalb er seine Sanitäterin anruft, und sie so schnell zusagt? Aber was mag wohl dann Oma Meisner sagen, wenn sie mitkriegt, daß ihre Geheimnisse von Klaus enthüllt wurden? Und das sogar noch vor Zeugen?

Keuschheit und Enthaltsamkeit - da mögen wohl wirklich Welten dazwischen liegen. Keuschheit als erzwungen, Enthaltsamkeit als selbst gewählt, um dann den Sex mit jemandem zu genießen, der oder die es eben wert ist, weil echte Liebe zwischen den beiden im Spiel ist. Auf so einen Menschen zu warten, mag in der Tat die Enthaltsamkeit wert sein. Und der Sex mag dadurch viel bedeutsamer werden. Aber das Warten darauf, ohne den Termin zu kennen, wann man wirklich den passenden und liebenden Menschen kennenlernt, kann wirklich zur unnatürlichen Qual werden - wenn es denn überhaupt irgendwann dazu kommt. Ich denke schon, daß die Liebe für´s Leben ein attraktiver Gedanke ist - aber vielleicht bin ich da auch zu romantisch und zu wenig realistisch. Ich habe schon zu viele Fehler begangen und zu lange gesucht - und bin dann am Ende bei Keuschheit im Selbstverschluß gelandet... Aber das mag ja gewisse Parallelen zu Monika haben, die sich inzwischen ja auch mehr als verirrt hat mit ihrer Situation.

Ja, die Geidi-Gaudi wird sicher ein guter Start sein, um die Identität der Verblichenen herauszufinden. Was immer dann auch die Kratzer zu bedeuten haben - das wird sich dann wohl später herausstellen.

Ich bin auf die nächsten Teile Deiner Geschichte absolut gespannt!

Keusche Grüße
Keuschling

PS.: Ich zweifle übrigens sehr an der offiziellen Darstellung der Ereignisse des 9 - 11, aber das ist eine andere Geschichte, die hier nicht hingehört, zumal sie ja mit Deiner Geschichte nicht viel zu tun hat.
67. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von kochy25 am 23.01.13 09:25

Hallo Daniela,

ausnahmsweise lag ich ja mal mit dem doppelverschluß richtig. Ich bin echt gespannt, was es denn mit Klaus/Babaras Oma auf sich hat. Bisher sind die Briefe je eher harmlos. Ich hatte eher erwartet, das "Oma" auch ein dunkel-lustvolles Keuschheitsgürtel - Geheimnis hatte und diese die Spuren beseitigen wollte. Was kommt statt dessen? Hatte Sie "Thomas" entsprechend umgestaltet wie Klaus zu Babara?

Bin echt gespannt wie man es wohl auf einer streckbank ist.

kochy25
68. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AlterLeser am 23.01.13 10:45

Hallo Daniela,
zu beginn meinen Dank für die Info. Nun kann ich nur noch warten, daß
schöne an deinen Posting ist der Termin und die präzise Zeit. Nun habe ich die
Befürchtung unser wunderbares Forum könnte mal wieder an dieser Stelle klemmen
Na wird schon klappen.
Nochmals danke und ein fröhliches weiter so.

M f G der alte Leser Horst.

69. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 27.01.13 22:00

Endlich wieder Sonntag!! All meinen Lesern wünsche ich für heute gute Spannung! Zum besseren Verständnis will ich noch einmal darauf hinweisen, dass die Handlung auf verschiedenen Zeitebenen stattfindet, bewegt sich die Haupthandlung momentan noch im Sommer, so läuft die Ermittlung der Kriminalbeamten bereits Ende Oktober / Anfang November. Und ich muss wohl nicht betonen, dass die Lektüre der vorangegangenen Erzählungen "Herbstferien " und "Frust" zum Verständnis dieser Geschichte unerlässlich ist. Eure Dani!

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Annegret Meisner faltete säuberlich ihre wenigen Sachen, die sie hier im Krankenhaus bei sich hatte, und legte sie in ihr kleines Köfferchen. Endlich! Sie war froh, dass sie endlich wieder gesund war. Nein, alt werden war wirklich nichts für Feiglinge. Was zählte all die Lebenserfahrung, die man in langen Jahren angesammelt hatte, wenn man im hohen Alter unter ganz anderen Voraussetzungen mit dem Leben fertig werden musste? Im Grunde genommen wusste jeder Säugling besser, wie es war, wenn man nicht so konnte, wie man wollte, wenn man nicht die nötigen Kräfte aufbieten konnte, wenn Körper und Hirn schwach waren.
Wie hatte sie nur so blöde sein können, diese Briefe so lange aufzuheben? Hatte sie nicht immer wieder daran gedacht, dass es besser sei, sie endlich zu verbrennen, zu vernichten, aber jedes Mal hatte sie nur denken können, es sei auch noch Zeit bis morgen, und wenn sie es dann nicht täte, dann halt bis übermorgen. Ja, nächste Woche ganz bestimmt, da würde sie sie in kleine Fetzen reißen und ins Klo schmeißen und an der Kette ziehen.
Aber das hatte sie jetzt gelernt, dass es für alte Menschen kein morgen gibt, dass jederzeit der Moment des letzten Atemzuges kommen konnte, dass man bis dahin hinter sich aufgeräumt haben solle, in seinem schmutzigen Leben. Obwohl man doch immer nur versucht hatte, es sauber zu halten.

Sie würde den Jungen wegschicken. Würde ihm sagen, er solle sich einen schönen Abend machen, seine Freundin ins Kino einladen, auf ihre Kosten. Gingen die jungen Leute überhaupt noch ins Kino?? Sie wusste es nicht richtig. Aber sie erinnerte sich daran, davon gelesen zu haben, dass jetzt eine neue, dreidimensionale Wunderwelt auf die Kinobesucher wartete, etwas, das sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Sie erinnerte sich an den ersten Farbfilm im Kino, das war schön gewesen. ´Münchhausen´ mit Hans Albers! Oh, war das eine bunte Welt! Ganz anders als das staubige Grau, das sich bereits auf viele deutsche Städte gelegt hatte. Zerstört und vernichtet durch alliierte Bomberverbände! Aber nicht Passau. Passau hatte noch Glück gehabt. Dort war sie mit der Mutter hingefahren, dem tristen Alltag zu entfliehen, zu sehen, wie der Mensch sich am eigenen Haarzopf aus dem Sumpf herausziehen konnte. Einem Sumpf, der täglich näher kam, wenn der Ortsbauernführer zu den Nachbarn ging, um mit stolz geschwellter Brust zu verkünden, dass der Sohn, der Gatte oder Vater sein Leben für ´Führer und Vaterland´ hingegeben hatte. Nein, an den Führer glaubte sie schon damals nicht mehr, denn sie hatte es verstanden, wenn der Pfarrer davon gepredigt hatte, dass man keine anderen Götter neben dem Gott der Christenheit haben solle.
Ihr Vater? Nein, ihr Vater war nicht mitgekommen, nach Passau, auf der geistigen Flucht. Ihr Vater stand im Felde, wie man es im Weltkrieg noch so schön gesagt hatte. Als handelte es sich um ein sanft wogendes, summendes und duftendes Kornfeld. Nein, jetzt sprach man nur noch von der Front, dieser seltsamen Linie auf der Landkarte in der Küche, auf der ihre ältere Schwester schon lange keine Fähnchen mehr nach Osten bewegte. Guck nicht hin!, hatte diese immer gesagt, wenn sie wissen wollte, warum es denn da plötzlich nicht weiter ging, im fernen Russland. Sie musste es wissen, denn sie war schon Jungmädelführerin. Ein Volk von Führern, groß und klein, die einander in die Irre leiteten.

Fra Meisner atmete schwer auf. So viel Erinnerung man mit sich herumschleppte. Und sie hörte wieder die mahnenden Worte ihrer Mutter, auch hier: Guck nicht hin!, als sie unten an der Ilz fragte, was das für zerlumpte Leute seien, die dort die Kähne entluden. Ausgemergelte Gestalten in gestreifter Häftlingskleidung, bewacht von SS-Soldaten. Guck nicht hin!!, hatte die Mutter gesagt, und sie hatte es als eine Aufforderung verstanden, nun erst recht hinzugucken. Immer hatte sie in ihrem Leben hingucken müssen; ob sie aber auch immer recht gehandelt hatte, mochten andere für sie entscheiden.

Aber sie sah gern wieder hin, als das Schwarzwaldmädel in die Kinos kam, als Sonja Ziemann neue bunte Lebensfreude vermittelte. Man hatte alles überlebt, lebte in einem neuen Staat, hatte die Schuldigen ihrer Strafe zugeführt. Man bezahlte mit neuem, hartem Geld, und man hatte einen neuen Führer... nein, Führer hieß das nun nicht mehr, irgendein steinalter Mann vom Rhein, der komisch sprach und noch komischer aussah... so ganz anders als der Führer halt.
Und sie selber war nun mit ihren fünfzehn Jahren das Schwarzwaldmädel, nur dass es da den kleinen Fehler gab, dass sie nicht aus dem Schwarzwald kam, sondern dem Bayrischen Wald, was zumindest den Amis egal sein konnte.

Dann - Heimatfilme bis zum Erbrechen. Die verwundete Seele, die nach Ruhe und Frieden suchte. Man ging gern ins Kino, denn anderes gab es nicht. Stillstand. Während die Städte wiederaufgebaut wurden, während in den Ballungszentren Industrie und Wirtschaft wieder in Gang kamen, während alle schon wieder so taten, als hätte es die ´Tausend Jahre´ zwischen 1933 und 1945 nie gegeben, wurde sie Zeugin von Stillstand und langsamem Verfall. Nichts geschah oben im Wald, nichts änderte sich. Eine Nation, die mehr Zeit damit verbrachte, den verlorenen Ostgebieten hinterherzutrauern, statt sich um die zu kümmern, die noch geblieben waren.

Bis sie selber den großen Sprung nach München gemacht hatte. Ein neues Leben, ein neues Kino! Jetzt hatte man das Provinzielle abgeschüttelt, jetzt reiste man mit Phileas Fogg alias David Niven In 80 Tagen um die Welt, in riesigen Lichtspielpalästen mit gekrümmen Leinwänden, bei denen man ständig den Kopf hin und her drehen musste!!

Plötzlich musste sie lachen. Egal, wie man den Kopf drehte und wendete, das Kino blieb Flucht, Selbstbetrug. Nichts, auf dem man wirklich bauen konnte. Egal, ob es nun in Cinemascope oder dreidimensional war, es war hohl und fiktiv, etwas, das meist an der eigenen Realität meilenweit vorbeidriftete. Aber vielleicht war eben diese Scheinwelt in manchen Fällen doch die bessere Alternative. Ihr Gesicht bekam einen harten Zug, sie dachte an ihre ältere Schwester, die die Niederlage nicht hatte hinnehmen wollen, die nicht ohne eine starke Führerperson leben konnte, oder wenigstens einem absoluten Ideal. Ihr ganzes Leben hatte sie sich verpfuscht, als sie die Schriften von Ulrike Meinhof in die Finger bekommen hatte, als sie plötzlich wie ausgewechselt war, von einem Tag auf den anderen. Parolen konnte sie wieder von sich geben, etwas das sie schon als junges Mädchen gelernt hatte. Nur dass sie nie gelernt hatte, das Wesen von Parolen zu erkennen, ihren zerstörerischen Geist, ihren verlogenen Absolutheitsanspruch.
Frau Meisner sah für einen Moment alles wieder auf sich einstürzen, die ewigen Diskussionen, mit den Eltern, mit ihr, der jüngeren Schwester. Wieder sah sie den früh eingeübten Fanatismus in den Augen der Schwester aufblitzen, wieder sah sie sie davonlaufen, mit ihrem Rucksack und dem um den Kopf gewickelten Arabertuch, um am Kampf gegen das imperialistische Israel teilzunehmen, einem Kampf, für den sie eigentlich schon viel zu alt gewesen war. Es war das letzte Mal, dass sie ihre Schwester gesehen hatte, damals, kurz nach den Olympischen Spielen, als die Eltern ihnen das Startkapital in ein angenehmes Leben hinterlassen hatten. Nichts hatte Gertrud davon haben wollen, und sie schieden im Streit - sie, die die Schwester eine Kapitalistin schimpfte, und Gertrud, die sich selber als Freiheitskämpferin sehen wollte. Freiheit für das palästinensische Volk! waren ihre letzten Worte, seitdem hatte sie nie wieder von ihr gehört. Natürlich konnte man am Existenzrecht Israels zweifeln, so wie man generell an allem zweifeln konnte, nicht zuletzt an jenen seltsamen Gebilden, die die Menschen Staaten nannten, und die scheinbar nur deshalb geschaffen waren, um Unfriede zwischen ihnen zu säen. Traurig war es nur, dass es Gertrud nie in den Sinn gekommen war, einmal an dem zu zweifeln, dessen Existenz sie mit ihrem unerschütterlichen Glauben an den ´Endsieg´ - der jetzt ´revolutionäre Kräfte´ genannten Wahnidee - in höchstem Maße gefährdete: an sich selbst.

Alles vorbei! Aus und vorbei! Frau Meisner schüttelte sich. Jetzt reiste sie nirgendwo mehr hin. Nicht mehr mit Phileas Fogg um die Welt, und nicht mehr auf der Suche nach ihrer Schwester in den Jemen. Es war vorbei. Jetzt konnte sie froh sein, wenn ihr Neffe sie morgen abholen würde. Die Brust wurde ihr schwer und sie seufzte erneut schwer auf. So ist das Leben, dachte sie. Man kennt es erst, wenn es vorbei ist.

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Evelyn hatte doch länger gebraucht, als sie gesagt hatte. Sie parkte ihren Wagen vor dem Haus mit dem kleinen Vorgarten, überlegte, ob es hier wohl nur mit einer Parkerlaubnis für Anwohner gestattet sei, aber dann schnappte sie sich ihre Handtasche, stieg aus und knallte energisch die Fahrertür zu. Egal. Das hier war wohl eher ein Notfall, zu dem sie gerufen worden war. Der Mensch musste auch einmal Glück haben dürfen, besonders bei der Parkplatzsuche.
Es hatte sie erstaunt, von Klaus zu hören. Wochenlang hatte sie keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt, nicht nach jenem seltsamen Abend, als sie als Rettungssanitäterin zum Haus seiner Oma gerufen worden war und dort ihn - sie - getroffen hatte. Barbara! Dieser blöde Name. Sie hatte es deutlich gemacht, dass es für das Formular besser sei, wenn er dort mit seinem richtigen Namen unterschrieb, damit es später in der Klinik zu keinen Differenzen käme. Und dann hatte sie ihr gesagt, sie könnte nach Dienstschluss vorbeikommen, wenn es ihr recht sei.

Und dann: dieser junge Mann, der in seltsame stählerne Unterwäsche eingesperrt war. Ein Keuschheitsgürtel, den er nicht ablegen konnte, einen BH, der ihm weibliche Brüste auf den schmächtigen Körper bannte. Sie erinnerte sich an die verzweifelte Suche nach kleinen Schlüsseln, die irgendwo liegen mussten, wie sie alles durcheinander gewühlt hatten, bis sie den kleinen Zettel fand, diesen Gruß eines unverhofften Besuchers, der die Schlüssel an sich genommen hatte.

Ob er wohl immer noch in seinem Keuschheitsgürtel steckte?? Eine Frage, die seit Wochen in ihr brannte. Nein, wohl eher nicht. Kein Mensch tut so etwas. Es sei denn, man hat keine Wahl. Kein Schlüssel, keine Wahl, so einfach war das doch! Gleich würde sie es wissen. Sie drückte auf den Klingelknopf. Wartete einen Moment, drückte erneut.
Augenblicklich hörte sie wieder seine gestresste Stimme am Telefon. Kannst du... kannst du kommen? Ich... ich brauche jemanden.... ich pack das nicht allein. Schweigen. Sie sagte, dass sie kommen könnte. Bitte, bitte komm schnell, ja, sonst.... Aufgelegt.
Unruhig drückte sie ein weiteres Mal auf den Klingelknopf, hielt diesmal ihren Finger darauf, zählte die Sekunden, wie sie es gewohnt war, wenn sie bei Verunglückten den Puls zählte. Dann drückte sie gegen die Tür, die lautlos aufsprang.
Als sie die Treppe hochging stellte sie verärgert fest, dass sie ihre Notfalltasche nicht dabei hatte. Etwas Traubenzucker in der Handtasche, konnte man damit Leben retten?

Auch die Wohnungstür war nur angelehnt. Sie hörte das leise Quietschen, stieß die Tür weit auf. "Barbara??" Aus der kleinen Küche hörte sie etwas, das wie das Umkippen einer Flasche klang, gefolgt von einem unterdrückten ´verdammt!´. Gut, er lebte also noch. Oder sie.
Sie ging in die Küche. Klaus saß auf dem Boden, oder besser gesagt, das was von ihm übrig war. Er hatte Hemd und Hose ausgezogen, hatte sich seine Perücke auf den Kopf gesetzt, schief und an die Verkleidung eines Clowns erinnernd, der schwarze Petticoat verkomplettierte das bizarre Bild zusammen mit einem lose angezogenen hellblauen Spitzen-BH. Einem BH, der in seinen Körbchen nichts hatte, was er hätte halten sollen.

Er blickte auf, als er sie sah, lächelte. "Hallo Lyn. Schön dass du gekommen bist." Die umgefallene Whiskyflasche neben sich auf dem Boden war verschraubt, sein Glas leer. Er bemerkte ihren zweifelnden Blick und zuckte mit den Schultern. "Ist ja auch keine Lösung."

Sie sah in an, nickte zufrieden. "Und das da?"

Eine Erklärung brauchte er nicht. Das da... die Perücke, der Petticoat, der BH. Wieder zuckte er mit den Schultern, diesmal resigniert, hoffnungslos. "Ich weiß es nicht. Vielleicht..."

Evelyn half ihm auf die Beine. Nicht das erste Mal, dass sie jemandem auf die Beine half. Aber es war das erste Mal, dass sie jemandem offen ins Gesicht sagte, dass er scheiße aussah.

"Ich weiß", murmelte er. "Es musste schnell gehen..."

"Was um alles in der Welt ist denn passiert??"

"Sie hat mich eingeholt..." Eine kryptische Antwort.

"Deine Oma? Geht es ihr wieder besser?"

Er musste lachen. "Nein, nicht die Oma. Die Vergangenheit hat mich eingeholt, Lyn. Eine scheiß Vergangenheit." Er schlug den Blick nieder.

"Mein Gott! Das klingt ja fast so, als wärst du an einem Verbrechen beteiligt gewesen!" Sie täuschte gespieltes Entsetzen vor.

Sein Blick heftete sich an die Tischplatte. "Ja... ja, beteiligt. Ja, das war ein Verbrechen, und ich..." Er stockte, wischte sich mit der Hand über die feuchten Augen, "ich war daran beteiligt." Klaus langte zu einigen Briefen, die vor ihm auf dem Tisch lagen. "Hier, Lyn, ich schlage vor, du liest erst mal diese Briefe. Danach dann kann ich dir alles erzählen... vielleicht", setzte er nach einer kurzen Gedankenpause hinzu.

"Briefe? Was für Briefe? Von wem? Wer hat die geschrieben, und an wen? Und wann?"

"Thomas. Thomas war ein Schulfreund von mir. Vor zehn Jahren. Er hat sie an meine Großmutter geschrieben. Aber lies sie erst einmal!"



Es folgten Minuten der Stille. Er beobachtete sie, sah wie sie voll Konzentration die ersten zwei Briefe las, wie sich beim dritten Brief dunkle Falten über ihrer Nasenwurzel bildeten, wie sie beim vierten Brief nach einem Taschentuch griff und wie sich ihre Hände beim Lesen des fünften Briefs zu Fäusten zusammenballten.

"Dieses verdammte Schwein!!" Sie presste die Worte hervor, aufgewühlt über das, was sie gerade gelesen hatte. Klaus nickte nur.

"Aber... ich verstehe das nicht ganz. Wer ist dieser Nick, von dem da die Rede ist?"

"Er." Die Antwort kam stockend, die Stimme war weich.

"Wer er ?"

"Klaus."

Sie sah ihn an. Sie sah sie an. Barbara lächelte sie an. Aber nur ihr Mund lächelte, nicht die Augen. "Barbara, ich kapier das nicht. Du musst mir etwas helfen. Magst du ... magst du davon erzählen?"

"Es war in der Sexta ... in der ersten Klasse. Meine Eltern hatten Arbeit im Ausland bekommen, Italien, und ich war ins Internat gekommen. Eine Schule mit gutem Ruf, so hieß es. Katholisch, was anderes kam ja gar nicht in Frage. Thomas und ich teilten uns ein Zimmer. Seine Eltern waren auch weg, diplomatischer Dienst, Washington, glaube ich. Auf jeden Fall sehr weit weg. So weit, dass er nicht mal in den Ferien zu ihnen fahren konnte."

"Und da hast du ihn Weihnachten mit zu deiner Oma genommen?"

Barbara nickte. "Ja, genau. Sie hatte sich gefreut, ihm etwas familiäre Gemütlichkeit bieten zu können."

"Und Nick? Wieso nennt er dich Nick?"

"Wir hatten einen neuen Lehrer bekommen, kurz nach Weihnachten. War ganz plötzlich da. Es hieß, er sei zu Studienzwecken an unsere Schule gekommen, aber nichts Genaues wusste man nicht. Ein netter Kerl...." Barbaras Gesicht spiegelte deutlich andere Erinnerungen wider.

"Dieser Pater Ruprecht?"

"Ja. Er hatte gleich beim ersten Besuch in unserer Klasse, als wir uns alle vorstellten, gesagt, Klaus, das käme ja wohl von Nikolaus. Und da er der Ruprecht sei, passten wir beide wohl prima zusammen." Ihre Erinnerung kam stockend. Barbaras Gesicht hatte alle Farbe veloren.

Evelyn nahm die Flasche, goss etwas der goldenen Flüssigkeit in zwei Gläser und schob das eine Glas wortlos über den Tisch. Sie trank, setze ab. "Knecht Ruprecht. Der mit der Rute?"

Barbara antwortete nicht. "Er war anders als die anderen Patres. Offener. Er interessierte sich für uns. Ich hatte damals Probleme, beim Stoff mitzukommen. Latein und so. Ignis quis vir - der Feuer wer Mann! Pater Ruprecht beaufsichtigte die Exerzitien, unsere Nachhilfestunden. Er war tüchtig..."

"Das glaube ich gern! Ha!" Evelyn kramte in ihrer Handtasche. Sie fischte eine Schachtel Zigaretten hervor, warf einen kurzen Blick auf Barbara. "Was dagegen?"

Barbara schüttelte den Kopf. Sie stand auf, holte eine Untertasse aus dem Küchenschrank. Als sie sich wieder setzen wollte, hielt Evelyn sie fest. "Geh!" Zieh dich richtig an, ja? Wir haben Zeit. Wir haben alle Zeit der Welt!" Sie ließ sie gehen, ungewiss, ob Klaus oder Barbara wieder zurückkommen würde. Dann griff sie noch einmal zu den Briefen.
Im Februarbrief hatte Thomas es geschrieben. Pater Ruprecht ist ein netter Lehrer. Aber er geht uns allen so langsam mit seinem Standardspruch auf die Nerven: "Gut, dass ihr keine Mädchen seid!" In jeder Unterrichtsstunde sagt er es mindestens drei Mal. Scheinbar mag er keine Mädchen....
Konnte es so offensichtlich sein? Sie wusste es nicht. Sie war dazu ausgebildet, Blutungen zu stillen, Druckverbände anzulegen, gebrochene Gliedmaßen zu schienen. Das hier überstieg bei weitem ihre fachliche Kompetenz.

Sie überlegte, ob sie besser gehen sollte. Das hier war krank. Sie konnte in Teufels Küche kommen. Aber war sie nicht schon längst da? Außerdem war sie Sanitäterin, war sie verpflichtet, kranken und verwundeten Menschen zu helfen. Sie war sich nicht sicher, ob Klaus - oder Barbara - krank war, aber dass er verwundet war, daran konnte kein Zweifel herrschen. Verwundet an der Seele. Jetzt war nur noch die Frage, ob Klaus oder Barbara wieder zurück in die kleine Küche kommen würde.
Doch niemand kam. Die Minuten tickten dahin, dehnten sich zu Ewigkeiten. Evelyn wurde unruhig, ging hinaus ins winzige Flur, lauschte an der Schlafzimmertür. Schwache Geräusche drangen an ihr Ohr. Ein Reißverschluss? Sie setzte sich wieder an den Küchentisch. Las noch einmal die beiden letzen Briefe, die Thomas kurz hintereinander Anfang April geschrieben hatte. Und dann? Warum hatte es nach diesen keine weiteren gegeben? Oder hatte die alte Frau sie nicht aufgehoben?

Sie hörte die Schlafzimmertür. Drehte sich um und blickte zur Küchentür. Es verschlug ihr einen Moment die Sprache; Barbara hatte ihr Dirndlkleid angezogen, die Haare ordentlich frisiert ... ach, Quatsch, es war ja ein Perücke!, leichtes, dezent aufgetragenes Makeup, elegante Stilettos. Sie lächelte, und Barbara lächelte zurück.
"Du siehst gut aus, Barbara. Komm!" Ihre ausgebreiteten Arme nahmen den leicht zitternden Körper der anderen auf, gaben Nähe und Geborgenheit. "Sch... schon gut. Du siehst wirklich gut aus, Barbara. Ich wollte, ich könnte so gut aussehen!"

"Was für ein Dirndl hast du, Lyn?" Es war eine Frage, die keine männliche Neugier hören ließ.

"Nein... Nein, ich habe kein Dirndl. Leider... hab mir nie was daraus gemacht." Warum hatte sie leider gesagt? Sie hatte sich wirklich nie etwas aus Dirndlkleidern gemacht. Ungern erinnerte sie sich an Familienfeste, wo sie selbst als Sechzehnjährige noch gezwungen wurde, Dirndl zu tragen. Kein Wunder, dass sie später Rettungssanitäterin geworden war, statt Krankenschwester! Jetzt war sie total durcheinander. Sie umarmte einen jungen Mann, der so ein Dirndl trug. Einen Mann??
Sie versuchte, den Faden wieder aufzunehmen. "Pater Ruprecht...?"

"Knecht Ruprecht! Ja, ich war nicht gut in Latein, zu viele Fälle, Deklination und Konjugation, Gerundium und... und...."

"Gerundivum!"

"Ja, Gerundivum! Alles ein Brei für mich. Pater Ruprecht gab Nachhilfestunden."

"Sagtest du bereits." Sie ärgerte sich; wollte doch nicht drängeln.

"Manchmal hatte Pater Ruprecht auch die Nachtwache. Ein Lehrer oder Pater musste immer wach bleiben. Und dann, das muss so im März gewesen sein, da entschuldigte er sich, hatte keine Zeit für die Nachhilfestunde." Barbara erzählte fließend, ohne zu stocken. "Das war dumm, denn am nächsten Tag mussten wir eine Lateinarbeit schreiben, und eigentlich wollte er es mir noch einmal erklären."

Evelyn hörte gebannt zu. Auch hatte sie bemerkt, dass Barbara all dies wesentlich freier erzählen konnte, als zuvor noch Klaus. "Und? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass jetzt etwas ganz Beschissenes passiert."

"Wir hatten immer so ab neun Uhr abends Nachtruhe. Das heißt, dann sollten wir im Bett liegen, konnten noch etwas lesen, wenn wir Lust hatten, oder vielleicht etwas Radio hören, oder Musik. Mit Kopfhörer. An jenem Abend kam Pater Ruprecht so gegen halb zehn ins Zimmer, uns Gute-Nacht zu sagen."

"War das normal?"

"Normal war, dass der Aufsichtslehrer an die Tür klopfte, eintrat aber in der Tür stehen blieb, uns eine gute Nacht wünschte und dann wieder ging. Mehr nicht."

"Aber bei Pater Ruprecht war es mehr?"

"Er kam immer ganz rein. Nahm uns das Buch ab, deckte uns ordentlich zu, streichelte uns gern noch mal über den Kopf."

Evelyn nickte bloß. Sie konnte es sich gut vorstellen. Die vertrauensvolle Atmosphäre. Die Kinder, die sich nach Nähe sehnten. "Aber an jenem Abend im März... da war dann noch etwas?"

Barbara legte eine Pause ein. Trank einen Schluck Whiskey. "Er sagte, dass es ihm leid täte, wegen der augefallenen Nachhilfestunde. Und er fragte, ob ich eventuell wach genug sei, noch einmal mit ihm zu kommen, er wolle es mir gern erklären, aber nicht hier, wegen Thomas, der schon schlief."

"Du bist mit ihm gegangen?"

"Klaus ging mit, ja. Warum auch nicht. Pater Ruprecht erklärte es mir wirklich, und ich hatte Glück: am nächsten Tag kamen genau die Sätze in der Arbeit vor, die wir geübt hatten."

"Mehr nicht?"

Barbara zog die Nase hoch. "Doch. Ein paar Tage später hatte ich wieder bei ihm geübt. Als wir fertig waren, lachte Pater Ruprecht, klopfte mir auf die Schulter und meinte, wir beide wären doch ein gutes Paar, ich, der Nikolaus, und er, der Knecht Ruprecht. Und dann fragte er mich, ob ich einmal seine Rute sehen wollte."

Tonlos. Barbara hatte all dies tonlos von sich gegeben. So als wäre es für sie das Normalste der Welt, über diese Sache zu sprechen. Die Sanitäterin war sich aber sicher, dass dies bisher wohl eher nicht passiert war.

Barbara erzählte weiter, was passiert war. "Zum Schluss dann streichelte er mir übers Haar und meinte, gut, dass ich kein Mädchen bin. Das sagte er dann immer, jedesmal wenn...." Sie kam nicht weiter. Ihre Stimme hatte für einen Moment wieder Klaus´ tiefere Stimmlage angenommen.

"Du hast es niemandem erzählt??"

"Ich habe es gebeichtet..."

"DU hast es gebeichtet?? Du hast doch gar nichts getan!"

Barbara schüttelte müde den Kopf. "Ich habe mitgemacht, habe nichts dagegen getan... und... und..." Sie legte ihre Hände wie zum Schutz auf ihren Dirndlrock.

"Du hast reagiert? Dein Körper hat ... mitgemacht, wie du selber sagst?"

Barbara nickte kaum wahrnehmbar. "Es war das erste Mal...."

"Und du hast all das bei der Beichte gesagt? Ist ja irre... Aber da war wohl nicht dieser Pater Ruprecht der Beichtvater, oder?"

"Nein, jemand anders. Aber weißt du was?"

Evelyn sah ihn gespannt an, wagte es nicht, die Situation zu unterbrechen.

"Der Priester sagte mir, das sei nichts Böses. Christliche Nächstenliebe... es müsse aber sein und mein Beichtgeheimnis bleiben... Pater Ruprecht sei ein guter Mensch...."

Dicke Tränen quollen aus Barbaras Augen hervor. Evelyn reichte ihr ein Tuch. "Du hast es aber doch jemandem erzählt, oder?"

"Ich habe es Thomas erzählt, gleich am nächsten Morgen." Sie kräuselte die Lippen.

"Er hat dir nicht geglaubt?"

Barbara schüttelte den Kopf, leise, unmerklich. "Nein, er hat mir nicht geglaubt. Meinte, ich müsse wohl geträumt haben. Solche Schweinereien macht hier doch keiner! Aber in den kommenden Wochen blieb es nicht aus, dass er es mitbekam, wenn Pater Ruprecht Nachtwache hatte und er spät noch aufs Zimmer kam."

"Und du? Warum bist du denn jedes Mal mitgegangen? Wie das Lamm zur Schlachtbank...."

"Ich weiß es nicht. Es war so eine seltsame Mischung aus vielen verschiedenen Gefühlen und Ängsten. Ohnmacht im warsten Sinne des Wortes. Niemand hätte mir geglaubt. Wenn schon der beste Freund es nicht glauben wollte..." Barbara sah sie an, die Augen schimmerten feucht. Ich wäre vermutlich im hohen Bogen von der Schule geflogen. Aber es gab doch keinen anderen Platz für mich. Außerdem, und das war fast das Schlimmste für mich, irgendwann stellte ich fest, dass das ja alles gar nicht so schlimm war, und Pater Ruprecht war ja auch immer so nett zu mir..."

"Opfermentalität", murmelte Evelyn. "Man fraternisiert mit seinem Peiniger." Sie war aufgewühlt, musste sich eine weitere Zigarette anzünden. Gekonnt bließ sie einen Rauchkringel in die Luft. "Was ist mit Thomas? Am Ende hat er es dir ja doch geglaubt. Hier in seinem ersten Brief vom April da steht... wart mal!" Sie suchte den Brief und die entsprechende Textstelle hervor. "Ja, hier steht es. Also erst schreibt er, er habe es selber gesehen, und wisse jetzt, was er tun müsse. Aber er schreibt nicht, was. Hast du eine Ahnung, was er vorhatte?"

"Er hat dem Bischof geschrieben."

"Er hat... was? Dem Bischof geschrieben? Welchem Bischof denn?"

Barbara schüttelte den Kopf. "Weiß ich nicht mehr. Dem Münchner Bischof vielleicht. Aber ich kann es wirklich nicht genau sagen. Thomas meinte, das müsse man gleich nach oben melden, das hätte gar keinen Zweck, wenn man es zuerst mit der Schulleitung versuchte. Also wandte er sich gleich an den Bischof. Ich erinnere mich noch, dass er mich fragte, wie man den Bischof anzureden hätte, ob Eure Heiligkeit etwas übertrieben sei." Sie lachte. "Thomas, der blöde Kerl! Ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist."

"Ihr habt euch nach dem Abitur aus den Augen verloren?"

"Nach dem Abi? Ne, damals schon. Nach den Osterferien kam er nicht mehr zurück zur Schule. Ich glaube, seine Eltern hatten was anderes für ihn gefunden, aber ich habe eigentlich keine Ahnung."

Evelyn horchte auf. "Was sagst du da? Er ist quasi einige Wochen, nachdem er diese hochbrisanten Briefe an deine Oma geschickt hatte, so mir nichts dir nichts abgemeldet worden?" Ihre Handtasche! Jetzt konnte sie gut etwas Traubenzucker gebrauchen. Sie bot Barbara davon an, die dankend annahm.

Diese machte ein betretenes Gesicht. "Ich hatte ja keine Ahnung von den Briefen. Mir gegenüber hatte er nur gesagt, er wolle dem Bischof davon schreiben, was hier an seiner feinen Schule für ein Schweinkram geschehe, aber von den tatsächlichen Briefen habe ich nie was erfahren."

"Also auch nie was davon, dass er tatsächliche eine Antwort erhalten hat. Er hat dir nie was gesagt?" Barbaras Blick war schon Antwort genug. "Und dieses Antwortschreiben vom Bischof, oder wem auch immer, denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass seine Heiligkeit persönlich geantwortet hat, wo ist das jetzt?"

Barbara zuckte mit den Schultern. Evelyn musste sich fast in den Arm kneifen um nicht zu vergessen, dass dieses hübsche Dirndl-Mädchen keins war. "Ich hab keinen Schimmer. Vielleicht hat er ja gar keines bekommen ... obwohl...." Sie runzelte die Stirn, wendete die Augen nach innen, zurück in die Vergangenheit.

"Obwohl ... was??"

"Ich weiß es nicht. Es hat vielleicht gar nichts zu bedeuten. Aber da war etwas, gleich in der ersten Woche nach den Osterferien. Ich hatte jetzt ja das Zimmer für mich allein, aber ein neuer Schüler sollte zu uns kommen. Freie Plätze konnte die Schule sich wohl nicht leisten. Und da war ein Tag, an dem ich mehrere Stunden nicht ins Zimmer durfte. Kammerjäger oder so, wurde mir gesagt. Dass alles gründlichst sauber gemacht werden sollte, bevor der Neue kam. Ich habe mir nichts dabei gedacht, denn irgendwie waren alle unsere Zimmer ein wenig versifft. Du weißt doch, wie das an diesen Schulen ist: Draußen hui, innen pfui!"

"Ich möchte lieber nicht wissen, wie es innen an solchen Schulen ist. Aber jetzt wissen wir es! Von wegen Kammerjäger! Da hat jemand nach dem Brief gesucht! Sag mal, wie lange ging das dann mit Pater Ruprecht und dir noch weiter? Bis zum Sankt Nimmerleinstag wohl eher nicht, vermute ich jetzt mal?"

"Nein. Nach Ostern nur noch ein paar Mal. Und eines Tages war er wieder weg. Uns wurde nur gesagt, er sei mit seinen Studien hier bei uns jetzt fertig geworden."

"Studien!? Haha! Jetzt wissen wir ja wohl, worin seine Studien bestanden. Und du? Hast du jemals was unternommen?"

Barbara sandte ihr einen langen Blick, dann stand sie auf, strich sich leicht geniert mit den Händen den Dirndlrock glatt, ordnete die spitzenbesetzte Schürze. "Siehst du doch."

Ja, sie sah es. Sie sah, wie Klaus reagiert hatte. "Fing das ... das da, fing das damals schon an? Hast du damals schon Röcke und Kleider angezogen?"

Barbara lachte auf. "Wie denn? Glaubst du, man hat an so einer Schule irgendein Privatleben?? Natürlich nicht. Aber ich habe Klaus damals schon irgendwie zu Grabe getragen, auch wenn das, was ich mit d e m Sack da erlebt hatte, nur relativ kurz gewesen war. Aber es war schlimm genug. Du kannst dir vorstellen, dass es nicht dabei geblieben war, dass ich mir seine Rute angucken sollte! Alles, was Klaus mit ihm zusammen machen musste, war ätzend, widerlich, abartig. Er hat ihn umgebracht!!"

Evelyn war verwirrt. "Er hat ihn umgebracht?? Thomas? Hat er Thomas umgebracht??"

"Ach! Du verstehst es nicht! Kennst dich ja auch nur mit deinem blöden Verbandszeug aus! Pater Ruprecht hat Klaus umgebracht. Nicht so, dass es jeder sehen konnte, aber so, dass ich es immer gespürt habe! Dieser widerwärtige Schweinehund..." Barbara schlug die Hände vors Gesicht, warf den Kopf auf die Tischplatte, begann laut und heftig zu schluchzen.

Evelyn war zutiefst geschockt. Sie streichelte Barbara über den Rücken, fühlte unter dem engen Mieder des hübschen Kleides den Verschluss des BHs. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Füllte die Gläser nach, reichte Barbara ein weiteres Taschentuch. Sie hatte alles gehört, was es über diesen Fall zu sagen gab. Dennoch konnte sie es kaum verstehen. Wie konnten Menschen..., nein, noch einmal: wie konnten Männer Kindern so etwas Furchtbares antun? Noch dazu ein Lehrer, ein katholischer Pater?? Nein, sie verstand es nicht. Wohl aber verstand sie jetzt, warum es Klaus nicht mehr gab.


70. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 27.01.13 23:08

Hi Daniela,

Vielen Dank Dir für diese sehr interessante und inspirierende Fortsetzung, die viel zum Thema Flucht enthält. Flucht vor Realitäten, Vergangenheiten oder sich selbst.

Es ist eine sehr heftige Fortsetzung, die dennoch sehr erleuchtend ist, was Klaus / Barbara betrifft. Barbara - irgendwie erinnert mich das, insbesondere nach Lesen dieser Folge, an die Barbara-Zweige, die man vor Weihnachten schneidet, am Barbara-Tag, und ins Wasser stellt, so daß sie zu Weihnachten blühen, und so etwas Leben in der dunkelsten Zeit des Jahres symbolisieren. Und die Vergangenheit von Klaus ist sehr dunkel, mit der Transformation zu Barbara als scheinbar einzig mögliche Zuflucht. Es ist sehr gut, daß Lyn als barmherzige Samariterin oder warmherzige Sanitäterin nun bei ihm ist, und ich hoffe, sie kann mehr als ihn nur trösten. Denn wie sollte man jemanden überhaupt trösten können, der das Opfer solch schändlicher Übergriffe war, die leider nicht nur als Geschichte wohl stattgefunden haben.

Für die Retrospektive von Oma Meisner danke ich Dir sehr herzlich, sie ist Dir großartig gelungen! Mit solcher Leichtigkeit derart schwere Themen gut informiert anzugehen, macht die hohe Qualität eines Autors mehr als deutlich! Ich finde, es ist ein Wink des Schicksals, daß sie das Vernichten der Briefe immer wieder nur verschoben hat. Und es hat wirklich sehr merkwürdige Züge, daß jeder Mensch offenbar bestrebt ist, sein Leben von jedem Schmutz befreien zu wollen, was ja nicht wirklich möglich ist, oder ihn zu verbergen, anstatt seine Fehler und dunklen Seiten einfach offen zuzugeben, von denen kein Leben wirklich frei ist, wie jedem klar sein sollte, damit man wirklich davon lernen kann. Aber womöglich verhalten wir Menschen uns so, damit jeder andere sich im Vergleich dann schuldig und unterlegen vorkommen muß, da er seine eigenen Missetaten ja kennt, sozusagen um als überlegenes, blütenweißes Vorbild trotz dunkler Taten dastehen zu können. Wie komisch wir Menschen offenbar gestrickt sind - oder ist das "nur" eine Frage der Erziehung und Erfahrung, die uns zu dem macht, was wir sind.

Ich freue mich schon auf die nächste Folge!

Keusche Grüße
Keuschling
71. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AlterLeser am 27.01.13 23:46

Hi Daniela,

nun wissen wir eine furchtbare Wahrheit. Eigentlich kann Klaus aus diesem Grunde gar nicht
aus der Barbara heraus kommen. Nun warte ich noch was die Oma dazu beitragen kann.
Denn so wie Du es geschrieben hast scheint sie mehr zu wissen als den Inhalt der Briefe.
Bin nun sehr gespannt.
Danke für dein Geschenk dieses Teils der Story. Es ist übrigens der 14. Teil,
Bin gespannt unter welchen Teil du Ende schreibst.
M f G der alte wartende Leser Horst

72. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Tommes am 02.02.13 00:48

puh.....!!
73. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 03.02.13 22:00

Ui, schon wieder Sonntag!! Jetzt muss ich mich aber beeilen, den Text für das Forum fertigzumachen. Wieder habe ich mich über Zuschriften und Kommentare sehr gefreut, egal ob sie lang und tiefschürfend waren, oder nur aus einem Wort bestanden. Ja, ich weiß, die Materie ist nicht leicht zu verdauen. Aber ich hatte es ja schon im Herbst angekündigt, dass dieser letzte Teil meiner München-Trilogie anders werden würde.

So, und nun weiter im Text!! l.G. von Dani

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Oktober VIII.

Ingeborg Wimmer hatte keine Lust, als sie am nächsten Morgen zur Arbeit kam. Manchmal verfluchte sie ihren Job. Immer kam man zu spät. Immer wurde man erst gerufen, wenn der Mord schon geschehen war. Warum wurden überhaupt Menschen umgebracht?
Sie war nicht die erste Kriminalbeamtin, die drauf und dran war, an dieser Frage zu Grunde zu gehen. Lief nicht letztendlich alles auf eine kranke Gesellschaft hinaus? Eine Gesellschaft, in der Menschen in einer Notlage im Stich gelassen wurden? Eine Gesellschaft, die keinen echten Halt mehr bot, in der alles im immer schneller werdenden Flusse den berühmten Bach hinunterging?
Sie stöhnte auf, hielt sich den Kopf, sützte die Ellenbogen auf der Schreibtischunterlage ab. Gut, dachte sie, immerhin können wir die Leute vor Verbrechern schützen, sobald wir wissen, wer sie sind. Dumm nur, dass diese leider nie irgendwelche Visitenkarten am Tatort hinterließen.

Das Schrillen des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. "Ingeborg Wimmer, Mordkommission." Hoffentlich keine neuer Mord.

"Frau Wimmer! Guten Morgen! Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Sie jetzt die Sachen der Isarleiche abholen können... ja, hier im Institut. Die Chefin möchte Sie auch gern noch einmal sprechen."

Immerhin. Pathologie bedeutete eine kleine Fahrt durch die Stadt. Verkehr, Radio hören. Man würde auf andere Gedanken kommen. Wo war der Rick? Nicht in seinem Büro. Egal, sie brauchte sich ja nicht unbedingt abzumelden. Trotzdem legte sie einen Zettel auf seinen Schreibtisch. ´Bin zur Pathologie. I.W.´ Besser war besser.

Die Ärztin erwartete sie bereits. "Schön, dass Sie gleich kommen konnten, Frau Wimmer."

Die Kriminalbeamtin lächelte gequält. "Das klingt ja fast so, als ginge es um Leben oder Tod!"

"Bei uns geht es leider immer nur um Tod; wenn Sie Leben suchen sollten Sie nach nebenan in den Kindergarten gehen!"


Im Kindergarten, ja, dort sollte es wohl Leben geben. Ingeborg Wimmer merkte, dass die unerwartete Wendung des Gesprächs ihr unangenehm war. Ihre biologische Uhr tickte immer lauter. Wenn ihr nicht bald der Richtige über den Weg liefe, dann.... Kein Windelwechseln, kein Kindergeschrei, kein Leben. Ja, Leben, sie sehnte sich so sehr nach Leben, nach Richtung und Zukunft, hatte es satt, ihr eigenes Leben so sehr Gevatter Tod vermacht zu haben. Vielleicht sollte sie sich mehr unter die Leute begeben? Mal zu einem Fest gehen, sich anbaggern lassen?

"Frau Wimmer??" Der Ärztin war es aufgefallen, dass ihr Geprächspartner gerade ein Schwarzes Loch gerammt hatte. "Sie können Ihre Sachen mitnehmen, zur weiteren polizeilichen Untersuchung, falls das notwendig ist."

"Ihre Sachen? Viel kann das ja nicht gewesen sein."

"Nein. Eigentlich ja nur ihre Kleidung, der Janker, das Dirndl, die Unterwäsche."

"Ihre Unterwäsche?"
Hatte sie eventuell etwas zu schnell, etwas zu aufgeregt reagiert? So weit sie sich erinnerte, hatte das Opfer keine Unterwäsche getragen, bis auf...

"Ja, diesen Keuschheitsgürtel und den stählernen BH."

"Sie haben die Dinger aufgeschnitten?"
Ingeborg Wimmer!! Du hast deine Stimme nicht im Griff! Wenn sie so weitermachte, würde alle Welt gleich wissen, dass sie seit Sonntagmorgen immer wieder überlegt hatte, wie es wohl wäre, wenn man in so einem Ding eingesperrt wurde. "Und einen stählernen BH hatte sie auch an?" Bleib cool, Ingeborg. Sachlich. Stell sachliche Fragen.

"Ja, ich hab mal im Internet recherchiert. So was nennt sich da Keuschheits-BH. Kommt aber eher selten vor. Ich habe einige Bilder gesehen, aber meist sitzen diese BHs hundsmiserabel; man sieht sofort, dass sie von Männern entworfen wurden, die keine Ahnung von Brüsten haben. Also ich möchte nicht in so einem Ding stecken!"

Ingeborg Wimmer biss sich auf die Zunge. Beinahe wäre es aus ihr herausgerutscht. "Ist bestimmt unbequem." Sie räusperte sich, ihre Stimme klang belegt. "Sie haben die Dinger aufgeschnitten?"
Dieselbe Frage zweimal zu stellen, war immer verdächtig. Hoffentlich merkte die Ärztin es nicht.

"Nein. Ein Kollege hat die Schlösser aufgebohrt. Das waren so ganz gewöhnliche kleine Sicherheitsschlösser, wie man sie überall bekommt. BH und Keuschheitsgürtel sind intakt, könnte ja sein, dass Sie da noch irgendwelche Spuren sichern wollen. Wir sind jedenfalls so vorsichtig wie möglich gewesen."

"Hatte sie große Brüste?"
Bist du verrückt, dachte sie. Was soll denn diese Frage??

Die Ärztin blickte sie verwundert von der Seite an. "Ganz normal würde ich sagen. Tut mir leid, dass ich Ihnen keine genaue Körbchengröße angeben kann. Ist das wichtig für Ihre Ermittlungen?"

"Alles ist wichtig. Aber ich meinte eher, ob sie ein durchtrainierter Typ war, oder eher so eine Sofapflanze."

"Durchtrainiert wohl eher nicht. Eher so mittel. Aber sie sieht so aus, als hätte sie im Sommer eine Menge Sonne abbekommen. So was hält sich ja lange, wenn man es richtig macht." Die Ärztin ging voraus. "Kommen Sie, wir schauen sie uns noch einmal an. Da war ja auch diese Sache mit den Kratzern!"

Die beiden Frauen begaben sich in einen gekachelten Raum, in dem nichts, aber auch gar nichts etwas Wärme, etwas Freude bereitete. Die Ärztin öffnete eine ziemlich quadratische Tür, dick wie die eines Kühlschranks, eine von vielen, wie Wimmer bemerkte. Es war ja auch nicht das erste Mal, dass sie hier war.
Beide Frauen besahen sich den nackten Körper der jungen Frau, nachdem die Ärztin das weiße Laken zurückgeschlagen hatte.

"Nun ja, Sie sehen ja, alles ganz normal. Nicht zu dick, nicht zu dünn. Nicht zu groß, nicht zu klein. Höchstens zwanzig Jahre, würde ich sagen."

"Und die Kratzspuren?"

"Hier, am Oberschenkel. Ich hatte ihnen ein Bild gemailt."

"Man sieht ja gar nichts." Wimmer wirkte leicht irritiert. "Auf Ihrem Bild war das aber deutlicher."

Die andere Frau lachte. "Tja, Photoshop! Wenn ich Ihnen das hier geschickt hätte, hätten Sie nichts damit anfangen können. Aber hier, hier sind zwei gleichlange parallele Kratzer. Sie hat sie sich selbst zugefügt, wie wir anhand der Hautpartikel unter ihren Fingernägeln feststellen konnten. Warum und weshalb, das will ich lieber Ihnen überlassen."

"Ja, danke, wir arbeiten daran. Der Rick vermutet, dass sie uns damit irgendetwas sagen wollte. In unseren Mutmaßungen sind wir schon so weit gekommen, dass eine Mitwirkung von Al-Kaida nicht auszuschließen ist." Wimmer deutete ein Grinsen an.

"Al-Kaida? Sie spinnen! Doch nicht im Ernst?"

"Eine Kollegin meinte, die Kratzer erinnerten sie an das Logo der Zwillingstürme von New York..."

"Da hat aber jemand eine blühende Phantasie. Ich muss schon sagen, ihr macht euch!" Sie deckte den Leichnam wieder zu. "Dann sind wir wohl fertig hier. Kommen Sie mit in mein Büro, dann gebe ich Ihnen den Karton mit ihren Sachen."

Im Büro sah es etwas freundlicher aus. Eine Topfpflanze schmückte das Fensterbrett, sichtlich nach Wasser lechzend.

"Passen Sie auf, dass die Ihnen nicht auch noch verreckt!", lästerte die Kriminalbeamtin.

"Was heißt hier ´auch noch´? Hier ist noch niemand verreckt. Wir sind schließlich kein Hospiz." Sie suchte einen Karton hervor. "So, hier sind alle ihre Sachen. Wollen wir hoffen, dass Sie den Fall bald aufklären."

Ingeborg Wimmer nahm den Karton entgegen und studierte den Inhalt. Zu oberst lag das Dirndlkleid, trocken jetzt, aber schmutzig, genau wie die Bluse und die Schürze. Sorgfältig zusammengefaltet dann der Janker. Wimmer nahm ihn heraus. Dann setzte ihr Herz für einen Moment aus. Metallisch silbern glänzte es ihr entgegen. Sie streckte die Hand danach aus, dann hielt sie in der Bewegung inne.
Herr im Himmel, was war das für ein Ding?? Sie brauchte nicht einmal eine Frage zu formulieren, die Ärztin verstand ihr stummes Entsetzen auch so.

"Ja", sagte sie tonlos, "das haben wir auch bei ihr gefunden...." Sie schwieg, holte Luft, setzte erneut an. "Man lernt doch nie aus. Aber fragen Sie mich jetzt bitte nicht, wie es funktioniert, das haben wir nicht herausgefunden!"



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Juli V.

"Na endlich!" Verdammt, es war ihr so rausgerutscht. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, auf keinen Fall irgendetwas zu sagen, was der Bub in den falschen Hals bekommen konnte, empfindlich wie er war. Also beeilte die alte Frau Meisner sich, schnell noch ein paar nette Worte hinterherzuschicken. "Schön, dass du kommst, Bub. Ich hätte es ja auch allein nach Hause geschafft, man hätte mir hier ein Taxi bestellt, kein Problem..."

Er schnitt ihr das Wort ab. Scheinbar war er nicht gut aufgelegt. "Wenn es kein Problem ist, Oma, warum sollte ich dann unbedingt kommen?" Seine Augen verhießen nichts Gutes.

"Weil es schöner ist..."

"Schöner für dich, ja. Aber wie es mir geht, scheint dir ja wohl eher egal zu sein!" Seine Stimme klang gereizt.

"Aber Bub! Was ist denn los? So kenn ich dich ja gar nicht! Ist was passiert?"

"Nenn mich nicht immer Bub! Ich bin kein Bub!" Er hielt Abstand, als sie gemeinsam zur Haltestelle der Tram gingen. Vielleicht aber auch nur, um ihr bei ihren unbeholfenen Versuchen, mit dem ungewohnten Rollator klarzukommen, nicht im Wege zu sein.

"Nein", murmelte sie leise und mehr für sich selbst. Plötzlich brach die ganze Erinnerung wieder auf sie ein. Diese junge Frau im Dirndlkleid, die da plötzlich vor ihr stand. Ich bin Barbara, hatte sie gesagt. Und es fiel ihr auf, dass er jetzt nicht gesagt hatte, dass er kein Bub mehr sei. Nein, er hatte es ohne mehr gesagt. Sie musste sich auf ihr komisches Vehikel konzentrieren, hier im Freien war es etwas ganz anderes als im Spital auf den langen Korridoren.
Im Freien?? Konnte sie denn wirklich noch vom Freien sprechen? Damals, als sie als junge Frau mit ihrem Heinkel-Tourist Motorroller durch München und ganz Oberbayern brauste, damals war das etwas anderes gewesen, damals war sie ungebunden, war sie frei gewesen.

Die Trambahn kam herangeknattert. Klaus half ihr beim Einsteigen, ein Wagen mit Niederflurtechnik wäre besser gewesen, das Leben schien einzig dazu da zu sein, einem Hürden in den Weg zu legen, über die man klettern oder springen musste, zog man es nicht vor, sein Leben lang im Dreck unter allen Hindernissen hindurchzukriechen.
Beide setzten sich nebeneinander, schwiegen sich aus. Sie blickte aus dem Fenster, sah altbekannte Häuser und Gebäude an sich vorüberziehen. War es das? Dass siebzig, achtzig Jahre lang alles nur an einem vorüberzog? Aber wozu?
Plötzlich erkannte sie, dass alles ganz anders war. Dass nicht das Leben an einem vorüberzog, sondern dass man selbst an allem vorüberzog. Dass man jederzeit die Möglichkeit hatte, anzuhalten, etwas zu verweilen, etwas genauer zu studieren. Dass man selber die Richtung bestimmen konnte. Dass man jeden Tag etwas an Freiheit hinzugewann, das erkannte sie auch. Bald würde es nichts mehr geben, um dass sie bangen müsste. Sie schloss die Augen, achtete nicht mehr auf das Geräusch der Bahn, auf den Straßenlärm, der duch Fenster und Ritzen zur ihr drang, nahm das Drängeln und Schieben und Schubsen der ein- und aussteigenden Fahrgäste nicht mehr wahr. Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

Klaus sperrte die Haustür auf und half seiner Oma die letzten Stufen hinauf. Endlich zu Hause! Noch im Flur setzte sie sich auf den kleinen Hocker, der neben dem Telefon stand. Wie wichtig war doch ein Zuhause! Nur jemand, der einmal für längere Zeit diesem sicheren Hort hatte entsagen müssen, konnte es wirklich verstehen. Nur hier brauchte die Seele nicht zu zittern, hier gab es immer frisches Wasser, hier lag jeder Gedanke an das finstre Tal fern. Der Psalm 23 mochte noch so schön sein, aber sie sah auch noch die Mutter, die in bangen Nächten vor dem kleinen Hausaltar kniete und inbrünstig betete, der Herr möge ihre älteste Tochter aus dem finstren Tal zurück ins Licht führen.
Ihre Hand ruhte auf dem moosgrünen Telefonhörer. "Phone home", vernahm sie die Stimme von E.T. Mein Gott, wie lange war es her, dass sie den Film in einem amerikanischen Soldatenkino gesehen hatte? Dreißig Jahre? ZEHN Jahre vor Klaus´ Geburt?? Und wie alt war seine Mutter da gewesen? Siebzehn?? Großer Gott! Wo war denn bloß die Zeit abgeblieben? Wieso hatte sie sie nicht halten können, wieso hatte sie sie durch ihre hilflosen Hände gleiten lassen, wie ein Stück nasser Seife, das umso schwieriger festzuhalten war, je fester man zudrückte?
Sie vernahm das Ticken der alten Standuhr im Wohnzimmer. Sie hatte diese Uhr von den Eltern geerbt. Schon als Kind hatte sie gern mal den Uhrenkasten aufgemacht, um nachzusehen, ob da nicht doch eines der versteckten Geislein saß, zitternd vor Angst vor dem bösen Wolf, der es fressen wollte. Aber sie hatte nie das Tierchen gefunden, und Wölfe tarnten sich mittlerweile mit braunen Uniformen, wie sie schon früh erkannt hatte. Als diese ´Wölfe´ ihr erst den Glauben an das zitternde kleine, aber starke Ziegenböckchen nehmen wollten, dann den an das Christkind.
Die alte Dame hatte nicht die Kraft, gegen die vielen Erinnerungen anzugehen. Andere mochten unter Alzheimer leiden, mochten Gnade im Vergessen finden, sie aber wurde tagtäglich mit dem Fluch der Erinnerung bestraft. Sie hatte sich den Glauben an den Erlöser nicht nehmen lassen, sie war stark geblieben. Und sie hatte ihrem Kind, ihrem kleinen Mädchen, damals den Namen des Gesalbten gegeben, Christhild, auch wenn sie immer nur Christl gerufen wurde. Allein hatte sie es fertiggebracht, das Kind großzuziehen, der Vater, ein junger amerikanischer Leutnant, war ins ferne Vietnam abkommandiert worden, weil der Krieg Soldaten brauchte und in Deutschland niemand mehr den Krieg brauchte. Gefallen war er, nach wenigen Monaten schon, während der Tet-Offensive; eines von über anderthalbtausend Opfern, die nie gefunden wurden. Was hatte Giulio, der von seinen Kameraden immer nur Julie genannt wurde, was hatte dieser schmächtige, kleine Mann, Sohn italienischer Auswanderer, in jenem fernen, fremden Land überhaupt zu suchen? Wieso konnte er nicht irgendwo daheim in Indiana mit einem Trecker das weite Farmland bestellen? Sie hatte ihn einige Male gefragt, wieso er zur Army gegangen war, und hatte den Stolz in seinen Augen gesehen, um die Freiheit zu verteidigen, die Freiheit, die wir euch Germans gebracht haben!
Sie musste tief Luft holen. War seine Tochter deshalb später nach Italien gegangen? Und noch ein Gedanke drängte sich ihr auf. Julie - Barbara. Gab es da womöglich irgendeine verborgene Verbindung, etwas, das die Wissenschaft noch nicht entdeckt hatte? Hatte nicht auch Giulio etwas an sich, das..."
"Was ist, Oma? Tut dir was weh, oder warum stöhnst du?" Klaus stand in der Küchentür; ihr war es gar nicht aufgefallen.
"Nein. Nichts ist. Es ist alles in Ordnung. Es ist nur einfach schön, endlich wieder in den eigenen vier Wänden zu sein. Sag mal, hast du heute Abend schon etwas vor?"
Klaus zuckte die Schultern. "Ne, nicht dass ich wüsste. Außer natürlich dir bei allem zu helfen."
"Brauchst du nicht! Hier, sieh, ich komm schon wieder ganz gut zurecht!" Sie erhob sich, machte etwas, das wie eine Pirouette aussehen sollte, und ging sogar die ersten Stufen der Treppe hinauf und wieder hinunter. "Die haben mich ganz gut wieder hingekriegt, diese Krankengymnasten. Ich dachte mir, du hast dich so liebevoll lange Zeit um mich gekümmert, und... nun ja, da wollte ich dich ins Kino einladen!"
Klaus war sichtlich überrascht. "Du willst mich ... ins Kino einladen? Und ewig singen die Wälder, oder was??"
"Ach Quatsch!" Oma Meisner musste lachen. "Die singen schon lange nicht mehr, die sterben wohl eher ab! Ich habe ja auch gar nicht gesagt, dass du mit mir ins Kino gehen sollst. Du kannst mitnehmen, wen du willst. Deine kleine Freundin vielleicht? Will ich ja auch gar nicht wissen, ist ja dein Leben, da muss ich ja nicht alles wissen. Aber ich dachte, wenn ich dir hundert Euro gebe, das dürfte wohl für einen schönen Abend zu zweit reichen, oder?" Sie drückte ihm den grünen Geldschein in die Hand. Grün, das waren doch immer Zwanzigmarkscheine gewesen, oder? Das gute Geld damals...
"Mensch Oma, das ist ja wirklich lieb von dir! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! Danke!!" Er beugte sich vor und gab seiner Großmutter einen dicken Kuss auf die Wange. "Und du glaubst wirklich, dass du ohne mich klar kommst? Soll ich nicht doch lieber...?"
Sie schüttelte den Kopf. Lass man gut sein, Klaus. Wenn wir um sechs zu Abend essen, dann werde ich danach sowieso bald schlafen gehen. Bin das ja vom Spital so gewohnt. Mach du dir endlich mal einen schönen Abend, du hast es dir redlich verdient!"
Dem wollte Klaus nicht widersprechen. Er wusste auch schon, wen er ins Kino mitnehmen wollte.

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Zum ersten Mal verstand sie, was es hieß, im eigenen Saft zu braten. Sex, Sex, Sex!!! Sie konnte kaum noch an etwas anderes denken. War es früher auch so gewesen? Eher nicht. Früher - und das war noch gar nicht so lange her, eigentlich nicht einmal ein ganzes Jahr, da hatte sie Frieden mit sich selbst gehabt. Jetzt war alles anders. Seitdem sie ihre Erlebnisse mit Daniela gehabt hatte, mit Barbara hatte es ja leider nicht geklappt.
Jetzt aber klappte gar nichts mehr. Seit drei Wochen steckte sie schon in ihrem neuen Keuschheitsgürtel, einundzwanzig Tage das Leben einer Nonne, obwohl sie nicht im Ernst glaubte, dass Nonnen nicht wussten, was gut war. Und diese steckten im Gegensatz zu ihr nicht in einem stählernen Gürtel!
Monika war verzweifelt. Der Sommer war endlich da mit herrlichen Tagen, aber sie hatte keinen Gefallen daran. Ihre Freundinnen wunderten sich, warum sie nicht mit zum zum Baden gehen wollte, warum sie selbst jetzt noch mit langer Jeans und langen Oberteilen herumlief, wo doch bauchfrei angesagt war. Wie hatte sie nur so blöde sein können, sich freiwillig in dieses Ding einzuschließen?? Einziger Vorteil der ganzen Aktion: ihre Mutter war sauer und ließ sie in Ruhe. Ob das allerdings alle Nachteile aufwog, das mochte dahingestellt bleiben.
Doch heute gab es Licht am Ende des Tunnels. Bisher war sie einige Male aufgeschlossen worden, was in der Praxis so funktionierte, dass zuerst ihre Mutter das eine Schloss öffnete, sie dann zu Claudia hinüberging, welche das zweite Schloss entfernte, woraufhin sie unter Aufsicht von deren Mutter zum Duschen begleitet wurde. Intime Momente bis jetzt: null. Selbst wenn es ihr gelungen wäre, sich einmal dort zu berühren, wo es am meisten Spaß machte, so fehlte ihr jede gedankliche Einstimmung, war die eigenen Phantasie trocken und spröde, so dass rein gar nichts ging. Aber sobald sie wieder das Klicken der beiden Schlösser hörte, sobald loderte das Verlangen in ihr wieder auf, fuhr ihre Hand wieder dorthin, wo eine heiße, hungrige Scham auf sie wartete, vergeblich wartete.
Aber heute gab es einen kleinen Hoffnungsschimmer für sie. Pia, ihre Mutter, und Agnes, Claudias Mutter, hatten sich für den Abend verabredet, wollten gemeinsam ins Kino gehen, sich irgendeinen neuen Film ansehen, was Stunden dauern würde. Jetzt hatte Monika schon seit einer geschlagenen halben Stunde alle Schränke und Schubladen der Mutter durchsucht, leider ohne Ergebnis. Irgendwo musste der verdammte Schlüssel doch sein! Sie war sich sicher, dass die Mutter ihn nicht mitgenommen hatte, denn sie wusste, dass die Mutter Angst hatte, ihn zu verlieren. Wo aber hatte sie ihn hingelegt?
Ärgerlich ging sie zurück in den Flur. Ihre Mutter wäre doch wohl nicht so blöd... Und wenn doch? Nein, nie im Leben! Trotzdem ging sie ins Wohnzimmer, öffnete die Tür des Wohnzimmerschranks und holte das Kristallgefäß hervor, blickte hinein und musste lachen. Warum denn in der Ferne suchen, wenn der Schlüssel liegt so nah? Oh, wie blöd war sie eigentlich?? Sie steckte den Schlüssel in das rechte der beiden kleinen Schlösser, schloss auf, legte den Schlüssel zurück in die Schale und ging in ihr Zimmer, sich fertig anzuziehen.
Wenig später klingelte sie bei Claudia.

"Monika! Schön, dich mal wieder zu sehen!" scherzte diese, als sie die Tür öffnete und die Freundin an ihr vorbeistürmte, denn die beiden Frauen sahen sich fast täglich. "Was ist los, Moni? Wo brennt´s?"
Monika legte eine verkrampfte Hand auf ihren Rock, ihr Schritt zeichnete sich deutlich ab. "Hier! Hier brennt´s. Ich stehe sozusagen in Flammen!"
"Tja, das ist ja dumm. Vielleicht kann ich da mit einem Saft löschen?"
"Dafür ist es zu spät. Jetzt hilft nur noch ein Schlüssel!"
Augenblicklich runzelte Claudia die Stirn. "Wie lange bist du jetzt ohne...?"
"Drei Wochen. Langsam werde ich verrückt. Kann schon gar nicht mehr schlafen. Du must mich aufschließen! Bitte!" Vielleicht half es, wenn sie dieses bitte hinzufügte.
"Drei Wochen?" Claudia schüttelte den Kopf. "Und jetzt hast du schon Probleme? Wie wird es dann erst nach ein, zwei Monaten sein?"
"Dann werde ich verbrannt sein, oder aufgelöst im eigenen Saft. Such dir was aus!" Monika setzte ein verzweifeltes Gesicht auf. Die Vorstellung, so lange ohne echte Unterbrechung verschlossen zu sein, raubte ihr den Verstand. Gut, dass sie Claudia auf ihrer Seite wusste. "Bitte!" Sie umarmte die Freundin, die sie jedoch ein wenig wegstieß und ganz ungeniert ihre Hand in ihre Hose steckte.
"Du machst mich ganz schön heiß, Moni! So verschlossen..." Claudia grinste sie gespielt lüstern an.
"Ach komm, lass den Quatsch! Was ist denn nun mit dem Schlüssel? Wo hast du ihn? Mutters Schlüssel habe ich schon gefunden; fehlt nur noch deiner!"
"Der Schlüssel ist im Badezimmer. Von mir aus kannst du ihn ruhig haben..."
Monika stürzte schon an ihr vorbei, Richtung Badezimmer. Endlich! Sie riss die Tür auf, achtete nicht auf die warme Luft, die ihr entgegenströmte. Der Schlüssel? Wo mochte er sein? Wieso hatte sie sich nicht die Zeit genommen, Claudia zu fragen?
Sie sah ihn!! Er hing an einem Haken unter einem kleinen Hängeschränkchen. Befestigt mit einem kleinen Sicherheitsschloss an zwei Ösen, die in die Bodenplatte des Schränkchens eingeschraubt waren. Was zum Teufel?? Sie versuchte, die Ösen zu lockern, sie zu drehen, aber da ließ sich nichts drehen, man hätte erst das Schloss entfernen müssen, sonst lief da gar nichts.
Sie starrte auf den Schlüssel, konzentrierte sich, so als könne sie ihn mittels ihrer Gedankenkraft irgendwie lösen, irgendwie in ihre Hand bringen. Dann erkannte sie, dass sie ihn ja bereits in der Hand hielt, ihn nur nicht dort hinbekommen konnte, wo er gebraucht wurde. Sie sah sich um, schnappte sich einen Stuhl, schmiss den Wäschekorb um, der im Weg stand. Irgendwie musste sie ihren Gürtel zum Schlüssel bekommen, wenn es anders rum nicht ging. Kletterte auf den Stuhl, bog Bauch und Hüfte so weit nach vorn, wie es irgend ging, aber immer fehlte mindestens eine Handbreit, Schloss und Schlüssel wollten einander nicht näherkommen, egal wie sehr sie sich wand und drehte. Verärgert öffnete sie die Tür des kleinen Schränkchens, es musste doch irgendwie abzunehmen sein, sie packte mit beiden Händen zu, versuchte es anzuheben, aber sie sah die dicken Schrauben, die sicherlich in festen Dübeln steckten - nichts zu machen. Erschöpft ließ sie sich auf den Fußboden fallen.
"Und...?" Claudia stand in der Badezimmertür. "Hast du schon aufgegeben?"
Monika wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Nase. "Ist das hier deine Idee?"
"Ha! Nein, ich sagte doch, dass du von mir aus den Schlüssel haben konntest. Aber Mutter hatte wohl nicht das größte Vertrauen in mich..."
"Hat Agnes den Schlüssel hierzu?"
"Ja. Und den hat sie dabei. Tut mir leid." Sie kniete sich neben Monika. "Komm, nimms nicht so tragisch. Es ist doch nur das, was du selber wolltest. Keiner hat dich zu dieser verrückten Sache gezwungen."
"Enthaltsamkeit", murmelte Monika erschöpft. Sie fühlte sich vollkommen platt. Konnte es sein, dass ihr weggesperrtes Sexualleben ihr Energie abzog? Langsam rappelte sie sich auf. Und eine neue Frage drängte sich ihr auf: Wann würde der neue Keuschheitsgürtel mit ihr verwachsen? Natürlich nicht physisch, wie man es in manch dämlicher Story lesen konnte, sondern rein mental. Käme irgendwann der Zeitpunkt, an dem sie ihren Widerstand aufgeben würde, oder würde sie weiter kämpfen, gegen das Unerbittliche anrennen, bis ihr eigenes Verlangen sie gänzlich verzehrt hatte?
"Komm, Moni. Komm, lass uns mal einen Kaffee trinken. Und ein bisschen über Australien quatschen, ja? Ich bin ja noch gar nicht dazu gekommen, dir viel zu erzählen." Beide begaben sich in die Küche. Australien? dachte Monika. Nun gut, vielleicht würde sie das ja etwas ablenken.


74. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von kochy25 am 04.02.13 09:00

Hammerfortsetzung! Da ist der Schlüssel so nahe - und doch so weit weg.
75. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AlterLeser am 04.02.13 09:29

Hi Daniela,
nun ist dies zweimal erschienen deshalb steht hier nur der Gruß

LG Horst der alte Leser


♦♦ ♥ ♦♦
76. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AlterLeser am 04.02.13 09:32

Hi Daniela,
frage mich nun ob nicht eine Nagelschere die Schlüsselbefestigung beendet
hätte allerdings wäre der Gebrauch natürlich aufgefallen.
Zur Kommissarin Wimmer, vielleicht probiert sie ja den KG am eigenem Leibe aus und es gefällt ihr.
Bin nun gespannt wer denn am Ende die Unbekannte Tote ist. Da du ja auf verschiedenen Zeitebenen
arbeitest ist es sehr schwer das richtige zu erahnen.
Deine Fortsetzung hat mir wieder sehr gut gefallen und sage hiermit Danke.

LG Horst der alte Leser


♦♦ ♥ ♦♦
77. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 05.02.13 21:58

Hi Daniela,

ich finde diese Fortsetzung wieder einmal herausragend und absolut gelungen! Es ist so schön, im Text so viele kleine Anspielungen zu finden, die einen inspirieren.

Ja, Kommissarin Wimmer scheint ja ziemlich neugierig auf diese Keuschheits-Ausstattung geworden zu sein. Wenn sie ihr auch das verwehrt, wonach sie sich so sehnt: Neues Leben. Und ihre biologische Uhr tickt. Sollte sie sich unter diesen Umständen wirklich noch für die verbleibende Zeit verschließen? Und wer bekäme dann den Schlüssel, etwa Rick, der wohl ebenfalls nicht unberührt von solcher Vorstellung ist?

Es bleibt weiterhin ein Rätsel, wer die Tote ist. Auch wenn auf einmal so viele Indizien scheinbar auf Daniela hindeuten. Und natürlich ebenso rätselhaft, wer das Gegenstück des Händeabdrucks an ihr ist, der das Unglück offenbar ausgelöst hat. Klaus vielleicht? Aber wieso sollte er Daniela schlagen? Fragen, nichts als Fragen bisher.

Die Rückschau von Oma Meisner finde ich wieder einmal sehr spannend. Und ebenso, welche Schlüsse sie zieht. Es ist geradezu rührend, wie sich Klaus um sie sorgt und kümmert - wo er doch die Briefe gefunden hat. Trotzdem wirkt sie so bedrückt, und das Geld, das sie Klaus gibt, erzeugt irgendwie den Anschein, als wolle sie sich freikaufen.

Monika scheint irgendwie in der selbstgewählten Falle zu stecken, geradezu sprichwörtlich. Ich bin sehr gespannt, wie sie das für sich irgendwann einmal auflösen kann, denn das hoffe ich wirklich für sie.

Vielen Dank für diese spannende und inspirierende Fortsetzung! Und ich freue mich natürlich schon auf nächsten Sonntag!

Keusche Grüße
Keuschling
78. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 05.02.13 22:43

Liebe Dani!
In Ergänzung zu den Kommentaren denen ich mich voll anschließen kann, darf ich diesmal Deine Schilderungen über eine bereits fast 60 Jahre zurück liegenden ZEit hervor heben. Ich vermute nämlich, dass sich die meisten LeserInnen in diesem Forum das gar nicht mehr vorstellen können. Du schilderst aber Vorkommnisse wie ich sie selbst in Erinnerung habe, und zwar so als ob Du selbst dabei gewesen wärst. Das möchte ich den jüngeren Lesern einmal deutlich sagen.
Danke
Maximilian
79. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 10.02.13 22:00

Danke! Einige Leser haben wieder dafür gesorgt, dass ich zufrieden und mit einem frohen Lächeln zu Bett gehen konnte! Endlich habe ich nun auch damit begonnen, den Schluss der Geschichte zu schreiben. Aber, er wird nicht allen gefallen. Doch warten wir es einmal ab; es wird ja noch einige Wochen dauern, bis wir so weit sind! Viel Freude beim Lesen wünscht Euch nun Eure Daniela - und für alle Jecken ein Alaaf und Helau!
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"Ins Kino?? Wann... heute Abend?" Sie klang nicht gerade begeistert, als Klaus sie anrief. "Doch, klar, natürlich komme ich gern mit. Da ist nur ein klitzekleines Problem."

Musste es denn immer Probleme geben? Klaus seufzte. "Also Lyn, was ist nun? Kannst du, oder kannst du nicht?"

"Ich habe Rufbereitschaft."

"Bereitschaft? Gibt es das bei euch auch?"

"Ja. Eine komplette Mannschaft ist immer auf der Wache. Wenn sie ausrückt, dann tritt eine andere an ihre Stelle, falls irgendwo noch etwas geschieht. Da sollten wir dann binnen fünfzehn Minuten auf der Wache sein, um übernehmen zu können. Mit anderen Worten, das Kino sollte nicht allzu weit enfernt sein."

Klaus nannte ihr den Namen des Kinos, in dem Titanic in neuester 3D-Technik gezeigt wurde.
"Oh ja, das könnte gehen, Jack! Sehen wir uns dann vor dem Kino?"

Sie verabredeten sich für halb acht, dann beendete Klaus das Gespräch. Jack? Warum hatte sie ihn Jack genannt? Jack Dawson, das war derjenige, der Rose DeWitt Bukater gerettet hatte, und zwar nicht nur vor dem Tod durch Ertrinken, sondern vor dem Tod des langsamen Dahinsiechens in einer erstarrten Beziehung. Und Lyn? War es nun umgekehrt? Wollte sie ihn nun retten? Immerhin war bei einer Sanitäterin ein Florence-Nightingale-Syndrom durchaus naheliegend. Aber in welcher Richtung sollte er gerettet werden? Klaus, oder doch eher Barbara??


Beide genossen die anheimelnde Dunkelheit des Kinos. Ja, DVDs mochten eine tolle Erfindung sein, aber das richtige Erlebnis konnte man doch nur in der allumfassenden Präsenz eines Kinos genießen. Da war ja schließlich nicht nur der Film. Es war der Ort selber, der, ähnlich einer Kirche, gewissermaßen ein geweihter Ort war, oft genug leider ein Ort, der filmischer Gewalt geweiht zu sein schien, aber manchmal auch der Ort herzzerreißender Liebesgeschichten. Manchmal sogar der Ort, an dem die Liebe physisch spürbar war, so wie jetzt, als Klaus plötzlich glaubte, etwas vernehmen zu können, was unzweifelhaft von jener Frau ausging, die hier neben ihm saß.

Dann aber geschah etwas Dummes. Statt wie früher, als man den Film Film bleiben lassen konnte, begann dieser nach ihm zu greifen. Die Fiktion, die erfundene Geschichte, begann, sich zuerst langsam, dann immer schneller von der Leinwand zu lösen. Sie schwebte vor ihnen im Raum, griff nach ihnen, begann ihre nicht zu stoppende Umarmung, die sich bald in ein unangenehmes Würgen änderte.
Klaus setzte die komische Brille ab, die man ihm an der Kasse ausgehändigt hatte. Sofort sprang der Film dorthin zurück, wo er hingehörte, auf die Leinwand, in die Vorstellungskraft der eigenen Phanstasie. Nur, dass alles jetzt schleierhaft, undeutlich und irgendwie doppelt wurde. Rose und Jack, die ein seltsames Doppelleben führten. Personen, die scheinbar von einer Art Aura umgeben waren, die das Sehen nicht unbedingt klarer machte.
Schnell setzte er die Brille wieder auf. Eine Brille, die ihn seltsamerweise von seiner Partnerin trennte, die er ohne Brille besser sehen konnte, trotz der Schwärze des Raumes.
Dann begann sie zu tanzen. Barfuß. Sie hielt einen jungen Mann an den Händen, das Paar wirbelte umher, getrieben und gejagt von irischer Musik, es tanzte im Raum vor ihm, er hätte zupacken können, hätte er es gewollt. Schließlich kam die Szene, in der sie sich auf nackten Zehen immer höher schraubte, bis sie senkrecht vor staunenden Männern scheinbar die Schwerkraft überwunden hatte und...

Ein hässliches Piepsen zerstörte alles. Klaus registrierte, wie Evelyn neben ihm ihr Handy aus der Tasche kramte, wie das Display aufleuchtete und sie die an sie gerichtete Nachricht las. Auf ihren Lippen formte sich ein deutliches scheiße, dann steckte sie das Handy weg und griff nach ihrer Tasche. Sie lehnte sich zu ihm hinüber. "Tut mir leid. Bereitschaft. Ich muss los. Danke für die Einladung." Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, dann drängte sie auch schon an ihm vorbei, schneller, als er überhaupt noch reagieren konnte. Ein Notfall war eingetreten, in fünfzehn Minuten musste sie auf der Wache sein. Spätestens.

Klaus war verwirrt. Der Abend war kaputt, ehe er richtig begonnen hatte. Hatte er Lust, nun allein auf den Eisberg zu warten, der das Schiff mit Mann und Maus in die Tiefe ziehen würde? Oder zu sehen, wie eben jener Jack erfroren und leblos absinken würde? Nein, hatte er nicht. Mit einem Mal merkte er, dass ihm kalt war. Er trug nur leichte Sommerkleidung, was tagsüber prima war, aber nicht abends in einem temperierten Kinosaal. Und Lyn? War sie nicht plötzlich und unerwartet von ihm abgetrieben, hatte sie ihn nicht allein gelassen, ohne ihn vor sich selbst zu retten?
Abendliche Wärme umfing ihn, als er ins Freie trat. Klaus wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Es war noch relativ früh. Sollte er einen Besuch in einem Biergarten einlegen? Und dort.... Liebespaare sehen? Frauen in hübschen Kleidern? Vielleicht in Dirndlkleidern?

Er atmete schwer durch. Die Phantasie des eigenen Lebens griff nach ihm, genauso wie zuvor die des Films im Kino. Er wusste, wo er eine Frau in einem tollen Dirndl sehen würde, jetzt, gleich, heute, morgen oder übermorgen. Wann immer sie wollte.

Keine halbe Stunde später eilte sie die Treppe zu ihrer kleinen Dachwohnung hoch. Gleich! Dann sah Klaus die Dose, die immer noch auf dem Küchentisch stand. Seine Oma! Vielleicht sollte er doch besser nach seiner Oma sehen. Barbara würde warten müssen. Die Großmutter würde sich freuen, wenn er nach ihr sah. Klaus schnappte sich die Dose, steckte sie in seinen kleinen Rucksack und machte sich auf den Weg.

Der Motor seines kleinen Rollers erstarb mit dem gewöhnlichen Blubbern. Klaus sah auf seine Uhr. Halb zehn, das ging ja noch. Er blickte zu den Fenstern der alten Villa empor, doch, da war noch Licht. Seine Oma hatte sich noch nicht hingelegt. Es war schön, nach so vielen Wochen endlich wieder Licht zu sehen, zu wissen, dass alles beim Alten war.
Wie üblich schloss er die Tür mit seinem eigenen Schlüssel auf. "Oma? Hallo? Ich bin´s, Klaus. Wo steckst du? Ist alles in Ordnung?" Er hängte seine Jacke auf einen Haken, ließ den Rucksack zu Boden fallen, nahm ihn dann aber wieder auf und suchte die Lebkuchendose hervor. "Oma??"

Leise Radiomusik tönte ihm aus dem Wohnzimmer entgegen. Sie war nicht dort. Auch in der Küche war sie nicht. Vielleicht war sie doch schon in ihr Zimmer gegangen? Klaus nahm mehrere Treppenstufen auf einmal. Das Bett war frisch gemacht, aber eine Oma gab es auch hier nicht. Vielleicht im Bad? Nein, da war alles dunkel.
Ihm wurde kalt. Das hier war wie ein dejà-vu. Schnell rannte er wieder hinab. Die Kellertür war angelehnt. Das Licht eingeschaltet. Unten erblickte er seine Großmutter, die auf allen Vieren auf dem nackten Boden herumkroch. "Oma!!!" Erleichtert, aber auch verwirrt, stieß er es aus. Die alte Frau zuckte zusammen, dass er glaubte, sie würde tot umfallen.

"Herr im Himmel!!! Hast du mich aber erschreckt, Bub! Hab dich überhaupt nicht kommen hören!"

"Was zum Teufel machst du denn da unten?" Seine Reaktion war heftiger, als er es gewünscht hatte. "Und ich dachte schon, dir wäre wieder etwas zugestoßen!"

"Nun mal mal nicht gleich den Teufel an die Wand! Ich... ich suche etwas." Sie sagte es tonlos, ohne irgendeine Emotion preiszugeben.

Sofort wusste er, dass es sich nicht um das Schuhputzzeug handelte. Er blickte auf seine Hand, in der er immer noch die Dose hielt. "Suchst du... suchst du die hier, Oma??"

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Zu behaupten, dass es ihr unter den Nägeln brannte, wäre der reine Hohn gewesen. Nein, unter den Nägeln brannte gar nichts, leider. Wohl aber unter der stählernen Barriere ihres Keuschheitsgürtels. Monika wunderte sich, dass ihre Kleidung noch kein Feuer gefangen hatte.
Ihr Ausbruchsversuch war gescheitert. Sie wäre mit allem fertig geworden, hätte es sicherlich auch verkraften können, wenn Claudia sie von sich aus abgewiesen hätte, aber den Schlüssel zur ihrer Rettung so dicht vor Augen zu haben, dann aber niemals das letzte Schloss ihres Keuschheitsgürtels auch nur annähernd in die Nähe des Schlüssels zu bekommen, das war wahrlich mehr, als sie verkraften konnte. Irgendjemand trieb hier ein grausames Spiel mit ihr. Doch sie erkannte nicht, wer. Und dass letzten Endes sie selber es war, das konnte und wollte sie einfach noch nicht begreifen. Fest stand nur, dass sie es nicht richtig begriffen hatte, was Agnes mit dem Begriff Enthaltsamkeit gemeint hatte, als diese sie im Krankenhaus besucht hatte.

Trotzdem hatten die beiden Mädchen einen halbwegs schönen Abend gehabt. Von irgendwoher hatte Claudia einige Leckereien hervorgezaubert, und ein Glas Martini war auch nicht schlecht an diesem heißen Sommerabend. Dann hatte sie ihren Laptop eingeschaltet und Monika lang und breit von ihrem Jahr in Australien berichtet.

"Dort möchte ich jetzt auch sein!", blickte Monika neidisch auf die Bilder.

"Ich nicht."

"Was? Wieso? Kapier ich nicht."

"Moni, dort unten ist jetzt Winter. Zumindest unten in Victoria und auf Tasmanien. Dort kann es sogar schneien."

"Echt? Dann wollen wir lieber den Sommer hier genießen!" Monika stöhnte leise, denn von genießen konnte bei ihr keine Rede sein, solange sie in dem vermaledeiten Keuschheitsgürtel steckte. Automatisch fuhr ihre Hand in den Schritt, und schon wieder spürte sie nur die harte Struktur unter ihrem dünnen Rock.

Claudia lächelte sie mitleidsvoll an. "Ist es so schlimm?"

Monika schüttelte den Kopf. "Nein, es ist schlimmer. Es wird jeden Tag schlimmer. Ich könnte aus der Haut fahren ... aber das geht im Moment ja auch nicht." Sie klopfte gegen den Taillengurt. "Alles fest verschlossen. Keine Chance."

Claudia sah ein, dass sie das Thema wohl besser wieder Richtung Australien lenken sollte. "Hättest du nicht mal Lust, hinzufahren?"

"Schon. Aber was soll ich da?"

"Wie wäre es mit: das Leben genießen? Weshalb sonst fährt man nach Australien?" Sie goss sich selber und Monika noch etwas Martini nach und holte neue Eiswürfel. "Du könntest deinen alten Herrn besuchen. Lebt der nicht in Australien?"

Monika nickte.

"Wie alt ist der jetzt eigentlich? Hast du noch Kontakt zu ihm?"

Monika brauchte nicht lange zu überlegen."Der ist jetzt 65. Und unser Kontakt ist recht einseitig." Sie erzählte Claudia von der elektronischen Weihnachtskarte mit dem surfenden Känguru.

"Ob er dich wohl vermisst?"

Monika zuckte hilflos mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ich glaube, er hat eher ein schlechtes Gewissen, weshalb er diese Weihnachtsgrüße schickt."

"Ein schlechtes Gewissen, Moni? Wegen damals?"

Monika verzog den Mund zu einer Schnute. "Klar. Außerdem würde ich heute nicht in diesem verdammten Scheißgürtel stecken, wenn er nicht gewesen wäre."

"Ist es so einfach? Manchmal glaube ich, du machst dir da was vor. Ich erinnere mich noch recht gut an damals..."

Monika sandte der Freundin einen zweifelnden Blick. "Er hat mich missbraucht! Punkt. Ende der Diskussion."

Claudia wandte den Blick ab. "Ja, das hat er wohl. Aber ich erinnere mich noch recht gut daran, dass es dir nicht so ganz unangenehm war. Mal vorsichtig ausgedrückt. Du hattest deinen Daddy immer sehr lieb..."

"Was meinst du?? Soll ich jetzt etwa selber Schuld haben? Das sind ja ganz neue Töne!" Monikas Stimme wirkte gereizt.

"Nein nein! Bewahre! Du hast keine Schuld und klar, er hat dich missbraucht. Ich sage ja nur, es war etwas, das euch beide angeht, das sich nicht so einseitig lösen lässt, indem man sein eigenes Mitwirken negiert, immer nur auf den anderen zeigt und damit glaubt, man selber habe mit der Sache nichts zu tun."

"Und? Was soll ich tun? Wenn du schon so klug bist, dann hast du sicherlich eine Antwort auf diese Frage!"

"Nun schnapp nicht gleich ein, Moni!! Aber du musst doch zugeben, dass es etwas seltsam ist, dass du über zehn Jahre, nachdem das da mit deinem alten Herrn passiert ist, immer noch mit so einem Keuschheitsgürtel durch die Gegend rennst. Normal ist das nicht!" Claudia steckte sich ein Stück Schokolade in den Mund. Was war heutzutage überhaupt noch normal? "Ich hab ja bloß Angst, dass du es in zehn Jahren immer noch tust."

Monika verdrehte die Augen. "Bestimmt. Wenn du mir nicht den Schlüssel gibst, dann stecke ich in zehn Jahren immer noch in diesem Ding!" Theatralisch begann sie, erneut wild an ihrem Taillenreifen zu ziehen und zu zerren. "Also, was soll ich tun?"

Claudia lächelte zufrieden. Monikas anfängliche Irritation hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst; sie war nie ein besonders nachtragender Mensch gewesen. Sicherlich war sie heute Abend mehr als frustriert darüber, dass ihr schöner Ausbruchsplan nicht aufgegangen war, aber Claudia spürte dennoch, dass ihre Freundin jetzt für ihre Vorschläge zugängig sein würde. Sie musste nur aufpassen, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.

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Sie saßen sich gegenüber. Der solide Esstisch bildete eine Mauer zwischen ihnen, die der Berliner Mauer im Moment in nichts nachstand. Zwischen ihnen stand die leere Blechdose, welche über Jahre hinweg ein Geheimnis gewahrt hatte, das jetzt urplötzlich keines mehr war.

"Du hast es die ganze Zeit über gewusst!" Es war keine Frage, die Klaus an seine Oma richtete. Es war eher ein Urteil.

Die alte Frau Meisner antwortete nicht. Es war müßig, zu antworten; der Bub würde es eh nicht verstehen. Hilflos klammerten ihre Hände sich an die gestickte Tagesdecke.

"Du hast es wirklich die ganze Zeit über gewusst, hattest es quasi schriftlich vorliegen, und hast trotzdem nichts unternommen??" Seine Stimme steigerte sich, dann aber brach sie abrupt ab. Er musste sich erst über seine eigenen Gefühle klar werden. War es Wut? Oder doch eher das Mitleid mit einer alten Frau?

"Was ... was hätte ich denn machen sollen? Außerdem schrieb Thomas ja nie so ganz konkret, was da eigentlich geschehen war. Klaus, ich habe mir einfach nichts dabei gedacht..."

"Nichts dabei gedacht??" fuhr ihr Enkel ihr in die Parade. "Und warum um alles in der Welt hast du diese Briefe dann überhaupt aufgehoben, wenn du dir nichts dabei gedacht hast?? Ach Oma, jetzt lüg mich nicht auch noch an!" Abscheu. Er empfand Abscheu für sie.

Die alte Frau schluchzte auf. Es war genauso gekommen, wie sie es seit Monaten befürchtet hatte. Er war nicht fähig, die Dinge nüchtern zu betrachten.

"Du hättest zum Beispiel diese Briefe weiterleiten können. Anzeige erstatten. Ja, du hättest zur Polizei gehen können und Anzeige erstatten."

"Mit diesen Briefen? Geschrieben von einem ... einem Kind?? Die hätten mich doch gleich ausgelacht! Pubertäre Kindesphantasien! Außerdem war so etwas damals wohl eine ganz normale Sache, oder?" Sie versuchte, ihr Fehlverhalten zu verteidigen. Was ihr nicht gelang.

"Damals? Was heißt hier damals?? Du sprichst so, als wäre das alles noch zu Adolfs Zeiten geschehen!"

"Damals wäre so etwas nicht geschehen!!" Sie schlug ihre Faust auf den Tisch. Verkehrte Welt. Wieso begann sie plötzlich, eine Zeit zu verteidigen, für die sie selber nie das Geringste übrig gehabt hatte?

"Ach nein?" Klaus lachte spöttisch auf. "Natürlich nicht. Damals habt ihr sie ja gleich in die Gaskammern geschickt! Komm mir doch nicht mit so einem Scheiß jetzt, Oma. Das hier..." - er deutete auf die Briefe - "das ist ja nicht vor hundert Jahren passiert, sondern in diesem Jahrtausend! Wach auf, Oma!! Du hast einen ganz verdammten Mist gemacht, kannst du das mal einsehen?" Er merkte, wie seine Ungeduld wuchs. Im Grunde genommen war ihm jedes Wort dieses Gesprächs zuwider, im Grunde genommen wäre er lieber schreiend aus dem Haus gelaufen, hinüber in seine kleine Wohnung, hinüber zu... Barbara.

"Ja, du hast ja recht." Frau Meisner schneuzte sich die Nase. "Ich hab schon gewusst, dass es nicht richtig war. Aber ich habe nicht gewusst, was ich hätte tun sollen. Man hätte dich möglicherweise der Schule verwiesen, und dann?? Glaubst du, wir hätten so schnell für dich ein anderes kirchliches Internat irgendwo gefunden?"

Klaus sah seine Großmutter müde an und schüttelte bloß den Kopf. Kirche, Kirche, Kirche! Er konnte es nicht mehr hören. Diese Generation würde es nie begreifen, was gerade in kirchlichen Einrichtungen geschah. Und schlimmer war: er konnte es selber kaum begreifen, hatte sein Schicksal immer als einen bedauerlichen Einzelfall angesehen, als das Versagen eines einzelnen Menschen. Jetzt aber waren immer mehr ähnliche Fälle an die Öffentlichkeit gekommen; sein Fall war bloß einer von vielen.

Es war spät geworden. Eigentlich hätten sie beide besser zu Bett gehen sollen. Aber da war noch etwas, das geklärt werden musste. "Sag mal, Oma, warum hast du diese Briefe denn nun aufgehoben? Und hast du irgendeine Ahnung, ob Thomas damals eine Antwort vom Bischof erhalten hatte? Erst jetzt verstehe ich so richtig, warum damals, nachdem er die Schule so Hals über Kopf verlassen hatte, unser ganzes Zimmer so gründlich durchsucht wurde. Kammerjäger, so hatte man mir damals etwas vorgemacht, dass man da irgendwelches Ungeziefer vernichten müsse. Dabei haben diese Leute wohl nur nach irgendwelchen Briefen gesucht."

Frau Meisner stand auf. Langsam schob sie den Stuhl zurück, noch langsamer richtete sich auf. Sie fühlte sich wie zerschlagen. In der Früh, als sie aus dem Spital entlassen worden war, da hatte sie noch so viel Kraft in sich gespürt, jetzt war alles verflossen; nie wieder würde sie richtig zu Kräften kommen. "Warum ich sie aufgehoben habe, kann ich dir nicht sagen, Klaus. Nein, ich weiß es selber nicht." Sie schüttelte energisch den Kopf. "Vielleicht hatte ich einfach nur vergessen, sie fortzuwerfen. Vielleicht aber hob ich sie auf, weil ich es irgendwie nicht wahrhaben wollte, dass..." Sie ließ den Satz unvollendet. Von ihrem Schreibtisch nahm sie einen kleinen Papierstapel, blätterte ihn kurz durch, kam dann mit einem einzigen Papier zurück. "Hier, das wolltest du doch sehen, oder?"

Klaus fiel sofort der bischöfliche Briefkopf auf. Thomas hatte eine Antwort erhalten! Noch vor den Osterferien! Das erklärte wirklich vieles. Was aber schrieb der Bischof?
Nein, das sah er gleich, der Bischof hatte überhaupt nichts geschrieben. Unterzeichnet war der Brief vom Sekretär des Bischofs, welcher in wenigen Worten alle von Thomas erhobenen Anschuldigungen als pubertäre Phantasiegebilde zurückwies und dem der Pädophilie bezichtigten Pater sein vollstes Vertrauen aussprach. Das kurze Schreiben endete mit einer eindringlichen Mahnung an Thomas, derart unausgegorenes Gedankengut nicht weiter in die Welt zu setzen, er andernfalls damit rechnen müsse, das Internat verlassen zu müssen.
Klaus legte den Brief zu den anderen. "Damit war wohl zu rechnen. Ich hätte schon selber etwas unternehmen müssen, und selbst dann wäre ein Erfolg ungewiss gewesen." Er stutzte. Irgendetwas stimmte nicht. Gewiss, der Brief gab nicht viel her, aber...

Leises Schnarchen unterbrach seinen Gedankenfluss. Oma! Die Oma musste ins Bett, und er selber wohl auch. Vorsichtig weckte er die alte Dame und half ihr mit einigen Mühen, in ihr Schlafzimmer im oberen Stockwerk zu gelangen und sie bettfertig zu machen. Dann machte auch er sich auf den Weg nach Hause, denn es war spät geworden und der Tag hatte ihm einiges abverlangt. Ein Weilchen grübelte er noch darüber nach, was es gewesen sein könnte, das ihm aufgefallen war, aber er konnte wirklich keinen klaren Gedanken mehr fassen.

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Regen prasselte heftig gegen das offen stehende Dachfenster und riss Monika aus einem schönen Traum. Sie hatte ihre Hand dort, wo sie nach Meinung vieler nicht hingehörte, all jener Leute, die ein Leben lang ein total verkorkstes Sexualleben mit sich herumführten und den Fehler begangen, ihr eigenes Scheitern unter dem Mäntelchen eines moralisch ´besseren´ Lebens zu verstecken. Nein, diese Leute, die die schlechte Angewohnheit hatten, ihre eigene Moral als die einzig geltende anderen aufzudrängen, diese Leute interessieren Monika herzlich wenig und so gab sie sich genüsslich dem hin, was ihr im Moment am meisten Freude bereitete, der Masturbation. Immer wieder fuhren ihre Finger durch ihre feuchtfröhliche Spalte, immer wieder umkreisten sie ihre Knospe, bis... ja bis sie bibbernd bemerkte, dass die Feuchtigkeit zwar real war, aber leider nicht aus der verschlossenen Region zwischen ihren Beinen stammte, sondern aus dem nicht verschlossenen Dachfenster. Sie sprang auf, beeilte sich, das Fenster zu schließen und nahm dann ihre dünne Sommerdecke vom Bett, breitete sie über zwei Stühle zum Trocknen aus und suchte statt der nassen Decke eine dünne Wolldecke hervor, die sie über sich ausbreitete. Die Luft in ihrem Zimmer war immer noch brütend heiß, Abkühlung hatte die Nacht nicht gebracht, bis jetzt zumindest nicht, aber jetzt grollte tiefer Donner über die Dächer der Stadt und kündigte ein heftiges Sommergewitter an.
Monika sah auf ihre Uhr. Noch nicht einmal vier Uhr. Also noch mindestens drei Stunden, bis sie aufstehen konnte. Und noch wieviele Stunden, bis sie endlich wieder das tun konnte, was sie gerade geträumt hatte?? Ach, es war zum Verzweifeln! Seit Tagen schon spürte sie, wie sich in ihrem Körper etwas Gewitterähnliches zusammenbraute, wie sich die Energie in ihr staute, wie Wasser hinter einem soliden Damm. Nur, dass in ihrem Fall die Staumauer nicht aus Beton bestand, sondern aus solidem Stahlblech. Rostfrei!
Heftiges Klacken gegen ihr Fenster ließ sie zusammenfahren. Hagel? Sie schaltete das Licht an ihrem Bett ein und sah hinauf zum Dachfenster. Ja, Hagel. War denn schon Winter? Aber sie wusste sehr wohl, dass es auch im Sommer immer wieder einmal heftig hageln konnte, dass ein einziger Hagelschlag hunderte von Autos zerdeppern konnte, von den Ernteschäden ganz zu schweigen, was schlimmer war. Denn ohne Brot konnte der Mensch nicht leben.

Sie konnte nicht wieder einschlafen. Immer wieder fiel ihr Claudias Vorschlag ein. Nein, eigentlich ja kein Vorschlag, sondern eher eine leichtfertig hingeworfene Idee. Aber Monika spürte, dass es trotzdem viel mehr war als nur eine Idee, sondern ein ernst zu nehmender Gedanke. Es war etwas, das sie durchaus tun konnte. Eigentlich ja gar kein Problem. Zumindest keines, das man sich nicht selber im Laufe der Zeit zusammengebastelt hatte. Und wenn man selber es erschaffen hatte, musste man es doch eigentlich auch wieder abschaffen können...


Auch Klaus lag wach. Er hatte einen seltsamen Traum gehabt. Er war mit Evelyn unterwegs gewesen, an Bord der Titanic. Sie hatten sich geliebt, nicht in einer alten Motorkutsche, sondern in einem supermodernen Van. Auch die ans Fenster klatschende Hand hatte in seinem Traum nicht gefehlt. Aber es war seine Hand, nicht ihre. Dann hatte er auf einem Divan gelegen, nackt, und sie hatte angefangen, ihn zu zeichnen. Mit geübter Hand den Kohlestift führend, zauberte sie sein Bild auf den Karton. Sie hatte ihm das Bild geschenkt, ein Bild von dem er wusste, dass es wichtig war, und deshalb hatte er es auf den Schreibtisch in seiner Kajüte gelegt. Ein weiteres Mal hatte sie ihn lieben wollen, aber dann hatte es eine heftige Erschütterung gegeben, Evelyns handy hatte einen schrillen Alarmton gegeben, beide waren ins kalte Wasser gesprungen, und dann - er sah es immer noch deutlich vor sich - war Evelyn langsam in die Tiefe geglitten, hatte ihn allein zurückgelassen.
Klaus fuhr sich mit der Hand über die Augen. Es war selten, dass er so lebhaft träumte, oder er konnte sich einfach nur selten an seine Träume erinnern. Jetzt aber spekulierte er darüber, was dieser Traum zu bedeuten hatte. Es war fast so wie im Film, nur andersrum. Er dachte an die Zeichnung. Hatte er sie noch mitgenommen? Wo hatte er sie hingelegt? Sie war wichtig gewesen, er hatte sie auf den Schreibtisch gelegt.

Dann wurde er schlagartig richtig wach. Der Schreibtisch! Na klar! Warum war er denn nicht gleich darauf gekommen? Manchmal sieht man halt den Wald vor lauter Bäumen nicht! Seine Oma hatte den Brief vom Bischöflichen Sekretariat, den Thomas seinerzeit als Antwort auf sein kindliches Beschwerdeschreiben erhalten und dann wohl an seine Großmutter weitergeschickt hatte, von ihrem Schreibtisch genommen. Warum? Weil er wichtig war! Klare Sache. Aber so ganz schlau wurde Klaus aus der Sache immer noch nicht. Wieso konnte ein fast zehn Jahre alter Brief für seine Großmutter wichtig sein, Jahre nachdem er selber das Internat verlassen hatte? Ergab das irgendeinen Sinn? Es musste einen geben, sonst hätte sie ihn nicht dort hingelegt. Wahrscheinlich hatte sie ihn irgendwann einmal aus der Dose, die all die anderen Briefe enthielt, herausgenommen. Oder aber sie hatte ihn nie mit hineingetan. Was ja auch egal war. Entscheidend war, dass dieser Brief irgendeine Brisanz besaß, dessen war er sich sicher. Quod erat demonstrandum!



80. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 11.02.13 20:39

Armer Klaus! Wie kommst Du je aus diesem Schlamassel wieder raus? Ich hoffe stark, dass unsere Daniela20 eine Lösung hat.
Euer Maximilian
81. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 12.02.13 00:40

Hi Daniela20,

wieder einmal eine hervorragende Fortsetzung, vielen Dank Dir dafür.

Momentan ist mir allerdings unklar, ob nicht vielleicht diese Fortsetzung dafür verantwortlich ist, daß der derzeitige noch-Papst heute, einen Tag nach der Veröffentlichung Deiner Fortsetzung, seine Abdankung ankündigt, gegen jede Tradition. Und wenn man seinen Lebenslauf auf wikipedia liest, wird klar, daß hier auch nicht alles so wünschenswert gelaufen zu sein scheint. Ob er es selbst dabei so wollte, bleibt dabei offen - zumindest könnte man ihm eine Vernachlässigung von Sorgfaltspflichten vorwerfen, wo er doch so penibel mit anderen Themenkreisen umgeht - aber ich will hier jetzt keine off-topic Diskussion damit eröffnen.

Mißbrauch, das ist das Haupt-Thema dieses Teils aus meiner Sicht. Das Begehen genauso schlimm wie das Zulassen oder Wegsehen. Bei Monika genauso wie bei Klaus. Und schlimmer noch, wenn man dann Lügen gebraucht, um die Täter zu decken, ihnen von höherer Stelle Vertrauen zuspricht, um es möglichen Helfern nur noch schwerer zu machen, indem man sie vollkommen entmutigt, ihnen jede Grundlage für einen aussichtsreichen Protest zu nehmen versucht. Ich finde es großartig, wie Du dieses schwierige Thema hier behandelst, insbesondere darüber, was es aus einem Mißbrauchs-Opfer eben machen kann, oder dessen Umfeld. Und letzteres ist mir leider aus sehr persönlicher Erfahrung nicht unbekannt, daß solch eine Tat eben auch als Spätfolge andere übelst belasten und verletzen kann.

Tja, was hätte Oma Meisner tun können? Sie hätte Klaus aus diesem Umfeld entfernen können, so schwierig das vielleicht gewesen wäre. Aber das tat sie nicht, warum auch immer. Zumindest hat sie diese Briefe aufbewahrt, weil sie wichtig waren und sind, und ich hoffe sehr, daß sie Klaus nun helfen. Ungeschehen wird man die Taten dadurch nicht machen können. Aber vielleicht eine Perspektive finden, das wäre doch schon mal was, um endlich davon zumindest etwas loszukommen. Und aus meiner Sicht liegt sie falsch damit anzunehmen, daß es "damals" keinen Mißbrauch gab - nur wurde der dann eben viel effizienter vertuscht.

Sehr interessant finde ich den Traum von Klaus, zusammen mit Lyn auf der Titanic, aber in vertauschten Rollen zum Film. Ist es am Ende etwa Lyn, die am Ufer der Isar gefunden wurde Ganz so, wie Klaus sie in die kalten Tiefen des Atlantik im Traum absacken sah? Nur noch eine von vielen Möglichkeiten und Hypothesen... Und wir werden wohl noch einige Sonntage warten müssen, jedes Mal mit einer weiteren, tollen Fortsetzung von Dir, um das zu erfahren. Ich jedenfalls bin schon ganz gespannt auf den kommenden Teil, nächsten Sonntag. Eine tolle Woche Dir, Daniela!

Keusche Grüße
Keuschling
82. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von SwitchEr am 12.02.13 19:26

Vielen Dank für die Fortsetzung!

Das mit Schlüssel ist schon eine fiese Sache, so kurz davor und dann doch nicht nah genug.. Das muss ich mir auf jeden Fall merken, kann man bestimmt mal sinnvoll anwenden.
83. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 17.02.13 22:00

Ist es wirklich schon Mitte Februar?? Schade, denn das bedeutet, dass unsere Geschichte bald zu Ende ist! Für heute aber verspreche ich erst einmal eine Menge guter Spannung. Und allen, die geschrieben haben, wie immer ein großes Dankeschön!!

Eine gute Woche wünscht Euch Eure Daniela

PS: Gestern wurde bei der Berlinale der ´Goldene Bär´ vergeben. Ich frage mich gerade, ob ich wohl einmal den Goldenen Keuschheitsgürtel für meine München-Trilogie bekomme?
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Frau Meisner stand in der Küche. Zum ersten Mal seit Wochen lief der frisch duftende Kaffee wieder durch den Filter, sie goss noch einmal etwas Wasser auf, es war einfach nur schön, wieder zu Hause zu sein. Auch wenn sie an der Zeit im Spital nichts auszusetzen hatte, aber es gibt halt nichts, was für das menschliche Wohl erträglicher ist, als das Gefühl, wieder in den eigenen vier Wänden zu sein.
Es ging ihr gut. Körperlich war sie wieder in guter Verfassung. Alles war bestens auskuriert, sie kam die Treppen hoch und wieder runter, konnte sich um ihr eigenes Essen kümmern, was wollte sie mehr.
Seelisch ging es ihr nicht ganz so gut. Die Szene, die sie gestern mit Klaus gehabt hatte, hatte ihr weh getan. Diese verfluchten Briefe! Warum nur hatte sie sie nicht längst schon vernichtet? Im Grunde genommen hätte es doch gereicht, wenn sie nur jenes Schreiben aufbewahrt hätte, das ihr schlussendlich so sehr von Nutzen gewesen war. Nun ja, manchmal macht man halt Fehler. Manchmal Fehler, die sich korrigieren lassen, manchmal Fehler, die einen an den Rand des Abgrunds drücken.

Sie setzte sich an den Küchentisch. Ein Blümchen, das Klaus ihr gestern noch zur Heimkehr geschenkt hatte, verbreitete angenehmen Duft. Und heute? Würde er heute auch noch mit Blumen kommen, wo er wusste, dass sie ihn jahrelang hintergangen hatte? Aber, hatte sie das überhaupt? Wohl eher nicht. Nein, sie hatte ihren Neffen ja nicht hintergangen, hatte ihn ja weder betrogen noch irgendwie ausgenutzt. Ihr einziger Fehler hatte darin bestanden, etwas nicht weiterzumelden, von dem sie erfahren hatte. Falls es überhaupt stimmte. Eigentlich hatte sie von jeher dazu tendiert, Thomas´ schwerwiegende Anklage eher, so wie der Sekretär des Bischofs auch schon, in das Phantasiereich eines pubertierenden Jugendlichen einzuordnen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass irgendetwas an diesen Vorwürfen wahr sein konnte.

Und da war noch ein weiteres Problem. Klaus selber hatte nie etwas gesagt. Hatte nie ein Sterbenswörtchen geäußert, dass er Probleme an der Schule hatte. Es mochte also alles nur ein Gerücht sein. Und wie schlimm es war, wenn Leute durch Gerüchte allein fertig gemacht, zerstört wurden, hatte sie schon als Kind erlebt. Das Denunziantentum hatte in ihrer bayrischen Heimat immer beste Bedingungen gehabt. Sie erinnerte sich dunkel, wie ein Nachbar von Männern in langen, dunklen Mänteln abgeholt wurde, nur weil er einmal - angeblich! - Zweifel am ´Endsieg´ geäußert hatte! Irgendjemand hatte berichtet, er hätte es gehört, dass der Bauer gesagt habe, es sei wohl nicht mehr lang bis zum End. So munkelte man hinter vorgehaltener Hand. Wer Anzeige erstattete, war nie herausgekommen.
Und die Nachkriegszeit war auch nicht viel besser gewesen. Es gab in Passau genug Leute, die, mit zweifelhaften Persilscheinen ausgestattet, schon wieder zu Rang und Namen gekommen waren. Und wieder gab es jene, die es als ihre Pflicht ansahen, Leute ins Gerede zu bringen, diese als Altnazis anzuschwärzen, oft auch nur, um unliebsame Geschäftskonkurrenten aus dem Weg zu räumen.

So war sie nicht. Schon als junge Frau hatte sie erkannt, dass sie sich lieber aus allem raushalten sollte. Zeige nie mit dem Finger auf andere, denn drei Finger deiner Hand zeigen immer auf dich zurück! Das war ihre simple Lebensweisheit gewesen, danach hatte sie sich gerichtet, damit war sie immer gut gefahren. Und es war klar, dass sie nie diejenige gewesen war, die die Kraft hatte, sich mit der Kirche anzulegen.

Das Zuschlagen der Haustür riss sie aus ihren Gedanken. Nanu? Annegret blickte auf ihre Wanduhr. Viertel nach neun. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Bub schon so früh kommen würde. Eigentlich hatte sie heute gar nicht mehr mit ihm gerechnet.
"Bub!?" Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass er auf diese Anrede womöglich nicht reagieren würde. "Klaus?? Klaus, bist du es?" Als wieder keine Antwort kam, wurde ihr doch leicht mulmig zumute. Quatsch, dachte sie sich, es kann ja nur Klaus sein. Nur er hatte einen Schlüssel. Aber war er zu Fuß gekommen? Sie hatte seinen lächerlichen Roller gar nicht gehört. "Klaus? Kommst schon so früh heute?" Sie hörte Schritte, die sich der Küche näherten. War er immer noch sauer, wegen gestern??
Sie erschrak, als sie ihn in der Küchentür sah. Einen Moment nur, dann lachte sie leise. "Ist schon wieder Fasching, Klaus?"

Sie hatte sich vorgenommen, sich nicht provozieren zu lassen. Trotzdem huschte ein leichter Schatten über ihr Gesicht. Verärgert strich sie eine Locke der Perücke aus ihrem Gesicht. "Barbara, Oma. Kapier das mal endlich!"

"Nur weil du in dem Fummel da rumrennst? Schämst du dich eigentlich nicht?"

Barbara holte sich eine Tasse aus dem Küchenschrank, setzte sich an den Tisch und goss sich ein. Bedächtig rührte sie ihren Kaffe um. Seltsam war, dass Barbara ihren Kaffee mit Zucker trank; Klaus mocht ihn lieber schwarz.
"Nein." Sie trank einen Schluck, setzte die Tasse ab, behielt sie aber in der Hand. "Nein, Oma, ich schäme mich nicht. Wessen sollte ich mich schämen? Was man mir angetan hat?"

Seine Großmutter nahm den Faden nicht auf. "Aber du bist doch ein Junge..."

Barbara schüttelte den Kopf. "Ich war ein Junge. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr ... bis ich es nicht mehr aushalten konnte."

"Aber ... sagtest du nicht, dass dieser Pater... - wie hieß er doch gleich?"

"Ruprecht. Pater Ruprecht."

"...dass dieser Pater Ruprecht die Schule bald danach verlassen hatte?" Sie klammerte sich an den letzten Grashalm, der ihr noch geblieben war.

Barbara lachte auf, es klang hysterisch genug, ihr das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. "Oma, du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass das Problem, wie ich es mal vorsichtig benennen will, damit aus der Welt geschafft ist, dass man der Hydra einen Kopf abschlägt, oder?"

Annegret brauchte ihren Neffen nicht nach weiteren Einzelheiten zu fragen. Ein Blick in seine Augen erzählte alles. "Es gab noch weitere...?"

Barbara ließ den Kopf hängen. "Es kamen andere. Ich war schließlich mehrere Jahre auf dieser Schule, falls du das vergessen hast..." Sie schüttelte sich, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. "Oma, ich will nicht darüber sprechen. Und ich glaube, du verstehst es auch nicht, oder du willst es nicht verstehen. Es ist das System. Ein System, das von seinem Grundgedanken her Schwache und Kranke anzieht. Und eben auch solche, die sich nur dann stark fühlen, wenn sie sich an noch schwächeren vergehen können. Kindern zum Beispiel." Sie stöhnte hörbar auf. "Weißt du, es ist zwar schon Jahre her, aber es tut immer noch weh." Sie stand auf, suchte nach etwas Essbarem im Küchenschrank, fand eine Tafel Schokolade, und setzte sich wieder. "Oma, ich bin gekommen, weil ich etwas wissen will."

"Was denn, K... - Barbara?" Es fiel ihr schwer, diesen Namen auszusprechen.

Barbara stand auf, bat sie, einen Moment zu warten, ging hinaus und kam nach wenigen Augenblicken mit dem Schreiben wieder zurück, das die Oma am Vortag wieder auf ihren Schreibtisch gelegt hatte. "Dieses Schreiben hier... warum war es nicht mit den anderen zusammen in der Dose? Und warum hattest du es auf deinem Schreibtisch liegen? Hast du es ... hast du es irgendwie zu irgendetwas benutzt? Vielleicht vor gar nicht mal so langer Zeit?"

Ein nervöses Blinzeln der Großmutter bestätigte Barbara, dass sie richtig vermutet hatte. Sie las sich den Text noch einmal genau durch, verstand aber immer noch nicht, was an diesem Schreiben so wichtig sein konnte. "Wozu hast du es benutzt, Oma? Oder wozu wolltest du es benutzen? Es ist Zeit, das Schweigen zu brechen!"

Die alte Frau saß wie versteinert auf ihrem Stuhl. Von gemütlichem Frühstück konnte keine Rede mehr sein. Es ärgerte sie, dass diese ´Frau´ ihr jetzt das Messer auf die Brust gesetzt hatte. Wer gab ´ihr´ denn das Recht, darüber zu bestimmen, wann welche Zeit abgelaufen war? Wenn ´Barbara´ es nicht selber sah, warum sollte sie ´sie´ dann mit der Nase darauf stoßen?
Aber sie kapierte, dass es wirklich vorbei war. Alles war vorbei. Wahrscheinlich würde sich gleich ihr gesamtes Leben ändern, diesmal wohl zum letzten Mal.
"Die Unterschrift, Klaus. Du kennst ihn..."

Barbara reagierte nicht darauf, dass sie sie bei ihrem männlichen Namen nannte. Noch einmal las sie den Namen desjenigen, der das Schreiben seinerseits abgefasst und unterzeichnet hat - alles im Namen des Bischofs. A. Flemming. "Ich kenne ihn??"

Sie nickte, müde und gealtert. "Andreas Flemming. Ja..."

"Andreas Flemming? Doch nicht etwa...?" Barbara wurde blass. "Pastor Flemming Unser Pastor hier? Das glaub ich jetzt nicht. Der alte Knacker?"

"Ja." Sie war zu erschöpft, auf dieses Wort zu reagieren. "Ja, Pastor Flemming. Er kam vor ungefähr fünf Jahren in unsere Gemeinde. Er war schon recht alt, ja, das stimmt, aber wohl noch nicht alt genug, um schon in Rente zu gehen. Man hatte ihn gebeten, hier noch einmal die Leitung der Gemeinde zu übernehmen. Du weißt schon, der Priestermangel..."

"Da gibt es bestimmt genug Frauen, die gern ordiniert werden möchten!"

"Ach Bub..." Sie war so müde. Diese ewigen Diskussionen. Das ewige Anzweifeln. Ihre Schwester damals, jetzt der Junge. Alles war aus dem Lot geraten. "Das würde auch nichts nützen. Oder glaubst du, die Aufhebung des Zölibats würde das wiederherstellen, was einmal gewesen ist?"

Barbara lachte höhnisch auf. "Hoffentlich nicht! Aber ich glaube, der Zug ist längst abgefahren."

"Und jetzt? Was habt ihr jungen Leute denn jetzt, wo der Zug abgefahren ist? Weißt du, wir hatten früher die Kirche. Wir konnten mit unserem Pfarrer oder Pastor sprechen. Wir wussten von seinem Schweigegelübde. Und der Zölibat hatte durchaus seine Vorteile... für uns Frauen."

"Für die Frauen?" Barbara sagte nicht, für uns Frauen, wie die Oma bemerkte. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.

"Ja. Psychologen konnten wir uns damals nicht leisten. Aber jede Frau konnte mit ihrem Geistlichen sprechen, ein offenes Wort führen, bevor es überhaupt so weit kam, dass man irgendwie in Behandlung musste. Und für viele Frauen war dieser Kontakt die einzige Möglichkeit, einmal den Ratschlag eines anderen Mannes einzuholen, ohne dass der Ehemann daheim vor lauter Eifersucht gleich alles zu Kleinholz schlug. Er wusste ja, dass der Geistliche keine Komkurrenz für ihn war. Wo geht ihr denn heute hin, wenn ihr mal Probleme habt?"

Die unerwartete Diskussion verunsicherte sie. Barbara war nicht hergekommen, mit der Oma soziologische Diskussionen zu führen. Aber eine Frage verlangte eine Antwort, das hatte sie so gelernt. "Was wir jetzt haben?? Tja, das Internet, Facebook vielleicht. Ich weiß nicht. Da gibt es genug Freunde, denen wir unsere kleinen Wehwehchen klagen können."

Facebook, ja, davon hatte sie gelesen, als sie noch im Spital war. Sie schüttelte nur den Kopf, ihre Welt war das nicht. "Ja, ich hab davon gelesen. Ihr teilt alles mit aller Welt, mit Leuten, die ihr größtenteils nie getroffen habt. Und sitzt doch allein in eurem Kämmerlein."

"Oma, das ist halt heutzutage so. Du kapierst das nicht." Sie überlegte, ob sie hinzufügen sollte, dass sie selber die antiquierte Einstellung der Großmutter ebenso wenig verstand, verzichtete aber. "Is´ auch egal. Aber das hier," sie wedelte mit dem Schreiben, "was hast du damit gemacht? Hast du es dem Pastor unter die Nase gehalten?"

Eine volle Breitseite. Barbara wusste sofort, dass sie die Großmutter schwer getroffen hatte. Und dann verstand sie endlich, was geschehen war. "Du hast ihn erpresst, Oma?? Oh mein Gott!" Sie wich zurück, sprang auf, warf ihren Stuhl um, ließ ihn liegen, stellte sich mit dem Rücken zur Oma an das Fenster.

"Kannst du ja jetzt in deinem Facebook schreiben! Da gibt es bestimmt einige, die dir Ratschläge erteilen, was du jetzt mit deiner Oma machen sollst."

"Ach hör doch auf! Zu was hast du ihn denn erpresst? Sollte er dir ewigen Seelenfrieden garantieren?" Die Oma murmele etwas, was er nicht recht verstand. Es klang wie esbe. "Esbe?? Was hast du gesagt? Nun red doch endlich!"

"Ich sagte: diese Lesbe!" kam es gepresst von der alten Frau zurück.

"Lesbe? Welche Lesbe? Meinst du Monika?"

"Sie hat es verdient!"

"Sie hat was verdient? Was habt ihr mit ihr gemacht, du und dein toller Freund?"

"Sie hat nur für ihre Sünden büßen sollen."

"Büßen?? Wie denn büßen? Ach du scheiße..."
Endlich verstand sie alles. Die Messdienerstrafbank. Ein kalter Schauer lief Barbara den Rücken hinab. "Diese Strafbank. War das deine Idee? Woher hast du denn eigentlich davon gewusst?"

"Weißt du das nicht mehr? Das war im letzten Herbst. Da war dieses Mädchen da, die war nicht von unserer Gemeinde. Ich glaube, eine Nichte von Agnes. Du weißt schon, die Nachbarin von Pia. Du hattest mich in der Kirche abgeholt, du hast selber gesehen, wie sie da gekniet hatte."

"Und du hast dann später den Pastor dazu gezwungen, dasselbe auch mit Monika zu machen? Und warum das Ganze? Was hat sie dir denn getan? Hat sie dir einige Birnen aus dem Garten geklaut?" Barbara musste sich zur Ruhe zwingen.

Die alte Frau Meisner holte tief Luft. Aber nur stoßweise konnte sie ihrem Enkel das erzählen, was vor vielen Jahren geschehen war. Was seit Jahren mit zerstörerischer Wut an ihr gefressen hatte? Als sie fertig war, blieb die befürchtete Reaktion aus. Es kam kein Geschrei, kein Wutausbruch. Barbara schnappte sich ihre Jacke, stieg wieder in ihre hochhackigen Schuhe, die sie zuvor unterm Tisch abgestreift hatte, langte in ihre Handtasche und suchte den Hausschlüssel hervor, den sie wortlos auf den Tisch legte.
In der Küchentür blieb sie noch einmal stehen, drehte sich zu der einsamen, alten Frau um. "Oma, du tust mir leid. Ich glaube, die Kirche geht nicht an ihrem Priestermangel zugrunde, sondern an Leuten wie dir. Die nicht vergeben und vergessen können. Die immer den Funken der Rache in sich tragen." Dann ging sie und verließ das Haus, eine alte Frau zurücklassend, die sich wünschte, das Ende würde bald herbeikommen.

Annegret Meisner war unfähig, sich zu bewegen. Wie erstarrt saß sie auf ihrem Stuhl und starrte auf den Schlüssel, den ihr Neffe auf den Tisch gelegt hatte. Jahrelang war sie sein Sicherheitsnetz gewesen, war sie an vielen Wochenenden und eigentlich an allen Ferien für ihn da gewesen, hatte sie ihm die Mutter ersetzt. Jetzt, in ihrem letzten Lebensabschnitt, hätte er ihr Sicherheitsnetz werden sollen, sich um sie kümmern, ihr die Tochter ersetzen sollen, die im weit entfernten Rom lebte. Aus die Maus!, dachte sie und musste nun selber ein wenig lächeln, dass ihr ausgerechnet dieser Spruch jetzt einfiel. Aber letztendlich war er genauso gut, wie alle anderen Sprüche, oder genauso schlecht: eine leere Worthülse, an die man sich nicht klammern konnte.


Oktober IX

Ingeborg Wimmer hatte erhebliche Schwierigkeiten, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Ihre Gedanken kreisten einzig und allein um ein Thema: was mochte dieses Mädchen, diese junge Frau gespürt haben, als sie dort unten halb im Wasser der Isar lag? Und dieses Riesending...? Niemand hatte sie darüber aufklären müssen, wo genau man das Teil gefunden hatte.
Oh mein Gott! Sie hatte eine rote Ampel überfahren, hatte nicht gemerkt, dass in diesem Fall die Haltlinie gute dreißig Meter vor dem Fußgängerübergang gezogen war, weil eine Seitenstraße hier einmündete. Gott sei Dank war nichts passiert! An der nächsten Parkbucht hielt sie an, stellte den Wagen ab, stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Nerven brauchten jetzt Nikotin, das war ja mal klar. Langsam und bedächtig sog sie den Rauch ein, den Duft der Großen, weiten Welt, wie sie es in irgendeiner uralten Reklame mal auf Youtube gesehen hatte. Sie wusste, dass Rauchen ungesund war, aber sie wusste auch, dass das Ding, das sie in einem Karton in ihrem Wagen liegen hatte, für eine junge Frau noch viel ungesünder, weil tödlich, gewesen war.
Sie setzte sich zurück in ihren Wagen, öffnete das Fenster, ließ kalte Oktoberluft hinein. Ab jetzt würde man wieder lange warten müssen, bis die Bäume wieder blühten und die Vögel ihr alljährliches Sängerfest eröffneten.
Der Karton! Beweismaterial? Gab es hier noch eventuelle Spuren, die gesichert werden konnten? Das war wohl doch eher unwahrscheinlich, nachdem die Pathologin ihr versichert hatte, dass annähernd alle Institutsmitarbeiter das Ding in den Händen gehabt hatten. Das Ding!

Ihre Hände zitterten leicht, als sie den Karton zu sich hinüberzog. Sie fluchte, als das Dirndl auf den Boden flog, jetzt versaute sie selber noch die Dinge. Sie nahm den glänzenden Gürtel hervor, legte ihn vor sich auf den Schoß, spürte, wie von dem nicht ganz leichten Teil eine fast magische Energie ausging. Genauer betrachtete sie den Phallus, überlegte, wie er wohl auf dem Gürtel zu befestigen wäre, fand auf dem Schrittreifen eine längliche Aussparung, in die sich das Ding einsetzen ließ.
Ganz unten auf dem Boden der Kiste lagen zwei kleine Messingschlösser, die man aufgebohrt hatte. Handelsübliche Schlösser, dachte sie. Schlösser, die man in jedem Laden kaufen konnte. Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie, dass an beiden Schlössern eine der oberen Seiten schräg abgefeilt war. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, bis sie den Verschlussmechanismus genauer untersuchte, bis sie herausfand, was wie zusammengesteckt und abgeschlossen werden musste.
Eine Feile! Eine Metallfeile! Sie bräuchte nur eine Metallfeile, dann... Sie schloss die Augen. Dann - was?? Ihre Gedanken gallopierten.
Fahr zurück zum Präsidium! Leg dem Chef den ganzen Klumpatsch auf seinen Schreibtisch!
Sie schmiss alles zurück in den Karton, startete den Motor, legte, um sich in den fließenden Verkehr einzureihen, einen Kavalierstart hin. Sie dachte nicht mehr nach. Sie kannte den Weg. Eine halbe Stunde später fuhr sie in die Tiefgarage ein. Parkte an ihrem Stammplatz und suchte ihren Wohnungsschlüssel hervor.


August I

Das Klappern der Anzeigtafel verwirrte die Mädchen. Jedes Umschalten auf einen neuen Flug bedeutete ein Heranrücken an den unvermeidlichen Abschied, der beiden schwerfallen wollte.
Daniela hatte bereits eingecheckt, hatte nur noch ihr Handgepäck behalten. Jetzt saß sie zusammen mit ihrer Freundin und Reisebegleiterin in einem Café, genehmigte sich einen oder mehrere bunt bestreuselte Cup-cakes, währenddessen sie sich Bilder auf dem Display auf ihrer Kamera anschaute.
"Am liebsten würde ich mitkommen!", scherzte die Freundin.

"Am liebsten würde ich hierbleiben!" gab Daniela zurück. Der Kloß in ihrem Hals wurde größer.

"Wir können ja tauschen! Du bleibst hier und machst meinen Job weiter, und ich fahre nach Köln und mache..." - sie griff sich mit gespielt grüblerischer Miene ans Kinn - "...ja, was mache ich eigentlich?"

Daniela hatte lange nicht mehr daran gedacht. Plötzlich brach es wie ein unerwarteter Regenschauer über sie hinein. Das einzige, von dem sie wusste, dass es definitiv vorbei war, war die Schule. Aber es waren andere Dinge, die bald wieder ihren Alltag ausmachen würden: das Familienleben, ihr nerviger Bruder, möglicherweise Schwester Hildegard, Monika in München. Und sie dachte daran, dass in ihrem Zimmer, unten im Kleiderschrank, wohl immer noch ihr Keuschheitsgürtel lag, zusammen mit dem ganzen anderen Kram, der sich im Laufe des Winters angesammelt hatte. Eigentlich war es ja Claudias Keuschheitsgürtel, aber die war weit weg, in Australien, und es war sowieso fraglich, ob sie ihn zurückhaben wollte.
Sie lächelte. "Nun ja, bis Mittag im Bett liegen, jeden Tag sich an einen gedeckten Tisch setzen, bis in die Puppen fern sehen oder im Internet surfen..."

Ihre Freundin unterbrach sie. "Klingt ja nicht so berauschend. Ich glaube, ich bleibe dann doch lieber hier in New York. Hier wird einem wenigstens was geboten!Findest du nicht auch, dass wir eine tolle Tour hatten, Dani?"

"Absolut! Und danke, dass du mich am Ende noch zu dem Abstecher nach Florida überredet hast. Das war doch irgendwie saugut!"

"Zumindest konnte man dort gut schwimmen!"

Schwimmen? Daniela erinnerte sich lebhaft an das vielleicht verrückteste Erlebnis ihrer Reise. Nein, es war nicht ihr Spaziergang à la Scarlett o´Hara in Charleston, sondern das Meerjungfrau-Schwimmen in Florida. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas wirklich gab. Diesmal war sie es gewesen, die die Freundin zum Mitmachen überreden musste. Was nur gelang, weil es diesmal garantiert kein enges Korsett gab, das ihr die Luft abschnitt. Also hatten beide Mädchen den Eintritt bezahlt und sich von einem Assistenten in die bereitliegenden Fischs chwan zkostüme helfen lassen.
Fast glaubte sie, immer noch den Druck der engen, mit bunt schillernden Plastikschuppen besetzten Latexhülle an ihren Beinen zu spüren. Hatte sie eine zu kleine Größe gewählt? Aber nein, der Assistent beteuerte, das müsse so eng sitzen. Sie hatte sich bis auf ihren Bikini ausgezogen, hatte in einer kleinen Umkleidekabine ihr Oberteil gegen eines zum Fischs chwa nz passenden Oberteil ausgetauscht und sich dann auf den nackten Boden des Schwimmbades gesetzt. Die Füße steckte sie in ein Monofinn genanntes Ding, eine Art Fluke, wie sie Delfine haben. Beide Füße kamen in diese überdimensionale Taucherflosse, die Bestandteil des Kostüms war. Das enge Latexteil hatte man umgeschlagen, jetzt musste sie, zusammen mit dem Assistenten, diese enge Pelle langsam über ihre Beine hochziehen, was alles andere als leicht war. Der arme Kerl zog und zerrte die enge Hülle, bis es endlich geschafft war und ihr gesamter Unterkörper dem einer ´echten´ Meerjungfrau ähnelte.
Dann hatte es eine kleine Trockenübung, ein recht bescheidenes ´Photoshooting´ gegeben, man hatte sie und ihre Freundin in eine gemalte Meeresszenerie gelegt, was ganz nett war, bis das Handy des Fotografen klingelte und dieser sich, in breitem Südstaaten-Akzent, entschuldigte, er müsse jetzt mal weg, so damned sorry und business calls, wie er beteuerte. Damit hatte er die beiden Mädchen sich selbst überlassen, die in ihren engen Fischschwän zen kaum einer Regung fähig waren.

"Dani?? Daniela?? Huhu!" Eine vor ihrem Gesicht hin und her wedelnde Hand riss sie aus ihren Gedanken. "Was ist los? Woran denkst du?"

Daniela lachte verlegen. "Ach, nichts. Ich musste nur an unser kurzweiliges Nixenleben denken!"

Die Freundin lachte begeistert. "Gell, das hat dir gefallen? Ehrlich gesagt, ich glaube, diesem Kerl, der uns in die Kostüme geholfen hatte, dem hatte das auch gefallen. Hast du mal auf seine Shorts gesehen? Der war ganz schön spitz!"

"Echt? Da hätte er bei uns aber keine Chance gehabt!"

"Nee, hätte er nicht. Weißt du, das war schon echt komisch. Ich meine, so als Frau ohne Unterleib. Ich weiß gar nicht, wie ich das Gefühl beschreiben soll..."

"Ich glaube, ich weiß schon, was du meinst", pflichtete Daniela ihr bei. "Mir ging es irgendwie genauso. Das war schon echt komisch, dass man keine Beine mehr hatte."

"Ja, aber da war irgendwie noch mehr. Ohne Beine hatte man auch das zwischen den Beinen nicht mehr... Ich hatte mich da, versteh mich nicht falsch, fast wieder wie ein kleines Mädchen gefühlt. So unbeschwert, frei irgendwie. Ich brauchte keine Angst vor dem Kerl zu haben, verstehst du? Er hätte mit mir ja nichts anfangen können..."

Daniela antwortete nicht sogleich. Hatte sie nicht ähnliches gespürt? War es ihr nicht vorgekommen, als hätte man sie in einen überdimensionalen Keuschheitsgürtel gesteckt? Nur dass sie diesen nicht versteckt unter einem Rock oder einer Hose trug, sondern dass er quasi Teil ihres Körpers war? Die Seejungfrau, die allen Männern den Kopf verdreht, mit der ein Mann aber nichts anfangen kann? Keine Beine, die sich öffnen können? Keine Spalte, die einen Mann aufnehmen konnte? "Ja, das war schon eine geile Sache! Ich habe mich wirklich selten so hilflos gefühlt, und ich habe schon so einiges erlebt!"

Der misstrauische Seitenblick ihrer Freundin war ihr Warnung genug. "Früher, als Kind, beim Indianerspielen mit meinem Bruder!" Der Blick verschwand wieder. "Aber das Schwimmen mit dem Ding war echt super. Ich wär zwar fast abgesoffen, aber als ich es dann raushatte, wie man mit zusammengefesselten Beinen schwimmt, dann war das schon klasse. Diese Flosse da, irre was man da für einen Zahn drauf bekam!"

"So schnell bin ich auf jeden Fall noch nie geschwommen", stimmte ihre Freundin ihr zu. "Hast du noch die Bilder auf deiner Kamera?"

Beide Mädchen sahen sich einige Fotos an und lachten. "Oh, guck mal, hier sind wir noch in Charleston! Du und ich als Scarlett o´Hara!"

"Erinnere mich bloß daran nicht!" Die Freundin tat einen sichtbaren Atemzug. "Da war ich echt kurz vorm Verrecken! Mann, wenn ich noch daran denke, als wir das Schild gesehen haben, dass die Tussi nicht vor fünf Uhr nachmittags zurückkommen würde. Und es war doch erst zwei! Ich glaube, ich hätte diese letzten drei Stunden in dem Kleid nicht überlebt, wenn du mich nicht immer wieder aufgebaut hättest. Dabei warst du doch enger als ich geschnürt!"

"Ach Quatsch! Das bildest du dir nur ein! Ich bin einfach von Natur aus etwas schlanker gebaut! Und du weißt doch - ich hatte schon einmal Erfahrung mit so einem Kleid!"

"Im Traum, ja!" Beide lachten und umarmten sich. "Hattest du nicht an dem Tag in Charleston Post von deinem alten Herrn gekriegt?"

"Ach du scheiße!" Das Lachen gefror Daniela im Gesicht. "Verdammt! Dieser Brief von der Zulassungsstelle! Mann, wo hab ich den jetzt??" Sie bückte sich, öffnete eine Tasche ihres Rucksacks, die prallgefüllt mit diversen Prospekten und Stadtplänen war. "Hier" Gott sei Dank" Wart mal..." Schnell überflog sie den Brief. "Was haben wir heute für ein Datum?" Sie sah auf ihre teure Armbanduhr. "Scheiße!! Den muss ich spätestens morgen abgeschickt haben!!"

"Morgen?" Ihre Freundin legte beruhigend ihre Hand auf ihren Arm. "Aber das schaffst du doch! Wenn da steht, dass das Datum des Poststempels gilt, dann gilt das doch auch für einen holländischen Poststempel. Ist doch alles Europa!"

Daniela atmete erleichtert auf. "Meinst du? Mit meinem Anschlussflug nach Köln schaffe ich das auf jeden Fall nicht, der ist nämlich erst am Abend. Und ich glaube nicht, dass in Köln noch irgendjemand nach 22 Uhr meinen Brief abstempelt."

"Mach dir mal keinen Kopf! Du hast doch mehrere Stunden in Schiphol. Hauptsache, du vergisst es da nicht!"

"Ich werde mir einen Knoten ins Taschentuch machen", lachte Daniela.

"Stell lieber den Wecker an deinem Handy. Aber denk daran, dass die Uhrzeit dann nicht stimmt. Die sind sechs Stunden vor!"

"Keine Sorge! Ich stelle den Alarm an meiner Uhr ein! Die geht immer richtig!" Daniela drückte auf einige Knöpfe ihrer Armbanduhr. So war sie sich sicher, den Brief auf keinen Fall zu vergessen.

Langsam verstummte das Gespräch. Die vielen munteren Erinnerungen wichen der natürlichen Anspannung vor dem Abflug. Bald standen beide Mädchen, umarmten sich und trockneten sich gegenseitig die Tränen aus dem Gesicht. Eine schöne Zeit, ein wunderschönes, gemeinsames Reiseerlebnis ging zu Ende. Beide versprachen sich gegenseitig, sich auf jeden Fall bei der nächstmöglichen Gelegenheit wiederzusehen, vielleicht zu Weihnachten, wenn die Freundin zum Fest wieder nach Deutschland kommen wollte.
Ein letztes Drücken, ein letztes Pass gut auf dich auf!, dann entschwand Bettina ihrem Blick, sie war allein. Selten hatte Daniela sich so allein gefühlt, wie in diesem Moment.

84. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von SwitchEr am 18.02.13 20:36

Hach, ist die Welt nicht klein, das nun genau dieser Pastor dorthin versetzt wurde..

Nun frage ich mich allerdings wie lange es noch dauert bis sich Ingeborg die 2 Schlösser und eine Feile besorgt, unterwegs war sie ja schon, da hätte man doch auch gleich die nötigen Besorgung machen können. Oder liege ich da nun total falsch und es passiert was ganz anderes?!

Auf jeden Fall bin ich nun wieder Mal am Rätseln wie es weiter geht; gelingt ja immer wieder meine erdachte Fortsetzung auf den Kopf zu stellen.

Danke für die Fortsetzung!
85. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 21.02.13 23:24

Hi Daniela,

sehr interessante Fortsetzung, die mir einiges zu denken gegeben hat, das ich erst mal verdauen mußte. Und nun will ich meine Gedanken hier beisteuern - ich hoffe, es wird nicht zu länglich und langweilig...

Oma Meissner tut mir echt leid - auch wenn sie irrt und schlimme Fehler gemacht hat. War sie wirklich ein Sicherheitsnetz für Klaus/Barbara? Gerade da, wo er es am nötigsten gehabt hätte, hat sie doch gerade nichts getan, um Klaus zu schützen oder gar zu retten - und das sollte sie spätestens jetzt wissen. Da gibt es nichts mehr zu leugnen, die schreckliche Wahrheit liegt jetzt offen. Ja, sie mag in ihrem Leben auch tief verletzt worden sein, und die Umstände auch nicht eben rosig dabei. Aber deshalb die Augen vor anderem Unrecht verschließen, immer noch andere verantwortlich machen, sich das ganze schönfärben, weil man Angst hat, sonst damit nicht klarzukommen? Die Welt ist eben nicht heil, also sollte man auch nicht so tun. Aber jetzt steht sie offenbar selbst vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens, und das zudem noch allein, was ich ihr auch nicht gewünscht hätte, zumal sie endlich ebenso mit ihrer Wahrheit rausgerückt hat, die sie so lange verborgen hat. Ich bin mir sehr unsicher darüber, ob Klaus/Barbara´s Entscheidung die richtige war, sie jetzt zu verlassen, ihr den Schlüssel mehr als symbolisch auf den Tisch zu knallen. Auf der einen Seite verstehe ich ihn, denn er ist selbst durch den anhaltenden Mißbrauch mehr als schwer verletzt. Und das Wissen, daß seine Oma genau dies ausgenutzt hat, um im Hintergrund zu erpressen, andere leiden zu lassen, das ist absolut harter Tobak. Trotzdem will es nicht recht passen, daß er einerseits von Vergebung spricht, und wie schlimm Rache ist - aber in gewisser Weise ebenso Rache ausübt, indem er als Konsequenz seine Oma verurteilt und verläßt, sie mit Einsamkeit bestraft. Allerdings kann ich wie gesagt durchaus nachvollziehen, wenn er momentan einfach nicht anders kann. Klar kann niemand mehr ungeschehen machen, was ihm widerfahren ist, aber ich denke, er hat immer noch eine Chance, die aber wahrscheinlich sehr professionelle Hilfe voraussetzt, die er wahrscheinlich kaum in Facebook oder bei irgendeiner Kirche finden wird, letzteres schon allein deshalb, weil er jegliches Vertrauen in deren Vertreter nachvollziehbar verloren hat. Zumindest kennt er jetzt den Teil der Wahrheit, die ihm seine Oma viel zu lange verschwiegen hat. Und wer weiß, vielleicht ist das für ihn ein Anfang, sein Leben irgendwie wieder in den eigenen Griff zu bekommen.

Was ist denn nun in Ingeborg Wimmer gefahren? Sie wird sich doch hoffentlich nicht höchst eigennützig an dem mitgenommenen Beweismaterial der Verunglückten vergreifen? Am Ende präsentiert sie sich so sogar noch auf dem Revier bei Rick? Also etwas mehr Pietät wäre dann wohl doch geboten. Immerhin hat diese Teile eine junge Frau in ihrem viel zu frühen Todeskampf tragen müssen, wobei ich mir nicht vorstellen kann, daß sie das in den letzten Momenten ihres Lebens wirklich noch genießen konnte...

Wobei mir eins einfällt: Wieso kam Monika, so verzweifelt wie sie ist, denn nicht auf den Gedanken, die Schlösser irgendwie sonst zu knacken? Klar, das ist schon ein echt erheblicher Schritt - aber Schlösser lassen sich ja zur Not auch nachkaufen, vergangene Zeit und Gelegenheit jedoch nicht. Oder genießt sie diesen Schutz vor sich und ihrer Mutter eventuell doch mehr als sie selbst es zugeben will? Oder spielen hier (unterbewußte) Schuldgefühle für sie eine Rolle als Motivation, sich das Tragen eines so unnachgiebigen und doppelt gesicherten Keuschheitsgürtels selbst aufzuerlegen, quasi als selbstgewählte Strafe oder Ventil?

Daß sich Daniela nach ihrem Abschied sehr allein fühlt, kann ich nachfühlen. Jeder Abschied ist ein kleiner Tod, heißt es doch. Aber sie hat jetzt ja auch viel an ihre Zukunft zu denken und zu planen. Ja, bloß das fristgerechte Abschicken der Formulare nicht vergessen. Die Uhr, die nie falsch geht, solange sie eben tickt, wird ihr mit eingestelltem Alarm dabei sicherlich sehr hilfreich sein...

Ja, eine sehr interessante und teils tiefgründige bis düstere Fortsetzung, die Du hier präsentierst - aber immer noch mit derselben Leichtigkeit geschrieben, trotz ihrer Komplexität und der schweren Themen, die Du anpackst. Meinen herzlichen Glückwunsch dafür! Ich freue mich schon wieder auf nächsten Sonntag!

Keusche aber dennoch liebe und herzliche Grüße
Keuschling
86. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 24.02.13 22:00

Ja, da hat ein Leser sich darüber gewundert, dass ausgerechnet derjenige, der seinerseits als Sekretär des Bischofs für eine schriftliche Zurückweisung von Thomas´ Pädophilievorwürfen gesorgt hatte, Jahre später Pastor jener Gemeinde wird, in der Klaus´ Großmutter lebt. Nun, vielleicht ist da doch ein Fünkchen Wahrheit in dem alten Spruch: ´Die Wege des Herrn sind unergründlich!´ --- Es kann aber auch sein, dass es einzig der Fantasie der Autorin zuzuschreiben ist ... die Wahrheit werden wir nie erfahren.

Man dankt wie immer für die Zuschrifen einzelner Leser; sie sind für mich das Salz in der Suppe, wobei man nicht vergessen mag, dass die Suppe ohne Salz nicht schmeckt! Jetzt wünsche ich gute Unterhaltung und noch einen schönen Sonntagabend! Eure Dani
---

Als sie Stunden später wieder aufwachte, brummte ihr der Kopf. Daniela versuchte, sich zu strecken, aber der limitierte Platz ließ kaum etwas anderes als Sitzen zu. Schlaftrunken registrierte sie, dass nicht ihr Kopf brummte, sondern ihre ganze Umgebung. Ach ja, sie war irgendwo...
Aber wo genau? Der Abflug ihres Fliegers hatte sich um einige Stunden verzögert. Man hatte eine technische Panne als Erklärung angegeben, der Flieger hatte ausgetauscht werden müssen. Wie gut, dass ihr Anschlussflug erst am Abend stattfinden sollte. Sie sah auf ihre Uhr, war sich aber nicht sicher, welche Zeit diese jetzt anzeigte. Genauere Information versprach das kleine Display im Sitz vor ihr, bis Schiphol waren es immer noch über zwei Stunden, eigentlich müsste es draußen hell sein. Vorsichtig, um ihren Nebenmann nicht zu wecken, schob sie die Fensterverdunklung einen Spalt hoch; gleißendes Sonnenlicht drang augenblicklich hindurch, spiegelte sich irgendwo an einem Gegenstand vor ihr und landete schließlich genau dort, wo es nicht hinsollte: im Gesicht ihres Sitznachbarn.
"Oh, ist schon Tag?" Der Mann räkelte sich und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Daniela zögerte. War dies eine Einladung zu einem netten Gespräch? Sie hatte, als sie an Bord gekommen war, nur noch schnell eine Mahlzeit verdrückt und war dann auf der Stelle eingeschlafen. Mit einem schnellen Seitenblick betrachtete sie den Mann genauer. Ca. Anfang 70, die Haare mehr grau als dunkel, das Gesicht nicht mehr glatt, sondern durchzogen von einigen Falten. Lachfalten, dachte sie erleichtert.
"Vielleicht scheint der Mond heute etwas heller?"

Er lachte still in sich hinein. "Machen Sie das besser wieder zu. Ich bin nämlich mondsüchtig, müssen Sie wissen." Und leise, nur für sie hörbar, ließ er ein gut nachgemachtes Wolfsgeheul folgen.

Der Mann war okay. Daniela schloss die Fensterblende wieder. "Dauert noch etwas bis Schiphol. Noch über zwei Stunden. Sie sind Holländer?"

"Niederländer. Ja. Werden Sie Schwierigekeiten mit dem Weiterflug haben?"

"Nein. Gottseidank nicht. Aber..." Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie unbedingt ihren Brief abschicken musste. Und das würde sehr knapp werden.

"Aber??"

"Ich habe einen Brief, den ich heute noch an die Uni in München schicken muss. Also, der muss heute noch abgestempelt werden. Sonst verliere ich meinen Studienplatz."

"Hm."

Klang es spöttisch? Sie sah ihn an. Nein, jetzt wirkte er ernst.

"Hm. Das könnte schwierig sein. Bis Sie da auf dem Flugplatz eine Post gefunden haben..."

"Ich brauche keine Post! Nur einen Briefkasten. Eine Marke habe ich schon draufgeklebt."

"Darf ich mal sehen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er sich eine Brille auf. Daniela suchte den Brief in ihrer Tasche und reichte ihn ihm.
"So so." Der Mann rieb sich das Kinn. "Eine schöne Marke. Wo haben Sie die denn her?"

"Immer bereit! Für den Notfall muss man vorbereitet sein, und jetzt ist der Notfall eingetreten. Und ich denke mal, zehn Euro Porto dürften wohl genug sein, den Brief notfalls um die halbe Welt zu schicken."

Er murmelte etwas in seinen Bart. "Am deutschen Wesen...." Daniela verstand es nicht richtig, aber sie sah, dass sich seine Stirn in Sorgenfalten gelegt hatte. "Das mag sein, dass zehn Euro genug sind. Aber das ist eine deutsche Marke..."

"Ja?"

"Das geht nicht bei uns in Holland!"

"Nicht? Aber Holland hat doch auch den EURO!"

"Ja. Aber Holland hat die holländische Post. Da brauchen Sie eine holländische Marke!"

Daniela brauchte keinen Spiegel um zu sehen, dass sie vor Schreck blass wurde. "Eine holländische Briefmarke? Und woher nehmen und nicht stehlen? Ach Mist!" Entmutigt ließ sie den Kopf hängen. "Wissen Sie, ich hatte mich nach mehreren Wochen USA richtig auf unser kleines Europa gefreut. Aber warum muss denn bloß alles so kompliziert sein? Wozu... wieviele Mitgliedsländer gibt es? - wozu denn sechsundzwanzig verschiedene Post Betriebe? Sechsundzwanzig verschiedene Eisenbahnen? Sechsundzwanzig verschiedene Regierungen und Präsidenten? Ich dachte immer, wir wollten in Europa etwas Gemeinsames machen!"

Ihr Gesprächspartner machte ein saures Gesicht. "Ein Volk, ein Reich, ein Präsident??"

Daniela verstand nicht recht, was das sollte. "Was...?"

"Ach, entschuldigen Sie. Dumm von mir. Wissen Sie, Holländer von meiner Generation sind da etwas empfindlich.... Sie wissen schon, Rotterdam und so... Es ist noch nicht so lange her."

Was genau der Mann neben ihr meinte, blieb ihr ein Rätsel. Was auch immer es war, was er angesprochen hatte, lag für ihren Erkenntnishorizont Lichtjahre zurück. "Ich mein ja mal bloß, wir haben doch ein frei gewähltes Europa-Parlament. Warum stellt es denn keine europäische Regierung? Gleiche Regeln für alle! Wo sonst wollen wir denn eigentlich hin? Und wieso haben wir denn immer noch keinen europäischen Präsidenten?"

Jetzt lachte er wieder. "Wir wollen aber unsere Königin behalten!" Auch seine Augen lachten mit. "Und Sie wollen doch sicherlich auch ihren Bundespräsidenten behalten!"

"Nicht immer! Manchmal ist es auch ganz gut, wenn man ihn wieder loswerden kann! Trotzdem meine ich, ein europäischer Präsident wäre keine schlechte Sache, hier fehlt doch solch eine Leitfigur, wie die Amerikaner sie haben."

"Bei dem dann auch alle Gullideckel zugeschweißt werden müssen? So wie wenn Obama mal zu Besuch kommt? Nein, glauben Sie mir, so etwas brauchen wir nicht. Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Ziel, die alte Vision muss wiederbelebt werden. Mehr brauchen wir im Moment bestimmt nicht!"

"Doch!" Sie sah ihn an, spürte, dass er auf ein Widerwort wartete, dass er sich auf eine längere Diskussion einlassen wollte. Aber sie war müde und hatte im Moment ganz andere Sorgen. "Doch! Eine Briefmarke. Mein Leben hängt jetzt von einer holländischen Briefmarke ab!"

Er hob den Finger, gab ihr ein klares Zeichen zum Schweigen. Dann suchte er seine Brieftasche hervor, griff hinein und brachte, triumphierend grinsend, eine holländische Marke hervor. "Von mir! Wir Europäer müssen doch einander helfen, nicht wahr? Wie Sie schon sagten: Allzeit bereit! Wenn Sie wollen, werde ich den Brief noch heute bei der Post einwerfen!" Sein Lächeln wurde immer einnehmender.

"Wollen Sie das wirklich für mich tun? Oh, danke!" Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Eine Last fiel von ihr ab; jetzt konnte sie beruhigt in Schiphol umsteigen.

Er lachte leicht verschämt in sich hinein. "Da werde ich mich heute Abend nicht waschen dürfen! Klar, natürlich mache ich das für Sie! Kein Problem. Wenn gar Ihr Leben davon abhängt! Was für Pläne haben Sie denn?"

Daniela erzählte ihm von ihren Plänen, ein Studium in München zu beginnen.

"Oh, München! Schön. Bier und Lederhosen, nicht wahr?" Er blickte sie mit einem schnellen Seitenblick an. "Entschuldigen Sie. Natürlich keine Lederhosen für Sie. Sie müssen in München... etwas anderes tragen..." Er stutzte, richtete die Augen nachdenklich nach oben. "Ach, wie heißen diese Kleider doch?? ... Vergessen!"

Sie nahm den Faden auf, bevor sie nachdenken konnte. "Dirndl. Sie meinen, ich müsse Dirndl tragen? Da sind sie nicht der erste!"


Eine Durchsage im Lautsprecher unterbrach das Gespräch. Es wurde vor der Landung in Amsterdam eine letzte Mahlzeit angekündigt, Daniela war sich nicht sicher, ob es Frühstück oder Abendessen war, aber es sah lecker aus, als es gebracht wurde.
Wieso war sie wieder bei diesem Thema gelandet? Sie blickte aus dem Fenster, dessen Blende sie jetzt ganz geöffnet hatte. Morgen war Sonntag. Morgen wäre sie wieder zurück in Köln. In ihrem Schrank hing das blaue Dirndlkleid. In ihrem Versteck lag ihr Keuschheitsgürtel mit allem drum und dran. Und Schwester Hildegard wartete sicherlich auch schon wieder. Wochenlang hatte sie all das verdrängt. Jetzt aber war all das Dunkle plötzlich wieder präsent.

Als das Essgeschirr abgeräumt wurde, wischte sich ihr netter Sitznachbar den Mund mit der Serviette ab. "Zurück in unserem schönen Europa. Hat es Ihnen denn in den Staaten gefallen? Sie haben eine Rundreise gemacht, vermute ich?"

"Ja, mit einer Freundin. Eine tolle Reise. Aber..." Sie wusste nicht recht, wie sie es sagen sollte.

Er nickte. "Aber es war nicht alles toll, oder?"

"Nein. Nicht alles. Die USA sind ein schönes Reiseland. Die Leute sind nett und kontaktfreudig. Aber..." Wieder stockte sie.

"Ja. Ich glaube, ich weiß, was Sie sagen wollen. Die Amerikaner sind anders. Vorsichtig ausgedrückt: oberflächlich. Moralisch. Nationalistisch."

"Ja, irgendwie schon. Ich kann mich nicht erinnern, wirklich tolle Gespräche mit ihnen geführt zu haben. Und viele Städte wirkten total heruntergekommen. Riesige Einkaufszentren am Stadtrand, aber in den Stadtzentren war nichts los."

"Tja. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist: das ist bei uns in Europa ja auch schon so vielerorten. Früher war das nicht so..."

Womit das Gespräch endgültig verstummte. Die Landung stand unmittelbar bevor, jeder hatte jetzt genug mit sich selbst zu tun. Wenige Minuten später setzte der Flieger sanft auf der Landebahn auf, rollte zum Gate, wo das übliche Gedränge entstand. Daniela verabschiedete sich herzlich von dem alten Herrn. Dieser klopfte sich auf die Brust, schenkte ihr ein letztes Lächeln und versprach, sich sofort um den Brief zu kümmern. Dann wurde sie vom Strom der aus der Maschine aussteigenden Passagiere mitgerissen.


Oktober X.

"Verdammt!" Schon zum x.ten Mal war das kleine Messingschlösschen aus der provisorischen Halterung gerutscht, die Ingeborg Wimmer mittels einer alten Schublade eingerichtet hatte, um das Metall besser bearbeiten zu können. "Verdammt verdammt!!"
Es war kein Problem gewesen, drei dem Original ähnliche Schlösser zu bekommen, aber es erschien ungleich schwieriger, sie passend zu machen. Ein Kante musste schräg abgefeilt werden; hier musste sie genau arbeiten; eine Werkbank wäre von Vorteil gewesen. Hatte sie aber nicht!
Nervös blickte sie auf die Uhr. Wie lange war sie schon weg gewesen? Wusste sie überhaupt, was sie hier tat? Nein, eigentlich nicht. Richtiger wäre es, alles wieder in dem Karton zu verstauen, so, wie man ihn ihr ausgehändigt hatte, und damit ins Präsidium zu fahren. Was sie hier machte, konnte man ihr leicht als Unterschlagung von Beweismaterial anlasten. Natürlich nur, wenn jemand dahinterkäme. Das Material musste der Spurensicherung übergeben werden, das konnte aber auch noch bis morgen warten. Vielleicht sollte sie sich krank melden?
Nein. Krank war sie nicht. Zumindest nicht im eigentlichen Sinne. In welcher Rubrik einer Krankmeldung sollte sie schließlich den Grund für ihr Fehlen eintragen? ´Erprobung eines Keuschheitsgürtels.´ Genau genommen handelte es sich nur um eine experimentelle Analyse eines am Opfer gefundenen Metallgegenstandes. Also Arbeit. Job.

Die Kriminalbeamtin hatte den Karton ohne Umschweife in ihre Wohnung gebracht, sich dort auf den Fußboden gesetzt und die verschiedenen Teile vor sich ausgebreitet. Nein, sie würden ihr nicht passen. Bestimmt nicht. Keine Chance. Oder? Das Opfer war nach Aussage der Pathologin mittelmäßig gebaut gewesen. Wimmer fasste sich an den Kopf, als sie daran dachte, wie unvorsichtig sie gewesen war, als sie die Ärztin doch glatt nach der Brustgröße der Verstorbenen gefragt hatte. Dämlich hoch zehn!
Es mochte gut möglich sein, dass die Sachen ihr nicht passen würden. Aber, probieren geht über studieren! Ein alter Leitsatz, der wohl auch in diesem Falle galt. So hatte sie erst einmal die beigelegten, aufgebohrten Schlösschen begutachtet, hatte sie herausgefunden, wie diese eingesetzt werden mussten, und hatte dann Entsprechendes in einem nahe gelegenen Baumarkt gekauft. Drei kleine Schlösschen inklusive einer Metallfeile!

Ingeborg Wimmer merkte nicht, wie das Metall nach ihr griff. ´Komm, zieh mich an!´, schienen Keuschheitsgürtel und -BH ihr zuzurufen. Eine Versuchung, der sie nur schwer widerstehen konnte. Sie musste wissen, wie sich das anfühlte. Und dafür brauchte sie funktionierende Schlösser. Probeweise hatte sie bereits den stählernen BH anprobiert, konnte ja sein, dass er viel zu klein war - oder zu groß. Aber er schien wie für sie gemacht. Mittelmäßig, dachte sie, du bist eben auch mittelmäßig.
Ihr Puls ging schneller, als sie endlich das dritte und letzte der kleinen Schlösser so abgefeilt hatte, dass es jetzt problemlos über dem Verschlussmechanismus angebracht werden konnte. Sie sah auf ihre Uhr. Verdammt verdammt, schon so spät! Wann würde ihr spätes Kommen bemerkt werden? Nicht so bald, beruhigte sie sich. Ihr Chef hatte anderes im Kopf, als ihr hinterherzuspionieren. Ihr würde schon noch eine plausible Erklärung einfallen, sollte man sie darum bitten.

Sie blickte in einen Spiegel und wunderte sich, dass sie nackt war. Ganz automatisch hatte sie sich ausgezogen. Und jetzt.... Sie begann zu zittern. Jetzt musste sie nur noch ihren Verstand ausschalten, der ihr immer noch sagte, dass sie es besser sein lassen sollte. Sie wusste, dass sie bereit war, was sie nicht wusste, war, welche Konsequenzen ihr unüberlegtes Handeln schlimmstenfalls mit sich ziehen würde.



August II.

"Welcome home!!" Monika freute sich, endlich wieder die Stimme ihrer Freundin am Telefon zu hören. Sie war sich nicht mehr sicher gewesen, wann genau Daniela vorhatte, wieder nach Hause zu kommen, hatte einfach mal ihr Handy genommen und angerufen, und ja, Daniela war vor zwei Tagen wieder nach Köln gekommen. "Und, wie war es?"

Daniela wollte es gern in wenigen Sätzen erzählen, aber sie schaffte es nicht. Da gab es zu viele Erinnerungen, zu viel hatte sie gesehen, alles wollte erzählt und berichtet werden. Einzig der immer noch leicht vorhandene Jetlag machte ihr zu schaffen. Außerdem war hier in Deutschland alles so furchtbar provinziell, spießig und langweilig; es war schlichtweg zum Heulen. Hätte sie es gekonnt, wäre sie sofort in den nächsten Flieger zurück in die Staaten geklettert.

"Ach, Du Ärmste!", versuchte Monika sie zu trösten. "Soll ich vielleicht nach Köln kommen?"

Daniela am anderen Ende der heutzutage gar nicht mehr vorhandenen Leitung zögerte. Monika in Köln? Wann war sie das letzte Mal hier gewesen? Lange hatte sie nicht mehr daran gedacht, an Monis Besuch an Rosenmontag, und daran, was es für sie in den darauf folgenden Wochen bedeutet hatte. Sicherlich wäre es schön, die Freundin hier in Köln wiedersehen zu können, aber...
"Nee, lass mal! Das passt im Moment überhaupt nicht. Ich muss mich erst mal wieder richtig einleben, Moni. Aber ich komm ja bald nach München!"

"Echt? Hat das geklappt mit deinem Studienplatz hier? Super! Erzähl doch mal!"

Groß zu erzählen gab es da nichts. Auch wusste Daniela sehr wohl, dass sie noch nicht den endgültigen Bescheid der Universität erhalten hatte. Vorausgesetzt, es hatte in Amsterdam mit dem Brief und Poststempel geklappt. Aber eigentlich.... So berichtete sie nur das Nötigste.

Monika hatte gespannt zugehört. "Klingt prima, Dani! Aber wo wirst du dann wohnen? Bei deiner Tante geht ja wohl schlecht, jetzt wo Claudia wieder da ist!"

Daniela fiel aus allen Wolken. "Was?? Claudia ist wieder da? Seit wann das denn? Und wieso hat mir das niemand erzählt?" Wütend trat sie gegen ihren Papierkorb.

"Na ja, was hast du denn bis jetzt gemacht?"

"Hm. Seitdem ich wieder da bin? Gegessen und geschlafen. Mehr eigentlich nicht. Aber das ist ja heftig jetzt..." Sie wusste sofort, dass Monikas Nachricht für sie einige Probleme bedeuten würde.

"Hat Schwester - wie hieß sie? - Hildegard sich schon bei dir gemeldet, Dani? Zum Messe dienen? Der wirst du auch noch Bescheid geben müssen, wenn du umziehst. Kannst dann ja hier in der Gemeinde wieder anfangen. Ich hab nämlich aufgehört, wie du dir wohl denken kannst." Monika machte eine Pause, wusste nicht, was sie weiter sagen sollte.

Auch Daniela schwieg. Bis jetzt hatte sie noch keinen Gedanken an Schwester Hildegard verschwendet. Aber jetzt merkte sie, dass sie tatsächlich wieder im Lande war, und dass sie nicht ewig so mit Essen und Schlafen weitermachen konnte. Beide Mädchen tauschten noch einige Nettigkeiten aus, dann beendeten sie ihr Gespräch.


Monika legte ihr Handy auf den Tisch. Schön, dass Daniela wieder da war. Zwar noch nicht bei ihr in München, aber das würde wohl nicht mehr so lange dauern. Komisch, dass ihr noch niemand davon erzählt hatte, dass ihre Kusine aus Australien zurück war. Aber es mochte wohl stimmen, dass sie vor lauter Jetlag noch gar nichts richtig wahrgenommen hatte. Wahrscheinlich hatte sie noch nicht einmal die Kiste mit ihren Spielsachen angerührt. Monika wusste, dass Daniela eine solche hatte, denn Dani hatte ihr davon erzählt.

Sie schloss die Augen. Nur allzu gern wäre sie jetzt bei ihrer Freundin in Köln. Nicht, dass sie ernsthaft vorgeschlagen hätte, dass sie nach Köln fahren wollte, aber wenn Dani dem zugestimmt hätte, dann hätte sie sich sicherlich in den erstbesten Zug gesetzt. Ihre Phantasie spielte ihr Bilder intimer Spiele vor, die sie heftiger atmen ließen. Unbewusst suchte ihre Hand die vibrierende, verlangende Stelle zwischen ihren Beinen, aber ihr war klar, dass sie keine Chance gegen ihren Keuschheitsgürtel hatte. Das war seltsam, monatelang hatte sie keine ähnliche Not verspürt, aber jetzt, als sie Danielas Stimme am Telefon gehört hatte, jetzt hatte diese Stimme etwas ausgelöst, was sie schon ganz verdrängt hatte. Stärker als je zuvor wünschte sie sich eine Neuauflage ihres spielerisch intimen Verhältnis, verlangte es sie nach Berührung und Stimulierung, und dem erlösenden Rausch des Orgasmus.

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Es war nervig, furchtbar nervig. Daniela ließ ihr Handy achtlos zu Boden gleiten, wieder ergriff bleiernde Müdigkeit von ihr Besitz. Ein schneller Blick auf ihre Uhr sagte ihr, dass es später Vormittag war. Und sie war soo müde. Bis spät in die Nacht hatte sie wach gelegen, sich von einer Seite auf die andere gedreht, bis sie schließlich zu ihrer Kamera griff und sich Bilder ihre langen Reise ansah. Sie hatte in den Monaten über tausend Bilder gemacht, und so war sie einige Zeit damit beschäftigt und hatte gar nicht bemerkt, dass ihr am Ende doch die Augen zugefallen waren.
Sie wollte wieder hinwegdämmern, aber ein Gedanke hielt sie wach. Wochenlang war sie mit ihrer Freundin unterwegs gewesen, und dabei eigentlich immer früh aus den Federn gekommen. Es behagte ihr einfach nicht, den halben Tag im Bett zu verbringen. Sie wollte raus, wollte in den nächsten Greyhound Bus steigen, irgendwo hinfahren, Leute kennen lernen, Fotos machen und sich irgendwo einen ungesunden Schnellimbiss reinziehen.
Alles vorbei. Stöhnend zog sie die Bettdecke über den Kopf. Sie wusste, was los war: sie wollte einfach nicht ankommen, nicht hier sein. Köln!!! Provinz hoch zehn! Konnte man hier überhaupt leben? Nein, noch einmal von vorn. Konnte sie, Daniela, hier überhaupt leben? Eigentlich war Köln jetzt ein abgeschlossenes Kapitel für sie. Hier hatte sie keine Aufgaben mehr, eigentlich wartete sie nur noch auf ihren Umzug nach München, den Studienanfang dort, gemeinsame Stunden mit Monika.

Monika! Lange hatte sie die Erinnerung an all die Spiele verdrängt, die sie mit Monika gehabt hatte. Lange war das alles noch nicht vorbei, erst ein paar Monate, aber zwischenzeitlich war doch eine Menge geschehen, sie hatte ihr Abitur gemacht, dann die lange USA-Reise. Wahrscheinlich würde es all dies nicht noch einmal geben, nicht nach dem furchtbaren Geschehen, das Monika an Ostern erlebt hatte.
Eigentlich schade, dachte sie, als sie merkte, dass sie ihre Finger in ihrer immer feuchter werdenden Scham vergraben hatte. Plötzlich drängte sich ihr eine Stimme auf, eine Stimme, die sie lange nicht mehr vernommen hatte. Nein, nicht, du darfst das hier nicht! Lass es bleiben, sonst... Eiligst zog sie ihre Hand zurück. ´Sonst...??´

Daniela begann, am ganzen Körper zu zittern, als sie die Kiste hervorholte, in der sie all ihre Sachen - ihre ´Spielsachen´ - verstaut hatte. Sie hatte keine Ahnung, ob ihr neugieriger Bruder da dran gewesen war, aber das war ihr eigentlich auch egal. Ihr Bruder war nicht da, war schon ab Anfang Juli beim Bund, das Vaterland verteidigen, wie er gern sagte, oder, wie er ihr gern augenzwinkernd zugeflüstert hatte: ´deine Freiheit verteidigen´. Und jedes Mal hatte sie genau gewusst, was er denn da mit ´Freiheit´ meinte.
Der Deckel klappte auf. Silbern glänzten ihr die diversen Keuschheitsapparate entgegen. Ob sie ihr wohl noch passten? Sie ließ ihre Hand über das Metall gleiten, spürte die Ketten zwischen den Fingern. Es kam wie immer im Leben auf einen Versuch an, sagte sie sich.

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Die Tage vergingen auch mit Nichtstun schneller als erwartet. Daniela hatte alte Kontakte neu aktiviert. Viele ihrer Freundinnen waren noch oder wieder zu Hause, da gab es genug zu berichten und zu erzählen. Jede wollte Bilder sehen, und bald hatte sie auch ihren Jetlag überwunden.
Am Freitag kam es zu einem eher überraschenden Treffen an einer Bushaltestelle. Luise, jenes Mädchen, das mit ihr zusammen bei den Messdienern angefangen hatte, stand plötzlich vor ihr.
"Daniela! Bist du wieder da? Das ist aber schön! Und? Wie war es? Deine Reise, mein ich."

"Oh, danke! Die Reise war super. War echt gut, mal ein wenig von hier wegzukommen! Und du? Alles okay?"

Luise blickte zur Seite. Ihre Antwort kam nicht sofort. "Doch, ja. Geht schon so."

"Gibt es viel zu tun in der Kirche? Kann mir vorstellen, dass dich Schwester Hildegard jetzt in der Ferienzeit nicht zur Ruhe kommen lässt?" Instinktiv bemerkte Daniela den seltsamen Blick ihrer etwas jüngeren Bekannten.

Wieder dauerte es einige Sekunden, bevor Luise antwortete. "Nee. Ist nicht so schlimm..."

Daniela spürte, dass die andere nicht das sagte, was sie eigentlich hätte sagen wollen. "Was ist nicht so schlimm? Hast du Ärger mit den Jungs?" Daniela dachte an einige der anderen Messdiener, Jungs, die gern mal vergaßen, was Sache war.

"Nee, die sind es nicht. Die Jungs sind nett..." Luise sah auf ihre Uhr, sichtlich nervös. "Wann kommt denn der scheiß Bus endlich?"

"Hast du Ärger mit Schwester Hildegard? Sie ist ja manchmal etwas unsensibel...."

"Unsensibel?? Ha!! Die Frau ist ja total durchgeknallt!! Und wenn du es genau wissen willst, ich mach da nicht mehr mit! Mir reicht´s! Ich hab´s hingeschmissen, verstehst du?" Sie hatte sich plötzlich in Rage geredet.

Daniela war geschockt. Dieser Gefühlsausbruch kam etwas plötzlich. Was war denn bloß vorgefallen? Etwas verstört griff sie nach Luises Hand, die sich aber sogleich wieder von ihr befreite. "Was... was ist denn passiert? Hat die Alte Stress gemacht? Solltest du zu oft Messe dienen, oder was?"

Luise zog die Nase hoch und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. "Sie sagte, ich sei nicht aufmerksam. Dass ich zuviel rumhampele. Dass ich meinen Mund nicht halten kann, ständig mit den Jungs quatsche, und dass es an der Zeit sei, dass ich mal ordentlich..." Sie unterbrach sich, griff ihren Beutel enger und machte einen Schritt zurück. "Da kommt mein Bus, Dani! Sorry, ich muss! Keine Zeit mehr. Aber du wirst schon noch sehen, dass..." Der Rest ging im Geräusch des heranfahrenden Busses unter. Luise winkte ihr noch einmal zu, bevor sie in den Bus stieg. Dann war sie auch schon weg und ließ eine grübelnde Daniela zurück.
Was würde sie schon noch sehen? Die Frage war, ob sie überhaupt Lust hatte, noch einmal Kontakt zur Gemeinde aufzunehmen. Im Grunde genommen hatte sie nach ihrer Reise keine Lust mehr auf Messe dienen. Das Ganze war eh eine Idee von Monika gewesen, und da hatte sich jetzt halt doch so manches verändert.
Daniela ging weiter, sie hatte noch einiges zu erledigen, wollte nicht länger über dieses etwas seltsame Zusammentreffen nachdenken. Es war ja sowieso vorbei. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was Luise gemeint haben konnte, alles klang doch etwas zu verworren, zu abstrus, als dass sie daraus ihre Schlüsse hätte ziehen können.
Dann fiel ihr wieder ein, was sie zuletzt erlebt hatte. Wenige Tage vor ihrer Abreise in die USA. Die Erinnerung jagte ihr einen leichten Schauer den Rücken hinab. Als im selben Moment ihr Handy zu piepsen anfing, erschrak sie. Ungläubig starrte sie auf das Display, ihr Herz setzte einen oder zwei Schläge aus, dann atmete sie einmal tief durch und drückte auf die Taste mit dem kleinen grünen Telefonhörer.


Oktober XI

Sie hatte die Kiste ohne viel Worte auf seinen Schreibtisch gestellt. "Ihre Sachen, Chef." Dann hatte sie sich wieder zurückgezogen, hatte sogar die Verbindungstür zwischen den Büros geschlossen, was ungewöhnlich war.

´Der Rick´ legte die Akte zur Seite, in der er gerade geblättert hatte. Ach ja, diese junge Frau unten an der Isar. Vergessen hatte er sie nicht. Dieses hübsche Ding, das da halb im Wasser lag, und dann mit diesen... Sachen am Körper. Jetzt lag sie hier vor ihm auf dem Schreibtisch. Nicht das Mädel, wohl aber das andere.
Er holte tief Luft, hatte eine ganze Weile wie paralysiert auf den Karton gestarrt. Seine Finger begannen unkontrolliert zu zittern. Verdammt! Bloß gut, dass kein Kollege hier war und das jetzt sah. Vorsichtig entnahm er dem Karton die einzelnen Kleidungsstücke. Er musste den Impuls unterdrücken, am Dirndl seine Nase tief im bunten Stoff zu vergraben, auf der Suche nach im Gewebe vorhandenem Geruch, so als könne dieser ihm bei der Lösung des Falles weiterhelfen. Da man trotz erweiterter Suche bisher keine Handtasche gefunden hatte, die womöglich Personalpapiere enthalten hätte, tappten die Ermittler immer noch im Dunkeln. Auch eine Vermisstenanzeige war bisher nicht eingegangen, niemand hatte sich auf die kurzen Berichte in der Presse gemeldet. Unten in der Kiste lag das, was er unbedingt sehen musste. Ein solider, stählerner BH - er schüttelte sich bei dem Gedanken, wie es sich wohl anfühlen mochte, in solch ein Teil eingesperrt zu werden - und der blanke Keuschheitsgürtel. Vorsichtig legte er beide Teile vor sich auf den Tisch, legte sie so, wie sie am Körper des Mädchens gesessen haben mochten. Ganz unten im Karton lagen drei Schlösser, die man zerstört hatte, um Schlösser und Keuschheitsgürtel sowie -BH dem toten Körper abnehmen zu können. Daneben lag eine recht teure Uhr, die er gedankenverloren neben sein Telefon legte, aber erst einmal unbeobachtet ließ.

Was nun? Ein schneller Blick sagte ihm, dass alle Metallteile sauber abgewischt waren. Mit Fingerabdrücken konnte man wohl nicht mehr rechnen. Er seufzte und schloss die Augen. Und konnte nicht verhindern, dass seine Fantasie ihm ein immer deutlicher werdendes Bild seiner Mitarbeiterin vorgaukelte, die diese Sachen an ihrem Körper trug. Er versuchte es, stemmte sich mühsam gegen diesen Gedanken, versuchte, sein sich regendes Geschlecht unter Kontrolle zu bekommen, wusste, dass allein schon der Gedanke ein absolutes Unding war, aber er war nicht der Erste, der feststellen musste, wie willig der Geist auch war. so war das Fleisch in seiner praktischen Schwäche doch immer etwas stärker.

"Chef Alles in Ordnung, Chef?" Er schreckte hoch, hatte Wimmer nicht kommen hören. Die attraktive Frau, die er eben noch in der Fantasie vor sich gesehen hatte, stand vor ihm und betrachtete ihn besorgt. Hauptkommissar Rick fuhr sich mit der Hand über die Augen.

"Nein. Nichts ist in Ordnung, so lange wir diesen Fall nicht zu den Akten legen können. Das hier war alles, was die junge Frau bei sich trug, Wimmer?" Er vermochte es nicht, sie anzusehen. Das Bild in seinem Kopf würde sich auf seine Mitarbeiterin projizieren, so wie ein altmodisches Dia, jeder würde sehen können, was bisher nur er sah: Ingeborg Wimmer in schimmerndem Stahl...

Aber auch die Kommissarin blickte weg. Würde sie die Frage wahrheitsgemäß beantworten, dann würde sie Fragen provozieren, Fragen, die sie nicht hier, nicht heute beantworten konnte. ´Der Rick´ musste nicht alles wissen... "Ja, Chef, das war alles, was sie bei sich hatte." Unbewusst hatte sie das Wort ´bei´ etwas stärker betont, was Rick aber wohl nicht aufzufallen schien. "Die Spusi hat sich die Sachen angesehen, aber da war nichts wirklich Verwertbares. Man wollte eigentlich nur so weit gehen, mit Sicherheit feststellen zu können, dass das Opfer wohl im Wasser gelegen hatte, aber das hätte auch ein Blinder mit´m Krückstock feststellen können. Keine brauchbaren Fingerabdrücke, denn in der Pathologie hat man die Teile fein abgewischt..."

"Abgewischt?" Rick blickte hoch.

"Ja, Chef. Da hatten wohl so viele Leute an den Dingern rumgefummelt, um die Schlösser aufzubekommen, dass alles so angegrapscht war, dass ein junger Praktikant das saubergemacht hatte, bevor er es in die Kiste legte. Pech..."

"Wir haben also..."

"...nichts." Wimmer zuckte die Schultern. "Zumindest nicht viel. Ich glaube nicht, dass wir da weiterkommen, bevor wir das Mädchen identifiziert haben. Kann ja nur noch eine Frage von Tagen sein. Notfalls müssen wir ein Bild an die Presse geben."

"Und diese Dinger hier?" Rick hob den stählernen BH und den Keuschheitsgürtel etwas an. "Könnten Sie...??"

Es entstand eine Pause, die niemand stören wollte. Beide verstanden etwas, das nie gesagt wurde.

"Ja? Könnte ich...??"

Er räusperte sich. Seine Stimme klang belegt. "Könnten Sie vielleicht mal feststellen, wer so etwas überhaupt auf dem Markt anbietet? Wenn wir Glück haben, dann ist das hier aus heimischer Produktion. Und dann könnten wir eventuell an eine Kundenliste kommen."

"Klar, Chef. Mache ich. Soll ich die Sachen wieder mitnehmen?" Die Frage stand plötzlich im Raum.

"Äh, ja, die Sachen hier?"
Mein Gott, gleich würde sie auf seine Hose starren und es sehen! "Natürlich, Wimmer. Nehmen Sie sie mit und schauen Sie mal, ob sie passen..." Er schloss die Augen und spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. "...ob Sie passende Information auftreiben können."


Diesmal ging Kommissarin Wimmer, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Sie hatte die Keuschheitsdinger und das Dirndl schnell in den Karton zurückgelegt und war in ihr eigenes Büro zurückgeeilt. Hauptkommissar Rick blieb sitzen und starrte noch eine Weile vor sich hin. Sein Telefon klingelte, er ließ es einen Moment läuten, eine alte Marotte, nie sofort abzuheben, man sollte bloß nicht glauben, er hätte nichts zu tun. Irgendjemand wollte irgendetwas von ihm, mechanisch gab er Auskunft. Er nahm die Uhr in die Hand, betrachtete das zersprungene Ziffernblatt, auf dem die Zeiger um genau 2.18 Uhr stehen geblieben waren. Dann drehte er die Uhr um.
Es dauerte einige Sekunden, bevor er es bemerkte. Am unteren Deckel der Uhr hatte man eine durchsichtige Folie aufgeklebt und an einer Stelle unter der Folie befand sich ein kleines Stück Papier, farblich so an den Deckel angepasst, dass man es kaum bemerken konnte. Was war das?
Rick klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter, suchte in der obersten Schreibtischschublade nach dem alten Messer, das er als kleiner Bub einmal geschenkt bekommen hatte, und begann, vorsichtig die Folie zu entfernen. Als es ihm möglich wurde, unter das kleine Zettelchen zu blicken, erstarrte er. Eine Nummer!
Ohne sich groß von seinem Gesprächspartner zu verabschieden unterbrach er das Telefonat, drückte mehrere Male auf die Gabel um eine Freischaltung zu bekommen. Dann wählte er die interne Nummer, um aus dem eigenen Telefonnetz herauszukommen und gab schließlich mit klopfendem Herzen die Nummer ein, die er auf dem Zettelchen gefunden hatte. Er hörte das Rufzeichen, wartete geduldig mehrere Sekunden, bis er auflegte und gleich noch einmal wählte. Diesmal hatte er mehr Glück. Eine Frauenstimme meldete sich: "Jensen!"

Keine zwei Minuten später brüllte er, noch von seinem Platz aus: "Wimmer! WIMMER!! Kommen Sie mal, schnell!" Ingeborg Wimmer erschien in der Tür, lehnte sich an und schüttelte Stirn runzelnd den Kopf. "Wimmer, wir wissen, wer sie ist! Jetzt kann es nicht mehr lange dauern, bis ich den Fall gelöst habe!"


87. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von SwitchEr am 25.02.13 18:50

Na hat sie nun die Sachen anprobiert oder nicht? So lange an den Schlössern rumfeilen um dann doch nicht.. ? Oh man, mach es doch nicht immer so spannend

Danke für die Forsetzung!
88. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 02.03.13 18:30

An alle Leser:
Bitte seid euch bewusst, es sind nur noch wenige Sonntage an denen uns ab 22h ein Stück der Geheimnisse um Monika, Daniela, Klaus und Barbara gelüftet werden wird. Ich hoffe, viele freuen sich mit mir auf spannende Sonntagabende.
Also, bis Sonntag 22h
Euer Maximilian
89. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 02.03.13 20:54

Hi Daniela,

wieder einmal eine sehr schöne Fortsetzung, die viel Inspiration beinhaltet, und doch so unterhaltsam zu lesen ist.

Es ist schön, wenn der ältere, niederländische Herr der jungen Daniela so bereitwillig weiterhilft. So wächst Europa sicherlich besser zusammen, als wenn es von "oben" verordnet wird, eben in Freundschaft und gegenseitiger Hilfsbereitschaft "von unten".

Ja, die Zeit mit Monika war sicher prägend für Daniela, hat sie doch eine Leidenschaft und Gefühle in ihr ausgelöst, die sie nicht mehr missen will.

Schwester Hildegard hat die Strafbank jetzt wohl fertig und einsatzbereit - und Luise wird wohl schon in deren "Genuß" gekommen sein, wie es scheint. Aber kann man wirklich erwarten, durch solche Strafen einen Menschen zu "bessern", der doch eigentlich nichts Schlimmes getan hat? Besonders, wenn diese "Strafe" eigentlich eher etwas mit Folter zu tun hat? Und was ist mit Schwester Hildegard denn innerlich los, genießt sie diese "Erziehungsmethode" vielleicht sogar innerlich? Projeziert sie ihre eigenen Frustrationen und Entbehrungen etwa, läßt andere leiden, da sie selbst evtl. unter den Ordensregeln bisher so lange zu leiden hatte? Oder kann sie es nicht ertragen, daß andere einfach mehr Spaß aus ihrem Leben holen, Spaß, der ihr nicht vergönnt war? Und wie geht sie dabei mit dem Machtgefühl um, das sie sicher verspüren wird dadurch? Nun, sie hat ein weiteres Opfer in dieser Welt dadurch geschaffen - auch wenn Luise sich dann durch ihren Weggang gerade noch selbst retten konnte, aber dadurch auch etwas verloren hat, was sie im Grunde eigentlich doch sehr gemocht hat, und jetzt immer noch zu leiden hat deswegen. Eine sehr schlimme Entwicklung.

Ich habe keinen Zweifel, daß Ingeborg Wimmer die Teile wirklich anprobiert hat - und sie auch gepaßt haben. Und was mag das bei ihr ausgelöst haben? Ist sie jetzt auch dieser speziellen Art des Bondage verfallen? Rick würde es wohl sehr gefallen, läßt ihn der Gedanke daran doch auch nicht los. Aber was mag wohl geschehen, wenn Ingeborg bei ihrer Recherche auf die wesentlich größere Auswahl an KGs für Männer stößt?

Claudia ist wieder da aus Australien, wo ja auch Monika´s Vater lebt. Ich bin gespannt, welche Rolle sie jetzt spielen wird in Deiner Geschichte. Sie bringt die Planung von Daniela ja ganz schön durcheinander, zumindest scheint es bisher so.

Rick scheint eine sehr heiße Spur gefunden zu haben. Ich bin gespannt, was bei der Verfolgung dieser Spur ans Tageslicht kommen wird.

Viele Fragen, und doch noch keine Auflösung. Es bleibt spannend bis zum Schluß - und doch wünscht man sich, daß es ab jetzt immer noch langsamer bei der Auflösung wird, damit wir alle noch sehr lange sehr gespannt auf Sonntagabend warten.

Liebe wenn auch keusche Grüße
Keuschling
90. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 03.03.13 22:00

Frühling! Sonne!! Plusgrade! Zwitschernde Vögel! Nun ja, eigentlich nenne ich das hier lieber Frühjahr. Frühling ist dann, wenn die Narzissen und Tulpen blühen! Es freut mich, dass meine Leser mir treu bleiben. Vergesst nicht, ein kleiner Gruß erfreut das einsame Herz Eurer Autorin. Es muss ja keine umfassende Textanalyse sein, ein paar nette Worte tun es auch!
Ja, Maximilian hat recht: genießt diese letzten Sonntage jetzt, in einigen Wochen wird die Geschichte zu Ende sein. Nichts ist für die Ewigkeit, auch meine Geschichte nicht.....
Eure Daniela
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August III.

Leer. Er fühlte sich leer wie das Universum, seit Wochen schon. Seit dem Bruch mit seiner Oma vor einigen Wochen hatte sich eine spürbare Eiszeit in seinem Innern breit gemacht, hatte sich an seine Füße geklammert, hatte langsam aber sicher von seinem Geist und seinem Körper Besitz ergriffen.
Dabei zweifelte Klaus nicht im geringsten daran, richtig gehandelt zu haben. Es war mehr als schmerzhaft gewesen, in das krankhafte Denken seiner Großmutter einzudringen, zu erfahren, welch niedere Beweggründe sie zu ihrem Tun veranlasst hatten. Was aber alles nichts an der Tatsache änderte, dass er sich verraten und verkauft fühlte und dies ausgerechnet von der Person, die ihm jahrelang die Mutter ersetzt hatte. Und jetzt war er allein. Allein und leer.
Es gab niemanden mehr, mit dem er zusammensein mochte. Was nicht so ganz den traurigen Tatsachen entsprach. Es gab schlichtweg niemanden mehr, der für ihn da war. Oder für sie. Für Barbara. Er hatte versucht, seiner Großmutter gegenüber die Karten auf den Tisch zu legen, wollte so wahnsinnig gern von ihr als ganz normaler Mensch akzeptiert werden, egal, welche Kleider er trug. Aber das war ihm nicht gelungen. Immer hatte er ganz unbewusst gespürt, dass sie ihn als krankhaften Fall betrachtete, als jemand, der auf jeden Fall in Behandlung gehörte. Letzten Endes war das Leben für ihn - für sie - einfacher ohne den Kontakt zur Oma.

Und auch zu Monika hatte er keinen Kontakt mehr. Seit ihrem letzten, misslungenen Treffen hatte es keinen weiteren Versuch gegeben. Er wusste, dass sie wieder in einem, jetzt sogar doppelt gesichertem, Keuschheitsgürtel steckte. Das kurze Aufflammen sexueller Begierde war längst wieder erloschen. Und er selber hatte nur noch ganz sporadischen Kontakt zu sowohl Eva Kallipke, jener kleinen Verkäuferin, als auch zu Lynn, der Rettungssanitäterin. Beide hatten eine Zeitlang mitgespielt, hatten aber das Interesse verloren, als sie merkten, dass es für ihn alles andere als ein Spiel war. Nein, in die weibliche Rolle schlüpfen zu können bedeutete eine Lebensnotwendigkeit für ihn, so wie das Atmen. Dumm war nur, dass es niemand verstand.
Genauso wenig wie sein unstillbarer Wunsch nach weiblicher Dominanz. Auch wenn es ihm schwerfiel, sich das einzugestehen, so waren doch jene Monate, in denen Monika ihn, den Jungen Klaus, zu ihrem Transensklaven gemacht hatte, mit die glücklichsten in seinem Leben. Sie hatte ihn dazu erpresst, Mädchenkleider anzuziehen, hatte ihm sogar eine eigene kleine Wohnung besorgt, aber unter der Bedingung, dass er nur als Barbara dort wohnen dürfe. Und er hatte glücklich mitgespielt, genoss es, kein Junge, kein Mann sein zu müssen.

Jetzt aber war sein Leben orientierungslos geworden. Es war niemand mehr da, der ihm den Weg vorgab. Niemand, der seine Genitalien wegsperrte, sodass sie für ihn unerreichbar wären. Er hatte sein soziales Jahr beendet, musste nicht länger die Pflege seiner Oma übernehmen, konnte im Grunde genommen tun und lassen, was er wollte. Nur eben, dass er keine Ahnung hatte, was er wirklich wollte.
Er überlegte, ob er wirklich das erfahren hatte, was er sich gewünscht hatte. Sowohl als auch. Die ersten Male, als er im Dirndl unterwegs war, ja, da hatte ihm das Herz bis in den Hals geklopft! Aber er hatte auch feststellen müssen, dass ja nie jemand wirklich wusste, dass er nur ein verkleideter Junge war. Wenn es ganz richtig wäre, dann müsste man ihn eigentlich gefesselt und angeleint durch die Straßen Münchens ziehen, und zwar ohne Perücke und Makeup! Oh ja! Klaus merkte, wie sich sein Glied versteifte, als er seinen Gedanken nachgab, ja, und dieser kleine Italiener mit dem Frauennamen, Andrea, der müsste ihn so hinter sich herziehen!

Er schüttelte sich. Wunschträume. Er hörte die Klappe seines Briefschlitzes unten an der Haustür klappen. Er schüttelte sich. Wunschträume. Der Briefträger! Wenn der jetzt ein Einschreiben für ihn hatte... jetzt, wo er hier an der Kette hing! Sein Glied wurde noch fester, der Gedanke an Entdeckung trieb das Blut in die Schwellkörper, immer enger legte sich der stachelbewehrte Eierköpfer um sein Genital. Er hatte das Ding vor einigen Tagen in der Stadt entdeckt, hatte keine Ahnung, wozu es diente, musste erst eine Verkäuferin fragen, die ihm sagte, es sei ein Eierköpfer, wobei sie leicht errötete. Sie hatte ihm das Teil aus der Hand genommen, hatte ihm lächelnd gezeigt, was passierte, wenn man den einer Schere ähnlichen Griff zusammendrückte: im Innern des Ringes wurden spitze Stacheln sichtbar, Stacheln, die sich in die harte Eierschale gruben, die das Ei köpften. Er hatte es sofort gekauft, obwohl er gar keine Eier mochte.
Eine kurze Kette war schnell beschafft, kleine Schlösser hatte er noch genug; es war noch gar nicht so lange her, dass er halb München an Schlössern leergekauft hatte. Seitdem schlief er fast jede Nacht ´an der Kette´, genoss den heftigen Schmerz, den sein Glied selbst im Schlaf an sein müdes Hirn sandte, einen Schmerz, der sein Glied nur noch weiter anschwellen ließ. Und ohne Schlüssel war es ihm nicht möglich, das stachelige Ding wieder abzuziehen, solange sein Herz unablässig und unkontrolliert Blut in sein hilfloses Geschlecht pumpte. Es war seine Geilheit, die ihn an sein Bett fesselte; nur wenn seine Erregung abnahm, konnte er sich befreien. Aber es gab Momente, in denen sich das nicht steuern ließ. So auch jetzt, als er sich vorstellte, Andrea würde ihn so hinter sich herziehen, die Kette würde unter seinem kurzen Petticoatrock verschwinden, und er wäre dem kleinen Italiener hilflos ausgeliefert, nur weil er nicht Herr seiner eigenen Geilheit werden konnte.

Plötzlich musste er lachen. Er hatte für einen Moment wieder an den Briefträger gedacht, der möglicherweise gleich die Treppe zu ihm hochkommen würde, und hatte dann die Stimme von Münchens OB Christian Ude gehört: "....oder die BriefträgerIN..." Oh nein! Dieser Mann! Und wie immer: Heiterkeit und Geilheit vertrugen sich schlecht; sein Glied schrumpfte zu knabenhafter Größe, mit einiger Mühe ließ es sich aus dem Stachelkranz herausziehen.

Es war selten, dass er Post bekam, genauer gesagt bekam er hier nie Post, weil hier Barbaras Zuhause war. Nicht das von Klaus. Und so zog sie sich jetzt wieder an, schlüpfte in ihr weibliches Ich, was so einfach war, dass man es kaum glauben mochte. Den BH mit den Einlagen, eine feste Miederhose, darüber die Feinstrumpfhose. Einen luftigen, knielangen Rock und ein buntes top, zum Schluss die Perücke, die er nach der Schnipselei von Daniela vor einigen Monaten immer noch benötigte, dann war sie fertig angezogen.
Barbara lief die kurze Treppe hinab und sammelte diverse Reklameblätter vom staubigen Fußboden auf. Und eine Karte. Eine Karte mit dem Bild der Freiheitsstatue! Sie ließ die Reklame wieder fallen und las noch auf der Treppe, was Daniela ihr geschrieben hatte.

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"Schön, dass Sie kommen konnten!" Der Organist hatte ihr die Tür geöffnet, sichtlich erleichtert, dass sie zur Vorabendmesse hatte kommen können. "Tut mir leid, dass ich Sie so überfallen habe, aber im Moment sind Sie wirklich die einzige Messdienerin, die zu erreichen war. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus?"

"Nein nein", beeilte Daniela sich zu sagen, während sie zum ersten Mal seit ihrer Reise wieder an den Schrank ging und ihr gewohntes Messdienergewand hervorholte, den langen, schwarzen Talar und das weite, faltenreiche Chorhemd aus weißem Stoff. Der Organist ließ sie allein, vom Priester war noch nichts zu sehen, denn sie war glatt eine halbe Stunde zu früh gekommen. Das lag nicht an ihrer Uhr, die eigentlich nie falsch ging, sondern eher daran, dass sie einen etwas dreisten Gedanken gefasst hatte. Sie musste es einfach wissen!
"Ist Schwester Hildegard noch nicht da?"

"Schwester Hildegard ist seit einigen Tagen krank. Deshalb bin ich ja jetzt da. Aber sie managed die Dinge immer noch vom Krankenbett aus. War ganz erleichtert, als ich ihr mitteilen konnte, dass Sie den Dienst heute Abend übernehmen. So, ich muss hoch zur Orgel, schnell noch einiges vorbereiten."

Er verabschiedete sich mit einem kurzen Kopfnicken, dann war Daniela allein.
Sie hatte sich immer noch nicht an die Tatsache gewöhnt, dass sie im Alter von achtzehn Jahren doch noch Messdienerin geworden war. Eine seltsame Hassliebe war spät in Erfüllung gegangen, nicht zuletzt, weil Monika ein wenig nachgeholfen hatte. Monika hatte den Kontakt zu dieser Gemeinde hergestellt, Monika hatte dafür gesorgt, dass sie hier mitmachen musste, ob sie wollte, oder nicht. Und genau das war der springende Punkt. Sie wusste es selber nicht. Damals, als man in der Schule das Anmeldeformular zu den Messdienern herumgereicht hatte, da wusste sie genau, dass sie nie im Leben so etwas machen wollte, sie war so schüchtern, dass sie schlichtweg Angst davor hatte, als Messdienerin vor die Gemeinde zu treten. Dumm war nur, dass sie diesen Entschluss eigentlich immer bereut hatte, dass sie sich im Grunde genommen nichts sehnlicher wünschte, als Messdienerin zu werden. Richtig verstehen konnte sie all dies selber nicht. Und jedes Mal, wenn sie sich für den Dienst am Altar vorbereitete, wenn sie die liturgischen Gewänder überstreifte, dann blieb ihr vor Aufregung fast das Herz stehen. So auch jetzt. Aber nicht nur deshalb.

Sie wusste genau, wo die Schlüssel zur Krypta waren. Sie musste Gewissheit haben! Sie musste wissen, wovon Luise gesprochen hatte, jene dunklen Andeutungen, dass Schwester Hildegard.... Ja, was
Vorsorglich verzichtete sie darauf, das Licht in dem langen Gang einzuschalten, der zur Krypta führte. Der kleine Gebetsraum unter der Kirche hatte einige bunte Glasfenster, genügend Licht würde einströmen sie die Dinge sehen zu lassen, die sie vermutete. Wie ein lautloser Schatten huschte sie durch den Gang, kam zur Glastür der Krypta, die erwartungsgemäß abgeschlossen war. Nervös blickte sie auf ihre Uhr; die Zeit verging schneller, als erwartet. Sie tastete im Halbdunkel nach dem Türschloss, verlor vor lauter Aufregung den Schlüssel, der laut polternd zu Boden fiel.

In der Krypta schlug ihr der Geruch erkalteten Weihrauchs entgegen. Es war dunkler als erhofft, die Fenster, die allesamt auf der östlichen Seite lagen, befanden sich bereits im ersten Abendschatten. Sie blieb stehen und lauschte angestrengt in den Raum hinein. Konnte sie ein leises Wimmern hören? Oder kam es von draußen, war es nur das übliche Wimmern der alten Pappeln, die vor der Kirche standen?
Daniela holte tief Luft. Genau das hier, was sie jetzt machte, hatte sie ganz bestimmt nicht machen wollen. Was, wenn sie entdeckt wurde? Wie sollte sie sich herausreden? Oder sollte sie ganz einfach mit der Wahrheit ans Licht, dass sie wissen wollte, ob das ´Projekt´ fertig geworden war? Und dann? Würde sie durch das ´Höllentor´ gehen müssen?
Sie erschrak bis ins Mark, als sie eine weiß gekleidete Person sah, die langsam mit unsicherem Schritt, von der entgegengesetzten Seite des Raumes auf sie zukam. Sie blieb stehen, wagte es nicht zu atmen. Auch die andere Person blieb stehen.

"Ach scheiße!" murmelte sie, als sie erkannte, dass sie sich nur in der zweiten Glastür gespiegelt hatte. Erleichtert ging sie weiter und lief genau in ein großes Lesepult hinein, das irgendjemand dummerweise mitten im Gang abgestellt hatte und nun mit lautem Getöse umfiel. Sie fror zur Statue. Hatte das jemand hören können? Aber wer sollte es gehört haben? Mit einigem Kraftaufwand richtete sie das Pult wieder auf und beeilte sich nun, zu jener kleinen Seitentür zu kommen, hinter der die Lösung ihres Rätsels liegen musste. Der Schlüssel steckte im Schloss und sie schloss auf.
Der Raum war stockdunkel. Sie betätigte den Lichtschalter, die alte Neonlampe ging nach mehrmaligem Blinken an und tauchte den Raum in kaltes, graues Licht. Linker Hand waren die kleinen Fähnchen zu sehen, die man früher zur Ausschmückung des Prozessionsweges an Christi Himmelfahrt benutzt hatte. Auch der sogenannte ´Himmel´ war da. Was nicht zu sehen war, war das Höllentor. Nichts. Kein Tor, kein Schild mit der Aufschrift ´Confiteor´. War sie denn überhaupt im richtigen Raum??

Plötzlich drangen Schritte in ihr Bewusstsein. Daniela sprintete zurück zur Tür der kleinen Kammer, schaltete das Licht aus und zog die Tür so weit wie möglich zu, ohne sie ganz zu schließen. Das Herz hämmerte ihr bis in den Hals und es bestand wohl kein Zweifel daran, dass jeder andere, der die Krypta betrat, es hören musste.
Die Schritte wurden lauter, kamen den Gang hinunter. Sie hörte das dumpfe Geräusch der Glastür, dann wurde das Licht in der Krypta eingeschaltet. "Hallo? Hallo?? Ist da wer?" Es war die Stimme des Priesters, der wohl das Geräusch gehört haben musste, als Daniela das Lesepult umgeworfen hatte. Daniela versuchte, durch den Türspalt zu blicken, konnte aber nichts erkennen. Nur einige schwache Geräusche waren noch zu hören, Schritte, die suchend den Raum kreuzten, dann wurde das Licht wieder ausgeschaltet, wieder gab es das dumpfe Klappen der Glastür. Dann war es vorbei.
Daniela atmete auf, verließ den kleinen Raum und setzte sich, am ganzen Leib zitternd, in eine Bank. Das war gerade noch einmal gut gegangen. Jetzt aber musste sie sich beeilen. Ein weiterer Blick auf das erleuchtete Ziffernblatt ihrer Uhr zeigte ihr, dass es höchte Zeit war, in die Sakristei zurückzukommen. Sie stand auf, ordnete ihe Gewänder, ging zur Glastür, diesmal ohne etwas umzuschmeißen. Sie drückte die Klinke runter und erschrak, als sie merkte, dass die Tür abgeschlossen war. Sie hatte den Schlüssel außen stecken lassen; der Priester hatte nach seinem Kontrollgang die Tür abgeschlossen. Jetzt war guter Rat teuer. Sehr teuer.

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Monika warf genervt ihr Handy auf ihr Sofa. Warum ging Daniela denn nicht dran? Das sah ihr eigentlich gar nicht ähnlich! Dabei platzte sie fast vor Mitteilungsdrang. Ja, es war erst wenige Tage her, dass sie selber der Freundin die möglicherweise schlechte Nachricht überbracht hatte, dass ihre Kusine Claudia wieder zurück in München war, und sie deshalb nicht, wie eigentlich geplant, bei ihrer Tante würde wohnen können. Auch das sollte natürlich keine permanente Lösung sein, aber bis Daniela ein Zimmer in einer WG oder einem Studentenwohnheim finden würde, war es allemal besser, als wochenlang in der Jugendherberge, oder schlimmer noch, auf dem Zeltplatz hausen zu müssen.
Wieso tat der Staat eigentlich so wenig für seine Stundenten? Nein, sie kapierte es einfach nicht. War Bildung und Ausbildung denn nicht die wichtigste Aufgabe für einen Staat? Galt es nicht, der jeweils in den Startlöchern stehenden Generation beste Chancen zu ermöglichen? Wieso baute man überall im Lande feine Straßen, damit die Leute besser vorwärts kamen, nur im Bildungssektor nicht?
Mit einem Mal musste sie lachen, als ihr einfiel, wie kaputt viele Straßen in der Umgebung waren, sobald man aus einer reichen Kommune heraus war! Hat sich was mit Vorwärtskommen! Ja, die fetten Jahre waren vorbei, jetzt waren Stress im Verkehr und Studium angesagt: Regelstudienzeiten, Bachelor-Studiengänge, die längst nicht das brachten, was sie hätten bringen sollen, und viel zu wenig weiterführende Master-Studiengänge. Und was wollte Daniela noch mal studieren?? Sozialwissenschaften?? So ein Blödsinn.

Aber egal. Wichtiger war es, dass sie möglichst bald von der veränderten Lage Bescheid bekam. Monika hatte sich lange Gedanken gemacht, einen Lösungsweg zu finden und war nicht wenig stolz auf das, was ihr schließlich eingefallen war. Jetzt musste Daniela nur noch kommen!
Noch einmal wählte sie Danielas Nummer, aber wieder schaltete sich nur die Mailbox ein. Nein, lieber nicht, dachte sie, denn sie hasste Mailboxen. Keine Nachricht konnte so wichtig sein, dass man nicht noch eine Stunde warten konnte. Man musste sich halt in Geduld üben, eine Eigenschaft, die jungen Leuten heutzutage leider viel zu schnell abging.

Geduld! Ja, wenn sie nur selber Geduld hätte! Zum hundertausendsten Male fuhr ihre Hand dorthin, wo sie seit Wochen bereits wieder versperrt war. Immer mehr dämmerte es ihr, dass sie einen riesengroßen Fehler gemacht hatte. Agnes und ihre blöde Enthaltsamkeit!! Sie wusste, dass sie die nette Nachbarin, Danielas Tante, total missverstanden hatte. Sie hatte sich erneute Keuschheit auferlegt, diesmal gleich von zwei Menschen kontrolliert, aber das war nicht das, wovon Agnes gesprochen hatte. Nein, diese hatte wohl eher gemeint, dass sie anfangen sollte, nicht immer und ständig an Sex zu denken! Dass sie ihre Gedanken in produktivere Bahnen lenken sollte, auch wenn dies zugegebenermaßen schwierig war. Aber die Nachbarin hatte ihr auch einen Weg gezeigt, der möglicherweise etwas bringen konnte.
Jetzt aber war ihr endlich klar geworden, dass sie aus diesem verdammten neuen Keuschheitsgürtel raus musste. Es war ihr Körper, ihre Sexualität, und sie sah nicht ein, warum sie sie ständig von anderen Personen kontrollieren lassen sollte. Sie würde das Spiel jetzt beenden, hier und heute. Sie wollte Sex, wollte ihre Finger tief in ihrer feuchten Scham versenken, wollte endlich einmal mit einem Mann zusammen sein, so sie denn einen finden würde. Aber das wäre wohl nicht das allergrößte Problem, und dann war da ja immer noch Klaus, falls der wieder aus seinem KG heraus war.

Ungeduldig polterte sie die Treppe hinab. Ihre Mutter war dabei, das Abendessen zuzubereiten. Vielleicht nicht der beste Zeitpunkt, dachte sie, aber sie wusste, dass sie es nicht länger in ihrem stählernen Tugendwächter aushalten würde.
"Mama, lass mich raus! Komm, schließ mich auf! Ich habe keine Lust mehr!"

Pia ließ das Messer sinken und betrachtete sie misstrauisch. "Rauslassen?? Kommt gar nicht in Frage. Von rauslassen hast Du nie etwas gesagt in unserer Übereinkunft. Ich sollte darauf aufpassen, dass du keusch und unberührt bleibst, und das tue ich auch." Sie schnitt weiter einige Tomaten klein.

"Ja, ich weiß, worum ich dich und Agnes gebeten habe. Aber jetzt bin ich fertig damit. Schluss, vorbei. Ich habe keine Lust mehr, Mama."

"Bist du dir sicher, dass du keine Lust mehr hast?" Die Mutter betonte das Wort ´keine´. "Oder ist es nicht vielleicht so, dass du deine Lust nicht mehr zügeln kannst? Hm..."

"Mama!! Spar dir deine Belehrungen! Und hol lieber den Schlüssel, damit ich dann zu Agnes rübergehen kann."

Ihre Mutter trocknete die Hände an einem Handtuch ab. "Zieh dich schon mal aus! Ich hab das ja kommen sehen...." Ohne weitere Worte verließ sie die Küche.
Monika atmete auf. Das wäre geschafft. Und viel nachzudenken begann sie, sich auszuziehen. Warum sollte sie sich eigentlich ausziehen??

Ihre Mutter kam wieder. Sie hatte einen Karton dabei, den Monika noch nicht vorher gesehen hatte. "Komm, nimm mal die Haare hoch!" Schneller als dass sie hätte reagieren können, hatte Pia ihr die Halsgeige umgelegt und ihre Hände in die dafür vorgesehenen Löcher gelegt. Ein kurzes Drücken, dann setzte sie den Sicherungsbolzen ein. Monika war gefangen.
"Mama!!! Lass den Blödsinn! Ich habe gesagt, ich will das hier nicht mehr. Hörst du?? Es ist aus, vorb...." Sie kam nicht dazu, ihren Protest genauer zu verkünden, schon hatte die Mutter sie mit dem großen schwarzen Gummiball geknebelt. Monika schloss die Augen. Sie brauchte es nicht zu sehen, was ihre Mutter mit ihr tat. Sie verstand es auch so. Etwas Kaltes, Metallenes wurde ihr um den Hals gelegt, dann folgte ein ebenso kalter BH. Ketten fielen ihr über den Oberkörper hinab, sie vernahm das leise Klicken mehrerer Schlösser.
Als die Mutter ihr die nächsten Sachen überstreifte wusste sie, dass sie ab jetzt erst mal wieder auf ihre Jeans verzichten konnte. Sie bemühte sich, langsam und ruhig zu atmen, keine Panik aufkommen zu lassen. Das hier würde nicht ewig so weitergehen. Ihr Entschluss stand fest, sie wusste, dass all dieses Stahlzeug der falsche Weg war, dass es ihr keine Sicherheit geben konnte. Nein, das alles hier war mehr als falsch. Und gleichzeitig begriff sie, dass Agnes mit ihrem Vorschlag den einzig gangbaren Weg aufgezeigt hatte, einen Weg der ihr so einiges an Mut abverlangen solle, der aber - hoffentlich - eines Tages zu ihrer Befreiung, ihrer seelischen Befreiung, führen sollte.

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"Kommen Sie auch schon? Und wie sehen Sie eigentlich aus?"

"Wieso?" Daniela schaute an sich hinunter. Sie hatte sich nach ihrem ´Ausbruch´ aus der Krypta schnell auf die Toilette zurückgezogen, dort ihre vorher abgelegten Messdienergewänder wieder angezogen und die beim Klettern durch eines der schmalen Fenster schmutzig gewordenen Hände gewaschen. Irgendwie hatte sie mehr Glück als Verstand gehabt, hatte einen Stuhl unter das Fenster stellen können und sich dann irgendwie hochgehangelt. Trotzdem war sie sich im Klaren darüber, dass es beinahe ins Auge gegangen wäre.
Sie war froh, dass der Priester sich mit ihrer unschuldigen Antwort zufrieden gab und keine weiteren Erklärungen verlangte. Die folgende Abendmesse verlief ohne große Herausforderung, es waren nur wenige, ältere Gemeindemitglieder gekommen, jüngere Leute sah man sowieso nie. So ganz hatte sie nie verstanden, warum es so war, aber es lag nicht an ihr, das zu ändern. Eigentlich schade, dachte sie, denn seitdem sie Messdienerin geworden war hatte sie durchaus Dinge an diesem Glauben verstanden, die ihr vorher nicht so vermittelt worden waren. Und sie hatte instinktiv begriffen, warum Menschen mit festem Gottesvertrauen besser durchs Leben kamen, als solche, die keines hatten. Dumm war nur, dass sie eigentlich niemanden kannte, mit dem sie ihre Erkenntnis teilen konnte.

Schon während der Messe waren ihre Gedanken immer wieder abgewandert. War sie im richtigen Kellergang gewesen? Aber da hatten doch diese Fähnchen gestanden! Wieso aber hatte sie keine Spur von Schwester Hildegards ´Höllenpforte´ gesehen? Hatte sie alles wieder abgebaut? Oder... hatte sie selber sich das Ganze vielleicht nur eingebildet?
Eine Antwort hatte sie auch Stunden später noch nicht gefunden. Daniela lag in ihrem Bett und grübelte. Überlegte, was Luise wohl gemeint haben könnte. Total durchgeknallt, so hatte sie von Schwester Hildegard gesprochen. Vielleicht hätte sie alles klären können, wenn sie Luise einfach angerufen hätte, aber sie hatte Luises Telefonnummer nicht, ja sie wusste nicht einmal so ganz genau, wo das Mädchen wohnte. Privat hatten sie nie Umgang miteinander gehabt, der Altersunterschied betrug zwar nur wenige Jahre, aber Daniela hatte immer genug mit ihren eigenen Freunden zu tun gehabt. Und Schwester Hildegard selbst zu fragen war schlichtweg nicht möglich.
Es ließ ihr keine Ruhe. Konnte es denn wirklich sein, dass die Ordensfrau ihr seltsames Werk fertiggestellt hatte, und dass Luise vielleicht ihr erstes Opfer auf der Strafbank geworden war? Sie atmete tief durch. Nein. Und sie selber wollte nichts damit zu tun haben. Hatte sie nicht Schwester Hildegard die Münchner Strafbank ganz genau beschrieben? Oder hatte sie das nur geträumt? War das alles eigentlich real, oder existierte es nur in ihrer Einbildung?

Daniela löschte das Licht und legte sich zurück. Einen Moment sah sie Luise, die jammernd auf der Strafbank kniete, während die Nonne böse lächelnd hinter ihr stand, ohne einzugreifen. Dann aber verschwand das Bild der jüngeren Messdienerin und wurde von ihrem eigenen Bild überlagert. Sie selber kniete dort, sie wollte dort knien, sie verspürte zum ersten Mal seit Monaten wieder den unheimlichen Wunsch, sich einem Stärkeren zu unterwerfen.


Oktober XII

Der Fall stand kurz vor der Aufklärung. Das zumindest glaubte Hauptkommissar Rick zu spüren, da war er sich sicher. Man hatte endlich etwas Konkretes, einen Namen, eine Adresse, einen Ausgangspunkt. Jetzt würde man darangehen, das gesamte soziale Umfeld der Verstorbenen aufzubröseln, das kriminalistische Netz auszubreiten und darauf zu hoffen, dass der Täter - oder die Täterin - darin hängen blieb. In fast allen Mordfällen ließ sich früher oder später ein Zusammenhang mit dem Umfeld herstellen; er war sich sicher, dass dies auch hier der Fall sein würde.
Wenn, und das war der Casus Knackus, wenn es ein Mord gewesen war. Leider sprach doch so einiges eher auf einen Unfall mit Todesfolge hin, als auf ein furchtbares Verbrechen, genaueres würde die Pathologin auch nicht sagen können. Oder doch? Der endgültige Obduktionsbericht lag immer noch nicht auf seinem Schreibtisch, vielleicht musste er jetzt ein wenig Druck machen?

Rick klemmte sich den Telefonhörer ans Ohr und wählte die Nummer der Pathologie, die er nach vielen Jahren im Amt auswendig kannte. Das Telefon am anderen Ende klingelte, einmal, zweimal, dreimal. Ja, ging den dort niemand an den Apparat? Oder machten die es am Ende gar wie er selbst? Endlich wurde abgehoben. "Hallo? Frau Doktor? Hier Rick. ... Ja, die junge Frau. Ob Sie schon...?" Warum nur bekam er immer feuchte Hände, wenn er mit der Pathologin sprach? "Ja ... nein, habe ich nicht ... wie bitte, was? Ach so, das Ding! Ja klar, wir untersuchen es ... wann, sagten Sie? Am nächsten Samstag schon? Ja, ja, doch, wir haben daran gedacht. Also Sie meinen, es sei wohl doch eher kein Mord? ... ach so, ja, klar. Also verblutet. Todeszeitpunkt? Können Sie da schon was sagen? ... Ja, ich weiß, schwierige Bedingungen ... aha, dann hat sie also tatsächlich noch einige Zeit dort gelegen, man hätte sie retten können ... Ja Frau Doktor! Mach ich. Also dann, vielen Dank! Ende."

Langsam kratzte er sich das Kinn. Die nächsten Schritte wollten wohl überlegt sein. Man konnte eventuell eine Spur aufnehmen, wenn man Glück hatte. Jetzt kam es erst einmal darauf an, die Arbeit zu verteilen. Er selber wollte den Kontakt mit der Familie aufnehmen, für Wimmer hatte er eine ungleich spannendere Aufgabe vorgesehen. Er stand auf, ging zur Tür und rief ungeduldig nach seiner Mitarbeiterin. "Wimmer! Kommen Sie mal!"

"Chef?" Seine Mitarbeiterin stellte sich nun ihrerseits in den Türrahmen, nachdem Rick wieder Platz genommen hatte.

"Ich hatte gerade mit Frau Doktor gesprochen, sehr interessant, sehr interessant." Er legte eine kleine Kunstpause ein. "Also, die Pathologin ist sich ziemlich sicher, dass wir hier nicht von einem brutalen Mord sprechen können. Doch wohl eher ein böser Unfall. Der Tod der jungen Frau hätte allerdings mit ziemlicher Sicherheit verhindert werden können, hätte man rechtzeitig Rettungskräfte hinzugezogen. Ein anonymer Anruf hätte da schon gereicht..." Er ließ seine Worte einen Moment im Raum stehen; Wimmer unterbrach ihn nicht. "Ich habe hier unter der Uhr der Verunglückten eine Telefonnummer gefunden und eine Frau Jensen am Apparat gehabt. Wer das ist und in welcher Beziehung sie zur Toten steht, weiß ich noch nicht, am Telefon hatte ich vorgegeben, sie unter einem anderen Vorwand sprechen zu wollen. Ich mache das gleich, während Sie..." - er konnte eine leichte Unsicherheit der Stimme nicht verbergen - "während Sie Ihren nächsten Einsatz vorbereiten. ´Under cover´, wie man auf Neudeutsch sagt."

Komissarin Wimmer sah ihren Chef erstaunt an. Derartige Aktionen gehörten nicht zu ihrem normalen Einsatzgebiet. Allerdings kannte sie ihren Chef genug, zu wissen, dass er manchmal den Mund etwas voll nahm. Es würde wohl nicht so schlimm werden. Trotzdem zog sie eine Augenbraue hoch. "Under cover?"

"Ja. Ich sage Ihnen gleich, was sie tun sollen, und zwar schon übermorgen, Wimmer. Jetzt aber..."

"Übermorgen? Am Samstag?" Die Beamtin klang gereizt.

"Immer Ruhe mit den Pferden, Frau Kollegin. Sie sollen ja nur zu einem Fest gehen, mehr nicht! Was ich aber sagen wollte, also ich habe gerade mit Frau Doktor gesprochen und sie sagte... also sie sagte... sie meinte..." Er druckste herum wie ein pubertierender Oberschüler.

"Chef? Was hat sie denn nun gesagt?"

"Sie sagte etwas von einem Phallus, so einem elektronischen Teil, das möglicherweise pr. Fernsteuerung..."

"Ja? Das pr. Fernsteuerung...?" Sie genoss es, ihren Chef ein wenig leiden zu sehen.

Rick beschloss, das Thema nicht mehr zu vertiefen. "Das Teil war nicht im Kasten, den Sie mir hingestellt hatten. Können Sie mir das erklären?"

Sie hätte es ihm erklären können. Aber es gab Dinge, die konnte sie sich nicht einmal selber erklären. "Das Ding muss im Auto aus dem Karton gefallen sein. Soll ich mal nachsehen? Möchten Sie es sehen, Chef?"

"Jetzt nicht. Ich will gleich diese Frau Jensen aufsuchen. Klingt irgendwie schwedisch, finden Sie nicht?"

"Eher dänisch, würde ich sagen. Sie sagten, ich solle WAS machen?"

Hauptkommissar Rick griff in eine Schreibtischschublade, nahm eine grüne Geldkassette hervor, öffnete diese und entnahm ihr zweihundert Euro, die er seiner Mitarbeiterin in die Hand drückte. Er notierte den Betrag auf einen Zettel, fügte ein Wort hinzu, das Wimmer nicht entziffern konnte, dann wandte er sich wieder ihr zu. "Hier, Wimmer, hier sind zweihundert Euro für Sie. Sie gehen jetzt mal in die Stadt und kaufen sich so ein Kleid, und dann kommen Sie wieder zurück und wir besprechen Ihren Einsatz am Samstag." Er hätte sich beinahe bei dem Wort Einsatz verschluckt, seltsamerweise war es aber Kommissarin Wimmer, die einen leichten Hustenanfall bekam.

"Kleid? Was für ein Kleid denn? Wollen Sie mit mir ausgehen, Chef?" Sie leckte sich nervös die Lippen, irgendwie ahnte sie, was jetzt kommen würde.

"Sie nehmen jetzt das Geld hier und kaufen sich ein schönes Dirndl, Wimmer. Ich gehe mal davon aus, dass Sie so etwas nicht in ihrem Kleiderschrank haben, oder? Und wir sehen uns dann vor Büroschluss noch einmal, umgezogen, kapiert? Und vergessen Sie die Quittung nicht!" Noch im Sprechen war er aufgestanden, hatte sich seine Jacke angezogen und sich an ihr vorbei zur Tür hinaus gedrängt. Er war sich nicht sicher, ob all dies hier so ganz lupenreine Polizeiarbeit war, aber es diente schließlich einzig der schnellen Aufklärung des Falles. Auch wenn ein glatter Mord eher unwahrscheinlich schien, so war der Gedanke nicht so angenehm, dass da draußen eine verwirrte Person herumlief, die möglicherweise am kommenden Wochenende wieder zuschlagen würde.


September I.

"Endlich!! Mann, ich warte schon seit Stunden auf Dich!"

"Seit Stunden? Wieso? Der Zug kam doch ganz pünktlich. Wieso wartest du da schon seit Stunden?" Die beiden jungen Frauen begrüßten sich überschwänglich.

"Nun ja, ich habe mich halt so auf das Wiedersehen gefreut. Ist schon so lange her, dass wir beide zusammen gewesen sind. Und..." Monika betrachtete ihre Kölner Freundin, indem sie einen halben Schritt zurückwich, "kein Dirndl diesmal? Kein Petticoat? Nur so eine schnöde Jeans? Du enttäuschst mich, Dani!"

"Ach!" lächelte Daniela leicht verlegen. "Tut mir leid, Moni. Aber ich hatte in den letzten Wochen wahrlich anderes zu bedenken. Immerhin ist es diesmal ja kein kurzer Besuch mehr. Das darfst du nicht vergessen. Und wie du siehst - sie deutete auf ihre beiden großen Koffer - so habe ich mehr als genug zu schleppen. Kann es mir schließlich nicht erlauben, mich hier total neu einzukleiden. Außerdem habe ich jetzt schon mal eine Menge Winterklamotten dabei, und die sind doch schwerer als dünne Sommersachen. Aber keine Angst, ich habe das Dirndl natürlich dabei!" Sie lachte die Freundin an.

"Schön, Dani. Du wirst es bald wieder anziehen können."

"Gibt es die Geidi-Gaudi noch?"

"Ja, die gibt es immer noch. Aber die ist ja erst nach dem Oktoberfest, also erst nächsten Monat. Du wirst deinen Spaß bestimmt wieder haben!"
Daniela hörte es nicht. Aber sie sah ihre etwas ältere Freundin genauer an. "Du siehst gut aus, Moni. Hübscher Rock. Trägst du jetzt wieder häufiger Rock?"

Statt einer Antwort umarmte die Freundin sie und drückte sie fest an sich. Daniela lachte laut auf und versuchte, sich aus der Umklammerung zu lösen. "Aua! Du trägst den BH? Vergiss nicht, mit dem Teil kannst du jemanden umbringen. Und da unten?" Daniela machte eine schnelle Bewegung in den Schritt der Freundin, wo ihre Hand auf deren stählernen Keuschheitsgürtel traf. Auch die Schenkelbänder und die Schrittkette ertastete sie sofort. "Au Mann! Steckst du schon lange in den Dingern?"

Monika verzog ihr Gesicht zu einer Schnute. "Ja. Mutter meint, es sei besser so für mich. Womit sie allerdings alleine dasteht."

Daniela konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. "Glaub ich gern!"

"Und du, hast du deine Dinger dabei?"

Daniela sagte ihr, dass sie alles im Koffer hätte. "Kannst es wohl gar nicht abwarten, mich wieder einzuschließen?" Sie griff sich demonstrativ in den Schritt ihrer Jeans. "Vielleicht sollte ich das schöne Gefühl noch ein wenig genießen, solange ich es noch kann?"

"Passt dir denn dein KG überhaupt noch? Du warst doch mehrere Wochen in Amerika und hast da bestimmt nur so junk-food gegessen, oder?"

Daniela tat beleidigt. "Nicht nur! Da gab es auch leckeren Cheese-cake und so. Aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob mir das Teil noch passt."

"Du bist seit einem Monat wieder zu Hause und hast ihn noch nicht angehabt??" Monika konnte es kaum glauben. "Das kannst du deiner Großmutter erzählen!"
"Lieber nicht! Aber es stimmt. Weißt du, so allein, ohne key-holder, das macht keinen Spaß. Was das anbelangt, war da total ´tote Hose´. Aber vielleicht ändert sich das jetzt ja?"

Monika gab ihr einen schnellen Seitenblick. "Was du alles glaubst! Ich werde dich morgen daran erinnern! Aber jetzt erzähl erst mal, was du da alles so erlebt hast und wie das überhaupt ist, so eine weite Reise zu machen. Würd mich schon mal interessieren..."

Auf dem weiteren Heimweg berichtete Daniela ihrer Freundin von den manchmal aufregenden, manchmal eher langweiligen Wochen in Amerika. Als sie endlich zu Hause angekommen waren zog Monika ihren Hausschlüssel hervor. "Sag mal, möchtest du dich erst mal etwas häuslich einrichten und frisch machen, oder willst du gleich zu deiner Tante rüber?"

Als im selben Moment Monikas Mutter Pia die Haustür öffnete, erübrigte sich die Antwort. "Kinder, da seid ihr ja endlich! Ich hab schon alles klar gemacht für dich, Daniela!"

"Hallo Pia!" Daniela begrüßte Monikas Mutter; sie hatten sich bereits im letzten Herbst näher kennen gelernt. "Danke, dass ich jetzt erst mal bei euch im Gästezimmer wohnen kann! Ist ja nicht so ganz leicht, hier in München ein Zimmer zu finden."

"Komm rein, Dani! Und mach dir mal keine Sorgen. Das Gästezimmer ist zwar recht klein, aber du wirst bestimmt nicht lange dort wohnen müssen." Pia warf Monika einen schnellen Blick zu, aber diese schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Aber wisst ihr was, jetzt will ich euch erst mal allein lassen. Ihr habt sicherlich genug zu bequatschen, oder? Und ich weiß, dass Agnes euch zum Abendessen erwartet. Ich will mal lieber den schönen Nachmittag nutzen und noch ein wenig in die Stadt gehen; wir sehen uns dann ja später noch. Moni, bietest du Daniela mal einen Kaffe an? Ja? Kuchen ist da, hab extra für euch gebacken!"

Daniela freute sich, so herzlich willkommen zu sein. Sie hatte lange etwas Bammel vor diesem Moment gehabt, denn sie erinnerte sich nur zu gut an ihre etwas seltsamen Erlebnisse mit Monikas Mutter. Beide gingen ins Haus, und während Monika anfing, Kaffee zu kochen und den Kuchen anzuschneiden, begab Daniela sich mit ihren beiden Koffern in das kleine Gästezimmer im ersten Stock, wo sie in den nächsten Wochen oder Monaten wohnen sollte.

91. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von fiasko am 04.03.13 00:54

Wieder war es Sonntagabend 10,
wieder tut´n neuer Teil da steh´n.

Viele Worte, manche Fragen
sind hier da beim Handlung tragen.

Hoffentlich folgen hier noch viele Teile,
Ich seh´ für ein ´end´ noch keine Eile!
92. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von SwitchEr am 05.03.13 16:29

Hallo Daniela,

erstmal, Danke für die Fortsetzung.

Die Aktion mit Monika, dem BH, das ist schon echt fies.. Ich muss zugegeben dass mich diese Stelle so richtig mitgenommen hat, das hat bis jetzt keine andere Geschichte geschafft, jedenfalls nicht so extrem. Da ist dir echt ein Meisterstück gelungen, Respekt dafür.

Ich freue mich auf jedes weitere Kapitel das da noch kommen mag.
93. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 05.03.13 21:09

Ich muss zugeben, dass ich Pia´s Rolle über all die Zeit viel zu wenig beachtet habe. Diese Zweideutigkeiten, diese Niedertracht, diese Radikalität, die sich dahinter verbirgt! Brrrrr.
Pia weiß so ganz genau, was sie will und was sie dabei anstellt! Ich möchte ihr nicht begegnen, nicht einmal in einer Oper. Arme Monika, arme Dani.
94. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von lupo am 05.03.13 22:13

Hi Daniela,

auch wenn ich leider nicht viel Feedback gebe....Weiter so. Wann immer ich mir die Zeit rausschneiden kann freue ich mich schon auf ein Wieder/Weiterlesen Deiner Geschichte.
Tolles Niveau und flüssiger Text - das gefällt mir.
Sonnige Woche und bis nächsten Sonntag

Lupo
95. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 07.03.13 22:25

Hi Daniela,

ich hoffe, ich schrecke andere nicht davon zu sehr ab, Dir einfach nur ein paar nette Zeilen zu Deinen hervorragenden Episoden zu senden, indem ich etwas längere Feedbacks schreibe, von denen ich ebenso hoffe, daß sie Dich nicht stören. Textanalysen würde ich meine Beiträge nicht nennen wollen, wohl eher nur Gedanken, die mir beim Lesen Deiner Geschichte gekommen sind. Und dabei bin ich sicherlich weit davon entfernt, ein Marcel Reich-Ranicki zu sein, dem ich alles erdenklich Gute bei der Besiegung seiner kürzlich bekanntgegebenen Krebserkankung wünsche - schon zu viel Leid hat dieser Mensch in seinem Leben ertragen müssen. Ich denke insbesondere bei solch inspirierenden und vielschichtigen Geschichten halt eben viel nach, fühle mich in Personen gern ein als der Empath, der ich eben bin, und gebe meine Gedanken dann gern weiter, wenn ich entsprechende Inspiration erfahren habe, um eben auch etwas zurückzugeben.

Aber noch etwas anderes hat mich aufmerksam gemacht bei Deinem Feedback: "das einsame Herz Eurer Autorin". Das klingt nicht gut, und das wünsche ich Dir auch nicht. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß es schwer ist, mit Einsamkeit wirklich gut klarzukommen. Nur wenige können das, und es mag vielleicht auch besser sein, allein zu bleiben, als mit dem falschen Partner aus Angst vor dem Alleinsein zusammen. Letzteres ist keine gute Motivation für Partnerschaft, auch wenn man zusammenwachsen kann - was aber leider auch nur zu häufig mißlingt. Annahme, so wie Du sie für Klaus/Barbara beschreibst, ist sicherlich ein zentrales Element dabei, damit es gelingt. Und letztendlich ist kein Mensch dafür gemacht, allein zu bleiben, ganz egal, wie gut man damit zurechtkommen mag. Dir jedenfalls wünsche ich (genauso wie ich mir selbst), daß Du bald den wirklich passenden Partner für Dich findest, damit Dein Herz nicht mehr einsam ist - und daß Du dennoch genug Raum für Dich findest, insbesondere, um weitere solcher fesselnden Geschichten wie hier zu entwerfen. Ein so kreativer Mensch wie Du verdient es aus meiner Sicht absolut.

Aber nun ein paar Gedanken zu Deiner Geschichte.

Ja, Klaus/Barbara spürt eine innere Leere. Dieses Gefühl ist sicherlich erschreckend, da nichts da zu sein scheint, woran man sich orientieren oder festhalten kann. Dennoch ist es eigentlich die perfekte Ausgangssituation für einen Neuanfang, bei dem nichts durch äußere Zwänge eingeschränkt ist. Nun ja, bei Klaus/Barbara wohl durch unauslöschbare Erfahrungen schon zum Teil, da er/sie sich nicht wirklich davon absolut ablösen kann. Daß er/sie von Daniela gerade eine Postkarte mit der Freiheitsstatue geschickt bekommt, ist dabei fast schon symbolisch. Und daß er als Klaus wirklich absolut inexistent inzwischen ist, daß er als Mann keine Begierde für Frauen mehr verspürt, ist aus meiner Sicht nicht der Fall. Es klingt fast so, als ob eine starke Frau ihn aus seiner eigenen Falle herausziehen müßte - wobei diese wohl auch seine Anteile an Barbara annehmen müßte, um an ihn überhaupt heranzukommen.

Das Abenteuer von Daniela in Köln als Meßdienerin und Detektivin in Sachen Strafbank dort ist Dir meisterlich gelungen - ich habe regelrecht mitgefiebert, wie sie nach dem Verschluß der Krypta dort wieder herauskommt. Aber was ist nun mit der Strafbank? Gibt es sie nun, oder ist sie wirklich nur einem ihrer Alpträume entsprungen, und Schwester Hildegard ist eine ehrenwerte Schwester, wie so viele dieser Zunft es sind?

Monika hat ein grausames Schicksal. In einer Sache hat Pia wirklich recht: Hat sie keine Lust mehr, oder kann sie diese nur nicht mehr unterdrücken? Letzteres wäre für Frauen in ihrem Alter aber doch eher normal, und solche Maßnahmen gegen den Willen der Betroffenen zu ergreifen wie Pia es tut der absolut falsche Weg. Pia mag wohl denken, daß sie selbst in diesem Alter manchen Fehler nicht begangen hätte, wenn sie ihn zwangsweise nicht hätte begehen können, und das besser für sie selbst gewesen wäre. Das aber auf ihre Tochter zu projezieren ist schändlich, und bereitet sie keineswegs auf ein "normales" Leben vor. Menschen lernen hauptsächlich aus Fehlern, so funktioniert es leider, und man kann nur hoffen, daß eine Erziehung dazu verhilft, Fehler zu vermeiden, so gut es geht. Alles übrige sind dann Erfahrungen, von denen die meisten dann hoffentlich glücklich sind, und die anderen dann nicht zu schädlich. Mit ihren Methoden war Pia mir schon früher absolut suspekt, und aus meiner Sicht bräuchte sie dringend Hilfe, um mit sich selbst und ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen.

Die Dynamik zwischen Rick und Ingeborg ist echt bemerkenswert, mit so vielen kleinen, unscheinbar klingenden Andeutungen, die wohl aber mehr bedeuten als sie verschweigen können. Aber Moment, der fernsteuerbare Dildo-Einsatz - das war doch das Teil, das Daniela bei ihrer ersten Geidi-Gaudi getragen hat - bei der doch Klaus das Teil aktiviert hat, als er die Fernbedienung in die Finger bekommen hat. Wird Ingeborg etwa auch in dieser Vollausstattung bei diesem Fest aufkreuzen? Und wer dann wohl die Fernbedienung kriegt...

Daß Daniela nun bei Pia und Monika wohnen wird, und ihre "Ausstattung" bei sich hat, läßt mich trotz der Herzlichkeit beim Empfang doch ein wenig erschaudern...

Wird Daniela Claudia wohl wiedertreffen, nachdem sie aus Australien wieder da ist? Immerhin hätte sie evtl. ebenso dort "unterschlüpfen" können für eine Zwischenzeit.

Ich bin sehr gespannt auf die nächste Episode, auch wenn es mich traurig macht, daß diese Geschichte sich so rasant immer mehr dem Ende nähert.

Liebe, wenn auch keusche Grüße
Keuschling
96. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 10.03.13 22:00

Heute, liebe Leser, habe ich etwas weniger Text als üblich. Aber nur ein wenig; die Spannung bleibt hoffentlich erhalten. Wir müssen unsere Kräfte für den Schlussspurt aufheben!
Herzlichen Dank all jenen, die sich Gedanken zu meiner Geschichte machen und diese mit uns allen teilen, egal, ob sie kurz oder lang gehalten sind! Ach übrigens, ich bin Single und das ist gut so! Nun ja, ein Partner wäre schon eine schöne Sache, aber man kann sie sich ja nicht aus dem Ärmel ziehen, oder? Außerdem, hätte ich einen, dann gäbe es mit Sicherheit diese Geschichte nicht!
Bitte lest auch was ich ab und zu unter der Rubrik ´Diskussion über Stories´ => München-Trilogie schreibe! Jetzt wünsche ich allen eine gute Woche und spannendes Lesen! Eure Daniela 20
PS: Es mag sein, dass einige von uns sich für das bevorstehende Konklave ( cum clave = mit dem Schlüssel) interessieren. Nicht so Monika und Daniela. Sie haben mit einer anderen Sache zu tun, dem Sinklave, (sine clave = ohne Schlüssel)...
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Oktober XIII.

Hauptkommissar Rick schlug erleichtert die Wagentür zu. Das war immer der schlimmste Teil des Jobs, wenn er Angehörigen eine schlimme Nachricht zu überbringen hatte. Ein Mensch war gestorben, würde nie wieder andere mit seinem Lachen beglücken, würde nie wieder neugierige Fragen stellen. Jeder verstorbene Mensch hinterlässt eine nicht wieder zu füllende Lücke, aber bei Menschen, die gewaltsam aus dem Leben geschieden waren, war diese Lücke oftmals ungleich größer. In diesem Falle hatte er mit einer älteren Frau zu tun gehabt, die gar nicht glauben wollte, was er ihr hatte sagen müssen. Dennoch spürte er gleich von Anfang an, dass sie über jenen glücklichen Rettungsanker verfügte, den insbesondere ältere Menschen noch ihr Eigen nennen durften.

Er hatte versucht, von Frau Jensen ein genaueres Bild des Mädchens zu bekommen, aber anfänglich war alles, was er erfahren hatte, das Bild eines ganz normalen Mädchens ihres Alters. Erst als er von sich aus auf die eher ungewöhnliche Unterwäsche der Verstorbenen zu sprechen kam, kam etwas Bewegung in die alte Dame, begann sie, etwas vom Freundeskreis zu erzählen. Was natürlich kein vollständiges Bild abgeben konnte. Er hatte einige Namen bekommen, leider in fast allen Fällen ohne genaue Adressen, was schwierig sein konnte.

Er zündete sich eine Zigarette an, sog den Rauch begierig in die Lungen und stieß ihn dann, von einem dunklen Husten begleitet, wieder aus. Verdammte Sucht! Er war sich sicher, er hätte es längst schon aufgegeben, gäbe es da nicht all diese komischen, Sucht bildenden Stoffe, die man den Zigaretten beigemischt hatte. Wie wäre es denn, wenn dieser ganze Chemie-Mist mal verboten würde? Um wenigstens mal einen Anfang zu machen? Aber im Moment schien ja sowieso alles verkehrt herum zu laufen, dachte man bloß einmal an diesen viel gefährlicheren Mist mit den Energiesparlampen, die angeblich so toll sein sollten. Wenn man schon gezwungen war, mit lebensgefährlichen Quecksilberdämpfen zu leben, dann konnte man genauso gut qualmen, was das Zeug hergab.

Er schüttelte sich. Es war typisch für ihn, dass sein Gedanken in stressigen Situation gern auf ein Nebengleis kamen. Er musste sich zwingen, konstruktive Arbeit zu leisten, Arbeit, die möglichst schnell dazu führen sollte, den anliegenden Fall zu lösen. Wie aber sollte er vorgehen? Im Grunde genommen war die Idee so schlecht nicht, einen Lockvogel zur nächsten Geidi-Gaudi zu schicken; Wimmer würde da schon mitmachen. Er musste ihr nur noch erklären, was sie auf dieser Party tun sollte.

Zurück im Präsidium blickte er immer wieder nervös auf seine Uhr. Wo blieb sie denn bloß? Wenn es noch lange dauerte, bekäme er bestimmt bald kalte Füße, zumal... Ein ungewohntes Geräusch klackernder Absätze schreckte ihn hoch. Nein, so etwas hörte man hier normalerweise nicht. Selbst die meisten Sekretärinnen - von denen es so viele auch nicht gab, da es als normal betrachtet wurde, dass man die Schreibarbeit selbst erledigte - liefen meist auf eher lautlosen Gummisohlen daher. Jetzt aber dieses Geräusch, das immer lauter wurde, dann vernahm er etwas, das ein wenig wie ein leiser Pfiff klang, dann schien das hämmernde Geräusch der Absätze sich zielgerichtet seiner Tür zu nähern.

"Hallo Chef!"

´Der Rick´ blickte von seinem Schreibtisch auf, ließ die Akte fallen, die er Sekunden vorher zur Hand genommen hatte, wie in einem seltsamen Versuch, sich dahinter zu verstecken. Seine Mitarbeiterin - so sie es wirklich war - stand wie gewöhnlich im offenen Türrahmen und sah ihn erwartungsvoll an, diesmal allerdings mehr als erwartungsvoll. "Oh, Wimmer! Gut! Ja, das geht wohl..."

Sie wirkte leicht pikiert. "Das klingt ja nicht gerade begeistert. Gefalle ich Ihnen nicht?" So, als unterliege sie einem unsichtbaren Zwang, streckte sie die Brust heraus und drehte sich langsam im Kreise. Ihre Hände spielten leicht mit der dunkelroten Seidenschürze ihres grünen Dirndls. Sie hatte ein Modell gewählt, dass nicht zu billig, und nicht zu fein war. Es sollte schließlich zur Gelegenheit passen.

"Doch, doch. Ausgezeichnet. Sie sehen wirklich toll aus, Frau Kollegin!" Hölzerner hätte er es nicht sagen können. Seltsam, dass es Männern immer so schwer fällt, einer Frau ein schönes Kompliment zu machen. Andererseits konnte er ihr auch nicht ins Gesicht sagen, sie solle doch bitteschön die Tür hinter sich zumachen und abschließen und... und...

Konnte sie seine Gedanken lesen? Sie machte tatsächlich die Tür hinter sich zu, schloss aber nicht ab. Kommissarin Wimmer zog den Besucherstuhl hervor und setzte sich. "Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich mich setze, Chef. Die Absätze..." Sie streifte einen der schwarzen Pumps ab und begann, sich den Fuß zu massieren. "Also, was kann ich für Sie tun?"

Seine Zigaretten! Jetzt müsste er sich eine anstecken, dachte er. Um wenigstens diesen Tag noch zu überleben. Er schaffte es kaum, sie anzusehen, wie sie da so vor ihm saß. Zum ersten Mal nahm er seine Mitarbeiterin als Frau wahr, und genau das bereitete ihn erhebliche Probleme. Leider war Rauchen am Arbeitsplatz verboten, was zwar für bessere Raumluft sorgte, aber ihm im Moment nicht viel weiterhalf.
Er bemühte sich, einen Punkt an ihr zu fixieren, der seine zunehmende Erregung nicht verriet. Den Reißverschluss am Mieder? Nein, schlechte Stelle. Den Rock, der ihr beim Setzen etwas hochgerutscht war? Auch nicht gut. Aber er musste zu Potte kommen und begann, ihr seinen Plan für den Samstagabend zu erläutern. Ein Plan, der möglicherweise zur schnellen Ergreifung des Täters führen würde, falls... ja falls Wimmer keine Zicken machen würde!



September II.

Monika pfiff leise durch die Zähne, als sie Daniela bemerkte, die leise die Treppe herunter gekommen war und nun in der Küchentür stand. Sie hatte die Freundin einige Zeit rumoren gehört, dann aber selber mit dem Geschirr geklappert und nichts mehr mitbekommen. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, sie wusste, was Daniela wollte und brauchte nicht mehr lange zu fragen.
Es tat ihr gut, wieder jemanden zu haben, den sie küssen konnte. Ihre Hände berührten den Hals des etwas jüngeren Mädchens, wischten eine Locke vom Ohr, machten Platz für ihre Lippen. Daniela stand still, bewegte sich nicht, genoss den Augenblick, den sie sich lange herbeigewünscht hatte. Monika zog sie näher heran, streichelte mit der Hand über ihren Arm, fuhr ´gegen den Strich´ den Arm aufwärts, bis dahin, wo er im kurzen Ballonärmel der weißen Dirndlbluse verschwand. Dann untersuchten ihre Finger den Stoff des Mieders, versuchten unter einen der Schulterträger des eng ansitzenden Mieders zu gelangen, sie gab es auf, statt dessen griff sie mit der ganzen Hand nach den vollen Brüsten, die unter der dünnen Bluse scheinbar nur darauf warteten, von kündiger Hand liebkost zu werden.

Daniela grinste, als sie merkte, dass Monika mit ihrer Hand nicht weiterkam. Sie hatte sich ein wenig frisch gemacht und dann all das angezogen, worüber sie eben noch mit Monika gesprochen hatte.
"Passt alles noch, Moni!" lächelte sie, aber das Lächeln verschwand augenblicklich, als diese ein wenig fester gegen die Brustschalen ihres Keuschheits-BHs drückte. "Au! Nicht so fest!" Zum ersten Mal seit Monaten verspürte sie wieder das herrliche Gefühl vollkommener Hilflosigkeit, als ihre Brustwarzen sich unter der harten Schale des BHs gegen spitze Stacheln aufrichten wollten, wogegen sich nichts tun ließ. Sie schloss die Augen und genoss Schmerz und Hilflosigkeit.

"Hast du die Stachelschalen drin?"

Daniela nickte.

"Du scheinst nicht mehr lange warten zu wollen! Und den KG? Hast du den auch an?"

Daniela hob den Rock ihres Dirndls an. Alles war gut verschlossen. "Ja. Dumme Frage. Ich wollte genauso verschlossen sein, wie du."

"Bist du aber nicht. Da müssen wir doch noch was ändern. Wart mal hier... nicht weglaufen!"

Sie ließ das Mädchen in der Küche zurück und ging nach oben. Es dauerte lange, bis sie endlich wiederkam, aber Daniela sah sofort, was sie geholt hatte.
"Die Schenkelbänder?" Sie war sich nicht sicher, ob sie die Dinger wirklich an ihren Beinen haben wollte. Die Schenkelbänder waren ein nicht zu unterschätzender Faktor, trug man sie, dann spürte man viel deutlicher die Begrenztheit der Bewegungen, dann wurde einem ein langsamens Dahinschleichen aufgezwungen, dann war es unmöglich, Hosen anzuziehen. Was sie wohl nie jemandem freiwillig erzählt hätte, aber sie fühlte sich immer wie ein ganz anderer Mensch, wenn sie Röcke oder Kleider trug... oder tragen musste. Es war schön, es fühlte sich gut an, für einen Moment, solange man selber es wollte, aber wenn man es nicht wollte, dann war es mehr als nervig. Sie hatte die Schenkelbänder nicht dabei gehabt; Monika hatte sie im letzten Herbst in München behalten.

"Wenn schon, denn schon. Also, Bein hoch! Und was ist mit den Schlüsseln? Ja, komm, her damit!" Sie nahm der Freundin die Schlüssel ab, die diese bis jetzt in der Hand behalten hatte. Daniela umklammerte sie fest mit der Faust, gab dann aber schnell nach. "Nun gib schon her! Du wolltest sie mir doch sowieso geben, nicht wahr? So, das hätten wir. Ist ja nicht das erste Mal, dass du das Vergnügen mit den Schenkelbändern hast. Jetzt noch diese kurze Verbindungskette... und - fertig! Trara!!" Sie nahm die Schlüssel zu den vielen kleinen Schlössern und ging damit aus der Küche.

Daniela begann zu zittern. Ganz leicht nur und kaum wahrzunehmen, aber sie selber hatte ein Gefühl, als würde sie gleich auseinanderfallen. Monika war zurückgekommen und umarmte sie von hinten. "Sch... Ruhig, Kleine! Lass dich einfach fallen...."
Beide Mädchen standen unbeweglich; Daniela spürte den Atem ihrer Freundin in ihrem Nacken. Oh Gott, wie hatte sie all dies vermisst! Und sogleich bekam sie Gewissensbisse, denn wie durfte man SO etwas hier vermissen?? Vorsichtig löste sie sich aus der Umklammerung. "Ist der Kaffee fertig? Ich könnte gut eine Tasse brauchen, bevor mir gleich die Beine wegknicken. Und was riecht denn hier so lecker? Streuselkuchen?"

"Ja, den hat Mama extra gebacken. Komm, ich habe alles drüben im Wohnzimmer stehen!"

Beide ließen es sich gut schmecken. Sie saßen dicht beieinander, immer wieder berührten sie sich, immer wieder fuhr eine verstohlene Hand zu unerreichbaren Zonen. Schließlich ließ sie die alte Wanduhr aufhorchen.

"Verdammt, schon sechs Uhr! Willst du so zu deiner Tante rübergehen?" Monika blickte sie neugierig an.

"Klar, warum denn nicht. Ist doch bald wieder Oktoberfestzeit! Sie wird sich bestimmt freuen. Und Claudia ist jetzt bestimmt auch nach Hause gekommen. Also, lass uns gehen! Ich muss nur noch mal schnell für kleine Mädchen! Ist ja immer etwas kompliziert in diesem ganzen Zeug. Sag mal, hast du die kleine Spritze noch da liegen? Ja? Prima. Weiß gar nicht mehr, wie das noch ging..."

%%%

Alle freuten sich über das Wiedersehen! Es hatte ein großes Hallo gegeben, Danielas Tante hatte sich gleich entschuldigt, dass es ihr nicht möglich war, ihre Nichte, so wie eigentlich versprochen, bei sich aufzunehmen, aber sowohl Daniela als auch Monika versicherten Agnes, dass dies überhaupt kein Problem sei. Beide tauschten einen Blick aus, der so einiges offenbarte, zumindest dem aufmerksamen Beobachter, und dazu gehörte Danielas Cousine Claudia.

Nach dem Abendessen zogen die drei jungen Frauen sich auf den Balkon zurück. Es war ein milder Septemberabend, man konnte noch gut draußen sitzen.
Claudia benutzte die Gelegenheit zu einem kleinen Scherz. "Mein Dirndl!! Schön, dass du es mir zurückbringst, Dani. Kannst es gleich hierlassen!"

"Was?? Öh, nee, glaube nicht, dass das geht." Daniela warf einen schnellen Blick auf Monika, die sich beinahe an ihrem Saft verschluckt hätte.

"Und warum nicht? Du bist doch wohl nicht nackt unterm Kleid??"

Jetzt prustete Monika los. "Nee, ist sie nicht, Claudia!"

Die Angesprochene legte demonstrativ eine Hand hinters Ohr. "Höre ich da was rasseln?"

Dani hatte ihre Cousine seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Früher hatten sie eigentlich keine Geheimnisse voreinander gehabt, aber früher waren sie Kinder gewesen, was sich in den letzten Jahren schnell geändert hatte. Jetzt wusste sie nicht recht, wie sie Claudias dumme Anmache verstehen sollte. "Mann, du kannst einem aber auch den ganzen Spaß verderben. Und wenn...? Stört´s dich etwa?"

Claudia schüttelte lachend den Kopf. "Mich? Nicht im geringsten! Aber ich könnte mir vorstellen, dass es andere stört. Aber lass dir den Spaß nicht verderben! Wie ich von Monika höre, bist du ja sogar fromm geworden auf deine alten Tage?"

"Fromm? Wie meinst du?" Dani rückte ein wenig hin und her auf ihrem Stuhl; sie war das Sitzen mit den Schenkelbändern nicht mehr gewohnt.

"So kirchenmässig? Messe dienen und so?"

"Ach so. Ja, ich hatte das in Köln gemacht. Wollte das ja eigentlich immer machen, aber... nun ja."

"Komisch, Dani. Ich erinnere mich eher daran, dass du immer sagtest, so einen Scheiß würdest du auf jeden Fall nicht machen. Da hat wohl die ganz große Bekehrung stattgefunden, oder?"

"With a little help from your friend!", warf Monika ein, hielt sich aber ansonsten zurück.

"Ach ja??" Claudia tat überrascht. "Hat Moni da etwa ihre Finger im Spiel gehabt?" Sie schüttelte den Kopf und tat entrüstet.

"Ist ja eh vorbei jetzt." Daniela begann, die verdammten Schenkelreifen zu verwünschen.

"Nö," sagte Monika, die ein Grinsen nicht verbergen konnte.

"Was jetzt, nö?", drängte Claudia auf eine Klarstellung. Sie sah Monika gespannt an; auch Daniela hatte der Freundin den Kopf zugewandt.

"Was ´nö´, Moni?"

Monika setzte sich etwas mehr auf, so als erwartete sie einen plötzlichen Angriff, auf den sie besser vorbereitet sein sollte. "Ich hab dich in meiner Gemeinde angemeldet. Wir suchen fieberhaft nach neuen Messdienern, und da kommst du gerade recht." Sie sah Daniela ins Gesicht, die deutlich an Farbe verloren hatte.

"Was Moni, du spinnst ja! Du kannst doch nicht einfach... einfach, so über meinen Kopf hinweg....? Und wieso machst du da immer noch mit? Ich dachte, nach dieser Sache da an Ostern, dass du damit durch wärst?"

"Ist ja eigentlich auch richtig. Selber messdienern tue ich nicht mehr. Aber ich bin immer noch für die anderen Messdiener da, da war nämlich niemand sonst, der das machen wollte oder konnte. Außerdem hat sich da einiges verändert, seitdem Pastor Flemming nicht mehr da ist." Für einen Moment verzog sie ihr Gesicht zu einer schwer zu deutenden Grimasse: es lag sowohl Freude als auch Trauer darin.

"Soll das heißen, dass es diese ominöse Strafbank nicht mehr gibt?"


Monika wurde einer Antwort enthoben, als Claudias Mutter zu ihnen trat. "Ach, ist das ein schöner Abend! Darf man sich dazu setzen? Also, Daniela, du siehst wirklich hübsch aus. Letztes Jahr schlotterte das Dirndl ja doch noch etwas an dir, aber jetzt hast du ja tolle Kurven gekriegt." Als alle drei Mädchen dazu schnieften, hielt sie inne. "Was gibt´s? Worüber redet ihr denn gerade?"

"Über die Kirche, Mama. Daniela wird jetzt hier auch Messdienerin, stell dir mal vor!"

Agnes zog eine Augenbraue hoch. "Tja, warum nicht. Ich bin alt genug, mir so ziemlich alles vorstellen zu können!"

Claudia verdrehte die Augen. Sie ahnte schon, was jetzt wieder kommen würde. "Mama, doch nicht jetzt!" Sie zuckte die Schultern und wandte sich den beiden Mädchen zu. "Ich kenn das schon. Jetzt kommt wieder ihr Feldzug gegen Rom!"

"Sei du mal still! Du hast dich ja total abgemeldet..."

"Was heißt hier: abgemeldet? Ich bin ganz einfach ausgetreten. Irgendwann muss man ja mal konsequent sein. Was du da machst, ist doch die reinste Selbstzerfleischung, Mama!"

Daniela und Monika sahen sich an. Der gemütliche Abend schien eine unangenehme Wendung nehmen zu wollen, wozu sie keine Lust hatten. Beide Mädchen wollten lieber ihre Zeit zusammen genießen. Doch Agnes ließ sich so leicht nicht stoppen, jetzt da sie erst einmal in Fahrt gekommen war.
"Aber ist doch wahr! Wenn ich bloß daran denke! Erst sagen sie den Leuten, was alles Sünde ist, dann stellen sie sich hin und wollen genau diese Sünden den Leuten vergeben, nur unter gewissen Bedingungen natürlich..." Sie ließ ein heiseres Lachen hören und schaute herausfordernd in die Runde. Aber niemand schien Lust zu haben, weiter zu diskutieren.

Doch Daniela konnte es sich nicht verkneifen, eine dumme Frage zu stellen. "Und was ist Sünde, Tante Agnes?"

Ihre Tante lächelte, so als könne sie die Gedanken der jungen Frau lesen. "Ja, Dani, weißt du, das was du jetzt im Kopf hast, das ist in den Augen der Kirche Sünde! Aber ich seh schon, das müssen wir wohl doch ein anderes Mal besprechen. Ihr habt sicherlich was Besseres vor, nicht? Ist ja auch schon spät, und du, Dani, hast einen langen Tag gehabt. Also, geht ihr beide mal ruhig wieder rüber, kein Problem. Gute Nacht!" Sie winkte den Mädchen zu; auch Claudia meinte, sie müsse noch etwas für den nächsten Tag vorbereiten.

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"Oh, ich glaube, Mutter hat sich schon hingelegt." Monika sah, dass bereits Licht im Schlafzimmer ihrer Mutter brannte.

"Vielleicht sollten wir uns auch besser hinlegen?"
brachte Daniela unter einem langen Gähnen hervor.

"Müde?"

"Nee. Wer hat denn etwas von müde gesagt?" zwinkerte Daniela ihr zu.

Beide Mädchen gingen auf Monikas Zimmer und schlossen die Tür hinter sich. Endlich hatte man die ´offiziellen Pflichten´ des Tages erledigt, endlich war man allein. Monika schaltete eine gemütliche Lavalampe ein und löschte das große Licht. Daniela stand vor ihr in ihrem Dirndl, sie sah bildschön aus. Ja, es stimmte, sie war seit dem letzten Herbst zu einer attraktiven jungen Frau herangewachsen.
Monika zog sich aus. Bald stand sie nackt vor der Freundin, nackt bis auf glänzende, metallene Unterwäsche. Immer heftiger verspürte sie das Verlangen in sich emporsteigen, das Verlangen nach Berührung und zärtlicher Nähe, aber auch das Verlangen nach ungehemmter Sexualität.
Daniela wollte dem Beispiel ihrer Freundin folgen, doch diese hielt sie zurück. "Nicht, Dani! Lass mich das machen, bitte!" Monika ließ sich Zeit, umarmte und streichelte sie und drückte sie an sich, sog ihren Duft ein, schmeckte ihre Haut.
Ganz langsam nur begann sie, das andere Mädchen zu entkleiden. Sie öffnete die Schleife der Dirndlschürze, legte diese über einen Stuhl, dann zog sie langsam den langen Reißverschluss am Mieder auf, streifte die Schulterträger des Dirndls über ihre Schultern und half ihr, aus dem Kleid zu steigen. Sanft hob sie die Arme der Freundin empor und half ihr vorsichtig aus der weißen Bluse.
Man vernahm das leise Klirren von Ketten, das kurze, harte Schlagen von Metall auf Metall, begleitet vom zunehmenden Stöhnen der beiden Frauen. Beide lagen in Monikas Bett, eng umschlungen, beide streichelten und küssten sich, intensiver als je zuvor. Es war himmlisch, wieder zusammen zu sein, und beide wussten, wie schön es doch ist, dass man ab und zu sündigen kann.
"Geht es dir gut, Dani?", hauchte Monika ihr ins Ohr.

"Ja. Aber..."

"...aber was?"

"Schließ mich auf, Moni!! Bitte! Sei nicht so grausam zu mir. Ich will mehr von dir..." Daniela brachte die Worte kaum hervor, so erregt war sie. "Ich will, dass du mich leckst! Dass du mir in die Nippel beißt! Dass du mir etwas zwischen die Beine schiebst! Bitte!!" Um ihre Worte zu unterstreichen versuchte sie, die Beine zu spreizen, wurde aber von den Schenkelbändern und der kurzen Kette daran gehindert. Sie fuhr sich mit der Hand in den Schritt, hatte aber auch dort keinen Erfolg. Und obwohl sie wusste, dass es zwecklos war, drückte sie nun auch noch heftig gegen ihren stählernen BH. Sie ignorierte den zusätzlichen Schmerz, den die Stacheleinlagen ihr bereiteten, denn sie war kurz davor, verrückt zu werden, wenn sie daran dachte, dass ihre Brüste nur wenige Millimeter unter ihren Händen lagen, sie aber außer dem Schmerz nichts spürte.

Monika huschte lautlos aus dem Bett. Öffnete ihre Tür und schlich die Treppe hinab. Es dauerte einige Zeit, bis sie zurückkam. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände.
"Was ist los? Moni? Nun sag schon!" Daniela brauchte die Antwort nicht abzuwarten. Sie wusste auch so schon, dass etwas schief gegangen war.

"Mama hat die Schlüssel an sich genommen..."

"Alle Schlüssel?" fragte Daniela tonlos. "Dann geh halt zu ihr und sag ihr, sie soll sie dir geben!"

Monika legte sich zurück ins Bett. "Das geht nicht, Dani. Zumindest geht es so nicht. Weißt du, Mutter hat da so ihr eigenes System. Sie nimmt sich immer genau vor, wie viele Tage man im KG verbringen soll. Das muss man dann einfach aushalten. Und wenn man zu ihr geht und um die Schlüssel bittet, dann fügt sie gleich zwei weitere Tage hinzu. Und wenn man das dann auch nicht aushält, und so dreist ist, noch mal zu fragen, dann gibt es gleich eine ganze Woche extra. Sehr wirkungsvoll, kann ich dir sagen!"
Daniela schloss die Augen. War es nicht das, was sie selber gewollt hatte? Vielleicht ja. Aber nicht so. Nicht so, dass Monikas Mutter die Schlüssel zu ihrer Lust hatte. Es hätte Monika sein sollen, oder, besser noch, Klaus. Sie hatte insgeheim gehofft, dass er ihr neuer Keyholder sein würde; ihm wollte sie sich gern unterwerfen.
Monika schaltete die rot leuchtende Lavalampe aus. Es war Zeit zum Schlafen. Ohne Höhepunkt, frustriert. Aber die Mädchen hatten keine Wahl.

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Monika und Daniela saßen am Frühstückstisch. Sie hatten unruhig geschlafen und erst am frühen Morgen hatte sich etwas mehr Schlaf eingestellt. Kein Wunder also, dass der Kaffee nicht mehr ganz heiß und die Semmeln nicht mehr ganz knackig waren. Beide hatten sich bereits angezogen; Daniela hatte sich wieder einmal den langen Crinkle-Rock von Monika ausgeliehen, den sie bereits letztes Jahr öfters getragen hatte.

"Und? Was hast du heute vor? Willst du mal zur Uni?" fragte Monika, während sie ihre Semmel mit einer braunen Nussmasse bestrich.

"Ja, mal sehen. Viel wird da noch nicht los sein. Mal sehen, was ich so mache. Vielleicht..."

Monika sah Daniela gespannt an. "Vielleicht was?"

"Ich würd ja ganz gern mal sehen, ob Klaus zu Hause ist. Mal sehen wie es ihm geht." Sie machte eine Pause, trank einen Schluck Kaffee und fuhr dann, leicht vergräzt, fort: "Wenn nur dieser ganze Mist hier nicht wäre!" Sie klopfte sich demonstrativ mit dem Kaffeelöffel gegen die versperrte Brust. Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, wie ich das im letzten Frühjahr so lange ausgehalten habe! Das ist ja mega nervig!"

"Vielleicht hast du es so lange ausgehalten, weil du keine andere Wahl hattest?" warf Monika ein. "Wenn ich mich recht entsinne, hattest du keine Schlüssel, oder?" Ihre scheinheilige Frage wurde von einem hämischen Grinsen begleitet.
Genau in diesem Moment betrat Monikas Mutter die Küche, in der die Mädchen sich niedergelassen hatten. "Morgen Kinder! Na, habt ihr gut geschlafen?"

Es war heraus, ehe Daniela noch über die Folgen nachdenken konnte. "Pia, kannst du mir nicht meine Schlüssel geben? Ich hab keine Lust, heute den ganzen Tag mit diesem Eisenkram herumzulaufen. Es nervt jetzt schon und ich will nachher mal zur Uni."

Die Angesprochene ließ mit keiner Mine erkennen, dass sie Danielas Bitte verstanden hatte. Nur Monika hatte mitten im Essen mit dem Kauen aufgehört, denn so etwas von Dummheit hätte sie von Daniela nicht gleich am ersten Morgen erwartet.

Daniela wartete einen Moment, dann glaubte sie, dass Monikas Mutter ihre Bitte nicht gehört hatte. "Pia? Gib mir doch bitte mal die Schlüssel zu diesen ganzen Keuschheitsdingern! Ich hab da im Moment echt keinen Bock drauf."

Pia drehte sich um und sah Daniela nett lächelnd an. "Der Rock steht dir ja gut, Dani. Gut, dass du alle Sachen von Moni tragen kannst, die hat ja genug Röcke. So! Also ich will mal los. Muss noch was in der Stadt erledigen. Bis dann!" Ohne irgendwelche Fragen der Mädchen abzuwarten ging sie hinaus, zog sich im Flur einen Mantel über und öffnete die Tür. "Ich hab die Schlüssel mit, Moni!", rief sie noch, dann war sie weg.

"Was war das jetzt?", fragte Daniela Monika, die immer noch wie erstarrt da saß.

"Bist du eigentlich wahnsinnig? Weißt du, was du dir da gerade eingehandelt hast?" Monika schüttelte den Kopf ob so viel Dummheit. "Eine ganze Woche im KG, mein Fräulein!"

"Ach du scheiße! Daran hab ich überhaupt nicht mehr gedacht!" Daniela wurde blass. "Du meinst, dass ich jetzt eine ganze Woche in diesen Sachen hier stecke?"

"Nein, das meine ich nicht. Weißt du nicht mehr, was ich dir gestern Abend gesagt hatte? Dass Mutter zwei Tage hinzurechnet, wenn man einmal fragt. Und dass es eine ganze Woche ist, wenn man zweimal fragt. Aber sie hat schon vorher festgelegt, wie lange man den Gürtel tragen muss. Kann also sein, dass sie ihn dir heute schon wieder abnehmen wollte. Kann aber auch sein, dass sie das erst in drei Tagen oder einer Woche tun wollte. Und dass dann jedes Mal diese Woche hinzukommt, die du dir gerade eingehandelt hast. Tja, Pech gehabt!! Viel Spaß also mit Klaus... oder Barbara. So genau bin ich nie dahinter gekommen, was er eigentlich lieber war!"

97. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Zwerglein am 11.03.13 13:56

Hallo Daniela,
nach längerer Zeit kam ich auch wieder mal dazu hier weiterzulesen.

Als ich nach dem Anschluss, also bereits gelesen Teil, suchte, stach mir dieses ins Auge:

Zitat

PS: Gestern wurde bei der Berlinale der ´Goldene Bär´ vergeben. Ich frage mich gerade, ob ich wohl einmal den Goldenen Keuschheitsgürtel für meine München-Trilogie bekomme?



Nur beantragen Daniela, dann müsste es doch auch klappen. ---ggg---


Zitat

Ach übrigens, ich bin Single und das ist gut so! Nun ja, ein Partner wäre schon eine schöne Sache, aber man kann sie sich ja nicht aus dem Ärmel ziehen, oder? Außerdem, hätte ich einen, dann gäbe es mit Sicherheit diese Geschichte nicht!


Wenn es dann mit dem Verleihen des Goldenen Keuschheitsgürtels geklappt hat, kannst mir ja die Schlüssel zusenden damit ich sie für dich bewahre. Somit kämst Du auf keine Dummen Gedanken, und die Geschichte würde weitergehen.

Übrigens, alles nicht ganz ernst gemeint.

Trotzdem möchte ich mich bei Dir für diese Story, in die Du bestimmt sehr viel Herzblut gesteckt hast, bedanken.
-----
Gruß vom Zwerglein
98. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 11.03.13 18:37

Wieder eine großartige Fortsetzung. Diesmal picke ich für mich die Konstellation von Monika und Daniela heraus: Hüte Dich vor Deinen Wünschen wenn sie in Erfüllung gehen sollten! Ein wahrhaft teuflischer Kreislauf, aus dem auszubrechen sehr schwer ist.
Danke Dani
Euer Maximilian24
99. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 12.03.13 23:21

Hi Daniela,

erst einmal wieder einmal vielen lieben Dank für die tolle, aktuelle Fortsetzung!

Rick ist also um ein paar Infos reicher, und daß Frau Jensen es offenbar recht gefaßt aufgenommen hat, beruhigt ihn. Nun, er wird wohl nicht mitbekommen, was für Frau Jensen nun zu verarbeiten ist, und wie lange sie wohl noch daran zu knabbern haben wird, selbst mit "Rettungsanker". Aber er ist ja auch kein Seelsorger, er muß ja im Fall weiterkommen als Ermittler, und das ist ok so. Daß der "Rettungsanker", den Du andeutest, insbesodere in solch einem Fall recht zuverlässig funktioniert, auch wenn Zweifel und Fragen nie ausbleiben, habe ich auch schon persönlich bei einem etwas anders gelagerten Fall erlebt, auch wenn ich kirchlich nicht organisiert bin, was aber eine andere Sache ist aus meiner Sicht.

Daß Rick nun zum ersten Mal Ingeborg Wimmer als Frau wahrnimmt, nachdem sie ihre Dienstuniform als Lockvogel anhat, ist etwas traurig, da doch schon recht spät. Aber immerhin, die Entwicklung zwischen den beiden fährt immer noch rasant weiter, auch wenn er sie längst im KG vor seinem geistigen Auge schon gesehen hat. Nun konnte sie ihn überraschen und aus der Reserve locken, und ihre anstachelnde Frage, ob sie ihm nicht gefalle, ist ja Provokation pur - aber auch irgendwie total süß... Es bleibt nun spannend, ob Rick´s Plan aufgeht, und sie nicht aus der Rolle fällt oder eben zu sehr in ihrer Rolle aufgeht und dabei den Plan vergißt. Vielleicht sollte er sie auf die Geidi-Gaudi einfach begleiten, wobei wohl auch dann das Resultat zu ungewiss wäre, zu viel scheint sich auch bei Rick aufgestaut zu haben. Und mir scheint, dieser Fall wird nicht spurlos an den beiden vorübergehen. Und daß sie sich gegenseitig auf die Spur kommen und Gefallen daran finden, das wünsche ich ihnen schon jetzt.

Daniela ist also wieder verschlossen - und gibt ihrer Sucht zunächst ja freiwillig nach. Ja, das Gefühl der Hilflosigkeit aber gleichzeitig der Geborgenheit und Nähe ist schon etwas Besonderes. Und es sprüht ja gewaltig Funken zwischen ihr und Monika. Erotik pur, wie sie miteinander umgehen, gepaart mit Zärtlichkeit und (gezügelter) Lust, wobei das Verlangen durch die Zügelung nur noch mehr gesteigert wird. Aber kann das wirklich Sünde sein, dem dann auch nachzugeben? Nun, nach landläufiger Ansicht nennt man das wohl so, aber aus meiner Sicht ist Sünde etwas ganz anderes: einem anderen Menschen leichtfertig oder gar bewußt Schaden oder Leid zufügen, dabei ohne Not, sondern zum eigenen Vorteil. Pia wäre gemäß meiner Definition schon in ziemlicher Gefahr, dies mit ihrer Praxis der Schlüsselverwaltung zu begehen. Und Pia scheint sich offenbar eigenmächtig Daniela´s Schlüssel bemächtigt zu haben, was nicht ok wäre, wenn Monika hier wirklich die Wahrheit gesagt hat. Kann aber auch durchaus sein, daß sie Daniela hier belogen hat, um ihr nicht gönnen zu müssen, was ihr selbst verwehrt ist, und Daniela hierbei auch noch zu "bedienen". Das wird sich wohl in Zukunft rausstellen. Aber daß Monika Daniela in ihrer Gemeinde angemeldet hat, über Dani´s Kopf hinweg, da habe ich keinen Zweifel, auch wenn das ebenfalls zumindest recht fragwürdig ist.

Interessant finde ich, daß Monika Klaus bzw. Barbara nie verstanden hat. Vielleicht meint sie ja auch, sie hätte es fertiggebracht, aus Klaus Barbara zu machen, ohne recht zu wissen, daß sie Barbara "nur" aus Klaus "befreit" hat. Monika formuliert es ja so, als ob er die Wahl hätte, wer er lieber sein will. Die dunkle Vergangenheit von Klaus kennt sie wohl eher nicht, was vielleicht ja auch besser ist, je nachdem, wie sie damit hätte umgehen können. Um so kurioser, daß gerade jetzt Daniela Klaus ins Spiel bringt, ihn besuchen will. Aber gerade jetzt, wo sie verschlossen ist, wäre das bei seinem derzeitigen Gemütszustand wohl eher kontraproduktiv. Am Ende kommt er zum Schluß, daß jede Frau, an der er jemals Interesse hat oder hatte, für ihn unerreichbar abgeschlossen ist, er also der Ausgeschlossene ohne Zugang oder Schlüssel ist. Und die Folgen davon sind nicht absehbar, insbesondere bei seiner eigenen labilen, mutlosen und orientierungslosen Seele.

Ich bin gespannt, was die nächste Folge zeigen wird. Ja, Du hast Recht: Die Spannung ist fast schon unerträglich erhalten, alles scheint noch möglich - und doch wünscht man sich, daß es noch recht lange so weitergeht.

Liebe und herzliche, wenn auch keusche Grüße
Keuschling

PS.: Du hast schon Recht, passende Partner kann man sich nicht aus dem Ärmel ziehen. Aber man kann auf sie treffen, gewöhnlicherweise dann und dort, wann und wo man es eben am wenigsten erwartet. Die Offenheit dafür entscheidet dann, ob es wirklich weiter geht und eine Partnerschaft draus wird. Und ein echter Partner unterstützt den anderen aus meiner Sicht dann aus eigenem Antrieb, ob es nun das Aufpassen auf einen Schlüssel ist, oder durch ausreichend Freiraum, den der/die andere braucht, um etwa kreative Geschichten zu schreiben, um nur zwei eigentlich weniger wichtige Dinge zu nennen. Ich denke, gerade beispielsweise letzteres muß sich nicht ausschließen. Und ich denke, gegenseitiges Anbieten und Inspirieren ist immer besser als voneinander zu fordern. Für mich ist ein sehr altes, chinesisches Sprichwort über Himmel und Hölle das Sinnbild für Liebe und Partnerschaft geworden: In der Hölle, da ist es furchtbar: ein jeder hat einen vollen Teller vor sich, aber mit seinen 20m langen Eßstäbchen kann er einfach nichts davon essen. Im Himmel, da ist es wunderbar: ein jeder hat einen vollen Teller vor sich und ebenso 20m lange Eßstäbchen - aber man füttert sich dort gegenseitig!
100. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Snolyn am 17.03.13 08:08

ich sags mal ganz schlicht und einfach....

diese trilogie sollte verfilmt werden
101. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 17.03.13 22:00

Oh, immer noch kein Ende!! Glaubt mir bitte, liebe Leser - und Leserinnen! - am liebsten würde ich den Rest der Geschichte jetzt in einem Stück veröffentlichen. Aber das geht nicht. Ich habe ja immer gesagt, meinen Lesern - und Leserinnen! - mit meiner Geschichte über den Winter hinweghelfen zu wollen, und, wie es aussieht, ist immer noch tiefster Winter, egal, was die Meteorologen sagen! Ich brauche heute ja nur aus dem Fenster zu sehen!
Beim Durchlesen der heutigen Folge fiel mir auf, dass eigentlich gar nichts passiert. Womit ich nicht sagen will, dass es langweilig ist. Nein, es ist eher wie bei einem Schachspiel: ich bin dabei, meine Figuren in Stellung zu bringen. In Stellung für das große Finale! Habt Geduld mit mir, es lohnt sich, dranzubleiben! Eure Daniela
PS: Und ein herzliches Dankeschön all jene, die mir geschrieben haben. Es freut ungemein!!

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Oktober XIV.

Kommissarin Wimmer saß an ihrem Esstisch. Vor sich hatte sie die verschmierte Pappe einer Pizza, die sie auch diesmal nicht ganz hatte aufessen können. Schlechte Essensgewohnheiten waren sicherlich das Schlimmste an ihrem Beruf. Selten nur hatte sie geregelte Arbeitszeiten, ´Verbrecherjagd´ setzt halt voraus, dass man immer zur Verfügung steht.
Und jetzt hatte ihr Chef etwas von ihr verlangt, was ganz bestimmt gegen ihre Arbeitspflicht verstieß! Allerdings war sie mit Leib und Seele Kriminalistin, sie selber wollte, dass dieser Fall so schnell wie möglich aufgeklärt wurde, und von daher hatte sie nichts dagegen, einmal ´under cover´ eingesetzt zu werden, wie ´der Rick´ sich ausgedrückt hatte.
"Also, hören Sie zu!" hatte er gesagt und ihr seinen Plan auseinandergesetzt, einen Plan, bei dem ihr im ersten Moment angst und bange werden wollte. "Wimmer, wir haben eine minimale Chance, dass der Täter am nächsten Sonnabend wieder zuschlagen wird. Wir wissen ja nicht, ob da eventuell noch mehr Mädchen mit solchen Sachen herumlaufen, wie unsere Tote hier. Und noch weniger wissen wir über diesen Dildo, oder Phallus, oder wie ich das Teil nun nennen soll."

"Dildo, Chef," hatte sie ihm geantwortet.

"Ja, okay. Frau Doktor hatte ja gemeint, es sei etwas, was mit einer Fernsteuerung bedient werden kann. So ein richtig perverses Teil also..." Sie hatte durchaus bemerkt, dass ihr Chef für einen Moment ins Stottern geraten war und nun schwer Luft holte. "Also, es kann sein, dass er wieder mit einem Mädchen dort hingeht. Ein simpler Triebtäter, denke ich mal. Und dass er dann wieder mit seiner Fernbedienung herumspielt und dass Sie, Wimmer..."
Es war seltsam, aber sie hatte ihrem Chef ansehen können, dass er etwas ganz anderes sagte, als er eigentlich dachte.
"... dass Sie, Wimmer, dieses Signal aufspüren, orten können. Besonders groß kann die Reichweite des Senders nicht sein, vielleicht hundert Meter oder so, aber ich denke mal, dass sich unser Typ gar nicht so weit von seinem Opfer entfernt aufhält. Er will ja wohl selber etwas davon haben, oder?"

"Wie meinen Sie das, Chef?" hatte sie ihn ganz unschuldig gefragt. Das Lieschen vom Land, das von nix keine Ahnung hat.

"Also, ich denke mal, das Gerät erlaubt eine gewisse Fernstimulierung der... der Vagina. Vielleicht sogar eine recht heftige Stimulierung. Also etwas, das man sehen kann, wenn man weiß, was die Frau da ... trägt. Und in einem Raum voller Menschen wird er wohl ganz in der Nähe sein, um es sehen zu können..."

"Um was sehen zu können, Chef?" Sie hatte es genossen, ihn ein wenig zu quälen.

"Also Wimmer! Sie stellen aber auch Fragen! Aber wenn alles klappt, werden Sie es am Samstag ja selber sehen können!"

"Sie meinen, ich soll selber...??" Für einen Moment hatte sie ihren scherzenden Ton verloren.

"Ja. Genau. Sie sollen selber dahingehen, und wenn das Teil zu vibrieren anfängt, dann geben Sie uns ein Signal. Ganz einfach also!"

Sie hatte ihn mit einem Blick angesehen, der tiefste Bewunderung ausdrückte. Für einen Moment war ihr doch recht eng ums Herz geworden, sie musst den Impuls unterdrücken, den Reißverschluss ihres Mieders aufzuziehen. So etwas tut Frau nicht, hatte sie gedacht, und Männer darum beneidet, wenn diese mit der größten Selbstverständlichkeit ihre Krawatte lockerten und den Kragen öffneten. "Chef?" hatte sie dann zweifelnd angebracht, "Sie meinen also, ich soll mir das Ding unter den Arm klemmen, und dann so damit rumlaufen?"

"Genau, Wimmer. Hervorragend, wie Sie das alles begriffen haben! Sie haben doch sicherlich so eine kleine, feine Handtasche. Tun Sie das Ding da hinein und klemmen Sie sich die dann unter den Arm. Ich denke mal, das müssten Sie dann immer noch bemerken, wenn es losgeht - falls es also losgeht. Wie gesagt, die Chance ist klein..."


Hatte sie deshalb nicht aufessen können? Weil ihr jetzt bereits der ganze Vorgang auf den Magen schlug? Ingeborg Wimmer stand auf und ging zu ihrem Schrank, an dessen Tür sie das Dirndl aufgehängt hatte. Das war doch ein total hirnrissiger Plan! Das würde doch nie im Leben klappen? Und was, wenn irgendjemand sie im Gedränge anstoßen würde und ihr die Handtasche hinfiel? Und dann womöglich der Dildo kaputt ginge? Nein. So würde es nie klappen! Und eigentlich hatte sie sowieso keine Lust, bei diesem bescheuerten Plan mitzumachen. Das Dirndl war schon schlimm genug!



September III.

Eigentlich war es nie eine Frage gewesen, was er wirklich wollte. Das Problem hatte immer nur darin bestanden, es zu tun. Er war sich durchaus bewusst, dass es eine grenzwertige Erfahrung eines Sich-Outen´s und gleichzeitiger Anonymität war. Das verdammte Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen, und die ewige Angst vor Entdeckung!
Es war wirklich kompliziert. Klaus lehnte sich in seinem Sessel zurück. Warum konnte das Leben nicht einfacher sein? Warum konnte er denn nicht ganz normal sein? Aber war er denn nicht normal? Bestimmt nicht krank. ´Verhaltensgestört´, hätte man möglicherweise gesagt. Die Anderen, die hätten so gesagt. Diejenigen, die gern mit dem Finger auf andere Leute zeigten, auf ´Abweichler´ und ´Sonderlinge´, Leute, denen das Leben einen anderen Weg vorgezeichnet hatte.
Er hatte ewig mit sich selbst gekämpft, hatte lange vor dem Spiegel gestanden und überlegt, was er anziehen sollte. Dabei war es doch eigentlich ganz einfach gewesen! Was er anziehen sollte?

Er hatte leise in sich hinein gelacht. Nein, eigentlich scherte er sich keinen Deut mehr darum, was andere meinten, was er anziehen sollte. Er hatte es gelernt, in eine andere Rolle zu schlüpfen, als Barbara aufzutreten. Kein Problem. Zumindest kein großes.
Nur ein klitzekleines. Es war ... nun, es war eigentlich langweilig. In einer Stadt wie München schaute niemand mehr hin, egal, was er trug. Vielleicht würden die Leute ja noch hinschauen, wenn er es einmal wagte, im Dirndl hinauszugehen, ohne Perücke, ohne Makeup und falsche Titten. Aber er hatte nicht vor, für den ultimativen Kick sozialen Selbstmord zu begehen. Monika fehlte ihm. Vor einer Frau als Frau aufzutreten, das war das Beste, und das hatte er seit Monaten nicht mehr gehabt. Irgendetwas Dummes musste mit Monika geschehen sein; sie hatte nach dieser dämlichen Episode an Ostern total das Interesse an ihm - an Barbara - verloren. Traurig, aber wahr.

Ein kurzes Klingeln ließ ihn hochschrecken. Wer mochte das jetzt sein? Kaum jemand wusste, dass er hier wohnte, und noch weniger Leute ahnten etwas von seiner Existens als Barbara. Schwierig war allein die Tatsache, dass es leider auch einige wenige Menschen gab, die keine Ahnung von Klaus hatten, und eben nur Barbara kennen gelernt hatten. Vielleicht sollte er das Klingeln einfach ignorieren? Aber schnell näher kommende Schritte auf der Treppe ließen sich nicht mehr ignorieren. Das Schloss der Haustür war ein schlechter Witz, ein kurzer, heftiger Druck und man hatte die Tür auf.
Jemand klopfte. "Klaus? Bist du zu Hause?"

Er erkannte die Stimme sofort. Daniela war zurück! Ein seltsames Gefühl von Freude und Unsicherheit erfüllte ihn einen Moment, dann raffte er sich auf, ging zur Tür und ließ sie herein. "Dani! Das ist jetzt aber eine Überraschung! Komm rein! Bist du schon lange in München?"

Daniela umarmte ihn. "Hallo! Wie ich sehe, ist Klaus nicht zu Hause. Aber Barbara ist auch okay. Nee, ich bin noch nicht so lange hier. Aber diesmal fahre ich so schnell nicht wieder weg!" Sie lachte ihn an. "Kannst noch lange was von mir haben!"

Klaus lächelte unsicher zurück. Wirre Bilder einer Nacht tauchten in seiner Erinnerung auf. Barbara und Dani, eng aneinandergefesselt im Bett. Keine Möglichkeit der Flucht. Beide waren Opfer eines bizarren Spiels gewesen, das Monika mit ihnen getrieben hatte, während diese fast selber ins Gras gebissen hätte. Seit Monaten hatte sich niemand mehr für Barbara interessiert, es gab nichts mehr, kein Spiel, keine Herausforderung, kein Herzrasen. Auch die Kontakte, die er im Frühling noch zu anderen Frauen gehabt hatte, waren wieder eingeschlafen. Welche Frau will schon eine Beziehung mit einer Transe?? Er blickte auf, sah in Danielas Augen, sah ihr Lächeln und hörte dieses ´Barbara ist okay´. Konnte dies ein neuer Anfang sein? Hatte Daniela das Zeug dazu, ihn ähnlich zu dominieren, wie Monika ihn dominiert hatte?
"Von mir aus gern, Dani." Er kam sich blöd vor. Es drängte ihn, mit der Tür ins Haus zu fallen, aber er hatte auch Angst, etwas kaputt zu machen. Er kniff ihr ein Auge und fügte hinzu: "Hast du die Handschellen dabei?"

Daniela war an ihm vorbei ins kleine Wohnzimmer gelaufen und hatte sich ins Sofa gesetzt. Was hatte sie erwartet? Dass sie mit ihm ganz ungezwungen über ihre Ferienerlebnisse in Amerika würde reden können? Es störte sie auch, dass Klaus scheinbar immer noch nicht seine Rolle als Barbara abgelegt hatte. Wie lange sollte der Blödsinn denn noch weitergehen? Hatte sie nicht insgeheim seit Wochen darüber fantasiert, sie könnte ihm die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel geben? Und ER würde schnell auf den Geschmack kommen und merken, wie spannend es war, der dominante Part in einer Beziehung zu sein? Nun ja, sie würde halt etwas daran arbeiten müssen. Männer sind manchmal so fantasielos, manchmal muss man sie erst mit der Nase auf neue Dinge stoßen. Sie würde sich Zeit lassen müssen. "Nein, leider nicht. Weißt du noch, wie ich dich damals im Englischen Garten gefunden hatte? Als Messdienerin verkleidet und an dieses Geländer angekettet?" Sie erschauerte bei dem Gedanken. Doch nicht der Gedanke, dass sie ihn, bzw. Barbara damals in dieser prekären Situation gefunden hatte, sondern eher der Gedanke, sie hätte dort so stehen müssen, verkleidet und angekettet, am helllichten Tage, während zig Leute dort vorbeigingen.

"Allerdings. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern. Mann, was war ich froh, als du mich da losgemacht hattest!"

"Vielleicht hätte ich dich besser stehen lassen sollen?" Dani lächelte ihn unergründlich an.

"Vielleicht..." Konnte er ihr irgendein Signal geben? "Ich hätte ja nichts machen können..."

"Soweit ich mich erinnere, hast du sowieso nichts machen können, oder? Warst die ganze Nacht mit mir zusammen und bist nicht einmal über mich hergefallen!" Sie zog ein Gesicht, das bittere Enttäuschung ausdrücken sollte. War das Ernst?
"Ja, dieser scheiß Keuschheitsgürtel..." Wieder liefen blitzschnell hunderte von Bildern vor seinem geistigen Auge ab. Wie Monika ihm zum ersten Mal die Keuschheitsschelle angelegt hatte. Wie später dann der stählerne Keuschheitsgürtel dazu kam, dieses Teil, das speziell für TVs entwickelt war. Oft war es der schiere Horror gewesen, irgendwie aber auch etwas, das er jetzt schon seit Monaten vermisste. Monika war definitiv als keyholder ausgeschieden; sie hatte ihm das kurze Video und damit die Freiheit wiedergegeben, eine Freiheit, die er im Grunde genommen gar nicht haben wollte. Weil er festgestellt hatte, dass seine Freiheit als Barbara viel größer war. Dennoch fühlte er jetzt, dass er auf Danielas enttäuschtes Gesicht irgendwie reagieren musste. "Können wir ja gern nachholen! Von mir aus jetzt!"

Daniela merkte, wie ihr das Blut in die Schläfen stieg. Doch, er war immer noch interessiert an ihr! Ohne sexuelles Verlangen, ohne den animalischen Wunsch, Kontrolle über seinen Partner auszuüben, ließ sich keine SM-Beziehung etablieren. Und sie wusste, dass Klaus genau dieses Verlangen immer noch hatte. Unwillkürlich war ihre Hand in ihren Schritt gegangen, hatte sie sich für einen kurzen Moment dort berührt, wo sich binnen kürzester Zeit wieder ein heißes Feuer eingestellt hatte, aber das Gefühl von hartem Stahlblech ließ sie zurückzucken.
"Das wird noch etwas warten müssen... ich, äh, ich habe gerade meine Tage, Klaus."

Er registrierte, dass sie ihn Klaus nannte, obwohl er hier doch als Barbara neben ihm saß. Sicherlich nur ein Versprechen. Insgeheim atmete er auf, dass Daniela im Moment scheinbar keine Lust auf eine schnelle Nummer hatte.

Beide saßen noch eine Zeit lang auf dem Sofa. Daniela erzählte nun von ihrer spannenden Reise, Klaus berichtete von seiner Oma, die längere Zeit im Krankenhaus gelegen hatte. Später servierte er ein Stück Kuchen. Zum Abschied gab es eine flüchtige Umarmung; man würde sich bald wiedersehen!


Oktober XV.

Hauptkommissar Rick saß an seinem Schreibtisch und dachte über die Ermittlungen nach. Wie immer, wenn er als Todesbote hatte kommen müssen, ging es ihm anschließend schlecht. Um es milde auszudrücken. Er hatte von einer Frau Jensen, der nächsten Angehörigen, recht detaillierte Informationen über die Verstorbene bekommen, aber leider nichts, was in irgendeiner Weise auf ein mögliches Mordmotiv hinweisen konnte. Aber er war sich auch darüber im Klaren, dass, besonders bei jüngeren Leuten, selten jemand aus der Elterngeneration Näheres über den gesamten Umgangskreis des Opfers aussagen konnte. Junge Leute grenzen sich von ihren Eltern ab, ein ganz normaler, wichtiger Schritt auf dem Wege ins eigene Leben. Manchmal auch in einen gewaltsamen, frühen Tod.
Dennoch hatte er einige Namen erhalten, denen man nun etwas mehr Aufmerksamkeit würde widmen müssen. Trotz der immer noch fehlenden Handtasche war er sich sicher, dass ein simpler Raubmord auszuschließen war; junge Leute haben selten teure Dinge dabei, die sich für einen Kriminellen lohnen würden. Es sei denn, es handelte sich um ein Handy. Aber auch, wenn der Hype um ein immer wieder neues Gerät geradezu paranoide Ausmaße erreicht hatte, sah er hier kaum ein Mordmotiv. Smartphones wurden zwar ständig gestohlen, man klaute sie den Leuten aus der Tasche, wenn bloß ein halber Zentimeter noch ein wenig hervorlugte, oder, dreister, man riss sie dem Besitzer einfach aus der Hand und machte sich per Fahrrad aus dem Staub.
Eigentlich war es noch nicht einmal ganz klar, ob es sich um einen Mord handelte. Was eher unwahrscheinlich war. Gestorben war die junge Frau schließlich an ihrem Sturz hinunter in das Kiesbett der Isar, nicht an dem Schlag ins Gesicht. Trotzdem aber musste in der Sache ermittelt werden. Er war recht zuversichtlich, die Sache bald aufgeklärt zu haben.
Weniger zuversichtlich war er hinsichtlich der für den nächsten Abend geplanten Aktion bei der Geidi-Gaudi. Dieses Fest für junge Leute würde das letzte Mal in diesem Jahr stattfinden, man durfte die Möglichkeit, hier eventuell doch noch einen Ansatz zur Lösung des Falles zu finden, nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Rick bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl. Er wusste, dass er sich auf gefährliches Eis hinausgewagt hatte. Die Kombination von Frau, Dirndl und Keuschheitsgürtel hatte ihn alle übliche Vorsicht beiseite fegen lassen. Ging irgendetwas schief, konnte ein Verdächtigter eventuell entkommen, oder gar seiner Kollegin Schaden zufügen, dann trug er dafür die Verantwortung. Was aber sollte schiefgehen? Wimmer war eine erfahrene Beamtin, die wohl jeder Situation gewachsen war. Und er selber würde im Hintergrund bleiben. Was ihn auf einen Gedanken brachte, der ihm jetzt erst einfiel. Würde man ihn überhaupt hineinlassen? Kommissarin Wimmer war mit ihren 28 Jahren noch jung genug, dazuzugehören, er aber war Mitte 40, und das war gleich eine andere Sache. Also gut. Umdenken. Er würde sie im Wagen dort hinbringen, und dann dort auf sie warten. Draußen vor der Tür.

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Ingeborg Wimmer ging es nicht gut. Noch konnte sie die ganze Sache abblasen. Ihr Chef hatte ihr den neuen Modus der Aktion erklärt; er würde, sozusagen Gewehr bei Fuß, draußen im Wagen warten. Den Rest würde sie allein durchziehen müssen. Auf ein Signal warten, auf ein erhofftes Aktivieren des elektronischen Dildos, den sie in einem kleinen Handtäschchen unter dem Arm tragen würde. Wie genau sie dann vorgehen sollte, müsste sie aus der Situation heraus entscheiden: eine Festnahme, wenn ein konkreter Verdacht gegen eine Person vorlag, oder nur ein Funksignal an ihren Chef, der das Weitere entscheiden müsste.
Sie konnte keine Ruhe finden. Idiotischerweise war sie etwas früher zu Bett gegangen in der falschen Hoffung, für den nächsten Tag extra gut ausgeruht zu sein. Fahles Licht von der Straßenseite fiel in ihr Schlafzimmer. Trotz der spärlichen Beleuchtung konnte sie das Dirndl gut erkennen, das immer noch an der Tür ihres Schlafzimmerschranks hing.

Sie stand auf. Warf Slip und T-Shirt aufs Bett. Ging in die Küche und entnahm dem Karton die vielen glänzenden Teile. Sie begann zu zittern, als sie sich den kalten BH umlegte. Ohne zu zögern ließ sie das kleine Schlösschen einschnappen. Dann montierte sie den Dildo auf dem Schrittteil des Keuschheitsgürtels und zog auch diesen an.
Wie funktionierst du?, dachte sie, als sie sich den Dildo einführte. Sie hatte sich keinen Reim auf die vielen kleinen Löcher machen können, die sie gesehen hatte. Wahrscheinlich war es eine Art von Ventilation. Ihre Finger drückten das zweite Schlösschen zu; sie zog die Schlüssel von beiden ab und steckte diese in ein kleines Säckchen. Dann öffnete sie das Fenster. Es gab einen kleinen Vorgarten; mit etwas Glück sollte sie diesen treffen können.

Ihr Dirndl! Morgen Abend sollte sie so unter die Leute gehen. Nein, natürlich nicht so. Morgen sollte sie ja das Ding unterm Arm tragen. Sie zog sich einen BH an und schlüpfte dann in die kurze, weiße Bluse mit den lächerlichen Puffärmeln. Das Kleid folgte, sie stieg von oben hinein, streife sich die Träger über die Arme, zog das Kleid hoch und schloss den Reißverschluss am Mieder. Zu guter Letzt band sie sich die Dirndlschürze um; fertig.
Wirklich fertig? Ihr fielen ihre Handschellen ein, das wäre mal eine schöne Sache, so mit auf dem Rücken gefesselten Armen im Vorgarten nach einem kleinen Säckchen zu suchen...



September IV.

Wie schnell doch der Monat vorbeigegangen war! Monika konnte es kaum glauben. Sie hatte in den letzten Wochen kaum noch Zeit für andere gehabt, was ihr herzlich leid tat, jetzt, wo Daniela im kleinen Gästezimmer wohnte. Aber auch Dani war ständig unterwegs, da gab es genug Dinge für die Neu-Münchnerin zu erledigen, sodass beide Mädchen sich an manchen Tagen nur kurz über den Weg gelaufen waren. Und jetzt wird bald alles erst einmal vorbei sein, dachte sie, als sie abends Daniela gebeten hatte, auf ihr Zimmer zu kommen.
"Und? Wie läuft´s so, Dani? Du hattest ja in letzter Zeit wenig Zeit für mich... für uns."

"Das musst du gerade sagen. Bist ja selber ständig unterwegs. Was machst du eigentlich im Moment? Wolltest du mich nicht noch bei den Messdienern deiner Gemeinde einführen? Ich kann da ja nicht einfach so hingehen!"

"Ja, stimmt. Das hätte ich fast vergessen. Sorry, Kleine. Aber wenn du es genau wissen willst, was ich mache: Ich bereite mich vor." Monika blickte sie nicht an.

"Was mit deinem Studium, Moni? Examen oder so? Scheint ja wichtig zu sein..."

"Nein. Mit dem Studium hat es nichts zu tun. Aber wichtig ist es, ja, lebenswichtig..." Sie schwieg und wartete auf eine neue Frage, aber es kam keine. So fuhr sie selber fort: "Du triffst dich mit Klaus?"

"Jein. Ich weiß nicht... Treffe ich mich mit Klaus? Ehrlich gesagt, er ist nie da, wenn ich mal komme." Daniela verzog den Mund. "Also da ist er schon, aber er macht immer einen auf Barbara. Sieht ja auch gut aus, und manchmal denke ich, der Kerl sieht als Frau sogar besser aus als ich, aber...." Sie zuckte mit den Schultern.

"...aber du möchtest nicht mit Barbara zusammen sein, sondern mit Klaus? Mit einem richtigen Kerl?"

"Ja, irgendwie schon. Er ist doch ein echt netter Kerl... Also, damals, also im letzten Winter und zu Ostern, da war das ja was anderes, da hatte er ja keine Wahl, da gab es ja dieses Spiel zwischen ihm und dir..."

"Spiel, Dani? Ein Spiel war das nicht. Ich wollte es, und ich glaube, er wollte es auch."

Daniela zögerte. "Schade. Er wäre ein prima Keyholder für mich... Du hast ja kein Interesse mehr, wenn ich das richtig sehe."

Monika stand vom Bett auf, auf dem sie gesessen hatte. "Ich weiß nicht, woran ich Interesse habe, Dani. Es ist nicht so einfach. Aber ich werde es bald herausfinden. Sag mal, kommst du klar in dem kleinen Zimmer? Das Gästezimmer ist ja eher was für jemand, der nur mal ein paar Tage bleibt."

Daniela lachte. "Platz ist in der kleinsten Hütte! Aber im Ernst, etwas eng ist es schon. Ist auch blöde, dass ich da noch nicht einmal einen ordentlichen Arbeitstisch habe. Muss ja auch mal irgendwo studieren können!"

"Kannst meinen haben!" Da war es heraus. Sie hatte lange überlegt, wie sie es Daniela sagen sollte, und jetzt kam es eben auf diese Weise.

"Deinen? Deinen Arbeitstisch? Wie soll der denn in das winzige Gästezimmerchen passen, Moni?"

"Soll er ja gar nicht. Du kannst mein Zimmer haben. Ich brauche es demnächst nicht." Jetzt blickte sie die erschrockene Freundin an. "Ich verreise."

Daniela glaubte einen Moment, falsch gehört zu haben. "Was?? Du fährst weg? Wann denn? Wohin denn? Aber ... du kommst doch wieder? Oder?" Alles konnte sie sich vorstellen, nur nicht, dass Monika für einige Tage wegfahren wollte.

"Klar komme ich wieder! Aber wahrscheinlich erst nächstes Jahr. Ich... ich nehme mir ein Sabbatjahr. Ich fahr zu meinem Vater, nach..."

"Nach Australien?? Bist du verrückt? Du kannst doch nicht einfach wegfahren, jetzt, wo ich gerade erst..."

"Dani! Ich muss das machen! Glaube mir, ich habe ewig und drei Tage darüber nachgedacht, ob ich es machen soll, oder nicht. Und ich glaube, dass ich es machen muss."

"Aber du hast doch gar keinen Kontakt mehr zu deinem Vater!"

Monika senkte den Kopf. "Das ist leider nicht so ganz richtig. Oberflächlich gesehen mag das stimmen. Aber irgendwo tief in mir drin sind Dinge und Geschehnisse, die mich immer noch beherrschen und mir das Leben zur Hölle machen. Oh nein! Glaub mir, das alles ist erst durch die Ereignisse an Ostern wieder zur Oberfläche gekommen, und deine Tante hat mir ganz entscheidend dabei geholfen, etwas Licht ins Dunkel meiner Seele zu lassen. Sie war es auch, die vorgeschlagen hatte, ich sollte meinen Vater aufsuchen und endlich mit ihm ins Reine kommen." Sie schlang einen Arm um Daniela, die angefangen hatte, leise zu weinen. "Tut mir leid, Kleine. Echt. Aber es muss sein..."

Daniela zog die Nase hoch. "Aber... aber du kannst mich doch hier nicht allein lassen, Moni!"

"Ach Quatsch. Nu mach mal halblang. Du bist doch gar nicht allein. Mutter ist doch auch noch da!"

"Deine Mutter steckt mich doch bloß wieder in den Keuschheitsgürtel. Beim letzten Mal hat es ja auch ewig gedauert, bis sie mich wieder aufschloss! Ein Sinklave habe noch keinem Mädchen geschadet, so lästerte sie immer."

"Ach Unsinn! Mutter ist ganz lieb. Du darfst sie halt bloß nicht provozieren. Ja, sie spinnt manchmal etwas rum, von wegen auf kleine Mädchen aufpassen und so, aber du bist ja kein kleines Mädchen mehr. Du musst dir halt nicht alles von ihr gefallen lassen."

"Das sagst du so! Wann fliegst du denn? Bald hoffentlich noch nicht?"

"Doch. Schon Anfang Oktober. Und je eher ich fliege, desto eher bin ich auch wieder da! Klar? Ist ja gar nicht gesagt, dass ich ewig lang wegbleibe."

"Vielleicht bist du Weihnachten schon wieder da?" Ein Hoffnungsschimmer flog über Danielas verheultes Gesicht.

Monika lachte. "Damit du eine Schneeballschlacht mit mir machen kannst? Dani, ich weiß es nicht. Nichts ist unmöglich. Vielleicht bin ich sogar schon zur nächsten Geidi-Gaudi wieder da! Wir könnten wieder zusammen hingehen..."

"So wie letztes Jahr?" Danielas Gesichtsausdruck sprach Bände. Scheinbar schien ihr die Vorstellung zu gefallen.

"Scheinst es ja kaum erwarten zu können, Dani!" Monika lachte. "Von mir aus gern. Aber diesmal wollen wir lieber selber mit der Fernbedienung experimentieren, nicht wahr?" Sie kniff ihrer Freundin ein Auge, welches diese nur zu gut verstand. Da war letztes Jahr doch so einiges schief gegangen.

"Wo wohnt dein Vater denn? Oben in den Tropen? Oder unten in Tasmanien?"

"Irgendwo in den Weinanbaugebieten in der Nähe von Adelaide." Sie kicherte etwas, dann fügte sie hinzu: "Also in der Nähe vom Südpol!"

"Weiß er schon, dass du kommst? Hast du ihm geschrieben?"

"Nein. Und ich glaube auch nicht, dass ich es tun werde. Ich glaube, es ist besser so. Aber jetzt wollen wir dieses Thema lieber lassen, ja? Komm, Kleine. Komm zu mir ins Bett. Wenn ich das richtig sehe, steht uns heute Abend kein blöder KG im Wege. Mutter hat mich bereits rausgelassen, weil es im Moment verdammt unpraktisch ist und ich wegen der Reise sowieso keinen mehr tragen kann, und mit Claudia beziehungsweise Agnes war das auch kein Problem." Sie lächelte ihre Freundin an. "Und wohl auch, damit wir beide ein wenig Spaß zusammen haben können, bevor ich wegfahre!"


Oktober I.

Traurig schaute Daniela dem Zug hinterher. Das hier war irgendwie nicht richtig. Der Spaß war vorbei, bevor er überhaupt angefangen hatte. Monika hatte sich aus dem Staub gemacht, und sie hier in der Scheiße sitzen lassen.
Wie anders hatte alles vor gerade einmal einem Jahr ausgesehen! Damals war sie weggefahren, zurück nach Köln. Sie steckte in Claudias Dirndl und in ihrem Keuschheitsgürtel und -BH, und Monika hatte die Hand mit den Schlüsseln von außen gegen das Zugfenster geklatscht, ein Fenster, das sich nicht öffnen ließ. Auch wenn sie damals noch einige Tage im Keuschheitsgürtel stecken blieb, so hatte sie ganz bewusst den Reiz einer ihr bis dahin unbekannten Dominanz wahrgenommen. Eine Dominanz, die sie sich sehnlichst zurückwünschte. Jetzt aber schien alles den Bach runterzugehen.

Eine knappe halbe Stunde später drückte sie mit der Schulter gegen die Eingangstür zum kleinen Treppenhaus, wo Klaus wohnte. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, erst zu klingeln, sondern ging gleich nach oben, klopfte drängend gegen die Wohnungstür und rief ihren Namen. "Klaus? Ich bin´s, Dani. Machst du auf?"

Doch nicht Klaus öffnete ihr, sondern wieder Barbara, wie schon in den Tagen zuvor. Daniela, die sich eben noch gewünscht hatte, von ihm in den Arm genommen und getröstet zu werden, machte einen kleinen Bogen um ihn. "Schon wieder? Sag mal: Klaus, gibt es den überhaupt noch? Wieso rennst du bloß immer in diesen Klamotten rum? Und mit diesen Absätzen machst du dir ganz bestimmt die Füße kaputt!"

Klaus reagierte nicht sofort. Irgendwie verstand er nicht, wieso Daniela seine weibliche Seite nicht akzeptieren konnte - oder wollte. "Wenn du nur zum Motzen hier hergekommen bist..."

"Nein, entschuldige. Dumm von mir. Aber ich verstehe es nicht so ganz. Vor Ostern hat Monika dich dazu zwingen müssen, du weißt schon, das Video das so ziemlich genau zeigt, was du mit mir Schlimmes gemacht hast, aber du hast ja den Film wieder zurückgekriegt..." Sie ließ den Satz unvollendet im Raum stehen, wohl wissend, dass sie dem Wort ´Schlimmes´ eine ironische Note gegeben hatte. Ob er es verstanden hatte? Ob er endlich begriff, dass sie gar nichts dagegen hätte, würde er noch einmal dasselbe mit ihr anstellen?

Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Sollte er sie fragen: was willst du eigentlich von mir? Oder sollte er besser gleich sagen, was er von ihr wollte? Stattdessen fiel ihm nur eine total blöde Frage ein, die er bereute, sobald er sie ausgesprochen hatte. "Willst du mit mir schlafen? Oder hat Monika dich wieder eingeschlossen?"

Daniela blickte ihn lange an. Er sah, dass ihre Augen feucht wurden. "Moni ist weg."

Klaus sandte ihr einen fragenden Blick.

"Sie fliegt heute Abend nach Australien. Zu ihrem Vater. Ich habe sie eben zum Zug gebracht."

"Australien?" Klaus zog eine Augenbraue hoch.

"Ja. Ihr Vater ist Australier. Sie sagte, es sei lebenswichtig für sie..."

"Also keine geilen Spielchen mehr..."Klaus murmelte es vor sich hin, mehr für sich, als für Daniela. Diese aber bezog es auf sich und gab ihm sofort recht.

"Nein. Leider.... keine geilen Sachen mehr, jetzt wo Moni weg ist. Ich hatte mir den Herbst anders vorgestellt."

"Die Geidi-Gaudi", murmelte Klaus, ohne hochzusehen.

"Ist das dieses Jahr wieder?"

"Ja. In zwei Wochen das erste Mal."

"Vielleicht hast du Lust, mit mir hinzugehen?" Sie schaute ihn an, aber Klaus antwortete nicht. Stattdessen stand er auf und sah aus dem Fenster, ohne weiter auf das Thema einzugehen.

102. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 20.03.13 22:18

Hi Daniela,

also langweilig ist dieser Teil ganz bestimmt nicht. Und daß nix passiert, da kann ich auch nicht zustimmen. Es geschieht sogar ne ganze Menge, wenn auch subtil, ganz ähnlich wie bei einem Schachspiel vor dem Endspiel, gerade so wie Du es sagst.

Ingeborg schafft es doch immer wieder, den Rick etwas mehr aus der Reserve zu locken, als er selbst es will, mit ihrer gespielten Naivität. Und trotz aller Professionalität kommen sich die beiden irgendwie trotzdem immer näher, will mir scheinen. Sie tut, was er von ihr verlangt, und dabei mehr, als eine Ermittlung erfordern würde. Wenn der Rick wüßte, daß Ingeborg inzwischen in ihrer Freizeit ganz freiwillig ein paar Schlösser zudrückt, um dann im Vorgarten nach einem Schlüsselsäckchen zu suchen, ich denke, er würde mehr als nur den Schlips etwas lockern müssen... Und wundern würde mich auch nicht, wenn der Dildo auch bei der Geidi-Gaudi eben nicht in der Handtasche nur verschwunden ist - damit er nicht kaputt gehen oder gar entwendet werden kann... Allein wundert mich, daß die Ermittler bisher nicht rausfinden konnten, wie das Teil genau funktioniert, oder gar eine neue Fernbedienung beschaffen konnten, um Funktionstests durchzuführen, oder allein nur die Sendefrequenz für eine Anpeilung herauszufinden. Aber Rick wird ja ohnehin nur "Draußen vor der Tür" auf sie warten (hoffentlich ohne Gasmaskenbrille, so wie Beckmann sie im gleichnamigen Roman von W. Borchert trägt).

Daß Monika nun so plötzlich nach Australien will, damit hast Du mich echt überrascht. Für sie macht es wahrscheinlich sogar eine Menge Sinn, wenn sie für sich irgendwie auch nicht weiter weiß. Dann begibt man sich schon mal auf die Suche nach seinen Wurzeln, besonders, wenn man sie eben nicht wirklich kennt. Man kann ihr nur wünschen, daß sie das findet, wonach sie für ihre Orientierung sucht - denn nur zu häufig scheint dieser Versuch zu mißlingen, nicht zuletzt deswegen, weil man selten das findet, womit man gerechnet hat, was nur zu noch mehr Verwirrung führen kann. Daß Dani davon nicht begeistert ist, kann ich mir vorstellen. Schließlich bedeutet das für sie, einen Halt verloren zu haben, oder die Gelegenheit für geile Spielchen, die sie zu schätzen gelernt hat und nun eben nicht mehr missen will.

In Klaus scheint Dani jetzt zu projezieren, was sie eigentlich will - und dabei ganz zu übersehen, was doch so offensichtlich mit ihm los ist. Klar wird er nicht mehr von außen gezwungen, Barbara zu sein - und wenn er dennoch Barbara sein will, dann liegt der Grund dafür doch eigentlich auf der Hand, auch wenn der Hintergrund dafür unklar bleibt. Wenn die beiden doch endlich mal Klartext miteinander sprechen und Verständnis füreinander entwickeln würden, anstatt aus nichtsnutziger Angst so undeutlich miteinander rumzuspielen, und dann noch mit unausweichlichen Mißverständnissen gespickt; sie könnten möglicherweise sogar die besten Freundinnen werden. Aber der Wunsch zur Befriedigung anderer, eigener Bedürfnisse scheint so übermächtig, daß hierfür wohl kaum Raum ist - eigentlich noch nicht einmal Raum für die andere Person. Wirklich schade, und fast schon gefährlich, denn wenn das große Erwachen wider Erwarten doch einsetzt, bricht ein Kartenhaus zusammen, und Frust bleibt dann, der sich im schlimmsten Fall beim anderen entlädt, obwohl hierfür eigentlich kein Grund besteht, denn das wacklige Kartenhaus hat nicht der andere gebaut. Wirklich vertrackt, aber so sind Menschen wohl gebaut. Aber in einem irrt sich Dani ganz gewaltig: In seiner jetzigen Verfassung ist Barbara kaum in der Lage, ein "prima Keyholder" für Dani zu sein, auch wenn sie Recht haben mag, daß Klaus an sich ein "netter Kerl" ist.

Das Ende Deiner Geschichte scheint leider in sehr spürbare Nähe gerückt zu sein. Dennoch bleiben so viele Unklarheiten, daß es sehr spannend geblieben ist. So spannend, daß man es einerseits zwar immer mehr wissen will, wie es sich nun auflöst - aber dennoch genau diese Spannung immer noch länger genießen will. Fast schon so, wie bei der Keuschhaltung im KG: Man will irgendwann den Höhepunkt erleben, aber die Spannung und Geilheit davor "gezwungenermaßen" doch so lange wie möglich auskosten...

In diesem Sinne: Herzliche und liebe, wenn auch keusche Grüße
Keuschling

PS.: Geschmunzelt habe ich über den Ausspruch von Monika: "Treffe ich mich mit Klaus? Ehrlich gesagt, er ist nie da, wenn ich mal komme." Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob Du die Zweideutigkeit wirklich beabsichtigt hast...
103. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 24.03.13 22:00

Endlich Frühling! Aber nur auf dem Kalender! Deshalb für Euch alle hier etwas zum Aufwärmen! Eure Daniela
PS: Heute Nachmittag habe ich den ersten Kiebitz gesehen!! Also kommt er jetzt doch, der Frühling!!

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Oktober II.

Daniela schloss die Tür auf und trat ins Haus. Sie brauchte nicht zu klingeln, Monikas Mutter hatte ihr gesagt, jetzt, wo sie hier wohne, bräuchte sie das nicht, sie habe ja selber einen Schlüssel.
Ihr war nicht unbedingt nach einem gemütlichen Stündchen mit Pia, Monikas Mutter, zumute, sie wollte lieber allein sein, es war sowieso schon spät geworden. Doch als sie die Tür zu ihrem kleinen Gästezimmer öffnete, bemerkte sie, dass ihre Sachen fehlten. Pia hatte wohl schon den Nachmittag dazu genutzt, ihre Sachen in Monikas Zimmer zu bringen. Also ging sie selber hinüber und ja, da war alles schon da; nichts fehlte. Nichts, bis auf Monika. Es kam ihr komisch vor, wie ein unerlaubtes Eindringen in die Privatsphäre einer anderen Person. Sie konnte ja wohl kaum davon ausgehen, dass Pia auch alle Monikas Schränke ausgeräumt hatte.
Ihr lief ein leichter Schauer den Rücken hinab. Es war lange her, dass sie selber in einen der Schränke geschaut hatte, es war im letzten Herbst gewesen. Sie erinnerte sich noch gut, was Monika ihr alles zum Anziehen gegeben hatte. Scheinbar musste sie diverse Aufgaben lösen, damit Monika dann Fotos davon an Claudia schicken konnte, damit diese dann verriet, wo sich die verschiedenen Schlüssel zu ihrer Keuschheitsausstattung befanden. Erst später war es ihr aufgegangen, dass Claudia nicht das Geringste damit zu tun hatte.
Müde setzte sie sich an den Schreibtisch. Endlich ein guter Tisch zum Arbeiten! Seltsam, wie sehr Erfolg oder Misserfolg eines Studiums von den äußeren Bedingungen abhängig sein konnten, und ein vernünftiger Arbeitstisch gehörte genauso gut dazu wie eine ordentliche Behausung, vernünftiges Essen, bezahlbare Verkehrsmittel, die Verfügbarkeit von Büchern in der Uni-Bibliothek und und und... Und es war klar, dass man nicht gleichzeitig studieren und jobben konnte, auch wenn diese unsägliche Sache immer mehr um sich griff. Dumm nur, dass sich in der Bevölkerung ein falsches Bild breit gemacht hatte: das vom fleißigen Studenten, der während seines Studiums noch irgendwo kellnert, wohingegen diejenigen, die die Mittel hatten, alles ohne Nebenjob durchzuziehen, als eher faul galten.

Sie beschloss, ins Bett zu gehen. Daniela ging ins Bad, wusch sich und putzte die Zähne, dann ging sie zurück aufs Zimmer und schlug die Bettdecke zurück. Sie erschrak, als sie sah, was dort lag.
Hatte sie das hier erwartet? Einen letzten Gruß von Monika? Sie wusste es nicht. Und sie wusste auch nicht, wie sie reagieren sollte. Sie würde Hilfe brauchen, soviel stand fest. Allein konnte sie das hier nicht schaffen. Aber wollte sie es?
Nein. Moni war weg. Was hätte Moni also davon, wenn sie dieses Ding hier anzöge? Sie streckte die Hand danach aus, der rauhe, steife Stoff schien ihr fast so etwas wie einen Schlag zu versetzen. Oh Moni, warum bist du nicht hier, wenn du willst, dass ich deine Zwangsjacke anziehe??

Sie nahm das Ding vom Bett auf. War sie letztes Jahr auch schon so schwer gewesen? Sie wusste es nicht mehr. Bizarre Bilder tauchten in ihrer Erinnerung auf. Sie stand auf dem Gartentisch, gefesselt mit eben dieser Zwangsjacke, und drehte sich langsam um ihre Achse. Sie bekam kaum Luft, denn Monika hatte ihr auch die Gasmaske aufgesetzt. Und hatte ihr irgendetwas mit Lippenstift auf den nackten Hintern geschrieben.
Daniela wollte die steife Zwangsjacke weglegen, aber es ging nicht. Sie drehte die Jacke um, sodass es ihr leicht fiel, mit den Armen in die langen, zugenähten Ärmel zu schlüpfen.Bestimmt würde Moni gleich kommen, würde sie fest einschnallen...

"Oh, hast du sie schon gefunden? Wart mal, ich helfe dir!" Es gab ein kurzes, verspätetes Klopfen an ihre Zimmertür, dann sah sie Pia auf sich zukommen. Sie konnte sich nicht rühren.Stand da wie angewurzelt. Oder - wie ertappt. Und sie verpasste den Moment, die Jacke wieder auszuziehen.
Pia war mit wenigen Schritten bei ihr, drehte sie bei den Schultern herum und hatte schon die ersten beiden Gurte auf dem Rücken zusammengeschnallt. Es folgte ein weiterer, dann griff Monikas Mutter durch ihre Beine, packte den langen Gurt, der vorn von der Zwangsjacke herabhing und zog diesen durch ihren Schritt und schnallte ihn ebenfalls fest. Gekonnt führte sie dann Danielas Arme durch den losen Gurt auf der Vorderseite der Zwangsjacke, fädelte die an den Ärmeln angebrachten Gurte durch weitere Schlaufen unter ihren Achseln und schnallte dann alles mit einer schnellen Bewegung auf dem Rücken zusammen.
"Na, wie fühlst du dich? Ich dachte mir, es wäre schön für dich, die ab jetzt zum Schlafen zu tragen. Meinst du nicht? Jetzt, wo Moni sich nicht mehr um dich kümmern kann? Komm, hopp ins Bett! Und nicht mehr so lange lesen!"
Pia half ihr, sich halbwegs bequem hinzulegen, dann deckte sie sie mit der Bettdecke zu. "Kleiner Scherz! Aber ich glaube, du wolltest sowieso gleich schlafen, nicht wahr? Also, meine Kleine, ich mach dann mal besser das Licht aus... Oder soll ich noch ein Foto von dir machen? Ein Foto für Moni? Aber das können wir auch morgen Abend noch machen. Vorerst haben wir sowieso keinen Kontakt zu Monika. Dauert ja ziemlich lange, bis sie bei ihrem Vater ist. Dumme Idee das Ganze! Und wer hat ihr das eingeredet? Deine Tante!"

Endlich fand Daniela ihre Stimme wieder. "Meine Tante? Was soll denn Tante Agnes damit zu tun haben. Ist doch Quatsch, Pia, und jetzt lass mich aus diesem Ding hier wieder raus!" Sie hatte sich im Bett aufgerichtet, so gut es ging, und war laut geworden. Auch begann sie, an den langen Ärmeln zu ziehen und zu zerren, obwohl sie genau wusste, wie aussichtslos das war.
Pia blickte sie missbilligend an. "So ein Geschrei! Kann ich ja gar nicht gut vertragen, Kleines! Jetzt wollen wir mal lieber Nachtruhe halten..." Sie griff in eine Schublade von Monikas Nachttisch, zog einen schwarzen Ballknebel hervor und drückte diesen ziemlich unsanft gegen Danielas Lippen, die keine andere Wahl hatte als den nicht gerade kleinen Knebel aufzunehmen. Pia schnallte die Riemen hinter ihrem Nacken zusammen, dann beugte sie sich dicht über ihr Gesicht. "So gefälltst du mir schon viel besser! Und keine Angst: Moni muss auch oft so schlafen!" Und dann begann sie, Danielas geknebelten Mund zu küssen, wobei sie immer wieder mit ihrer Zunge über die Lippen des jungen Mädchens fuhr. "So, gute Nacht! Bis morgen. Und schlaf nicht so lange!" Sie löschte das Licht und ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Daniela lag wie versteinert da. Was war das jetzt? Sie versuchte, den Knebel mit der Zunge aus dem Mund zu drücken, gab es aber bald auf. Sie wusste auch, dass sie keine Chance gegen die Zwangsjacke hatte. Sie bemühte sich, ruhig und regelmäßig zu atmen, keine Panik aufkommen zu lassen. Der Schrittgurt drückte gegen ihre Scham; es erregte sie, plötzlich so hilflos in Monikas Bett zu liegen. Eigentlich war alles richtig, nur eines war falsch: dass es Moikas Mutter war, der sie nun ausgeliefert war. Hoffentlich nicht allzu lange, dachte sie, während sie in ihren Knebel biss.
Noch einmal wurde die Tür geöffnet. "Ach, Dani, das hätte ich beinahe vergessen! Morgen ist Messe dienen für dich, um Viertel nach elf. Sollte ich dir noch von Monika bestellen! So, schlaf gut!"

Daniela gab einen unverständlichen Grunzlaut von sich, wollte noch einmal auf ihre missliche Lage aufmerksam machen, aber Pia war schon wieder gegangen. Also doch! Zusammen mit Monika war sie vor wenigen Tagen dem neuen Pfarrer vorgestellt worden, der sich sichtlich über die unerwartete Verstärkung bei seinen wenigen Messdienern freute. Natürlich hatten die beiden Mädchen auch einen Blick in die kleine Seitenkapelle geworfen. Die sogenannte Messdienerstrafbank sah auf den ersten Blick unverändert aus, dann aber sahen sie, dass das aufklappbare Brett, welches der Fixierung der Hände an der vorderen Bank gedient hatte, abmontiert war. Und auch der solide Block, mit dem sich die Beine des knieenden Messdieners fesseln ließen, war verschwunden. Einzig die horrende Sitzbank, deren stachelige Unterseite sich nach oben klappen ließ, war noch vorhanden, aber man hatte den Klappmechanismus mittels langer Schrauben außer Gefecht gesetzt. Nie wieder würde hier ein junger Mensch Blut und Wasser schwitzen.


November I.

Ingeborg Wimmer erwachte spät. Sie hatte nachts lange wach gelegen, hatte danach unruhig geschlafen und wildes Zeug geträumt. Ach ja, ihre Fantasie hatte ihr einen Streich gespielt. Hatte ihr vorgegaukelt, es getan zu haben. Das, was sie erst heute Abend tun wollte.
Noch einmal ließ sie sich Ricks Plan durch den Kopf gehen. Verrückt, ganz einfach verrückt. Das konnte ja gar nicht funktionieren! Wenn da seit einer Woche ein junger Kerl herumlief, der das Mädchen auf dem Gewissen hatte, dann würde er wohl nicht gleich bei der nächsten Gelegenheit wieder zuschlagen, oder? Andererseits musste man in Betracht ziehen, dass die heute stattfindende Geid-Gaudi in diesem Jahr die letzte war. Konnte also gut sein, dass er entgegen aller Erwartungen doch wieder zuschlug. Wer wusste schließlich, über wieviele dieser seltsamen Keuschheitsgürtel er verfügte, inklusive des sicherlich teuren Elektronikteils? Niemand konnte das sagen.
Dennoch hatte Wimmer ihre Zweifel. Es war wenig wahrscheinlich, dass ausgerechnet ein Mann, der noch altersmäßig zum Kundenkreis zählte, bereits ein so raffinierter Triebtäter sein konnte. Junge Männer handelten meist aus dem Affekt, gern nach durchzechter Nacht. Die Anwendung elektonischen Schnickschnacks war absolut untypisch.
Sie schwang die Beine aus dem Bett. Eigentlich hatte sie heute dienstfrei. Warum sie diese Aktion trotzdem mitmachte, wusste sie selber nicht so ganz genau. War es der berufliche Ehrgeiz, oder lag dem etwas anderes zugrunde?

Sie bekam den Kopf nicht frei. Nicht einmal die heiße Dusche half heute. Sie schaute in den Kühlschrank und stellte fest, dass sie vergessen hatte, einzukaufen. Also erst mal anziehen und zum Bäcker!
Wimmer suchte einen sauberen Slip und einen weißen BH hervor und zog beides an. Dann griff sie nach ihrer Jeans, die sie gestern getragen hatte, und hielt plötzlich in der Bewegung inne. Ihr Herz schlug einen Momen schneller, als sie an das Kleid dachte, das immer noch an ihrer Schranktür hing. Sie im Dirndl! Total verrückt. Selbst als sie sich im Präsidium damit ihrem Chef präsentierte, hatte sie das Dirndl sofort anschließend wieder ausgezogen. Das war einfach nichts für sie! Heute aber sollte sie es in aller Öffentlichkeit tragen!
Vielleicht sollte sie besser gleich ins kalte Wasser springen? Sie ließ die Jeans fallen, bewegte sich mit mechanischer Langsamkeit zu ihrem Schrank, nahm das Kleid vom Bügel, hob die Arme, so als wären sie aus Gummi, zog sich die Dirndlbluse über und stieg danach in das Kleid. Hatte sie gehofft, dass es über Nacht eventuell zu klein geworden war? Alles passte wie angegossen. Allerdings saß das Mieder sehr eng, nachdem sie den Reißverschluss geschlossen hatte bekam sie fast Atemnot ´Ein ordentliches Dirndl muss eng sitzen´, hatte die Verkäuferin ihr gesagt. ´Und Sie wollen doch wohl nicht doof aussehen, oder?´ Nein, das wollte sie nicht.
Den Blick in den Spiegel hätte sie sich besser geschenkt. Sie musste den Impuls unterdrücken, sich das seltsame Kleid, das so gar nicht zu ihr passte, sofort wieder auszuziehen. Nein, sie würde jetzt so zum Bäcker gehen. Sie war schließlich tough. Außerdem würde sie eine Jacke darüber anziehen, denn der Vormittag war frisch, der Herbst lag in den letzten Zügen. Entschlossen schnappte sie sich ihren Einkaufskorb und verließ die Wohnung.



Oktober III.

Daniela hatte die Nacht über kaum ein Auge zugetan. Was vielleicht nicht stimmte, aber ihr selber kam es so vor. Als sie am Morgen erwachte stellte sie fest, dass sie sich kaum bewegen konnte. Es war kein geiler Traum gewesen, der sie wach gehalten hatte, sondern sie steckte wirklich in dieser steifen Zwangsjacke, aus der sie sich nicht allein befreien konnte.
Sie spürte, dass ihre Spalte klitschnass war. Stundenlang hatte der Schrittgurt an ihrer Klit gerieben, hatte sie nicht schlafen lassen. Hatte sie aber auch nicht zu einem Höhepunkt kommen lassen. Ihr Kopfkissen war nass, sie hatte es nachts nicht vermeiden können, mit ihrem geknebelten Mund unangenehm zu sabbern. Der schwarze Ballknebel hatte ihr gottlob weniger Probleme bereitet, als befürchtet, es war schließlich nicht das erste Mal für sie.

Wo mochte Monika jetzt sein? Sie hatte keine Ahnung. Daniela wusste, dass Monika erst abends von Frankfurt abgeflogen war, und dass sie in Singapur umsteigen wollte. Aber allein dieser erste Flug dauerte mindestens zehn Stunden, es war kaum möglich, dass Monika schon irgendwo angekommen war. Ob Monika wohl wusste, in welcher Situation sie sich gerade befand? Sie war sich nicht sicher, ob all dies noch von Moni geplant war, oder hatte Pia schon das Kommando übernommen?

"Morgen!!" Daniela erschrak. Pia hatte angeklopft und war schon eingetreten. Sie trug einen flauschigen Bademantel und sah selber aus, als sei sie gerade erst aus dem Bett gefallen. "Na, schon wach?"
Daniela mühte sich, trotz der gefesselten Arme hochzukommen, doch Pia drückte sie sanft wieder nieder. "Lass man! Bleib ruhig noch etwas liegen. Es ist noch früh und ich geh jetzt erst mal ins Bad. Ich ruf dich dann, wenn ich fertig bin!" Und schon war sie wieder verschwunden, die stammelnden Laute ignorierend, die Daniela in ihren Knebel brummte. Das unerwartete Ereignis hatte sie abgelenkt, jetzt fiel es ihr schwer, ihre Gedanken wiederzufinden. Eigentlich wollte sie jetzt nur noch auf die Toilette und sich erleichtern.
Wie würde es heute weitergehen? Und wie würde es in den nächsten Tagen und Wochen weitergehen? Ohne Monika? Aber mit Klaus?? Sie wusste nur eines, trotz aller Liebe hatte sie keine Lust zu einer Beziehung mit ´Barbara´, wie Klaus sich immer nannte, wenn er en femme war. Diese Barbara war doch das Produkt von Monikas Fantasie, damit hatte sie nichts zu schaffen. Sie wollte Klaus, niemanden sonst, denn sie wusste, dass er im Grunde genommen ein wahnsinnig feiner Kerl war ... wenn, ja wenn er denn ein Kerl war! Sie würde ihm die Röcke schon austreiben!

"Fertig!" Fast hätte sie Pias nicht gerade lauten Ruf nicht gehört. Jetzt war es aber auch höchste Zeit, dass sie aufs Klo kam. Lange konnte sie es nicht mehr zurückhalten! Sie blieb liegen und wartete, aber dann kam ihr der Gedanke, dass sie hier noch bis zum Sankt Nimmerleinstag liegen und warten konnte, denn Pias Aufforderung war eigentlich klar genug gewesen. Also mühte sie sich, vom Bett hochzukommen, strampelte die Bettdecke zur Seite und rollte über den angewinkelten Arm ins Sitzen. Ihre Scham fühlte sich klebrig an, wie dünne Spinnfäden lief es an ihren Beinen hinab.
Sie fand den Weg ins Bad, alle Türen standen offen, kein Problem also. Die Luft war warm und feucht, der Spiegel beschlagen: besser so, da brauchte sie ihr Gesicht nicht sehen!
Pia kam nach kurzem Warten. "Oh, du bist schon da? Wart mal, erst mal den Knebel... Aber bleibe ruhig! Wenn du anfängst, hier rumzutoben, dann...." Sie wedelte demonstrativ mit dem mit ihrem Speichel benetzten schwarzen Ballknebel vor ihrem Gesicht.

Daniela bewegte ihren Kiefer hin und her, zum Glück hatte sie keine Maulsperre bekommen, davor hatte sie bei Knebeln immer die größte Angst. Aber auch das ließ sich trainieren. "Danke! Äh, gibt es keinen kleineren Knebel? Komm, Pia, lass mich aus der Zwangsjacke raus. Ich muss dringend strullen und dann mal duschen!"
Pia lächelte sie an. "Klar doch, Kleines." Sie bückte sich um den Schrittgurt zu lösen, kam dann aber wieder hoch. "Ei ei, da komme ich ja gerade noch rechtzeitig! Da müssen wir wohl was machen, oder? So kannst du ja nicht Messe dienen!" Sie setzte einen erzürnten Blick auf, zog dann den langen Gurt am Voderteil der Jacke durch eine Schlaufe und bedeutete Daniela, sie möge sich schon mal aufs Klo setzen, sie müsse schnell mal was holen.
"Soll ich so aufs Klo? Pia, was soll das jetzt? Mach mir die Arme los!" Aber Pia war schon weg, und sie konnte es nicht mehr zurückhalten und ließ es fließen; Mädchen können ja auch ohne Hände, wenn sie müssen, dachte sie erleichtert.

Als Pia zurückkam sah sie sofort, was diese geholt hatte. "Nein, Pia! Nicht den Keuschheitsgürtel! Da hab ich echt keinen Bock drauf! Bitte...."
Alles Bitten und Flehen war vergebens, sie wusste es sofort. Wenig später stand sie unter der Dusche, ließ das heiße Wasser über ihren Körper fließen, stimulierte mit der Handbrause ihre Brüste und versuchte, auch an ihrer Knospe zu irgendeinem Resultat zu gelangen, aber kein Wasser konnte wegen des stählernen Gürtels dorthin gelangen, wo sie seit Stunden unter Feuer stand.

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Es war Sonntag, ihr erster Sonntag in der neuen Gemeinde. Sie war extra früh von zu Hause weggegangen, wollte nicht auf den letzten Drücker kommen. Heute würde vieles für sie neu sein, auch wenn sie sich noch recht lebhaft an ihren ersten ´getürkten´ Messdienereinsatz vor einem Jahr erinnerte; ´getürkt´ deswegen, weil sie gar keine Messdienerin gewesen war; die richtige Ausbildung hatte sie ja erst anschließend an ihre Münchner Herbstferien daheim in Köln erhalten, wobei Monika natürlich auch ihre Finger im Spiel gehabt hatte.
Jetzt aber war es offiziell, sie war tatsächlich Messdienerin, etwas, wovor sie sich als junges Schulmädchen immer gefürchtet hatte, obwohl sie in der Tiefe ihrer Seele doch gern mitgemacht hätte. Allein, sie hatte sich nicht getraut! Sie begrüßte einen weiteren Ministranten, einen ca. siebzehnjährigen Jungen, dann zog sie sich in aller Stille um, kleidete sich in das jetzt nicht mehr so fremde schwarzweiße Gewand, das sie hier, an genau dieser Stelle, im letzten Herbst zum ersten Mal angezogen hatte.

Der weitere Ablauf der Messe war mittlerweile auch für sie Routine. Die eingeübten Handgriffe saßen, die Gebete konnte sie ohne zu zögern mitbeten. Dann aber horchte sie auf. Zelebrant der Messe war ein ihr unbekannter Geistlicher, der Dechant, wie sie später erfuhr. Dieser ging in seiner Predigt auf die Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor genau fünfzig Jahren ein, sprach von einer Zeit des Aufbruchs, von um sich greifender Hoffnung bei den jungen Theologen, das Aggiornamento möge frischen Wind in die erstarrte Kirche bringen. Und der Dechant fügte mehrmals in seiner Predigt hinzu, nein, nicht die Kirche sei das Maß aller Dinge, sondern allein der Glaube des Menschen an Gott. Worte, die man so in der Kirche lange nicht gehört hatte.
Daniela versuchte, sich auf die Worte der Predigt zu konzentrieren, aber der neben ihr sitzende Junge machte sie nervös. Immer wieder tuschelte er ihr etwas zu, Worte die sie nicht verstand und die sie nicht verstehen wollte, pubertäres Zeug, immer wieder legte er seine Hand auf ihr Bein, ständig starrte er ihr dorthin, wo alle Männer immer hinstarrten. Zum Glück war die kleine, hübsch geschnitzte Sitzbank von der Gemeinde aus nur schlecht einzusehen, aber Daniela war froh, als die Predigt endlich vorbei war und beide Messdiener bei der Gabenbereitung wieder in Aktion treten konnten. Als sie und der Junge nach dem Gottesdienst wieder in der Sakristei waren, wo sie ihre Gewänder ablegen wollten, blieb sie einen Moment unschlüssig vor ihrem spindähnlichem Schrank stehen. Sie schloss die Augen, brauchte gar nicht hinzusehen, was der Junge jetzt wohl dachte, was er gleich tun würde... Er würde sie in eine dunkle Ecke drängen, würde ihre Gewänder hochschlagen, sein erigiertes Glied hervorzerren und und und...

Ihre Fantasie hakte. Der Junge würde gar nichts machen. Er würde nichts hervorzerren und schon gar nirgendwo eindringen; dafür, dass das nicht ging, hatte Pia ja bestens gesorgt. Irgendwie enttäuscht und frustriert zog sie sich ihre Messdienergewänder aus und hängte sie zurück in den Schrank. Dann überlegte sie, was sie nachmittags machen sollte.


Oktober IV.

Wollte er, oder wollte er nicht? Das war die Frage. Die Frage, die Klaus nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Die ihn auffraß, die ihn zu zerreißen drohte. Es war Sonntagnachmittag, keine ganze Woche mehr bis zur Geidi-Gaudi. Die erste Gelegenheit gestern hatte er schon verpasst, weil er sich zu nichts aufraffen konnte.

Er hatte versucht, die Frage logisch anzugehen, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Würde es noch einmal so spannend werden, wie letztes Jahr? Als er auf seinem klapprigen Drahtesel über Stock und Stein gefahren war, um wenigstens gleichzeitig mit diesen beiden Frauen dort anzukommen, wo die Gaudi stattfand. Damals hatte er eine äußerst vage Vorstellung davon gehabt, um wen es sich handelte. Ja, er wusste noch von früher, wer Monika war, der Name war ihm nicht fremd, aber er hatte eigentlich nie selber Kontakt zu dem Mädchen gehabt. Und dieses andere Mädchen, das Monika begleitete? Nein, da wusste er noch weniger. Er merkte, wie sich ein Glied aufrichten wollte, als ihm einfiel, was er mit dieser ominösen Fernbedienung gemacht hatte. Aber sein Glied steckte, wie fast immer, in einer stabilen Plastikröhre, eingeklemmt zwischen seinen Beinen. Er mochte es nicht, wenn es so reagierte.
Was mochte Daniela damals gefühlt haben, als sie diesen künstlichen Phallus in sich trug und er auf den Knöpfen der Fernbedienung herumspielte? Ohne wirklich zu wissen, wofür diese eigentlich gut war? Und wieder einmal kam er an den Punkt, an dem er schon so oft in seinem jungen Leben angekommen war, der Frage, ob er dieses Ding da zwischen den Beinen wirklich noch haben wollte. Würde er jemals eine Antwort finden?

Daniela! War sie die Antwort, die er suchte? Was aber war mit ´Barbara´? War Barbara nur das Kunstprodukt von Monikas bizarrer Fantasie, die, ohne es zu wissen, bei ihm einen willfährigen Mitspieler gefunden hatte? In den Wochen und Monaten nach Ostern hatte Barbara weitergelebt, bis zu jenem Ereignis, das den Bruch mit seiner Großmutter dargestellt hatte. Er kümmerte sich nicht mehr um sie, er wusste aber, dass sie jetzt regelmäßig Besuch von einem Pflegedienst bekam. Auch das warme Essen wurde ihr geliefert.

Aber in letzter Zeit hatte der fast schon zwanghafte Reiz, in diese andere Geschlechtsrolle zu schlüpfen, merkbar nachgelassen. Ja, er verbrachte immer noch den größten Teil seiner Zeit als Barbara, jetzt aber eher aus Gewohnheit, denn aus innerer Not. Und er spürte, dass diese Entwicklung für ihn eine Sackgasse bedeutete: es fehlte der kick, der Reiz, etwas Verbotenes zu tun, sich am Rande der Gesellschaft zu bewegen, denn es lag irgendwie auf der Hand, dass es noch Jahre dauern würde, ehe ein Politker - ein männlicher Politiker! - in einem Rock oder Kleid ans Rednerpult treten und sagen würde: Übrigens, ich bin trans, und das ist gut so!

Klaus seufzte. Manchmal hatte er sich gewünscht, das Leben eines Transvestiten würde einfacher sein. Eine Gesellschaft, in der es dieses Wort eigentlich gar nicht mehr gab. Eine Gesellschaft, in der jeder nach seinem eigenen Lebenszuschnitt seelig werden konnte, solange er damit anderen keinen Schaden zufügte. Er hatte aber auch realisieren müssen, dass damit wohl das Ende jeglicher Spannung gekommen wäre. Er hatte von Älteren gehört, die sich gut an die Siebziger Jahre erinnern konnten, als es bei den Mädchen normal wurde, mit Jeans herumzulaufen. Wie langweilig diese Zeit gewesen sei! Männer und Frauen, beide mit langen, verfilzten Haaren, T-shirts und verwaschenen Jeans, und bei miesem Wetter dann alle mit Bundeswehrparka. Eine Zeit nicht hemmungsloser Sexualität, wie es immer hieß, sondern eher spannungsloser. Eine Zeit vermehrten Rammelns, aber verminderter Erotik. Er war auf jeden Fall froh, dass Frauen jetzt wieder zu ihrer eigenen Mode zurückgekehrt waren, dass sie wieder Röcke und Kleider trugen, und sich nicht mehr davor scheuten, zum Oktoberfest ein Dirndl anzuziehen. Und wenn demnächst alle Kerle mit Röcken rumliefen?? Nein, bitte nicht!!

Genau das war das Problem. Er scheute die Normalität. Er war aus der männlichen Rolle ausgebrochen, er hatte diese andere Seite gewählt, hatte diesen, von den meisten als immer noch unbequem, provokant angesehenen, Schritt getan, weil er nur so seine Freiheit finden konnte. Doch diese Freiheit wurde unterminiert, sobald eben dieser Rollentausch als das Normalste der Welt angesehen wurde, und schlimmer noch, sie war regelrecht gefährdet, wenn niemand mehr wahrnahm, dass er die Seite gewechselt hatte.
Das eindeutige Symptom dafür war ihm bekannt. Oft genug hatte er es im Beisein von Frauen erlebt, wenn er selber als Barbara unterwegs war. Dieser Drang, den Rock hochzunehmen und sein Gegenüber wissen zu lassen, dass er anders war. Anders als sie selber, anders als alle Männer. Klaus schüttelte den Kopf. Was wäre denn zu sehen gewesen, hätte er es wirklich getan? Nichts. Monika hatte ihn schließlich in einen Keuschheitsgürtel gesteckt, der alle Unterschiede wirksam verbarg, so wirksam, dass es nicht einmal mehr im Stehen pinkeln konnte. Was hätte eine aufmerksame Gesprächspartnerin also gesehen? Vielleicht den Häkchenverschluss seines Korseletts, wenn er es trug, oder halt einen ganz normalen dünnen Seidenslip. Einen Slip, der die Konturen seines Keuschheitsgürtels kaum verdecken konnte.
Recht besehen war es verrückt, dass er immer so viel Angst vor der Entdeckung gehabt hatte. Es war nichts da, was hätte ´entdeckt´ werden können. Nicht einmal die fehlenden Brüste wären wirklich aufgefallen, denn entweder trug er seine sehr gut gemachten Brustprothesen, oder er trug den stählernen BH, durch dessen Körbchen man sowieso nicht hindurch sehen konnte.

Plötzlich hatte er eine Idee. Sie durchströmte ihn von Kopf bis Fuß, ließ ihn heftiger atmen. Was wäre, wenn er am Samstag...? Er musste sich setzen, spürte wieder das Drängen seines Glieds gegen den engen Käfig, in dem es steckte. Ja. Warum nicht?


November II.

´Der Rick´ hatte kalten Schweiß auf der Stirn. Jetzt gab es kein zurück mehr. Er hatte die Suppe eingebrockt, und nun musste Wimmer sie auslöffeln. Was nicht ganz richtig schien. Aber diese Under-cover Aktion ließ sich anders einfach nicht durchführen.
Seit einigen Minuten saß er in seinem Wagen vor ihrer Haustür und wartete. Er war extra etwas früher gekommen, man wusste ja nie, besser ist besser. Vielleicht geschah einmal ein Wunder und sie war eher fertig, als erwartet. Normalerweise war es umgekehrt.
Eines der Probleme, die bei der Vorbereitung der Aktion ersichtlich wurden, war die simple Frage, um wieviel Uhr sie in Aktion treten sollten. Es war klar, dass er Erkundigungen eingezogen hatte, schließlich gehörte das zur normalen Polizeiarbeit. Dieses seltsame Fest öffnete abends gegen 21 Uhr, und endete erst weit nach Mitternacht. Wobei dieser Ausdruck ziemlich offen war. Wann nun konnte man damit rechnen, dass etwas geschah? Dass irgendein Kerl mit seiner Tussie auftauchte, weil er den Kick brauchte, sein Mädel auf die Tanzfläche zu führen und ihr dann ordentlich einzuheizen?

Rick hatte es immer vermieden, sich ein Bild dieses Vorgangs zu machen, jetzt aber ließ er seiner Fantasie freien Lauf. Wie mochte das sein, wenn man nur an ein paar Knöpfen drehen musste, um... Mein Gott! So ein perverser Schweinkram! Was nun, wenn sie heute Abend wirklich den großen Fang machten? Es würde wohl nicht ausbleiben, dass er selber dann diese Fernbedienung einmal ausprobieren würde. Und dann stellte er fest, dass er es für einen sehr kurzen Moment bedauerte, seine Kollegin nicht angewiesen zu haben, sich diesen Gürtel selber anzulegen. Zu blöde aber auch! Chance vertan, dachte er, als im selben Moment die Beifahrertür geöffnet wurde und Ingeborg Wimmer zu ihm in den Wagen stieg.

"n´Abend, Chef!"

"Wimmer! Endlich! Ich warte schon eine Viertelstunde. Alles klar? Haben Sie das Teil dabei?"

"Die Banane?" Sie zwinkerte ihm zu. "Ja, hier im Täschchen. Keine Bange, Chef, alles ist bestens verstaut."

Er merkte, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich ordentlich hinzusetzen. Mit einiger Mühe strich sie den faltigen Rock ihres Dirndls unter dem Gesäß glatt, dann schnallte sie sich an. Seine Kollegin trug eine kurze Lodenjacke, die gut zu ihrem Dirndl passte. Nicht verkehrt, denn es war jetzt November und nachts musste schon mit sehr niedrigen Temperaturen gerechnet werden.
"Können wir, Wimmer?" Er sah sie an.

"Allzeit bereit, Chef!" Sie lächelte ihn gequält an. "Von mir aus kann´s losgehen. Schnappen wir uns den Kerl!"

´Der Rick´ räusperte sich. "Glauben Sie ... glauben Sie, dass Sie das mitkriegen, wenn das Ding - die ´Banane´ - loslegt? Ich meine..." Er wusste selber nicht, was er eigentlich meinte.

Sie blickte ihn lange an. Dunkel glänzten ihre Augen im fahlen Licht des Innenraums. Dann lächelte sie, warf die Haare zurück und ruckelte noch einmal auf ihrem Sitz herum, öffnete schließlich ihren Janker, streckte die Brust heraus und ordnete den Sicherheitsgurt neu. Als sie endlich fertig war wartete Rick nur noch darauf, dass sie sich ihr Schminktäschchen hevorholen würde um sich im Rückspiegel den Lidschatten nachzuziehen, aber nichts dergleichen geschah. Sie grinste ihn leicht verlegen an. "Fahren Sie, Chef! Wir wollen ja nichts verpassen!"



104. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von bd8888 am 25.03.13 17:48

Hallo Daniela
Die Spannung steigt.
Was hat die Frau Kommisarin wohl als Unterwäsche an.
Danke für die Fortsetzung.
Liebe Grüße
bd8888
105. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 25.03.13 23:51

Hi Daniela,

wieder ein sehr feiner Teil, mit einigen inspirierenden Tiefgründigkeiten, die sich mühelos in die unterhaltsame und spannende Geschichte einfügen. Und Du bringst die Protagonisten immer deutlicher in Position.

Irgendwie geht mir Pia immer noch zu weit für meine Geschmack. Sie scheint Daniela ja fast schon adoptiert zu haben, als Monika-Ersatz, aber dabei ist Daniela ja doch eigentlich schon erwachsen. Und Pia´s Kontrollsucht in Richtung Daniela nimmt ja schon ziemlich groteske Züge an. Dabei kommt mir der Gedanke, was wäre, wenn Pia Barbara adoptieren würde... Nicht auszudenken...

Mir ist aufgefallen, daß alle Ermittler bisher mehr oder weniger einen männlichen Triebtäter hinter dem Fall vermuten. Dabei hat Pia doch momentan als einzige den Zugang zu den besagten Instrumenten, und wendet sie ja scheinbar auch ohne jede Skrupel an - und das in ihrem Erziehungswahn auch offensichtlich ohne jeden Konsent der Trägerin. Und wenn sie durch Widerspruch gereizt wird, reagiert sie recht unverhältnismäßig, wenn auch nicht gänzlich unberechenbar. Aber das muß bisher ja auch noch nix heißen, denn es bleibt immer noch offen, was genau geschehen ist - und viele Möglichkeiten, wie es dann passiert ist und wer dann wirklich wie beteiligt war. Mir bleibt Pia jedenfalls suspekt, auch wenn Du schon betont hast, daß sie im Grunde kein böser Mensch ist. Welcher Mensch ist schon von Grund auf böse - aus meiner Sicht eigentlich keiner... Insofern nehme ich Dir das schon ab, man mag es stattdessen vielleicht eher Hilflosigkeit oder eigener Kontrollverlust nennen, bedingt durch ihre eigene, schlecht verarbeitete Geschichte, was Pia antreibt. Ob sie damit allerdings konstruktive Ergebnisse erzielt, scheint mir zweifelhaft - auch wenn es vielleicht ursprünglich ihre eigentliche Intention war. Im Grunde wird sie damit der Oma Meisner sehr ähnlich, wenn auch mit anderen Mitteln: Etwas im Rahmen der eigenen Kontrolle und Möglichkeiten nach bestem Wissen und eigener Erfahrung verbessern wollen. Aber es ist vorprogrammiert, daß dies meist vollkommen mißlingt, da eben keine umfassende Information vorhanden ist, und insbesondere dann, wenn die eigene, üble Geschichte noch zu sehr auf einem lastet und unaufgearbeitet solches sogar motiviert. Allenfalls kann man sich bemühen, sich selbst zu verbessern, seine Geschichte endlich für sich zu lösen, das hat zumindest die größte Aussicht auf Erfolg, insbesondere, wenn man selbst über Verletzungen in der Vergangenheit kaum wirklich hinweggekommen ist, und diese dann zu solchen Aktionen die Motivation darstellen. Jedenfalls ist es schon bemerkenswert, wie Menschen von einschneidenden Erlebnissen und Verletzungen psychisch so sehr verbogen werden können, was ja auch auf Klaus zutrifft. Und nun ja, vielleicht findet ein jeder Leser, daß er genauso eben nicht so gerade gewachsen ist, wie es für alle wünschenswert gewesen wäre, mich eingeschlossen - denn wohl keinem Menschen sind irgendwann Verletzungen erspart geblieben, nur die Frage ist, wie man dann damit umgeht.

Auch bei Ingeborg und Barbara finde ich in diesem Teil irgendwie eine Parallele: Den Drang, sich mal anders als gewöhnlich in der Öffentlichkeit zu bewegen und zu präsentieren. Allerdings ist es bei Ingeborg wohl leichter, dann den Schritt nach draußen auch wirklich zu wagen. Klaus braucht dafür schon eher die passende Gelegenheit, den geschützteren Rahmen, um sich zumindest keinen zu großen Anfeindungen auszusetzen.

Klaus hat bei seinen Gedanken schon recht: Wenn alles toleriert ist, was niemandem schadet, dann entfällt jede interessante Spannung - am Ende vielleicht sogar jede Erotik, auch wenn das schwieriger ist, denn die Spannung zwischen den Geschlechtern ist schwieriger abzutun, selbst wenn gleiche Kleidung getragen wird. Aber hält er die Spannung, anders sein zu wollen oder zu müssen, wirklich selbst aus? Im geschützten Rahmen wohl teilweise schon. Aber in der Öffentlichkeit irgendwie dann doch nicht - was ja auch nicht vollkommen unverständlich ist. Er will angenommen werden, so wie er ist - auch wenn er teils selbst nicht weiß, wer er eigentlich ist oder was er will. Aber nimmt er sich selbst so an, wie er ist? Bei seinen Gedanken hat er sehr verständliche, physische Reaktionen: Sein Glied will sich versteifen, wenn er an erregende Situationen aus der Vergangenheit denkt, oder an geile Möglichkeiten in der Zukunft. Aber er hat sich selbst in einen Käfig gesperrt, verwehrt sich selbst, voll er selbst sein zu können, seine eigenen Körperreaktionen anzunehmen, unterdrückt sie lieber. Warum nur? Spaß empfindet er durch seine selbstauferlegte Käfighaltung offenbar nicht, er zwingt sie sich selbst auf. Glaubt er etwa, durch die Zulassung seiner an sich normalen Körperreaktionen, Freilassung seines normalen Triebs, zu sehr in die Nähe der Männer zu geraten, die ihn selbst mißbraucht haben? Wenn das so wäre, hat er ein ernstes Problem: Er wird sich schwer tun, sich selbst anzunehmen, so wie er nun mal ist, mit seinem scheinbar eigentlich vollkommen normalen Trieb. Wenn er es nicht schafft, seinen Trieb vom früheren Mißbrauch durch andere abzugrenzen, läuft er Gefahr, auch einvernehmlichen Sex als Mißbrauch anzusehen, da die physischen Vorgänge ja ähnlich sind - wohl aber nicht die psychischen, was er wohl nicht recht unterscheiden kann. Aber solange er sich selbst nicht annehmen kann, zu unsicher dafür ist, wie will er erwarten, daß andere ihn annehmen oder sogar lieben werden? Klar, er kann davon träumen, daß er "erlöst" wird, durch die Annahme von anderen lernt, sich selbst annehmen zu können - nur leider mißlingt solches Konzept nur zu häufig, wie hier in der Geschichte ja auch schon geschehen, denn jeder Mensch hat eigene Bedürfnisse, eigene Interessen und seine eigene Geschichte, die das überlagern können und eher zum Ausnutzen als zum echten und dabei selbstlosen Helfen führen. Wachsen und reifen muß schon jeder für sich selbst, auch wenn durchaus manchmal Hilfe von außen dabei unterstützen kann, aber eben keinen Ersatz für eigenes Wachstum bietet.

Der Drang, jemand Besonderes, Individuelles und Unverwechselbares zu sein, sein Innerstes zu outen dafür in der Hoffnung auf echte Akzeptanz und Annahme, steckt wohl in jedem Menschen. Und beim einen wird diese Individualität eher von der Gesellschaft akzeptiert, da besser "einzuordnen", auch wenn es dabei Neider gibt, die eben noch nicht so weit sind, beim anderen eher nicht, da die Form der Individualität extremer ausfällt und sich damit nur schwerer bis gar nicht offen ausleben läßt, auch wenn sie eigentlich niemanden wirklich bedroht. Außer der Bedrohung der scheinbaren Sicherheit für Menschen, die aus gesellschaftlichen Regeln und Normen halt Sicherheit ziehen, denen solche Grenzüberschreitungen dann Angst machen. Leider ist eben nicht jeder innerlich so stark, die Konfrontation mit einer abweichenden, aber an sich unbedrohlichen Lebensweise auszuhalten, da es dazu führt, die eigene Lebensweise dann zu hinterfragen: Habe ich etwas verpasst, wenn ich nicht so und so lebe, und ist es überhaupt richtig, wie ich lebe? Eine Frage, die hart sein aber auch zu konstruktiver Entwicklung führen kann, bis hin zu stärkerer Selbstsicherheit: Ja, ich will so und so leben, weil ich selbst absolut zufrieden bzw. befriedigt damit bin - aber gönne dem anderen auch die Freiheit, anders leben zu wollen, und sehe ihn dann auch nicht mehr als bedrohlich, sondern sogar vielleicht als interessant oder bereichernd an, da ich ihn (oder sie) eben so akzeptieren kann, wie er/sie leben will. Aber dafür ist Selbstreflexion, Selbstsicherheit und Beschäftigung mit dem anderen nötig, was meist wohl schon an Interesse oder Zeitmangel leider scheitert, oder an fehlenden Informationen über die andere Person, von der man selten mehr als die Oberfläche mitkriegt, und Hintergründe ebenso selten einfach so offenbart werden. Und es ist nötig, in jedem anderen Menschen etwas Besonderes und an sich Wertvolles sehen zu wollen, das zu respektieren ist - was dann ausschließt, billig über ihn herzuziehen und einfach über ihn abzulästern. Jeder Mensch hat seine individuelle Geschichte, auch wenn kaum einer sagen kann, daß er wirklich auf alle Teile davon stolz ist - auch wenn er stolz sein kann, wie er eben damit klar gekommen ist, wenn dies der Fall ist.

Und wenn wir schon bei Normen sind: Mir hat Dein Einschub in der Predigt des Dechant´s sehr gut gefallen, daß die Kirche eben auch nicht das Maß aller Dinge ist, insbesondere, da so viele verstaubte Regeln und leblose Rituale dort das Eigentliche zu ersticken drohen, und scheinbar Raum bieten, sich dahinter zu verstecken. So etwas sollte man tatsächlich öfter mal von einem Geistlichen hören, diese Meinung teile ich absolut - wobei hier natürlich wieder die Forderung nach der Reifung eines jeden Menschen impliziert ist, der kein steifes Korsett von Regeln braucht, um sich sicher zu fühlen, sondern Selbstsicherheit entwickelt, was Glaube an Gott absolut nicht ausschließt, sondern integral beinhalten kann. Ich bin ganz sicher kein Theologe, aber war da nicht die Sache mit der Nächstenliebe als höchstes Gebot: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst (was aus meiner Sicht mit einschließt, daß man sich selbst auch wirklich lieben und annehmen kann), und dann sogar der radikale Aufruf: Liebet eure Feinde! Wenn ich richtig weiß aus der Bergpredigt. Liebe als das Maß aller Dinge, das mag am Ende sogar sehr viel griffiger sein als der Glaube an Gott als Maß - denn nach meinem Verständnis wird in der gelebten Liebe Gott dann lebendig sichtbar. Wobei mir fern liegt, hier eine Diskussion um Religion und Glauben zu entfachen.

Wirklich komisch, daß der Rick als so gute Spürnase nicht mitbekommt, was Ingeborg wohl untendrunter angezogen hat, und wie sie wohl die "Banane" verstaut hat, um sicherzustellen, wirklich absolut kein Signal eines Senders zu verpassen. Sie gibt ihm doch so eindeutige Signale... Aber vielleicht ist es auch besser so, sonst kann sich auch der Rick am Ende nicht mehr ordentlich auf diese Aktion konzentrieren - oder die beiden kommen sogar gar nicht mehr auf der Geidi-Gaudi an, sondern starten ihr eigenes Abenteuer - was ich ihnen auch absolut gönnen würde... ))

Oh je, schon wieder so viel als Kommentar geschrieben - ich hoffe, Du und die anderen Leser verübeln mir das nicht. Du hast mich zu solch vielen Gedanken inspiriert, und ich hoffe sehr, daß Du oder der ein oder andere Leser vielleicht daraus etwas für sich ziehen können, auch wenn es nur meine Sichtweise ist. Dir jedenfalls vielen Dank für diesen Teil, ich freue mich schon auf kommenden Sonntag - auch wenn das Ende der Geschichte immer näher kommt.

Liebe, wenn auch traditionsgemäß wie es sich für mich gehört keusche Grüße
Keuschling
106. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von sklave_mario am 27.03.13 14:04

Hallo Daniela

Eigentlich wollte ich diesen Beitrag im Diskussionsteil der Geschichte schreiben, aber dort hab ich keine Schreibrechte...

Also mir gefällt Deine Geschichte sehr gut! Ich bin eingestiegen, als Du mit Frust Deinen 2. Teil angefangen hast. Natürlich hab ich zuerst den 1. Teil reingezogen. Ja, reingezogen ist das richtige Wort, genau wie bei Stieg Larsson, den Du ja auch gelegentlich erwähnst. Auch die Millenium-Trilogie hab ich mir reingezogen. Einmal angefangen, kann man nicht mehr aufhören, genauso bei der Münchentriologie

Schade geht die Geschichte mit Riesenschritten dem Ende entgegen. Deshalb möchte ich doch wenigstens einen Versuch starten, Dich zur Vortsetzung der Triologie anzustacheln: Ich weiss nicht ob Du weisst, aber die Millenium-Trilogie wäre eigentlich als Dekalogie geplant gewesen. Leider kam der Tod des genialen Schriftstellers dazwischen. Da ich Dir natürlich ein langes Leben wünsche, und ich eine gewisse Verehrung von Stieg Larsson zu erkennen meine, wäre doch eine München-Dekalogie erstrebenswert

Die Tatsache, dass wohl kaum alle Protagonisten der Münchentrilogie in Deiner Geschichte sterben werden, schliesst ja wohl ein unabwindbares Hindernis, welches die Fortsetzung vermeiden würde, hoffentlich aus?

In diesem Sinne erst mal ein riesen Dankeschön für die vielen schönen Lesestunden die Du uns regelmässigen Lesern beschert hast!
107. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 31.03.13 22:00

Heute möchte ich allen Lesern ein frohes Osterfest wünschen. Passt nicht hierher? Doch, das passt eigentlich immer. Und interessanterweise haben auch Daniela und ihre Cousine Monika, sowie Claudia und ihre Mutter Agnes eine heftige Diskussion, die gut zum Tag passt. Man erinnere sich, ich schrieb diesen Text irgendwann im Spätsommer, da hatte ich noch keine Ahnung, welche literarische ´Punktlandung´ ich schaffen würde.
Ich bin mir sicher, es wird nicht jedem gefallen. Aber so ist das Leben; die Menschen haben letzten Endes mehr mit sich zu tun, als immer nur an Keuschheitsgürtel zu denken! Nächsten Sonntag dann geht es heftig weiter!
Eure Daniela
PS: Ich freue mich übrigens, dass ich scheinbar doch mehr Leser habe, als erwartet. Jetzt sind es mindestens fünf! Herzlichen Dank für die tollen Zuschriften!!!!

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Oktober V.

"Du steckst im KG?" Claudia fiel wie immer mit der Tür ins Haus.

Aber Daniela hatte keine große Lust, darüber zu reden. Es war schon übel genug, das Ding schon wieder tragen zu müssen. Es gab ganz andere Dinge, die ihr auf der Seele lagen. Sie berichtete ihrer Cousine von der Predigt, die sie vormittags gehört hatte.

"Stört´s dich?"

"Nein. Ganz im Gegenteil."

Claudia setzte ein breites Lächeln auf. So wie jemand, der gerade tieferen Einblick in ein bisher verborgenes Geheimnis erhalten hatte. "So so. Also ich käme damit wohl nicht klar..."

"Nun ja, wie man es so sieht. Mir hat es ja auch die Sprache verschlagen!"

"Das glaub ich gern. Ist ja auch nicht gerade Alltagskost. Aber dass du da so mitmachst..."

Daniela bezog es auf ihre Aktivität als Messdienerin. "Nun ja, das war doch Monikas Idee."

"Ich denke, Monika ist weg. Hat sie dich etwa noch vorher..." Claudia schüttelte den Kopf. Wie lange mochte Dani jetzt schon wieder im Keuschheitsgürtel stecken, wenn Monika ihr das Ding noch vor ihrer Abreise angelegt hatte?

"Genau. Ich war selber etwas überrascht über ihren Eifer. Sie hat mich auf jeden Fall vor ihrer Abreise noch eingeführt."

"Eingeführt??" Claudia schlackerte mit den Ohren. "Gut, dass man das auf jeden Fall nicht sieht!"

"Was?" Daniela kapierte plötzlich gar nichts mehr. "Was sieht man nicht??"

Claudia blickte verlegen zur Seite und schüttelte den Kopf. "Mann, Mann, Mann! Du bist vielleicht durchtrieben! Dass Monika dir vor ihrer Abreise noch was eingeführt hat, das sieht man nicht!"

"Hä??" Daniela wich mit dem Kopf zurück.

Im selben Moment ging die Tür auf - beide Mädchen saßen im Wohnzimmer - und Agnes kam herein, in der Hand ein Kuchentablett. "Kaffeezeit, Kinder!! Hallo Daniela! Du bleibst doch zum Kaffee, oder? Worüber redet ihr?"

Man mochte es ihr als Neugier auslegen, aber das war nicht der Fall. Agnes hatte immer Wert darauf gelegt, den Gesprächsfaden zu ihrer Tochter nicht abreißen zu lassen. Sie hatte nie etwas von der Devise anderer Eltern gehalten, die, sobald die Kinder halbwegs groß geworden, es dem sächsischen König gleichtaten, diese könnten ja nun ihren Dreck ´aleene´ machen. Elternschaft bedeutete für sie Interesse und Kommunikation, nur durch das offene, intensive Gespräch konnte man der nächsten Generation dabei helfen, den Weg ins eigene Leben zu finden. Die Hand des Kindes würde man loslassen müssen, das verbale Band aber sollte man nicht durchschneiden, denn die sprachliche Beziehung ist genau das, was den Menschen vom Tier abgrenzt.

Daniela war den Bruchteil einer Sekunde schneller. "Wir reden von den Messdienern, Tante Agnes!" Fast gleichzeitig hörte man Claudias Stimme: "... von Keuschheitsgürteln, Mama!"
Beide Mädchen sahen sich an und lachten. "Ach so!" meinte Daniela und wurde rot.

Auch Claudia musste lachen. "Na, du bist mir ja ´ne schöne Heilige!"

"Auf jeden Fall keusch!"

"Auf jeden Fall interessant," warf Agnes ein, die gerade mit einer Kanne Kaffee aus der Küche zurückgekommen war. Der Tisch war schnell gedeckt, sie goss allen Kaffee ein. "Kinder Kinder, was ihr immer für Themen drauf habt. Aber okay, hängt ja sowieso alles zusammen!"

"Stimmt!", gab Claudia ihrer Mutter recht.

"Wie jetft?", fragte hingegen Daniela, die den Mund voller Streuselkuchen hatte, womit sich bekanntlich schlecht reden ließ. "Versteh ich nicht."

"Nun ja, ihr redet, wenn ich es recht sehe, über Sex und Religion. Das hängt zusammen wie Pech und Schwefel."

"Was hat denn der Liebe Gott mit... mit Fic ken zu tun, wenn ich das mal so drastisch sagen darf, Tante Aggi?"

Claudia rollte die Augen. "Der Liebe Gott! Wenn ich das schon höre! Glaubst wohl immer noch an den alten Mann mit langem, weißem Bart?"

"Wieso?" Daniela war irritiert.

"Weil alles anders ist, ganz anders." Es lag eine gewisse Aggressivität in Claudias Antwort, die sich aber schnell legte. "Glaube es mir!"

"Wie ist es denn? Du scheinst ja plötzlich allwissend zu sein, seitdem du aus Australien zurück bist!"


Claudia schwieg. Stattdessen nahm ihre Mutter den Faden wieder auf. "Es ist so, dass Religion und Sex auf eine fatale Weise miteinander verbunden sind. Es ist kompliziert, lässt sich aber einfach ausdrücken: die Kirche hat einen Zwitter erschaffen, der aus den Begriffen Sex und Liebe besteht. Dann hat sie den Sex von der Liebe abgekoppelt und verworfen. Seit Jahrhunderten hält sie nur noch die ´Liebe´ hoch, was vollkommen widernatürlich ist. Gleichzeitig hat sie das Ideal der Keuschheit erfunden, der Reinheit und so weiter. Klar, dass sie ihren Vertretern auch keinen Spaß gönnt!"

Daniela hatte aufgehört zu kauen. "Was?"

Claudia sah sie mitleidig an. "Du glaubst wohl immer noch, dass das Zölibat eine Badeanstalt für Geistliche ist, oder?"

Ihre Mutter lachte auf. "Das Zöli-Bad!! Herrlich! Aber in der Praxis ist dieses unsinnige Sex-Verbot ein Quell für viel Leiden und Einsamkeit bei den Geistlichen."

"Glaube ich gern," stimmte Claudia zu. "Man müsste den ganzen Mist abschaffen!"

"Du willst immer gleich alles abschaffen. Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, Claudia!"

"Aber Mama, du willst doch nicht ernsthaft eine Religion verteidigen, die den Leuten glatt ins Gesicht lügt! Diese ganzen Missbrauchsfälle..."

"Du musst endlich mal lernen, zwischen Religion und Kirche zu unterscheiden. Und was einzelne Mitglieder dieser Kirche machen."

"Einzelne Mitglieder? Mir scheint das schon eher die Regel als die Ausnahme zu sein!"

"Nennen wir es lieber einen Webfehler. Wie gesagt, die Kirche hat Probleme mit dem Sex. So wie ihr jungen Leute heutzutage Probleme mit der Liebe habt."

"Tante Aggi! Ich habe ganz bestimmt keine Probleme mit der Liebe!", echauffierte Daniela sich, die sich angesprochen fühlte.

"Im Moment ganz bestimmt nicht!", grinste Claudia, die vergeblich versuchte, Daniela in den verschlossenen Schritt zu fassen.

"Lass das!", wehrte Daniela ab. "Aber ehrlich, was soll dieses Gerede von Sex und Liebe, Tante Agnes. Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dass wir keine Liebe mehr in uns hätten!"

"Sex oder Liebe, das ist hier die Frage!", antwortete die Angesprochene sybellinisch.

"Sein oder nicht sein, meinst du wohl, Mama! Aber auch das ist Quatsch. Es gibt keinen Tod!"

"Du sprichst von der Auferstehung?"

"Die österliche Auferstehung?? Nein. Das ist so ein christliches Ding, mit dem ich nichts zu tun haben möchte. Es ist doch sowieso alles ganz anders. Aber wo du von Auferstehung sprichst: ich muss mal den Kaffee wegbringen!" Sie stand auf und ließ Daniela und ihre Tante allein.


"Was ist denn in die gefahren?", fragte Daniela ihre Tante. "So kenn ich die ja gar nicht mehr!"

"Tja ... Claudia war in Australien lange Zeit au-pair bei einer indischen Familie. Keine Ahnung, was für Leute das waren. Aber seitdem ist sie wie umgekrempelt. Tut so, als hätte sie plötzlich den Stein der Weisen gefunden. Aber, wenn du mich fragst, da ist mir zuviel om mani padme hum dabei. Wenn der Mensch glaubt, er könne sich durch ein gewisses Verhalten schneller ins Nirvana begeben, dann irrt er! Im Prinzip ist das genauso dumm, wie der Zölibat bei den Katholiken. Verzichte auf alles, was Spaß macht, und lass dieses elende Menschenleben ein für alle mal hinter dir. Keine Wiedergeburt mehr, kein ewiger Zyklus. Was soll das alles?"

"Ja, was soll das alles?" Claudia war schon wieder zurück. "Mama, die christliche Auferstehung kommt erst am Tage des Jüngsten Gerichts. Und selbst dann wird noch entschieden, wer wohin kommt. So eine Art ´göttliche Rampe´ also!"

"Das ist geschmacklos, das so zu sagen, Claudia." Ihre Mutter war erzürnt.

"Schon gut, schon gut. Leute deiner Generation reagieren immer so verdammt empfindlich, wenn es irgendwelche sprachlichen Bezüge zur Judenvernichtung gibt. Diese Schuld lässt sich sowieso nie abwaschen. Da können wir nur auf die Vergebung der anderen hoffen."


Es entstand eine peinliche Pause. Daniela schob den Teller von sich. Das alles hier war ihr zu hoch. Und auch bei ihr hatte sich schon längst die Blase gemeldet. Sie stand auf und ging zur Toilette. Es war gut, draußen im Gang einmal etwas frischere Luft atmen zu können!
Das Mädchen genoss es, sich erleichern zu können. Sie versuchte, letzte Tropfen mit einer Handvoll Toilettenpapier abzutrocknen. Meist aber blieb immer der eine oder andere Tropfen Urin unter dem gelochten Blech ihres Keuschheitsgürtels hängen. Normalerweise war Daniela mit einer kleinen Handspritze gut für derartige Fälle gerüstet, aber im Moment hatte sie nichts dabei. Dieser verdammte Stahlgürtel!
Plötzlich kam der alte Zorn und Frust wieder in ihr hoch, sie legte ihre Hand auf den Onanierschutz, versuchte mit einem Finger unter das Blech zu kommen, wollte wenigstens einmal sich dort berühren, wo ihr intimstes Selbstgefühl verankert war, aber wie immer war es vergebliche Liebesmüh. Was sie nicht davon abhielt, probeweise einmal am Schloss des Taillenreifens zu zerren, es konnte ja sein, dass es wie durch ein Wunder einmal nachgab. Aber Wunder waren selten geworden in Zeiten wissenschaflicher Erkenntnis, das sah sie ein, und das schien auch das Wunder selbst zu wissen, weshalb das Schloss nicht nachgab.

Sie brauchte ein, zwei Minuten, sich zu beruhigen, dann ging sie zurück zu ihrer Tante und Cousine. Wie sie sah war die Diskussion immer noch in vollem Gange. Es stimmte wohl, was Claudia ihr neulich noch gesagt hatte: war die Mutter erst einmal in Fahrt gekommen, war sie so leicht nicht wieder zu bremsen!

"...doch Claudia, wir brauchen Religion! Und zwar nicht irgendeine, sondern eine Religion der Liebe! Das ist doch eine der wichtigsten Botschaften des Christentums, dass Gott uns liebt, und zwar ohne etwaige Vorleistungen unsererseits. Weil er durch seinen Sohn erfahren hat, dass das Böse in der Welt ist und wie sehr wir Menschen diesem ausgeliefert sind!"

"Das Böse, Mama? Ach, spinn doch nicht rum!" Claudia hatte die typisch respektlose Ausdrucksweise vieler Kinder angenommen, die uneins mit ihren Eltern waren.

"Doch, Claudia! Du glaubst, du könntest das Böse kontrollieren. Aber in Wahrheit kontrolliert es dich. Du glaubst, es beherrschen zu können, deine Stärke zu zeigen, indem du immer mehr erträgst, immer engere Korsetts, immer größere Knebel, immer stärkere Schmerzen, aber in Wahrheit beherrscht es dich, indem es deine Freiheit immer stärker beschneidet. Du merkst nicht, wie es mit dir spielt, dich immer abhängiger macht, dir den letzten Atem raubt..."

"Und dabei soll mir ausgerechnet jemand helfen, der als Verbrecher ans Kreuz genagelt wurde?? Das glaubst du doch selber nicht!", fuhr Claudia ihrer Mutter ins Wort, schärfer, als sie es gewollt hatte.

"Sag ich ja gar nicht. Ich sage ja nicht, dass wir unbedingt Jesus als Heilsbringer oder gar als Sohn Gottes akzeptieren sollen, aber zumindest seiner Botschaft sollten wir Gehör verschaffen."

"Das finde ich auch!", pflichtete Daniela ihrer Tante bei. "Also, bei allen Schwächen, die es in der Kirche gibt, so fände ich es doch schade, wenn es sie nicht gäbe. Ist schon ein Wunder, dass es sie immer noch gibt!"

Agnes sandte ihr einen dankbaren Blick. "Weißt du, die Kirche konnte 2000 Jahre nur überleben, weil sie sich um etwas kümmerte, was andere nicht interessierte."

"Und das wäre?", fragte Claudia.

"Die Seele. Wenn sie anfing, sich um andere Belange zu kümmern, war sie dem Untergang geweiht, oder zumindest stark gefährdet, wie zum Beispiel bei der Befreiungstheologie. Aber der anderen Seite ging es genauso..."

"Welcher anderen Seite?", unterbrach Daniela sie.

"Der weltlichen Macht, der Politik. Wenn die nach den Seelen griff, dann musste sie untergehen."

"Du sprichst, als hätte es das schon einmal gegeben", meldete Claudia sich zu Wort.

"Ja, das hat es schon einmal gegeben. Die Nazizeit war ein gutes Beispiel dafür. Die Nazis wollten ihre Macht bis in die Seelen der Menschen ausweiten, sie wollten ALLES beherrschen, genauso wie sich sich zum Herrscher über Leben und Tod machen wollten. Und bei den Kommunisten war es nicht anders."

Die Mädchen schwiegen.

Agnes fuhr fort. "Die Kirche ist seltsamerweise beides zugleich: Geschenk und Verpackung. Ihr dürft nicht den Fehler begehen, immer nur die Verpackung zu sehen, die manchmal so prunkvoll glänzend, manchmal aber auch so eingerissen daherkommt.. Diese kann man vielleicht mit Recht kritisieren, wenn man etwas kurzsichtig ist. Aber ohne sie hätte das Geschenk nicht die Beachtung erlangt, die ihm zusteht."

"Wovon sprichst du, Agnes?"

"Vom Geschenk der göttlichen Liebe."

Claudia ließ ein nervöses Lachen hören. "Ja ja, ist doch klar!"

"Klar ist gar nichts. Es gibt andere Religionen, wo von Liebe nicht die Rede ist..."

Daniela legte ihre Hand auf den Arm der Tante und unterbrach sie. "Mielke hat doch auch schon gesagt, dass er alle liebe!" Sofort prusteten alle am Tisch los und hielten sich die Bäuche vor Lachen.

Agnes schnappte nach Luft. "Zu schön, um wahr zu sein, Dani! Aber im Prinzip ist es genau das, worum es geht: die Feindesliebe. Etwas einfacher ausgedrückt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" Dann wurde sie wieder ernster. "Aber, wie ich schon sagte, die Liebe hat in unseren Zeiten schlechte Karten. Genauer gesagt, die Liebe Gottes. Und noch genauer gesagt: Gott selbst! Kinder, glaubt mir, aber als ich vor einigen Wochen in der Zeitung las, man habe nun unten in Genf in irgendeinem wahnsinnigen Teilchenbeschleuniger endlich das G O T T E S T E I L C H E N gefunden, da dachte ich, das ist nun der Anfang vom Ende!"

Wieder unterbrach Daniela ihre Tante. Sie konnte nicht mehr mitkommen, das alles war doch ein wenig zu hoch für sie. Sie verstellte ihre Stimme, die nun ein wenig nach Churchill klingen sollte, und sagte mit theatralischer Geste: "This is not the end, this is not even the beginning of the end. But maybe this is the end of the beginning!"

Woraufhin Claudia ihrerseits Worte folgen ließ, die sie immer wieder fasziniert hatten, seit sie Bilder der ersten Mondfahrer gesehen hatte, die zu Weihnachten aus der Genesis vorgelesen hatten: "In the beginning, God created the heaven and the Earth..."

Schweigen senkte sich über den Kaffeetisch. Es war klar, dass alles gesagt war. Es war klar, dass gar nichts klar war. Claudia hatte nicht gesagt, wie denn nun alles in Wahrheit war, und sie selber war sich durchaus darüber bewusst, dass sie es nicht gesagt hatte, weil sie es nicht wusste. Und Agnes hatte zwar alles gesagt, aber sie wusste, dass es nichts gab, womit sie ihre Worte hätte untermauern können. Man mochte das sogenannte ´Gottesteilchen´ gefunden haben, aber hatte man Gott gefunden? Wohl eher nicht.

Und Daniela? Sie war total verwirrt. Es war ihr vollkommen neu, dass man über diese Dinge überhaupt reden konnte. Bisher hatte sie nur zu den vielen Schafen gehört, die mehr oder weniger freiwillig dem Schäfer gefolgt waren. Sie hatte auch gewusst, dass man aus der Herde ausbrechen konnte, aber sie sah nun an ihrer Cousine, dass ein Ausbruch auch nicht unbedingt die Freiheit gab, die man sich erhoffen konnte. Sie wusste aber auch, dass sie sich nicht vor sich selber verstecken konnte; auf Dauer könnte sie nur ein zufriedenes Leben führen, wenn sie das tat, was sie für richtig hielt, ´Sünde´ hin oder her. Sie bedankte sich bei ihrer Tante für den leckeren Kuchen und beschloss, wieder nach Hause zu gehen. Die ersten Proseminare waren angelaufen, da gab es genug, was noch vorbereitet werden musste.

108. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 01.04.13 01:57

Liebe Daniela,

vielen Dank für diesen genialen Teil, der mich sehr anspricht und inspiriert, und dem ich inhaltlich sehr viel abgewinne. Ich denke, er hat genau hier seinen Platz, er gehört einfach dazu und macht Deine Geschichte so sehr realistischer als andere.

Es ist schon erstaunlich, daß Du diesen Teil schon lange geschrieben hast.

Dir ebenfalls frohe Ostern, mit vielen dicken Eiern!!!

Liebe, wenn auch wie immer keusche Grüße
Keuschling
109. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 07.04.13 22:00

Es geht weiter! Endlich! Mancher Leser mag im Moment nichts mit all dem anfangen können, was hier so geschieht, mancher möchte ständig die volle Aktion haben, aber es ist wie mit dem Frühling, auch er lässt auf sich warten und bittet um Geduld! Ein Dank an alle Leser, insbesondere diejenigen, die mich auf kleine Schwächen aufmerksam gemacht haben. Leider ist die Geschichte ja fertiggeschrieben, da werde ich jetzt nichts mehr ändern können...
Viel Spaß heute Abend wünscht Eure Daniela

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Australien I., Oktober

"Welcome to Australia!" Der Passbeamte am Internationalen Flughafen von Sydney knallte seinen Immigrationsstempel in Monikas Pass und wünschte ihr einen angenehmen Aufenthalt. Es war geschafft! Aber gerade als sie ihr Gepäck aufnehmen wollte, kam eine weitere Hürde auf sie zu: der Sniffer-dog! Die australischen Behörden hatten verständlicherweise eine panische Angst davor, Krankheitskeime jedwelcher Art ins Land zu lassen. So war zum Beispiel die Einfuhr von Honig verboten, da er Keime beinhalten konnte, die für das weltweite Bienensterben verantwortlich waren. Und bis jetzt war Australien fast der einzige Ort weltweit, der noch nicht von dieser rätselhaften Seuche befallen war und - auch das sollte man nicht vergessen - geschätzte 80% aller Lebensmittel waren von fleißigen Bienen abhängig!

Aber alles war okay, der am Reisegepäck aller Mitreisenden schnüffelnde Hund, der nicht nach Drogen, sondern nach mitgebrachten Lebensmitteln suchte, hatte nichts gefunden. Monika hatte keinen Honig dabei; sie hatte bestimmt nicht vor, ihrem Vater Honig ums Maul zu schmieren. Mit dieser Erkenntnis war sie aber auch bereits am Ende ihres Lateins angelangt. Wie genau sie beim Zusammentreffen mit ihrem Vater, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, vorgehen sollte, wusste sie nicht. Sie hatte Angst vor seiner Reaktion, aber sie hatte noch mehr Angst vor ihrer eigenen Reaktion. Jetzt, wo sie hier angekommen war, im Land der surfenden Kängurus, schien das letzte Stück Weg beschwerlicher zu werden, als die ersten zehntausend Kilometer.

Es war zu spät, wieder umzukehren. Jetzt gab es nur noch die Flucht nach vorn. Monika saß im Minibus, der sie in ihr Hotel bringen sollte. Linksverkehr. Sie drückte die Nase ans Fenster, hoffte, eventuell schon einmal das Opernhaus sehen zu können, aber unzählige mehr oder weniger gelungene Wolkenkratzer erlaubten keine Blicke in die Tiefe des Raums, sondern nur gen Himmel. Sie fühlte sich elend. Es war früher Morgen in der Weltstadt, aber als Münchnerin kam sie sich hier trotzdem wie ein echtes Landei vor. Sie hatte die Nacht schlecht geschlafen, ihre innere Uhr tickte noch in einem anderen Rhythmus; sie war noch längst nicht angekommen. Vielleicht ja morgen. Ja, morgen wäre es bestimmt besser. Dann hätte sie ihre ersten Schritte auf dem Fünften Kontinent gemacht und sich sicherlich daran gewöhnt, hier mit dem Kopf nach unten zu hängen.
Monika lächelte müde. Ja, das hatte sie als Kind immer geglaubt, dass ihr Vater hier mit dem Kopf nach unten hängen müsse. Es war logisch, wenn auch nur in der kindlichen Logik. Aber war es nicht ein halbes Jahrtausend vorher auch logisch gewesen, dass die Erde eine Kante hatte, an der es nicht weiter ging, an der man aber wenigstens einmal ankommen konnte? Jede Scheibe hat eine Kante, auch das ist logisch.
Ihr müdes Hirn hatte die Angewohnheit, immer dann zu Hochtouren aufzulaufen, wenn sie eigentlich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Welche Begrenzung war eigentlich absoluter? Die Kante, an der es nicht weiterging, oder die Kugel, auf der man nie irgendwo ankam, egal wie lange man in dieselbe Richtung lief? War nicht der Mensch freier, der die Kante als höchste Norm akzeptierte?

Sie versuchte, ihre seltsamen Gedanken zu verscheuchen, aber es wollte nicht gelingen. Sie spürte, dass sie selber sich auf den Weg gemacht hatte, die ´Kante´ in ihrem Leben zu finden. Es war allemal besser, als wie die Ratte im Laufrad sich trotz ewigen Mühens keinen einzigen Schritt fortzubewegen. Agnes hatte ihr die Augen geöffnet, hatte sie davon überzeugt, dass es an der Zeit war, Licht in das gequälte Dunkel ihrer Seele zu lassen.
Sie hatte die Adresse ihres Vaters ausfindig gemacht, aber sie hatte sich davor gescheut, ihn von ihrem Kommen zu benachrichtigen. Es hätte ihm einen Vorteil gegeben, den sie ihm nicht zugestehen wollte. Nein, sie wollte vor ihm auftauchen, plötzlich und unerwartet erscheinen wie ein rächender Engel... oder auch nicht. Sie wusste es nicht. Als Kind hatte sie ihren Vater geliebt, und sie hatte darunter gelitten, dass er so plötzlich nach Australien zurück musste. Warum, das hatte sie als Kind nie verstanden. Jetzt aber war sie kein Kind mehr ... zumindest wollte sie keines mehr sein.

Der Shuttlebus hielt an einer roten Ampel. Eine alte Dame überquerte die Straße, sie hatte einen Hund dabei, der Monika wieder an den Schnüffelhund vom Flugplatz erinnerte. Und daran, wieviel Angst die Australier vor ansteckenden Krankheiten hatten.
Der Bus fuhr wieder an, musste aber abrupt abbremsen, als ein junges Mädchen noch in letzter Sekunde die Straße überqueren musste. Monika wurde in ihrem Sitz nach vorne geworfen; verärgert blickte sie dem Mädchen hinterher. Und plötzlich wusste sie, dass sie einen riesigen Fehler gemacht hatte, dass sie selber jemanden angesteckt und diese Person schlussendlich schutzlos ihrem Schicksal überlassen hatte! Zu spät! Jetzt war alles zu spät. Nein, es hatte keinen ´Sniffer dog´ gegeben der sie gewarnt hätte, es war niemand da gewesen, der es hätte verhindern können.


Oktober VI.

"Ist das zu eng?" Pia hatte den Schrittgurt der verhassten Zwangsjacke wieder ziemlich fest angezogen, sicherlich fester, als unbedingt nötig.

Daniela wusste, dass es besser war, gute Mine zum bösen Spiel zu machen. Ein Spiel, das so nicht ihres war. Nein, so nicht. Sie hätte es gern mit Monika oder mit Klaus gespielt, aber nicht mit Monikas Mutter. Richtig erklären konnte sie sich ihre offenkundige Abneigung aber nicht. Pia war 44, also alles andere als eine alte Schachtel, sah gut aus und hatte ganz bestimmt immer noch das gewisse Etwas, diese erotische Ausstrahlung, die sich manche Menschen bis ins hohe Alter bewahrten. Es war auch nicht so, dass sie eine Abneigung gegen Pia gehabt hätte, nur dieses hier, dieses erotische Spiel, das passte nicht, das wollte sie nicht mit einer Angehörigen der anderen Generation teilen, nicht mit Monikas Mutter. Sicherlich war genau das der springende Punkt. Nicht der Altersunterschied, sondern die Tatsache, dass Pia Monikas Mutter war, und Eltern sind nun mal auf Dauer keine geeigneten Spielkameraden.

"Nein, schon gut. Es geht so." Trotzdem wand sie sich jetzt schon in ihrer Zwangsjacke und versuchte, dem ständigen Druck auf ihre empfindlichsten Teile irgendwie ausweichen zu können. Pia hatte ihr gar keine Wahl gelassen. Hatte ihr die geöffnete Jacke hingehalten, hatte mit unmissverständlicher Geste die Jacke ein, zweimal geschüttelt, sodass sie sofort wusste, was sie zu tun hatte. Erst dann, als ihre Arme wieder sicher auf ihrem Rücken zusammengeschnallt waren, hatte Pia den Keuschheitsgürtel entfernt.

"So. Na fein. Ist ja nur zu deinem Schutz, Dani. Damit du nachts ruhig schlafen kannst und nicht ständig in Versuchung gerätst."

Daniela verzichtete darauf, Pia zu erklären, dass sie in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugetan hatte. Und dass der breite Schrittgurt sie...

"Wo habe ich denn bloß den verdammten Knebel hingelegt?", murmelte Pia vor sich hin. Augenscheinlich hatte sie Probleme, das gute Stück zu finden.

"Oh nein! Bitte nicht schon wieder den Ballknebel, Pia!" Daniela erschrak. Bei Pia wusste man nie so genau, was ein Protest mit sich führen würde.

"Nicht den Ballknebel?? Oh.... na gut. Dann brauch ich ja auch nicht mehr lange zu suchen. Wie du willst!" Monikas Mutter setzte eine zufriedene Mine auf und lächelte sie an. "Dann wart mal, Kleines. Muss nur schnell mal was holen!"

Dass Pia etwas holen musste, verhieß nichts Gutes. Etwas holen hieß, ein Ding, einen Gegenstand zu holen, und in ihrer jetzigen Situation war jeder Gegenstand für Daniela eher etwas Unangenehmes, als etwas Angenehmes.

Schon war Pia zurück. "So, Mund auf!", kommandierte sie. Sie drückte ihr etwas Dickes, Festes gegen die geschlossenen Lippen, mit solcher Kraft, dass Danielas Widerstand schnell nachgab. Tief fuhr ihr das Teil in den Mund. Nicht so groß, wie der Ballknebel, dafür aber um einiges länger. Und auch dieser Knebel ließ sich hinter ihrem Kopf zusammenschnallen.
"Mal was anderes, nicht wahr? Hast du den Penisknebel schon mal ausprobiert?"

Daniela schüttelte den Kopf. Vielleicht war der Ballknebel doch angenehmer?

"Nicht? Na, du wirst sehen, der macht echt Spaß. Und man kann die Zunge besser damit trainieren, als mit dem Ballknebel. So, dann schlaf mal schön!" Sie gab Daniela noch einen Kuss auf die Lederpatte des Knebels, dann löschte sie das Licht und ging aus dem Zimmer.


Wieder wachte Daniela viel zu früh auf, wieder war sie wie gerädert. Ihre Bettdecke war total verrutscht, sie versuchte, diese irgendwie wieder zurecht zu strampeln, aber es klappte nur halb. Ihre Arme, die sie seit Stunden in der selben Stellung hatte halten müssen, schmerzten, ihr Mund ebenso, ihre Zunge schien fast so etwas wie einen Muskelkater zu haben. Und kaum, dass sie aufgewacht war, drang auch wieder das unangenehme Drücken des Schrittgurts in ihr Bewusstsein, sodass sie keinen weiteren Schlaf finden konnte.
Erst Stunden später kam Pia zurück, befreite sie von Knebel und Zwangsjacke und schickte sie ins Bad. Bald stand Daniela unter der Dusche. Sie war total erledigt. Duschte sich mechanisch ab, wusch sich im schmerzenden Schritt, verspürte längst nicht mehr das Bedürfnis nach sexueller Stimulation, das sie so lange wach gehalten hatte.

Sie trocknete sich ab und wankte zurück in ihr Zimmer. Pia war immer noch da, was sie sofort störte. Anziehen konnte sie sich schließlich allein, oder?

"Ah, Dani! Ich habe Dir schon mal ein paar Sachen rausgelegt..."

Was Daniela sah, machte sie nicht gerade glücklich. "Mensch Pia, muss das sein? Ich muss doch nachher zur Uni, und da habe ich keine Lust, so den ganzen Tag..."

"Papperlapapp! Nun stell dich mal nicht so an. Schließlich bin ich für dich verantwortlich, solange du bei mir wohnst! Also, komm her und lass dich schnüren!"

Daniela sah ein, dass sie diesem Argument nicht widersprechen konnte. Nicht jetzt, denn für Widerstand fehlte ihr jetzt am Morgen jegliche Kraft. Bereitwillig, aber nicht unbedingt willig, hob sie die Arme und ließ sich von Monikas Mutter in ein steifes, weißes Korsett einschnüren. Es war nicht besonders eng, aber doch steif genug, ihr beim Gedanken an den bevorstehenden Tag einen leichten Schrecken einzujagen.

"So. Und jetzt? Was für ein Folterinstrument hast du dir jetzt für mich ausgedacht? Oh nein, Pia! Nicht schon wieder den Keuschheitsgürtel!?" Daniela zuckte zusammen, als das ungeliebte Kleidungsstück sah. Ungeliebt in den Händen von Pia, wie sie sich eingestand.

Doch Pia winkte ab. "Nein, schon gut. Nur den Taillenreifen heute! Der Gürtel lässt sich ja auseinandernehmen. So, siehst du, so passt der Reifen genau um deine geschnürte Taille!" Sie legte ihr den soliden Stahlreifen um das Korsett und verschloss ihn mit dem dafür vorgesehenen Schlösschen. Augenblicklich hatte Daniela das Gefühl, sie müsste laut schreien. Aber kein Laut kam ihr über die Lippen.
"So, und als Oberteil habe ich einen dünnen Rolli für dich. Hier, zieh den mal an!" Pia reichte ihr einen himbeerfarbenen, dünnen Rollkragenpullover. Er war aus einem elastischen Gewebe.

"Keinen BH?"

"Nein. Das Korsett hat ja eine angearbeitete Büstenhebe, da braucht es keinen BH. Also, nun mach!"

Daniela zog das Teil an, das sich sofort eng an ihren Oberkörper legte. Deutlich sichtbar zeichneten sich ihre Brustwarzen ab. "So soll ich rausgehen, Pia? Da sieht man ja total den Taillenreifen! Nee, so kann ich nicht raus!" Es regte sich schwacher Widerstand, den Monikas Mutter aber gekonnt abfertigte.

"Du bist ja noch gar nicht fertig! Du ziehst heute den schwarzen Crinklerock an, den kennst du ja schon. Und um die Taille kommt noch ein Tuch! Aber vorher müssen wir dir das hier noch anlegen!"

Als Daniela die Schenkelbänder sah, wurde ihr Widerstand größer. "Nein, Pia, die will ich nicht. Du glaubst doch nicht, dass ich damit in die Uni gehe!"

"Doch!" Pia lächelte sie an. "Es sei denn, du willst lieber deine Seminare ausfallen lassen. Kein guter Start ins neue Studium, Dani!" Sie schüttelte missbilligend den Kopf und hatte mit einigen wenigen Handgriffen die beiden stählernen Reifen um ihre Oberschenkel befestigt; lange Ketten wurden an den Außenseiten des Taillenreifens angeschlossen. Dann folgte noch ein kleines Schlösschen, welches die D-Ringe der Schenkelbänder miteinander verschloss. "So, siehst du, passt doch alles wie für dich angefertigt. Monika hatte immer protestiert, wenn ich ihr die angelegt hatte." Die Frau lächelte zufrieden. "Fein. Den Rest kannst du ja selber anziehen. Ich geh schon mal und mache das Frühstück fertig!"



Es wurde ein Tag, der sich spürbar in die Länge zog. Gut war, dass sie hier, zum Anfang des Semesters, noch niemanden kannte, dass sie demzufolge keine sozialen Kontakte pflegen musste. Aber spätestens als sie am Nachmittag in einen total überfüllten Hörsaal kam, merkte sie, dass es für heute genug war. Wieso waren denn bloß so viele Studienanfänger hier? Man konnte die Neuen leicht von den älteren Semestern unterscheiden; sie blickten sich um, studierten den Hörsaal, als böte er weiß was für spannende Details, und alle hatten neue, saubere Notizhefte dabei, insofern sie nicht mit der neusten Technik versehen waren. Denn der Professor machte es gleich klar, dass seine Vorlesung auch online abrufbar war. Klare Sache, dachte Daniela amüsiert, damit man dann später per copy and paste seine Doktorarbeit schreiben konnte, wenn es so weit war.
Vergeblich suchte sie nach einem freien Platz. Aber es gab keinen. Viele hatten sich bereits auf den Fußboden gesetzt, was für sie ganz einfach nicht infrage kam, denn mit ihren zusammengefesselten Oberschenkeln konnte sie nur auf einem Stuhl sitzen, und auch das war verdammt unbequem. Also überlegte sie nicht lange sondern ging gleich wieder hinaus. In der Tür stieß sie beinahe mit einer Kommilitonin zusammen, die ebenfalls das Weite gesucht hatte. "Verdammt viele Studienanfänger hier!", beschwerte sich diese. "Und wie soll das erst nächstes Jahr werden? Blöde Sache, dieses G8-Abitur! Doppelter Abiturjahrgang! Was soll der Quatsch? Und demnächst darfst du mit sechzehn Auto fahren und Zehnjährige dürfen wählen gehen!" Die Frau echauffierte sich immer mehr. "Und weißt du, wer dann die Wahl gewinnt? Dieser blöde Kerl, der Gott zwar im Namen trägt, aber den Schalk im Nacken hat, weil alle glauben, von seinen dämlichen Gummibärchen satt zu werden. Ha! So ein Unsinn! Merkt eigentlich keiner, dass hier der größte Raub der jüngeren deutschen Geschichte über die Bühne geht?"

Daniela hatte diesen Gefühlsausbruch eher als eine Art Selbstgespräch aufgefasst, aber als die Kommilitonin sie bei ihrer Frage ansah, sah sie sich zu einer Antwort genötigt. "Raub? Was für ein Raub denn? Versteh ich nicht?"

"Na, dass man hier den Kindern und Jugendlichen ihre Kindheit bzw. ihre Jugend klaut! Liegt doch auf der Hand! Heutzutage drängen die Eltern doch schon bei Kindergartenkindern darauf, dass sie ersten Fremdsprachenunterricht bekommen! Alles ist doch nur noch auf Lernerfolg ausgerichtet. Von Entwicklung spricht doch keiner mehr! Am liebsten wäre es den Leuten doch, sie könnten eines Tages einmal das menschliche Hirn an einen Computer anschließen, und dann auf Wikipedia gehen, DOWNLOAD anklicken, und zack!, das Kind ist ein Erwachsener. Du wirst sehen, es wird noch so weit kommen, wenn wir nicht aufpassen!" Das Handy der jungen Frau klingelte, sie nickte Daniela zu und verschwand im Gedränge.

...wenn wir nicht aufpassen! Die Worte klangen noch in Daniela nach. Ja, da war etwas dran. Sie verstand, dass man dieses Aufpassen nicht der Gesellschaft als solcher überlassen durfte, sondern dass man selber aufpassen musste. Immer würde es Kräfte geben, die versuchten, Dinge durchzusetzen, die irgendwo irgendjemandem etwas raubten, ein Stück Entwicklung, ein Stück persönliche Freiheit. Willkommen bei den Sozialwissenschaftlern, dachte sie.
Daniela spiegelte sich in einer Glastür. Nein, man konnte nicht sehen, wieviel Freiheit sie selber bereits eingebüßt hatte. Das Korsett fühlte sich wohl enger an, als es wirklich aussah. So, wie sie sich jetzt sah, war sie einfach nur eine sehr schlanke, junge Frau. Das Tuch in der Taille verdeckte gekonnt den Verschluss des Keuschheitsgürtels... Sie schloss die Augen. Keuschheitsgürtel?? Nein, stimmte ja gar nicht. Sie trug heute nicht einmal einen Slip. Selten hatte sie sich so nackt, so ungeschützt gefühlt. Die Schenkelbänder verhinderten zwar, dass sie ihre Beine spreizen konnte, aber würde das einen Mann stoppen? Ohne es zu bemerken hatte sie ihre Hand auf ihre intimste Stelle gelegt; ihre Finger spürten die Feuchtigkeit, die schnell durch den dünnen Stoff ihres langen Rocks drang. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Es war Zeit, auf ihre eigene Freiheit Acht zu geben. Sie wusste zwar noch nicht wie, aber sie würde Pia ihren Standpunkt schon klar machen!


Oktober VII.

Samstag. Schon war es Samstag. Letzte Möglichkeit also, in diesem Jahr seinen Plan in die Tat umzusetzen. Wenn er also den Mumm dazu hatte. Klaus war alles andere, als von seiner eigenen Idee überzeugt. Zu groß schien ihm das Risiko, dass etwas schiefgehen konnte.

Aber Barbara dachte anders. Höre nicht auf ihn, diesen Feigling. Er will nicht, dass du Spaß hast im Leben. Er will immer nur Sicherheit, du aber willst Freiheit!

Eigentlich schien schon alles klar. Eigentlich hatte er sich schon darauf eingestellt, sich, wie immer in solchen Fällen, tot zu stellen. Sei vorsichtig!, dachte er. Meide das Risiko. Lass dich nicht von einer unkontrollierten Emotion, von einer Sucht, kaputt machen. Sie wird dich eines Tages noch umbringen, wenn du nicht widersagen kannst!

Er ließ ein langes, gequältes Seufzen hören. Er hätte sich nicht hingetraut, dessen war er sich sicher. Es war eine Sache, etwas in der Fantasie auszuleben, aber eine ganz andere Sache, sich doch auf ein ungewisses Abenteuer einzulassen.

Nein, Klaus hatte gewürfelt, und die Würfel waren gefallen. Aber wie immer hatte er mit gezinkten Würfeln gespielt, mit Würfeln, die ihm gar keine Wahl gelassen hatten, da sie auf allen Seiten dieselbe Zahl trugen. Eine Null.

´Sie sind eine Null, McFly!´ Er hatte diese Stimme gehört, immer wieder, diese Stimme von Schuldirektor Strickland im Film Zurück in die Zukunft. Vor Jahren hatte es angefangen, im Internat noch, als das Böse in Form eines Guten Hirten auch an ihn herangetreten war. Eine Stimme in seinem Kopf, mal von seinem Freund und Zimmergenossen Thomas wortlos ausgesprochen, mal von seiner Großmutter in verklausulierten Wendungen, mal auch von Monika, die sich unwidersprochen zu seiner Herrin hatte aufschwingen können.
Interessanterweise hatte das Objekt im Laufe der Zeit gewechselt. Hatten Thomas und seine Oma ihn noch angeklagt, sich nicht, wie ein Mann, gegen erhaltenes Unrecht aufzulehnen, so hatte Monika sich eher darüber lustig gemacht, dass er anfangs so große Schwierigkeiten hatte, die ihm aufgezwungene Rolle als Frau anzunehmen. Es war ein ewiges hin und her, er war zwischen die Mühlsteine seiner Zweigeschlechtlichkeit geraten; egal, welche Seite er wählte, so würde der andere Mühlstein ihn immer zerreiben wollen.

Klaus verfluchte sich selbst, dass er am Vorabend das Gespräch angenommen hatte. Daniela! Er hatte sich gefreut, dass sie wieder angerufen hatte, nicht das erste Mal in dieser für sie so hektischen, ersten Studienwoche. Immer wieder hatten sie ein wenig geplaudert, über den Studienanfang und überfüllte Seminarien und Hörsäle, über Monika und deren Reise zu ihrem Vater, und ob dies nun eine gute oder doch eher eine schlechte Sache war. Man war sich nicht einig gewesen, vielleicht auch allein deshalb, weil es für Klaus keinen Ort gab, an den er hätte zurückreisen wollen, um sein verknotetes Schicksal entzweizuschlagen.
Doch gestern hatte sie plötzlich gefragt, ob er mitwolle, mit zu diesem Fest, das ihm schon seit Tagen wie ein schwerer Amboss auf der Brust lag. "Wohin?", hatte er gefragt. "Zur Geidi-Gaudi. Ich kann nur diesen Samstag. Nächsten Samstag geht es nicht. Da muss studiert werden!" Nein, da könne er auch nicht, hatte er geantwortet, was ein wenig bereits wie eine Zustimmung klang. "Oh, schön!" hatte sie voll Freude geantwortet. "Weißt du noch, letztes Jahr, da hatten wir ja nicht so den richtigen Spaß..." Ja, er wusste es noch. "Ja..." Er zögerte mit seiner Antwort. "Ja, letztes Jahr war Monika ja noch dazugekommen..." Schweigen am anderen Ende. Eine halbe Minute. Dann wieder Daniela: "Moni ist weit weg, dieses Jahr, Klaus!"

Klaus. Es war klar, mit wem sie gesprochen hatte. Es war klar, mit wem sie zur Geidi-Gaudi gehen wollte. Und es war klar, dass alles nur darauf hinaus lief, dass die Räder seines Mühlwerks wieder anfangen würden, zu rotieren. Schneller und immer schneller würden sie ihn hinabreißen, zermahlen und zerquetschen, ihn und alle, die mit ihm zusammen waren. Es konnte kein gutes Ende nehmen, das war jetzt klar.


November III.

Ingeborg Wimmer versank in Schweigen. Was würde der Abend bringen? Würde er überhaupt etwas bringen, und wenn es nur ein kleiner Anhaltspunkt wäre? Geisterhafte Lichter zuckten durch den Innenraum des Wagens. Ihr Chef, Hauptkommissar Rick, schien auch mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache zu sein, einmal hätte er fast eine rote Ampel überfahren. Kann ja mal vorkommen, dachte sie, war ja auch nichts passiert.

Sie spürte, dass sie immer unruhiger wurde, je länger die Fahrt durch die Stadt dauerte. Und wenn etwas heute Abend, heute Nacht passieren würde? Hätte sie überhaupt noch die Chance, die Situation zu kontrollieren. Unbequem rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her.

"Nervös, Wimmer?" Ihr Chef hatte es bemerkt. Sie schüttelte nur den Kopf. Sollte er sich doch denken, was er wollte. Sollte die ganze Welt doch denken, was sie wollte. Nein, nervös war sie nicht. Sie wusste, dass sie gut im Nahkampf war, dass sie auch aufgegeilte, junge Männer leicht aufs Kreuz legen konnte. Aber konnte sie das auch so, in diesem Dirndl, und...? Oder machte sie das, was sie trug, schwach und angreifbar?

Sie würde es herausfinden. In wenigen Stunden würde sie mehr wissen. Aber hatte sie unbedingt dieses blödsinnige Kleid anziehen müssen? Nein, Dirndl waren nicht ihr Ding, bestimmt nicht. Gab es irgendein Kleidungsstück, das eine Frau mehr zur ´Frau´ machte??
Sie blickte aus dem Seitenfenster und unterdrückte ein Lächeln. Also war sie doch nervös. Sich derart dümmliche Gedanken zu machen, war sicherlich ein Anzeichen von Nervosität. Sie realisierte aber auch, dass allein dieser Gedanke schon ein Indiz dafür war, dass in der Welt der Frau so einiges nicht mehr ganz so leicht zu erklären, nicht mehr ganz so selbstverständlich war, wie noch zu Zeiten ihrer Eltern. Sie hatte sich früh schon kleidungsmäßig abgesetzt vom Spießbürgertum ihrer Eltern, sie hatte einen Beruf ergriffen, der alles andere war als Heim und Herd. Und sie hatte jahrelang nicht einen einzigen Rock besessen, hatte diese gehasst, als Zeichen der Unterdrückung betrachtet. Erst in letzten Jahren war dies anders geworden. Sie hatte mehr Bürodienst bekommen, musste sich nicht mehr so oft draußen die Finger schmutzig machen, wenngleich es immer noch vorkam. Und sie hatte ganz langsam kapiert, dass sie eine Frau war, und dass es sogar ein Zeichen von Stärke war, wenn sie sich ab und zu wie eine kleidete. Hosen tragen konnte schließlich jeder; Röcke aber nur eine Frau.
Trotzdem war der Schritt hin zum Dirndl recht gewaltig gewesen. Es war nicht ihr erstes Dirndl, da hatte es schon mal eines gegeben, in grauer Vorzeit. Verstört erinnerte sie sich an ihre Firmung, daheim in ihrem Dorf, wo es Brauch war, dass alle Mädel im Dirndl zur Kirche gingen, und nur allzu gut erinnerte sie sich an den Blick des Weihbischofs, der gar nicht tief genug in ihren Ausschnitt sehen konnte. Damals hatte sie zum ersten Mal gespürt, dass nicht alles so war, wie es sein sollte, dass Menschen, trotz aller Weihräucherei, Menschen waren, die eben nicht alles in sich mit purer Vernunft steuern konnten. Eine Erkenntnis, die sie schlussendlich, wenn auch auf einigen Umwegen, zur Polizei gebracht hatte. Denn sie wollte Licht in die dunkle, triebhafte Welt der Menschen bringen, wollte verstehen, was diese zu ihren Verbrechen angetrieben hatte, weshalb sie Kinder so lange schlugen, bis diese aufhörten zu atmen, weshalb sie Frauen brutal vergewaltigten, oftmals sogar die eigenen; Menschen, die sie angeblich liebten.

"Wir sind gleich da, Wimmer!" Rick sah sich schon nach einem geeigneten Parkplatz um, einem, der nicht allzu weit vom Eingang entfernt war, sodass er im Notfall alles unter Kontrolle hatte. "Alles klar bei Ihnen?"

Wimmer öffnete den Sicherheitsgurt; augenblicklich verschwand der unangenehme Druck, der ihr auf der Brust gelegen hatte. "Alles klar, Chef." Sie sah ihn nicht an. Jetzt war nicht die Zeit für tiefere Einblicke in ihr persönliches Seelenleben, jetzt war die Zeit, ein Verbrechen aufzuklären, einem miesen Typen so in die Eier zu treten, dass er sie nie wieder würde gebrauchen können. Was auch immer hier, an diesem Ort, vor genau einer Woche passiert war, sie hoffte es hier herausfinden zu können!



Oktober VIII.

Sie hatte sich gewappnet, hatte all ihre Kraft in einen entscheidenden Schlag gelegt, aber der Gegner hatte es verstanden, geschickt zurückzuweichen. Daniela war enttäuscht. Sie hatte mit Mühe und Not den Montag überstanden, hatte Pias Spiel mitgespielt, ohne zu murren, war aber schließlich etwas früher als geplant nach Hause gekommen, denn im AudiMax hatte es keinen freien Sitzplatz mehr gegeben, und mit den Ketten an ihren Beinen war es ihr schlichtweg unmöglich, sich irgendwo anders hinzsetzen, als auf einen Stuhl oder eine Bank.
Pia war nicht zu Haus gewesen und so machte sie das, was sie am Vortage nicht hatte tun können. Diesmal hinderte sie kein Keuschheitsgürtel daran, diesmal gab es keine störenden Elemente, sah man einmal von dem steifen Korsett ab, welches ihre Beweglichkeit doch ziemlich einschränkte. Es war herrlich, als sich die angesammelte Spannung mehrerer Tage in ihrem Schoß entlud; sie biss in ihre Bettdecke, um leise zu bleiben.

Monikas Mutter kam erst am späten Nachmittag zurück, begrüßte Daniela und bereitete für beide einen Tee. Dann, mit einem spitzbübischen Lächeln, holte sie etwas Längliches, Weißes aus ihrer Einkaufstasche hervor, griff zu Messer und Schneidebrett und schnitt das weiße Etwas vor Danielas Augen auf.

"Voilá! Der erste Stollen! Frohe Weihnachten!"

Daniela verzog den Mund. Sie liebte Stollen, aber jetzt schon? "Ist es schon wieder so weit? Ist doch erst Ende Oktober!"

"Hast du es nicht gehört? Im Radio spielen sie schon wieder Last Christmas !" Sie begann, den absoluten Weihnachtsohrwurm leise vor sich hin zu trällern.

"Scheiß Weihnachten!" Und schon war es heraus.

"Na na!" Pia sah sie mit tadelndem Blick an. "Was hast du gegen Weihnachten? Das ist doch immer so schön, die vielen leckeren Sachen, die schönen Geschenke... Weihnachtslieder..."

Daniela ging nicht darauf ein. Wie sollte sie einer Person, die, wie sie immer stärker erkannte, trotz aller Emotionalität keine wahren Anzeichen für geistige Tiefe erkennen ließ, wie sollte sie dieser Person erklären, warum sie das, was aus Weihnachten geworden war, ablehnte?
Und so war ihr Gespräch an der Oberfläche geblieben. Daniela hatte den Zeitpunkt zum Frontalangriff verpasst. Man schießt nicht auf den, der einen mit Stollen füttert, so einfach war es. Aber sie war dennoch fest entschlossen, nicht noch eine dritte Nacht in der unbequemen Zwangsjacke zu verbringen.
Dann aber war alles ganz anders gekommen. Nach dem Tee hatte Pia ihr die Schlüssel für Taillenreifen und Schenkelbänder in die Hand gedrückt und sich dann nicht weiter um sie gekümmert. Sie hatte auf ihr Zimmer gehen und sich mit einiger Mühe ausziehen können, hatte geduscht und den Abend an ihrem Schreibtisch in gemütlichen Joggingsachen verbracht. Und Pia sollte an diesem Abend, wie auch an den nächsten Tagen, nicht mehr mit irgendwelchen Sachen auf sie zukommen.

Bis zum Freitagmorgen. Beim Frühstück hatte sie sie ganz unschuldig gefragt, ob sie eigentlich Sport treibe. Eher nicht, hatte sie Monikas Mutter darauf geantwortet.

"Hm. Du solltest was für deine Figur tun, Dani! Weißt du eigentlich, dass Moni da oben so ein Laufband hat? Vielleicht wär das ja mal was für dich? Vielleicht musst du es einfach mal ausprobieren, jetzt am Wochenende?"

Sie ließ sich ihren Schrecken nicht anmerken. Das Laufband! Wie lange hatte sie nicht an diesen schlimmen Nachmittag mehr gedacht? Als sie selber, gefesselt und unsicher auf extrem hohen Hacken balancierend, hinter einer Glastür stand, die sie selber nicht öffnen konnte, während Monika auf der anderen Seite dieses Laufband betrat, die Füße in den extremen Balletstiefeln? Und als diese dann ihre Nippel vorn an der Maschine mittels langer Gummibänder fixierte, sich noch eine Gasmaske aufsetzte und dann die eigenen Hände auf den Rücken fesselte, einen Schalter in der Hand haltend, mit dem sie dann das Laufband aktivierte?
Daniela schüttelte sich. Das war der Moment gewesen, in dem Monika zu weit gegangen war, in dem sie eine unbesprochene Grenze überschritten hatte, die sie niemals hätte überschreiten dürfen. Denn was Monika gewollt hatte, was diese ihr hatte aufzwingen wollen, war nichts anderes als der Versuch, aus sich selber eine Märtyrerin und aus Daniela einen Folterknecht zu machen. Denn nur sie, Daniela, hatte die Möglichkeit gehabt, das Laufband wieder zu stoppen, nachdem Monika ihren Schalter weggeworfen hatte, und nur sie konnte mittels einer langen Schnur die Handschellenschlüssel freigeben, sodass Monika sich befreien konnte. Ein furchtbares Szenario, und bestimmt keins, dem Daniela etwas hatte abgewinnen können. Nein, sie wollte gern für andere Dinge auf sich nehmen, Schmerzen erleiden und sogar ihre sexuelle Freiheit verlieren, aber sie war nicht fähig, anderen Gleiches anzutun.

"Nun, was meinst du? Ich wüsste da schon, wie wir beide zusammen etwas trainieren könnten! Zusammen macht es doch mehr Spaß!" Monikas Mutter sah sie mit Augen an, aus denen die reine Unschuld sprach.

Wie ein Blitz jagte ein weiteres Bild durch ihren Kopf. Diesmal stand sie selber auf dem Laufband, würde laufen und laufen, schneller und immer schneller, während sie nicht einen Meter von der Stelle kam. Und Monikas Mutter würde lächelnd daneben stehen und ... was auch immer. Daniela wusste, dass es nichts Gutes sein würde.

"Mal sehen", hatte sie gesagt. Und daran gedacht, dass es eigentlich nur noch eine Lösung gab. Ja, sie würde laufen müssen, laufen, laufen, laufen. Ob sie je irgendwo ankam, war eine ganz andere Frage.



110. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 12.04.13 22:04

Hi Daniela,

eine sehr interessante Fortsetzung, die wieder einmal viel über die Protagonisten verrät. Herrlich gelungen, wie Du das beschreibst, was Deine Protagonisten bewegt oder eben zurückhält - und dabei mit einigen Fetisch-Utensilien gewürzt. Aber ich bin auch gespannt, ob Rick´s Plan aufgehen wird.

Danke Dir und keusche Grüße
Keuschling
111. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 14.04.13 22:00

Es zieht sich hin. Ich gebrauche gern das Bild vom 400m-Läufer, der sich mit unendlich müden Beinen auf der letzten Geraden ins Ziel kämpft. Auch ich selber wünschte mir, wir würden endlich am Ende ankommen. Falls es überhaupt eines gibt.
Bleibt unseren Protagonisten treu, liebe Leser....
Eure Dani

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Australien II. Oktober.

Müde. Sie war nur noch müde. Monika hatte stundenlang im Zug gesessen, der sie von Sydney nach Adelaide gabracht hatte, in die Haupstadt Südaustraliens. Die lange Reise war irgendwie bequem, irgendwie mehr als ätzend gewesen. Ein Zug voll lärmender Touristen, viele junge Leute, so wie sie, aber sicherlich niemand darunter, der in gleicher Mission unterwegs gewesen wäre.
Es hatte lange gedauert, ihren Vater ausfindig zu machen. Bis sie ihn schließlich in einem kleinen Weinanbaugebiet Südaustraliens gefunden hatte. Das heißt, sie hatte seinen Namen auf der Angestelltenliste einer Weinfirma entdeckt. Schwieriger war es gewesen, Konkretes über seinen genauen Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen, denn sie wollte auf keinen Fall mit ihrem bevorstehenden Besuch Aufmerksamkeit erregen. Noch genauer gesagt: sie wollte sich bis zum wirklich letzten Moment die Möglichkeit offenhalten, nötigenfalls noch im allerletzten Moment auf das Wiedersehen, auf die erwartete Konfrontation zu verzichten.

Aber nicht heute. Sie war viel zu durcheinander, um jetzt das letzte Stück Weg in Angriff zu nehmen. Stattdessen besorgte sie sich ein Taxi und fuhr erst einmal zu ihrem Hotel. Sie würde etwas Ruhe benötigen. Die wenigen Tage, die sie noch in Sydney verbracht hatte, waren mit all der Lauferei anstrengender gewesen, als erwartet. Da hatte es schlichtweg so Vieles gegeben, was sie unbedingt hatte sehen wollen, die Oper, den Zoo von Taronga, die imposante Hafenbrücke, alles Dinge, die viel Zeit und Energie erforderten. Gut war, dass sie aus dem deutschen Herbst in den australischen Frühling kam, da war der Klimawechsel nicht ganz so schlimm, wie wenn man aus dem Winter in den Sommer reist.

Das Hotel war ein netter, kleiner Bau unweit des Stadtzentrums. Es gab keine Klimaanlage, aber ein großer Propeller drehte sich unter der Decke und sorgte für einen konstanten Luftstrom. Sie hatte geduscht und lag nun so, wie der liebe Gott sie erschaffen hatte, auf dem Bett; die dünne Decke hatte sie zur Seite geschoben. ´Hallo Papa!´, stammelte sie halblaut vor sich hin. Worauf hatte sie sich bloß eingelassen?
Ihr wurde unwohl bei dem Gedanken, dass sie sich jetzt in Windeseile jener ´Kante´ näherte, die bisher ihr ganzes Leben ausgemacht hatte. Eine Kante, die nie erwähnt werden durfte, daheim im Elternhaus, die erst recht nie in Frage gestellt werden durfte. Erst seit ganz wenigen Jahren hatte es von ihrem Vater einen Gruß zu Weihnachten gegeben, sie erinnerte sich noch, wie überrascht sie einmal gewesen war, als sie, damals noch im ersten Semester, etwas früher nach Hause gekommen war und im Briefkasten eine dieser lustigen, australischen Weihnachtskarten vorgefunden hatte.
´Ich bin´s, Papa. Deine Tochter....´ Nein, auch das würde seltsam klingen. Alles würde seltsam klingen, das wusste sie jetzt. Wahrscheinlich war es gut, gar nichts zu sagen. Vielleicht war es besser, gar nicht erst hinzufahren, in diesen seltsam klingenden Ort, wo das Weingut lag.

Es hatte alles so gut, so vernünftig geklungen, als Agnes sie im Krankenhaus besucht hatte. Du musst deinen Vater aufsuchen, dann wird alles gut! In Wahrheit aber wurde mit immer geringerer Entfernung zu ihrem Vater ihre Skepsis immer größer. Was, was um alles in der Welt sollte diese Aktion hier denn bloß bringen? Glaubte sie allen Ernstes, ein bloßes Zusammentreffen würde etwas wieder zusammenkitten, was in ihrer Kindheit zerbrochen war? Und, was genau war denn überhaupt zerbrochen? War es nicht vielmehr ihre Mutter gewesen, die den Bruch mit ihrem Vater herbeigeführt hatte? Schlimmer war, dass sie sich jahrelang insgeheim Vorwürfe gemacht hatte, dass sie selber der Grund dafür war, dass die Ehe ihrer Eltern in die Brüche gegangen war. Sie selber hatte in diesem entsetzlichen Spiel Schuld auf sich geladen, eine Schuld, die ihr bisher niemand hatte nehmen können. Würde ihr Vater es können, wenn sie mit ihm zusammentraf?

Monika wälzte sich unruhig hin und her. Was ihr jetzt fehlte, war ein Gesprächspartner. Jemand, der einfach nur zuhörte und ihr dann einen Klaps auf die Schulter gab. Jemand, der hinter ihr stand, statt vor ihr. So wie... Ja, wie wer? Erst jetzt erkannte sie, dass es nie jemanden gegeben hatte, der so ganz für sie dagewesen war. Nicht ihre Mutter, nicht Claudia. Und bei aller Liebe auch nicht Daniela.
Daniela! Was war nur in sie gefahren? Spätestens seit sie im September wieder nach München gekommen war, hatte Monika erkannt, dass mit dem Mädchen etwas passiert war. Doch hatte sie es wahrhaben wollen? Nein. Sie hatte schon ihr Augenmerk auf die bevorstehende Reise gerichtet, hatte die vielen, drängenden, kaum versteckten Aufforderungen der Freundin kaum beachtet. Ja, jetzt erst wurde es ihr klar, dass Daniela sich große Hoffnungen gemacht hatte, Hoffnungen auf weitere ´Erlebnisse´, vorsichtig ausgedrückt. Daniela war eine sub, submissive wie sie im Buche stand. Und sie lebte nun mit ihrer Mutter unter einem Dach! Augenblicklich verspüre Monika einen dumpfen Schmerz in der Magengegend. Sie richtete sich auf. Vielleicht war es nur Hunger? Ja, gewiss, es war nur Hunger, log sie sich etwas vor. Manchmal war es einfacher, mit der Lüge zu leben, statt mit der Wahrheit.


Oktober XI.

"Pia?" Daniela hob ihre Stimme, was eigentlich nicht nötig war, da beide beim Frühstück saßen.

"Ja? Was gibt es denn?" Die Angesprochene legte den Teil der SZ weg, den sie gerade las.

Daniela hatte die ganze Nacht überlegt, wie sie es sagen sollte. "Du brauchst heute Abend für mich nicht mitkochen. Ich bin nicht zu Hause." Sie sah Monikas Mutter nicht an, sondern goss sich noch etwas Kaffe nach.

"Nicht? Hast du was vor?" Ihre Stimme klang neutral.

"Ja. Ich gehe mit Klaus auf die Geidi-Gaudi. Kann auch sein, dass ich die Nacht dann bei ihm bleibe. Das wird ja bestimmt spät...."

"Und da dachtest du, es sei besser, bei ihm zu bleiben, statt durch halb München zu laufen?"

"Ja. Man weiß ja nie, was passiert..."

"...wenn man nicht vorsichtig ist. Man kann aber vorbereitet sein..." Pia verzog keine Miene.

Daniela blickte auf, sagte aber nichts.

"...so wie letztes Jahr. Da warst du doch auch vorbereitet. Du willst also wieder da hingehen?" Pia blickte sie an.

"So wie letztes Jahr, ja. Ich hoffe, du hast nichts dagegen?" Warum sagte sie das?

"Nein, Kleines. Natürlich habe ich nichts dagegen. Was sollte ich dagegen haben? Hast du dein Dirndl hier?"

"Ja. Ich hab alles hier." Daniela war erleichtert.

"Wann willst du gehen?"

Daniela erklärte ihr, dass sie am späten Nachmittag zu Klaus wollte und mit ihm erst einmal etwas essen gehen wollte. Pia sagte, sie müsse erst noch einmal selber in die Stadt, man könne aber sicherlich noch zusammen Tee trinken, falls Dani das wolle. Daniela sagte zu, besser hätte es eigentlich nicht kommen können.

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Als Klaus am Nachmittag in seine kleine Wohnung zurückkam, wunderte er sich, unten auf der Treppe eine schwarze Plastiktüte zu finden. Er nahm sie mit nach oben, sah hinein und erschrak. Er erkannte das Teil sofort. Sie schien Ernst machen zu wollen.
Er packte das Teil wieder in die Tüte und legte sie weg in sein Schlafzimmer. Sollte es wieder so sein, wie letztes Jahr? Genauso?? Lange stand er unschlüssig am Fenster. Nein, dachte er, letztes Jahr war es anders. Alles war anders damals. Es war an der Zeit, dass er endlich an sich selber dachte.

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Sie hatte das Nötigste in einen kleinen Koffer gepackt. Alles würde sie niemals mitnehmen können, aber es gab auch Dinge, die sie sich würde neu beschaffen können. So hatte sie hautpsächlich an diverse Ausweise und Dokumente gedacht, natürlich an Studienunterlagen und ihren Laptop. Ein wenig Wäsche zum wechseln. Fast hätte sie ihren Kulturbeutel vergessen. Kleider? Einige wenige Oberteile, Pullover, zwei Jeans, einen Rock für fein, natürlich drei Paar Schuhe. Ihre Stöckelschuhe würde sie später anziehen, die passten ganz gut zum Dirndl. Dann hatte sie den Koffer genommen und unten, vor der Haustür, unter einem dichten Busch versteckt, dessen buntes Herbstlaub alles gut verdeckte.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie hörte, dass Pia von ihrem Stadtbummel zurückkam. Bald würde sie sie zum Tee rufen. Danach dann würde sie sich fertig machen, und dann... nur noch laufen, laufen, laufen. Aber anders, als Pia sich das vorstellte. Sie würde weglaufen und nicht wiederkommen.


Diesmal gab es Lebkuchen zum Tee. Pia hatte wohl beschlossen, von jetzt bis zum Christfest und wohl noch darüber hinaus weihnachtlich zu bleiben. "Ah, ich liebe Lebkuchen!"; sagte sie. Ohne eine Reaktion Danielas abzuwarten, von der sie sowieso keine große Begeisterung erwarten durfte, fuhr sie fort: "Monika hat mir davon erzählt. Alles..."

Daniela fühlte sich überrumpelt. So schnelle Themenwechsel war sie nicht gewohnt. "Wie bitte? Wovon hat Moni dir erzählt? Von Lebkuchen??"

Pia lachte laut auf. "Ha! Natürlich nicht. Von dieser Gaudi-Geidi, oder wie das heißt..."

"Geidi-Gaudi, so wie Geile-Dirndl-Gaudi!"

"...und was ihr da so gemacht habt. Muss ja echt spannend gewesen sein!" Sie ließ sich von Danielas Einwurf nicht beirren. "Und da willst du heute Abend hin? Genauso wie letztes Jahr?"

"Äh, ja. Wieso fragst du? Willst du etwa mit? Ich glaube nicht, dass das so ganz deine Altersklasse ist!"

Pia lachte wieder. "Nein, ich will nicht mit. Aber ich dachte, ich könnte dir ein wenig beim Anziehen helfen."

Daniela erschrak. "Was? Was meinst du denn? Kann mich doch selber anziehen!"

"Klar kannst du dich selber anziehen. Aber Monika hatte mich gebeten, dir beim Anziehen zu helfen, falls du wieder zu diesem Fest gehen solltest. Sie hat es mir ausdrücklich aufgetragen!" Pia sah sie lammfromm an. "Ehrlich! Sie hatte gesagt, dass, falls du hingehen würdest, dann sollte es für dich genauso sein, wie letztes Jahr. Genau das waren ihre Worte! Sie hat mir auch genau gesagt, was ich dir anziehen soll!"

Daniela musste tief Luft holen. Es war wie das Echo eines heftigen Knalls über sie gekommen, gänzlich unerwartet und zutiefst verstörend. Noch hatte Pia nicht gesagt, was sie nach Monikas Meinung anziehen sollte, aber sie besaß genug Vorstellungskraft, es sich auszumalen. Sie trank ihren Tee aus und folgte Pia auf ihr Zimmer.
Diese trug eine Plastiktüte mit sich, aus der sie nun all das entnahm, was Daniela den Abend verderben sollte, oder auch nicht. Wie man es sah. Widerstandslos ließ Dani sich zuerst den stählernen BH anlegen, diesmal allerdings ohne die stacheligen Einlagen. Als Daniela sah, dass Pia dann auch den elektronischen Phallus auf dem Schrittteil des Keuschheitsgürtels einsetzte, begann sie heftiger zu atmen. Nein. Nicht dieses Teil, dachte sie. Aber sie brachte keinen Laut hervor. Sie war wie verhext. Es fühlte sich kalt und unangenehm an, als das stählerne Glied in sie eindrang. Mein Gott, dachte sie, ist es größer geworden?

Pia verband die drei Teile von Taillenreifen und Schrittteil miteinander und setzte das kleine Schlösschen ein. Klick! "So, Dani, das wär´s ja eigentlich. Mit dem Dirndl kommst du wohl selber klar?"

Sie stand wie angewurzelt. Fast hätte sie gelacht, als sie daran dachte, dass sie jetzt die Wurzel zwischen den Beinen hatte und nichts dagegen tun konnte. "Ja. Aber..." Sie stöhnte leise, "...aber das hier ist nicht richtig, Pia. Ich hatte den BH letztes Jahr nicht mehr an. Das weiß ich genau! Monika hatte ihn mir am selben Tag abgenommen, nach einer ganzen Woche. Also, den kannst du mir bitte auch wieder abnehmen!" Sie biss sich auf die Lippen. Wie lange würde es dauern, bis sie sich an dieses verdammte Teil gewöhnt hätte? Eine Stunde? Zwei Stunden? Oder noch länger? Und wo war eigentlich die Fernbedienung?

"Hattest du nicht?? Oh, wie dumm. Da muss mir wohl ein kleiner Fehler unterlaufen sein. Aber abnehmen kann ich dir den BH nicht mehr. Ich habe keine Schlüssel mehr hier!"

"Du hast keine Schlüssel mehr hier??", echote Daniela. "Was, zum Teufel, soll das jetzt bedeuten? Wo sind die verdammten Schlüssel denn? Jetzt sag bloß nicht, Monika hat sie mit nach Australien genommen!"

Pias Gesicht zeigte ein breites Grinsen. "Das wär mal lustig, nicht wahr? Aber nein. Die Schlüssel sind bei deinem Freund. Zusammen mit der kleinen Höllenmaschine..."

Daniela blickte sie fragend an.

"...dieser Fernbedienung. Ihr solltet doch heute Abend euren Spaß haben, hatte Moni gemeint. Alles sollte so sein, wie letztes Jahr. Hast du ja selber mehrmals gesagt. So, dann zieh dich mal fertig an. Ich glaube, ich leg mich schon mal ein wenig hin. Bin ja ganz ausgelaugt von dieser Rennerei heute! Falls wir uns heute nicht mehr sehen, viel Spaß!! Pass gut auf dich auf, mach keine Dummheiten, Kleines...." Sie ging hinaus und murmelte noch im Gehen: "...ach, geht ja sowieso nicht!" Das letzte, was Daniela noch von ihr hörte, war ein leises Lachen.

%%%

Barbara erschrak, als sie das Klingeln an ihrer Wohnungstür hörte. Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen, aber es gab Momente im Leben, wo man sich nicht länger verkriechen konnte, wo man nicht länger vor der Wahrheit davonlaufen wollte. So ein Moment war jetzt gekommen. Sie ging zur Wohnungstür, drückte auf den Knopf für den elektrischen Türöffner und öffnete dann die Wohnungstür. Anscheinend war Daniela die einzige, die nicht wusste, dass man sich nur ein wenig gegen die Haustür lehnen musste, um diese aufzubekommen. Barbara zog sich in das Halbdunkel des kleinen Flurs zurück.

Daniela stieg die wenigen Treppenstufen empor, froh darüber, dass es nicht mehr waren. Treppen waren in ihrer Situation das Schlimmste. Sie öffnete die Wohnungstür, die Diele war dunkel, schemenhaft nur erkannte sie eine Person, die am anderen Ende stand.
Sie setzte ihren kleinen Koffer ab, suchte nach dem Lichtschalter.

"Nicht!", sagte die Person. "Lass es besser aus!"

Barbara?? Oh nein! Daniela verstand in weniger als einer Sekunde, was geschehen war. Es war genau das geschehen, was nicht hätte geschehen sollen, wenn es nur nach ihr gegangen wäre. Dennoch machte sie einen zögerlichen Versuch, der unbequemen Wahrheit auszuweichen. "Klaus? Bist du das?"

"Klaus ist nicht hier", antwortete sie ihr. Dieselbe weiche Stimme, die Daniela schon zu Ostern gehört hatte. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie sich leicht täuschen lassen.
Sie überlegte. Sie wusste nicht, was richtig, was verkehrt war. Es gab kein Schema mehr, das sie als Vorlage für ihr weiteres Verhalten anwenden konnte. Alles konnte richtig sein, aber alles konnte auch verkehrt sein. Mit einer schnellen Bewegung betätigte sie den Lichtschalter.

Barbara blieb stehen. Sie hielt es aus.

"Mensch Klaus...," legte Daniela los. Ihre Stimme war gereizt. Sie wusste bereits, dass der Abend dahin war. Aber sie hatte sich nicht im Griff, zu groß war die totale Enttäuschung, die sie jetzt erlebte. "Lass doch den Scheiß! Mann, wir wollten uns doch einen schönen Abend bei der Geidi-Gaudi machen!"

"Können wir doch auch so!" Barbara kam langsam näher. Sie sah verboten gut aus. Eigentlich besser als Daniela selber. Warum nur müssen Transen immer besser aussehen, als richtige Frauen, dachte Daniela. "So können wir doch beide unseren Spaß haben! Klaus hatte keine Lust zu diesem Fest. Aber Barbara hat schon ein ganzes Jahr darüber nachgedacht. Klaus fand es langweilig, als Mann dort zu sein. Aber schon letztes Jahr hatte er sich gewünscht, er könnte..." Er stockte, berichtigte sich. "....sie könnte da auch einmal mitmachen. Barbara also. Ich hoffe, du verstehst das!"

Nein. Sie verstand es nicht. Was war denn bloß los mit diesen verdammten Männern? Sie fragte sich, ob diese Barbara, diese Monika-Schöpfung, überhaupt noch normale - männliche - Reaktionen zeigen konnte? Sie hob den Rock ihres Dirndls, zeigte Klaus, oder Barbara, ihre versperrte Scham, lies keinen Zweifel daran, dass noch mehr an ihr versperrt war. "Ich hab das Ding in mir, Klaus. Weißt du noch, die Fernbedienung? Wie du es mir besorgt hattest, letztes Jahr?" Sie schaute ihn an und wartete auf eine Reaktion. "Du hast die Fernbedienung?" Es klang mehr wie eine Aufforderung als wie eine Frage.

"Ja," sagte er. "Soll ich sie mitnehmen?"

Hoffnung keimte in Daniela auf. Sie hatte es gewusst, man musste halt nur ein dickes Kaliber auffahren, um bei Männern Erfolg zu haben. Auch bei denen, die keine sein wollten.

Barbara zog sich eine Jacke an und griff nach ihrer Handtasche. "Woll´n wir gehen, Dani?"

Daniela schloss die Augen, sank auf den Fußboden wie eine gekillte Gliederpuppe. "Nein," stammelte sie. Dann lauter: "Nein!! Nein und abermals NEIN!!!" Ich will mit Klaus zu diesem Fest, so wie letztes Jahr, und ich will dass Klaus mir dieses Ding hier unter Strom setzt!! Kapierst du das nicht?" Sie begann zu weinen. "Hier, du kannst alles mit mir machen, was ein Mann mit mir machen würde. Aber zieh dir dieses Dirndl aus! Sei endlich der, der du bist! Klaus, verstehst du, Klaus und nicht Barbara. Die war doch nur eine Schöpfung von Monika, die ... die ..." Sie holte Luft. "Ach scheiße!! Scheiß Kerle!! Also, was ist jetzt?"

Barbara zog sich die Jacke wieder aus. Sie ging in die Küche, holte sich ein Glas Wasser und trat dann ans Fenster und blickte hinaus. "Das... das verstehst du nicht, Dani. Du willst es einfach nicht wahrhaben! So wie alle anderen. Alle sehen immer nur den Mann in mir, auch wenn sie mich scheinbar in Frauenkleidern akzeptieren. Letzten Endes wollen alle doch nur mit mir ins Bett. Mit Klaus also, nicht mit Barbara. Oh nein, du brauchst gar nicht so zu gucken! Nein, du bist nicht die erste und nicht die einzige. Da hat es auch andere Frauen in der Zwischenzeit gegeben!" Sie trank einen Schluck, ihre Hand zitterte. Etwas Wasser floss auf den Boden.
"Was weißt du denn eigentlich von mir? Nichts, überhaupt nichts!! Du kennst doch nur diese Monika-Schöpfung, wie du es nennst. Den kleinen, dummen Jungen von nebenan, den sie zwingen konnte, als Frau durch die Gegend zu laufen! Ach, du hast ja gar keine Ahnung..." Sie verstummte. Vielleicht hätte sie Daniela mehr von sich erzählen sollen, aber da hatte es keine richtige Gelegenheit gegeben. Und jetzt war erst recht nicht der Zeitpunkt dafür.

Daniela riss ein Stück Kuchenrolle ab und trocknete sich die Tränen weg. "Du kommst also nicht mit zum Fest?" Trotz lag in ihrer Stimme.

"Nur so."

Ohne mich, dachte Daniela. Aber dann ohne mich. Sie überlegte, ob sie Klaus vielleicht zu sehr in die Enge getrieben hatte. Vielleicht müsste sie jetzt einfach gehen, ihn mit seiner Entscheidung allein lassen? Ja, vielleicht würde das funktionieren. Trotzdem ahnte sie, dass der Spaß für heute vorbei war, bevor er überhaupt angefangen hatte. Und wenn sie einfach allein zur Geidi-Gaudi ging? Wenn sie Spaß mit einem anderen Kerl hatte? Da liefen bestimmt eine ganze Menge notgeiler Burschen herum, die man ohne Probleme zu einer schnellen Nummer...
Der Keuschheitsgürtel! Von ihr aus konnte Klaus oder Barbara oder wer auch immer das verdammte Teil behalten! Sie holte einmal tief Luft, zwang ihre Stimme zur Ruhe. "Also gut. Dann gehe ich jetzt. Ich gehe erstmal wo was essen, und anschließend dann zum Fest. Vielleicht kommst du ja nach. Aber ich habe jetzt echt keinen Bock mehr auf dieses Spielzeug hier:" Sie schlug ihren Rock noch einmal hoch und deutete auf ihren blanken Keuschheitsgürtel. "Wenn du also so nett wärest, mir die Schlüssel zu holen?" Sie biss sich auf die Lippen.

Barbara ging, ohne sie anzuschauen, ins Schlafzimmer und kam mit einer Plastiktüte wieder. "Hier, aber mach das bitte selber."

Daniela griff nach einem kurzen Blick in die Tüte, holte die Fernsteuerung heraus und legte sie auf den Tisch. Sie sah, dass das Display das Wort READY zeigte; ein paar Knopfdrücke jetzt und sie würde abgehen wie eine Rakete. Aber sie drückte auf keine Knöpfe sondern griff erneut in die Tüte. Wo....? Ihr Herz blieb einen Moment stehen. Nein, dachte sie, das hatten wir schon. Nicht schon wieder.... Sie drehte die Tüte auf den Kopf, schüttelte sie über dem kleinen Sofatisch aus, aber nichts fiel heraus. Sie war leer.

"Da sind keine Schlüssel...", stellte sie fest.

"Nicht? Aber du sagtest es doch selber..." Auch Barbara sah noch einmal in der Tüte nach. "Ich weiß sowieso nicht, wie die Tüte hier hergekommen ist. Sie stand da, unten auf der Treppe, als ich aus der Stadt zurück kam."

"Ich weiß es", wusste Daniela. "Pia. Ich wohn doch bei Monikas Mutter. Sie war mittags auch mal weg, in der Stadt, wie sie gesagt hatte, und sie hat mir vorhin gesagt, sie hätte die Schlüssel nicht, sie seien bei meinem Freund..."

"Was für ein Freund denn?", fragte Barbara.

Daniela begann erneut zu heulen. Sie hatte gerade begriffen, dass es keinen Freund und keine Schlüssel gab. Pia hatte sie schlichtweg angelogen. Ihre Flucht war gescheitert, sie würde nach dem Fest zu ihrer Peinigerin zurückkehren müssen. Scheiße scheiße scheiße!!! Sie musste weg hier, Luft! Luft!, bloß weg hier, laufen laufen laufen.... Resolut schnappte sie ihre Handtasche, schloss schnell noch die Knöpfe an ihrem Janker, dann ein schneller Griff, sie riss Klaus die Perücke vom Kopf und stürmte schließlich die kurze Treppe hinab.


November IV.

"Alles klar bei Ihnen, Ingeborg?" Er wiederholte sich. Es war ihm bewusst, und es war ihm bewusst, dass er sie ganz spontan bei ihrem Vornamen genannt hatte. Was nie vorkam.

Kommissarin Wimmer sah ihn an, lächelte. "Klar doch. Machen Sie sich keine Sorgen..." Sie zögerte einen Moment. Wie hieß ihr Chef eigentlich mit Vornamen? Wohl kaum ´Der´? Alle Welt nannte ihn immer nur ´Der Rick´, in Anlehnung an einen berühmten Fernsehkommissar, der seltsamerweise den lustigen Titel Oberinspektor führte, obwohl es diesen schon seit Ewigkeiten nicht mehr gab. "...Bruno. Ich komm schon klar. Sie wissen doch, wie gern ich Leute verhafte!" Sie lächelte ihn an, öffnete ihr kleines Täschchen und zog ihre Handschellen hervor. "Sie sehen, ich habe alles dabei!" Wie eine schlechte Animationskünstlerin wedelte sie mit den Handschellen vor seiner Nase, dann verstaute sie sie wieder im Täschchen und legte es weg.

"Ihre Waffe?" Rick konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Pistole in das kleine Täschchen passte. Und an die Sache mit dem Strumpfband glaubte er schon lange nicht mehr.

"Liegt sicher daheim. Ich dachte mir, wir wollen hier ja kein Blutbad veranstalten, oder? Ich soll wohl in erster Linie mal sehen, ob ich irgendetwas herausfinde. Leute fragen, ob sie letzte Woche hier waren, ob sie etwas gesehen haben, einen Streit oder so. Das Foto von unserer Leiche habe ich dabei. Hat die Technik ja ganz prima hingekriegt; man sieht kaum, dass sie tot ist."

"Vielleicht besser so", antwortete ihr Chef. Es war nicht ersichtlich, ob er das Foto meinte, oder die Sache mit der Waffe. Diese ganze Aktion war
sowieso auf seinem Mist gewachsen, da hätte nichts schiefgehen dürfen. Und, wenn gar nichts geschah, dann brauchte er den Abend nicht einmal aktenkundig zu machen.
Er sah sie an, während sie sprach. Hatte sie immer schon so verdammt gut ausgesehen? Gedanken, die er als Chef gar nicht haben durfte. Aber die Dienstvorschrift kann nicht in alle Bereiche eines Menschen eindringen; es kam immer wieder einmal vor, dass Kollegen zueinander fanden, die dies eigentlich nicht hätten tun dürfen. Kam es nicht heraus, war es gut. Kam es heraus, endete es meist damit, dass einer der Kollegen in eine andere Abteilung versetzt wurde.
Seine Augen ruhten auf ihrer durch das Dirndlmieder betonten Büste. Wieviele Naturkräfte gab es, überlegte er einen Moment. Die Starke Kernkraft, die Schwache Kernkraft, die Gravitation, den Elektromagnetismus. Seltsam, dass der Sex nicht dazu gehörte. Gab es im ganzen Universum denn eine Kraft, die größer war? Die ständig neues Leben erzeugte, oder auch, wenn es schief lief, Leben beendete? Als Chef der Mordkommission wusste er nur zu gut, dass in fast allen Fällen der Faktor Sex eine große Rolle gespielt hatte, auch wenn mancher Mordfall eher ökonomische Gründe zu haben schien. Aber, was war denn ein dickes Bankkonto anderes, als zu klingender Münze pervertierter Sex?

"Wie lange soll ich warten?"

"Chef?"

Er hatte seine Gedanken nicht im Griff. Er hatte an etwas anderes gedacht, hatte an sie gedacht, an diese tolle Frau, die hier neben ihm saß, die tagtäglich mit ihm zu tun hatte, und die er gerne... "Nichts. Ich habe nur laut nachgedacht. Wie lange ich auf Sie warten soll."

Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. "Hm... schwer zu sagen. Aber schätzungsweise bis ich wieder da bin?"

Er schmunzelte. "Präziser geht´s wohl nicht, Frau Kommissarin?"
Red nicht so einen Blödsinn, dachte er.

"Es kann lange dauern! Wir wissen doch, wie diese Partys heutzutage sind. Die meisten Kids kommen doch erst nach Mitternacht. Vorher zu kommen gilt als uncool. So..." Sie blickte in den Seitenspiegel, legte die Hand an den Türöffner, "...is´ noch was, Chef? Dann mache ich mich mal auf die Socken!" Sie stieg aus, warf die Tür wieder zu und ging die wenigen Schritte hinüber zum Eingang.
Rick sah ihr nach, wandte sich dann um um seine Tasche vom Rücksitz zu nehmen. Ihr kleines Handtäschchen fiel ihm sofort ins Auge. Sie hatte das Ding vergessen! Er schnappte es sich und erschrak fast zu Tode, als im selben Moment eine der beiden hinteren Türen geöffnet wurde und eine lange Hand nach dem hübsch funkelnden Täschchen griff. Was zum Teufel




112. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 16.04.13 01:29

Hi Daniela,

es spitzt sich immer mehr zu - und scheinbar wird nun immer deutlicher, wer hier das tote Opfer dieses Unglücksfalls wird. Die Umstände bleiben jedoch immer noch im Unklaren. Aber trotzdem hast Du es genial geschafft, die inneren Konflikte und gegenseitigen Mißverständnisse in eine herrliche Fortsetzung zu verpacken, die trotz allem Unterhaltungswert eine dringende Warnung vor zu viel Oberflächlichkeit, Egoismus und Gedankenlosigkeit ist. Ich danke Dir sehr dafür, und bin wie immer gespannt auf die weitere Entwicklung.

Keusche Grüße
Keuschling
113. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von lupo am 16.04.13 18:59

Hallo Dani,
also ich muß sagen, ich bin einigermaßen verwirrt
Wie Keuschling schon schreibt, spitzt es sich immer mehr zu und der ein oder andere Leser mag geneigt sein zu denken: "Ja klar, ich weiß wer da auf dem Brückenpfeilerfundament lag". Aber ich glaube Du wirst uns im letzten Moment noch ein anderes Opfer vorsetzen. Zumal Daniela auch den Stahl BH an hat und keinen Schlüssel dafür - wenn ich mich recht erinnere, hatte das Opfer keinen an, wohl aber das KG-Innenleben.....hmmmm es bleibt spannend. Darüber bin ich froh

Vielen Dank für diesen neuen Teil und "weiter so".
Viele Grüße aus dem Allgäu
Lupo
114. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 21.04.13 22:00

Endlich wieder Sonntag! Und jetzt fängt unsere Geschichte, die uns seit fünf Monaten Sonntag für Sonntag begleitet hat, erst richtig an... Ich wünsche allen Lesern eine gute Zeit!

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Australien III. Oktober.

Sie konnte es nicht länger vor sich herschieben. Sie hatte die halbe Welt umkreist, nur zu einem Zweck. Der Zweck ist das Ziel, nicht der Weg. Die endlosen Stunden im Flieger, die öde, nicht enden wollende Bahnfahrt durch New South Wales und Südaustralien. D-day, dachte sie und schwang sich in den Sattel. Daddy-day.

Seltsam, dass manchmal das letzte Stück des Weges einem am schwersten fällt, dachte Monika. Man kann stundenlang durch die Berge wandern, ohne Probleme, ohne müde zu werden, aber sobald man ein Schild sieht mit der Aufschrift ´Bewirtschaftete Alm - 30 Minuten´ bekommt man die Beine nicht mehr vom Fleck. Plötzlich realisiert man, was man die ganze Zeit über auf sich genommen hat, merkt man, dass es kein Stehenbleiben gibt im Leben, dass es keine grünen Auen und kein frisches Wasser für denjenigen gibt, der die lange Wanderung aufgibt und stehen bleibt.

Sie hatte lange überlegt, wie sie die letzten Kilometer bewältigen sollte. Es gab verschiedene Optionen. Sie hätte ein Taxi nehmen und dem Fahrer einfach einen Zettel mit der Adresse ihres Vaters unter die Nase halten können. Oder sie hätte einen Bus nehmen können, der sie irgendwo im australischen Busch abgesetzt hätte, einsam und allein, ein verlorenes Menschenkind. Aber beide Möglichkeiten hatten ihre Nachteile. Das Taxi war zu teuer und viel zu direkt, der Bus war billig, aber er würde sie nicht an ihr Ziel bringen. Außerdem wollte sie, wenn schon denn schon, wenigstens etwas von dieser Landschaft in sich aufnehmen; sie wollte ankommen, nicht einfach nur plötzlich da sein.

Die Rezeption ihres Hotels hatte sie an einen lokalen Fahrradhändler verwiesen, der Räder vermietete. Der Mann war sehr nett, sprach sie sofort in seinem lustigen australischen Akzent, von dem sie in den ersten Tagen nur die Hälfte verstanden hatte, an und fragte, für wie lange sie das bunte Fahrrad mieten wolle. Monika wusste es nicht so genau, vielleicht nur für einen oder zwei Tage, vielleicht für länger. Er hatte nur gelacht und immer wieder ´No worries, mate!´ gesagt, sie solle sich mal keine Sorgen machen, alles wäre okay. Und natürlich bekam sie bei ihm auch all das andere, was sie für die Radtour brauchte, einen Korb für ihre Tasche und diverse Lebensmittel, die sie noch kaufen musste, eine Landkarte, damit sie sich überhaupt zurechtfand. Alle Wege mochten nach Rom führen, aber nur ein ganz kleiner, ganz schmaler Pfad hatte sie zu ihrem Vater geführt, und sie hegte immer noch große Angst, ob sie auf ihm wirklich bis zum Ziel käme.

Monika probierte alles aus, Gangschaltung und Bremsen, alles funktionierte, sie brauchte nur noch in die Pedale zu treten. Tat´s und erschrak sich zu Tode, als ihr gleich an der ersten Kreuzung ein Pickup, ein Wagen mit offener Ladefläche, entgegenbrauste. Mit einem bellenden Köter oben auf der Pritsche! Verdammter Kerl!, dachte sie, bis ihr auffiel, dass sie auf der falschen Straßenseite fuhr, denn es herrschte Linksverkehr, und daran hatte sie sich noch nicht gewöhnt.
Nachdem der erste Schreck überwunden war strampelte sie los, fuhr, immer die Sonne im Rücken, nun brav auf der linken Seite, denn sie wusste, dass ihr Vater ein wenig nördlich der Stadt wohnte, und wunderte sich daher nicht schlecht, als sie plötzlich die Weite des Südlichen Ozeans vor sich sah und die Straße endete.

Was?? Und erst jetzt begriff sie, dass hier in Australien vieles irgendwie anders war. Dass die Sonne mittags im Norden stand. Und dass sie doch besser mal auf die Karte schauen sollte.
Eine Stunde später hatte sie die Stadt hinter sich gelassen. Sie kam gut voran, genoss den leichten Fahrtwind. Langsam entfaltete sich vor ihren Augen eine wundervolle Landschaft, die sie an die Weinanbaugebiete am Main erinnerte. Rebstöcke, soweit das Auge reichte. War das hier noch Australien?
Sie hielt an, sah sich um, nahm ihre Wasserflasche aus dem Fahrradkorb; Hunger hatte sie noch nicht. Sie hatte mit allem gerechnet, mit roter Wüste, aber sie verstand, dass es nicht gleichzeitig Weinanbau und Wüste geben konnte. Das Senfkorn musste in guten Boden fallen, nur dann konnte es wachsen und gedeihen. Und ihr Vater? War er in guten Boden gefallen? Sie erinnerte sich recht gut an ihn, zumindest glaubte sie, sich gut an ihn zu erinnern, aber sie wusste auch, dass es immer nur die Fassetten der kindlichen Erinnerung waren, begrenzt durch den geringeren Horizont, die noch nicht voll entwickelte Einsicht in menschliche Beziehungen. Warum konnte man ein Kind mit einem Bonbon kaufen?

Monika radelte weiter. Sie musste an den netten Fahrradhändler denken und wünschte sich, er wäre ihr Vater gewesen. Jemand, der immer lächelte, der immer gut gelaunt war und einen Scherz auf den Lippen hatte. Und jemand, der immer nur ´no worries, mate!´ sagte.
Sie hielt an, musste sich auf der Karte orientieren. Aber die Karte bot keinen Anhaltspunkt mehr, konnte ihr nicht länger zeigen, welcher Weg der richtige, und welcher der falsche war. Sie allein musste diese letzten Kilometer bewältigen, es war niemand da, dessen Hand sie hätte nehmen können. Sie sah sich um. Ach, jetzt erinnerte sie sich, wie sie als Kind mit dem Vater im Wald war, wie er den bösen Wolf gespielt hatte, der sie immerfort fressen wollte, und sie sich in ihrer Angst an einen Baumstamm geklammert hatte. Gelacht hatte er, war aus der Rolle herausgefallen und hatte versucht, sie vom Baum wegzuzerren. Und darüber gejammert, dass er als kleiner Aussie nicht gegen eine deutsche Eiche ankäme.
Eine Eiche! Herrgott, gib mir eine Eiche, an der ich mich festklammern kann, dachte sie. Aber es gab keine Eichen, nur einige seltsam aussehende Eukalyptusbäume, die Rinde weiß und faserig, sie schien schon beim Hingucken abzuschälen.

Es ging nicht weiter. Sie musste anhalten, absteigen, aufgeben. Sie hatte Angst. Angst vor der eigenen Vergangenheit, und wohl noch größere Angst vor der eigenen Zukunft. Sie würde umkehren müssen, zurück nach Hause, zu ihrer Mutter, flüchten in ihre wartenden Arme und Zwangsjacken und Knebel und Keuschheitsgürtel und und und.
Monika begann, zu zittern. Musste das Leben so kompliziert sein? Musste denn ausgerechnet ihr Leben so kompliziert sein? Warum hatte das Schicksal ausgerechnet für sie anderes als Friede, Freude, Eierkuchen ausgesucht? Tränen schossen ihr in die Augen. Es war nicht gerecht. War sie deswegen zur Welt gekommen, ein Spielball für dunkle Kräfte zu werden? Sie schloss die Augen, das letzte was sie sah, waren all die Rebstöcke um sie herum. Ihr Wahrnehmungsfeld verengte sich, sie vernahm nicht mehr die leise Berührung der Luft auf ihrer Haut, hörte nicht mehr das laute Krächzen einiger Vögel, die sie nie zuvor gesehen hatte. Es wurde still in ihr.

"Ich bin der Rebstock..."

Sie schreckte hoch. Was war das? Wer hatte zu ihr gesprochen? Monika blickte sich verwundert um. Niemand da. Aber... aber sie hatte es ganz deutlich gehört. Eine Stimme, die ´ich bin der Rebstock´ gesagt hatte. Worte, die sie schon einmal irgendwo gehört hatte. Worte, die irgendwie weitergingen, aber wie? Wie wie wie?? Sie holte tief Luft, trank einen Schluck, aß einen Powerriegel.

Neue Kraft durchströmte sie. Der Weg lag wieder klar vor ihr. Sie würde ihn bis ans Ende gehen. Egal, wie lange es noch dauern würde.


Oktober XIII.

Daniela zitterte. Hände griffen nach ihr, die sie nicht verscheuchen konnte. Es war dunkel und unheimlich.

Sie war weggelaufen, weil sie es nicht ertragen konnte, was geschehen war. Weil sie glaubte, einen Menschen nach langem Suchen gefunden zu haben, und weil sie stattdessen nur einen Menschen gefunden hatte, der vor sich selber weglief.
Sie hatte Hunger verspürt, war in ein überfülltes Schnellrestaurant gegangen, hatte sich mit dem üblichen Burger abspeisen lassen, aber sie war nicht satt geworden. Sie hungerte nach Berührung und Intimität, nach Nähe und Streicheleinheiten, Liebe nicht ausgeschlossen!
Immer noch hungrig hatte sie sich ins Kino gesetzt, passend zur Abendvorstellung. Anschließend würde sie zur Geidi-Gaudi gehen ... oder auch nicht. Der eiserne Reif um ihre Taille irritierte sie, das künstliche Glied in ihrem Innern demütigte sie. Vergeblich würde ein hungriges Kind nach ihren unter Stahl verschlossenen Brustwarzen suchen; sie könnte kein Leben mehr empfangen, kein Leben mehr spenden. Sie war ganz unten angekommen.
Skyfall, dachte sie, konnte es das geben? Einen Himmelssturz, was auch immer das sein sollte? Sie hätte den Film gern gesehen, aber er kam erst in der nächsten Woche in die Kinos. So hatte sie sich für einen Animationsfilm entschieden, irgendetwas aus einer Welt, die nicht existierte, nur hier, in diesem Raum, und nur hier streckten künstliche Lebewesen ihre in perfekter 3D-Technik animierten Arme nach ihr aus. So, als wollten sie sie zu sich hinüberziehen, wie eine andere Alice im Wunderland. Ja, dachte sie, nehmt mich ruhig mit in eure Welt, aber vorher muss ich noch etwas erledigen.

Kalte Luft umfing sie, als sie den Kinosaal verließ. Die Perücke! Sie setzte sie auf, ja, das wämte schön. Es war schon spät, spät genug für das Fest. Sie musste Gewissheit haben, ob es noch Hoffnung gab, oder ob sie untergehen würde wie das U-Boot im Film. Sie drückte ihre hübsche Jacke enger an sich, es war Zeit herauszufinden, wie ihr Leben weitergehen sollte. Knall oder Fall, dachte sie. In wenigen Stunden würde es sich entscheiden. Langsam machte sie sich auf den Weg zum Festsaal. Eine halbe Stunde später betrat sie, immer noch frierend, das Gebäude, wo auch dieses Jahr wieder die Geidi-Gaudi stattfand.


November V.

"Meine Tasche, Chef!" Es war ihr gerade noch eingefallen, bevor sie das Gebäude betreten hatte. Aber scheinbar hatte auch ´der Rick´ es schon bemerkt, denn seine Hand lag bereits auf dem kleinen Täschchen, eine Sekunde später und er wäre ihr nachgerannt.
Wimmer vergewisserte sich, dass alles noch da war, was da sein musste. Dann stemmte sie sich gegen die Eingangstür und ging hinein. Dumpfe, bereits verbrauchte Luft schlug ihr entgegen, obwohl es noch nicht einmal Mitternacht war. Sie und Rick hatten den Eingang lange vom Wagen aus observiert, hatten genau Buch darüber geführt, wie groß der Andrang war und sich schließlich dazu entschlossen, jetzt nicht länger zu warten.

Sie sah sich um. Es ging einige Treppenstufen empor, dann war linker Hand etwas, das wie die altmodische Garderobe eines Kinos aussah und ebensolchen Charme versprühte, nur dass hier keine alten Jungfern in adretter Uniform hinter der Theke standen, sondern einige junge Frauen im Dirndl. Sie gab ihre Jacke ab, niemand sah sie schräg an, obwohl sie bereits am anderen Ende der anwesenden Altersskala war. Und das mit achtundzwanzig!! Ihr kleines Täschchen klemmte sie sich unter den Arm, wie verabredet, obwohl es eigentlich nicht nötig war, wie sie glaubte. Denn eigentlich glaubte sie sowieso nicht an den Erfolg dieser Aktion.

Was mochte der Abend bringen? Sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt etwas bringen würde...



Australien III. Oktober.

Sie hatte es geschafft! Sie hatte es wirklich geschafft! Monika war nicht wenig stolz auf sich. Sie hatte sich in einer kleinen Ortschaft noch einmal durchfragen müssen. Ja, das Weingut kannte man. Ob man auch ihren Vater kannte, das zu fragen hatte sie sich nicht getraut. Es hätte sein können, dass die Leute neugierig geworden wären. Eine Fremde aus Deutschland? Besuch für George?? Nein, es war besser, sie hielt sich bedeckt. Es konnte ja auch sein, dass sie noch im letzten Moment....

Nein, es konnte nicht sein! Sie war nicht um die halbe Welt gereist, um jetzt im letzten Moment noch den Sc hwanz einzuziehen! Das Weingut, in dem ihr Vater arbeitete, lag an einer eher kleinen Straße, linker Hand eine kleine Steinmauer, dahinter, leicht ansteigend, ein Weinberg, die Reben im australischen Frühling noch kahl. Nur ein erster grüner Schleier hatte sich darüber gelegt....

Ich bin der Rebstock..., kam es ihr wieder in den Sinn. Wer hatte das gesagt?

Auf der anderen Seite der Straße das Weingut. Sonderlich groß schien es nicht zu sein, dachte Monika, aber es mochte sein, dass man nicht alles sah. Sie lehnte das Fahrrad an die kleine Mauer, nahm ihre Tasche aus dem Korb und hängte sie sich über die Schulter.
Neben dem aus rustikalen Feldsteinen errichteten Gebäude befand sich ein großes Tor, ein Rundbogen überspannte die Einfahrt zum Hof. Links an der Hauswand sah sie ein durchschnittenes Holzfass, eine Inschrift trug den Namen der Kelterei; sie hatte ihn noch nie zuvor gehört.
Dieses Tor, wo hatte sie schon einmal dieses Tor gesehen?? Monika überlegte, ob sie vielleicht als kleines Kind schon einmal hier gewesen sein könnte? Nein, eher nicht. Dann fiel es ihr ein! Für einen Moment sah sie sich unter dem Torbogen stehen, schwer trug sie am Gewicht ihres Vaters, der auf ihren Schultern balancierte. Jemand steckte ihr eine Mundharmonika in den Mund.... Spiel! ... begleitet von einem höhnischen Lachen.

Nein, dachte sie, sie wollte nicht zusammenbrechen. Deshalb war sie nicht gekommen! Mit zögerlichen Schritten betrat sie den Hof. Jetzt sah sie, dass das Gebäude auf der von der Straße abgewandten Seite wesentlich größer war. Auf dem Hof standen drei Autos, bei einem war die Heckklappe heruntergelassen. Aus einer geöffneten Tür drangen Stimmen an ihr Ohr. Erkannte sie eine davon?
Sie blieb stehen. Sie war angekommen am Ende des Weges. Sie hatte ihren Teil der Aufgabe erledigt, jetzt musste...

Lachen. Die Stimmen wurden lauter. Abschiedsworte, die sie gut verstand.

Schritte.

Ein Mann kam aus der Tür, nicht mehr ganz jung, graue Haare, grauer Bart, den typisch australischen, breitkrempigen Hut auf dem Kopf. Er hielt ein Klemmbrett in der Hand, studierte im Weitergehen irgendeine Liste. Ging ganz nah an ihr vorbei.

Sie spürte, wie etwas nach ihr griff. Ein Gefühl, das sie nicht mehr gehabt hatte, seit... seit...

Er blieb stehen. Blieb einfach nur stehen, so als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Ließ die Hand mit dem Klemmbrett sinken. Drehte sich langsam um.

Sie spürte ein heftiges Brennen in ihrer Brust. Konnte sich nicht mehr bewegen. Nicht mehr ausweichen, nicht mehr davonlaufen. Ihr Blick hing an der anderen Person.

Er kam näher. Blinzelte gegen die Sonne. Bedeckte die Augen mit der Hand. Einer Hand, die sie gut kannte.

Er kam noch näher. Langsam nur. Öffnete den Mund, sagte aber nichts. Sein Kopf fiel leicht auf die Seite, so als müsse er überlegen, was hier gerade geschah.

Sie wollte Luft holen, konnte es nicht. Stand da wie versteinert mit brennender Brust.

Sah, wie auch ihr Vater um Atem rang. Seine Brust hob und senkte sich, er griff zu seinem Hut, nahm diesen ab, ließ ihn in den Staub fallen. Blickte kurz gen Himmel, seine Lippen bewegten sich. Dann machte er einen letzten Schritt auf sie zu, schlang seine Arme um sie und drückte sie an sich.

"Mein Kind!"

Sie wurde noch steifer. "Ich bin kein Kind mehr!"

Er lockerte seinen Griff, ließ aber nicht los. "Gott sei Dank!", sagte er und begann zu zittern. "Nein. Aber du bist mein Kind!" Und er begann hemmungslos zu schluchzen und auch Monika konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. "Ja, dein Kind, dein Kind... Papa!" Sie brachte es nur mühsam hervor, aber es tat gut.


November VI.

Kommissarin Wimmer fror. Sie öffnete die Beifahrertür, ließ sich in den Sitz fallen, knallte die Tür hinter sich zu. Es roch nach verbrauchter Luft im Wageninneren, aber es war Ruhe. Ihr Chef, Hauptkommissar Rick, fuhr erschrocken in seinem Sitz hoch, schlug mit dem Knie gegen das Armaturenbrett und einem wesentlich empfindlicheren Körperteil gegen das Lenkrad und fluchte leise vor sich hin.

"Geschlafen, Chef?"

"Bestimmt nicht, Wimmer. Allzeit bereit! Und..." er rieb sich die schmerzenden Körperteile, "haben Sie die üblichen Verdächtigen verhaftet?"

Sie lachte, lachte leise in sich hinein. "Das hier ist nicht
´Casablanca´, Chef!"

Statt einer Antwort griff er in seine Aktentasche, holte eine silbern glänzende Thermosflasche hervor, schraubte den Becher ab und goss etwas Dampfendes ein. "Hier, trinken Sie!" Er reichte ihr den Becher.

"Was ist das?"

"Ricks Kaffee", antwortete er mit unterdrücktem Grinsen.

Fast hätte sie sich schon beim ersten Schluck verschluckt.
Casablanca ... Rick´s Café! Ach, das war herrlich. Sie sah ihn an, sah wie seine dunklen Augen auf ihr lagen. "Sie sind herrlich, Chef!"

"Bruno", flüsterte er.

Sie trank nicht aus. Reichte ihm den Becher, hielt ihn einen Augenblick länger fest, als nötig war. Berührte seine Finger.

"Berichten Sie, Wimmer!"

"Ingeborg..." gab sie zurück. Sie spürte eine Wärme, die sie den ganzen Abend über vermisst hatte. Dann berichtete sie von einem lauten Fest, besoffenen Jugendlichen, kreischenden Weibern, kotzenden Männern. Und von der seltsamen Sitte, dass nicht wenige Mädchen ihre Hände auf den Rücken gefesselt hatten, irgendwie mit der Schleife der Dirndlschürze, dass viele auch mit geöffnetem Dirndlmieder herumliefen, was sie wegen ihrer gefesselten Hände nicht wieder schließen konnten. Seltsam eben, junge Leute, die sie nicht verstand. Auch an ihr habe man sich versucht, aber... nun ja, kein Problem für sie.

Der Rick fragte nach dem elektronischen Teil, ob es funktioniert habe.

"Nichts", antwortete sie, fast ein wenig enttäuscht. "Nein, Bruno, da war gar nichts." Sie griff nach ihrem kleinen Täschchen, öffnete den Reißverschluss, langte hinein und nahm eine Banane hevor. "Mann, habe ich einen Hunger!"

Hauptkommissar Rick hatte für einen Moment geglaubt, sie würde etwas anderes hervorziehen. "Schade. Dann war die ganze Aktion also total umsonst?" Er betrachtete seine Kollegin, die eine seltsame Art hatte, ihre Banane zu essen.

"Nicht ganz, Bruno. Wir haben einen Namen..."

"Einen Namen ... Ingeborg? Was für einen Namen denn?"

"Barbara. Ich habe einige Leute gefragt, ob sie sich an den letzten Samstag erinnnern konnten. Die Frau an der Garderobe konnte es, als ich ihr das Bild zeigte. Ja, da habe es Streit gegeben, sie hätte unser Opfer gesehen, wie sie sich mit einer anderen Frau gestritten habe. Mit einer Barbara. Und wissen Sie .... weißt du was? Das Beste ist, sie hat gesehen, wie diese Barbara unserem Mädchen hinterhergelaufen war!"

Rick blickte sie nicht mehr an. Sein Kopf war leicht geneigt, er nickte nur. "Gut, Wimmer, gut....!"

"Ingeborg!", unterbrach sie ihn. Sie rückte ein wenig näher an ihn heran. "Es ist kalt hier..."

"Satt? ... Ingeborg? Bist du satt geworden?"

"Nein, nicht unbedingt." Sie hatte etwas mit ihrer Antwort gezögert.

"Ich könnte..." Er schwieg.

"...mich zum Essen einladen??"

Er blickte aus seinem Seitenfenster. "Dieser Keuschheitsgürtel ... liegt der im Präsidium?"

"Nein. Nein, der liegt nicht im Präsidium. Er liegt bei mir zu Hause..." Pause.

Er regte sich nicht.

Sie hätte aussteigen können, ihrem Chef einen schönen Sonntag wünschen und ein Taxi nach Hause nehmen. Rick hätte sie nicht daran gehindert. Aber sie wusste, dass man nicht immer im Leben einfach aussteigen konnte, dass man manchmal auch die Dinge auf sich zukommen lassen musste, dass man sich dem eigenen Schicksal hingeben musste.

"Ich könnte
dich zum Essen einladen. Heiße Waffeln? Oder lieber Pfannkuchen?" Sie sprach leise, wollte den Zauber nicht zerstören.

Er regte sich. Seine Hand fuhr zum Zündschlüssel, er spannte seinen Sicherheitsgurt, dann legte er den Gang ein. "Waffeln," sagte er, "ja, Waffeln wären prima!"



Oktober XIV.

Derselbe Ort wie letztes Jahr. Klaus stellte sein Fahrrad ab, ordnete seine Kleider. Alles war anders. Er hatte sich entschieden. Er musste es tun, musste es so tun, denn nur noch so würde er den ultimativen Kick erleben. Er hatte, immer noch am Fenster stehend, Daniela aus dem Haus stürmen sehen, wie sie davonrannte, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Seine Perücke hatte sie in der Hand gehalten, hatte sie geschwenkt wie ein Indianer, der zuvor seinen Feind skalpiert hatte. Kein Problem; Barbara besaß mehrere Perücken.

War er wirklich so schlimm? Er hatte den Ernst der Lage sofort begriffen, verstand instinktiv, dass er sich hier an einem Scheideweg befand. Er wusste, was er hätte tun müssen, was Dani von ihm erwartete: sich das Kleid auszuziehen, sich normale Männersachen anzuziehen, die Fernbedienung zu Danielas Keuschheitsgürtel in die Tasche zu stecken und dann zur Geidi-Gaudi zu kommen, in der Hoffnung, sie dort anzutreffen. Er erinnerte sich, wie voll es dort gewesen war, letztes Jahr, und wie schwierig es bei entsprechend schummriger Beleuchtung sein konnte, jemanden dort zu finden. Aber er hatte ja die Fernbedienung, brauchte nur auf einen Knopf zu drücken, einen Regler aufzudrehen, dann würde sie ihn suchen.
Alles wäre so verdammt einfach. Beide würden sie ihren Spaß haben. Er würde endlich herausfinden, was es mit den vielen Knöpfen auf sich hatte, bei welchem sie an die Decke gehen und bei welchem sie sich zusammengekrümmt auf den Boden schmeißen würde.

Ewig lange hatte er so am Fenster gestanden, hatte sein Handeln überdacht, Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen. Ja, langsam war ihm klar geworden, was er tun musste. Es würde keine weitere Möglichkeit mehr geben. Hatte sich schnell noch eine Tüte Erdnüsse reingezogen und sich dann auf den Weg gemacht.


War es letztes Jahr auch so voll gewesen? Daniela blickte sich um. Letztes Jahr.... dachte sie, wie lange mochte das her sein? Zwölf Monate mochten eine genaue Zeitangabe sein, aber mehr nicht. Nie zuvor hatte sie innerhalb eines Jahres so viel erlebt, wie in diesem Jahr, seit sie Monika kennen gelernt hatte. Monika! Monika fehlte irgendwie. Wo mochte sie jetzt stecken? Ob sie wohl schon mit ihrem Vater zusammengetroffen war?
Die Erinnerung an ihre Münchner Freundin aktivierte ein ganzes Lager an Erinnerungen. Das erste Kennenlernen: Bleib so, wie du bist! hatte sie ihr ins Ohr gehaucht, als sie noch zur Frühstückszeit bei ihrer Tante aufgetaucht war und sie dabei inflagranti erwischt hatte, wie sie Claudias Korselett unter ihrem Bademantel trug. Dann, lauter: LOS, HINKNIEN, MESSDIENERIN DANIELA!
Sie erinnerte sich, wie sie von Anfang an alles mitgemacht hatte, ihre Stunden auf der Strafbank, die Ausflüge in den Englischen Garten im Gardetanzkostüm, den Rosenmontagsumzug in Köln. Wie all das sie immer mehr in seinen Bann gezogen hatte, wie sie es schließlich sogar an andere weitergegeben hatte. Sie sah ihre Freundin Maja am Boden liegen, mit vor Schreck geweiteten Augen, als das Innenleben des Keuschheitsgürtels plötzlich seinen heißen Tanz begonnen hatte... eines Keuschheitsgürtels, den sie jetzt selber trug.

Die Schlüssel! Monikas Mutter hatte sie reingelegt. Es war klar, dass sie die Kontrolle über Daniela niemals freiwillig aufgeben würde. Jetzt, wo die eigene Tochter ihren Fängen entglitten war, jetzt hatte sie ihre krankhafte Energie ganz auf Daniela konzentriert. Sie würde zu Pia zurückkehren müssen, und sei es nur, um diesen Keuschheitsgürtel wieder loszuwerden. Dieses verdammt Teil! Und dieser verdammte stählerne BH! Der breite Reifen um ihre Rippen gab sich keinen Millimeter, bei jedem Atemzug spürte sie ihn wie eine eiserne Klammer um ihren Oberkörper.
Es überkam sie mit unverstellter Wucht. Sie musste aus diesen Sachen raus, hier und jetzt, keine Minute länger würde sie es aushalten! Daniela rannte zur Toilette. Gott sei Dank, niemand da. Sogar eine geräumige Behindertentoilette gab es! Sie band die Schürze auf, warf sie auf einen kleinen Tisch, der dort stand, dann ein schneller Griff, sie öffnete den Reißverschluss am Mieder, stieg aus dem Kleid, hatte plötzlich keine Lust mehr auf Gaudi, erst recht nicht auf eine Geile-Dirndl-Gaudi. Sie versuchte, sich zu entspannen. Machte sich ganz klein, ganz dünn, drückte den Reifen des Keuschheitsgürtels nach unten, aber sie kam nicht an ihren spitzen Beckenknochen vorbei, schaffte es nicht, den elektronischen Eindringling aus ihrer Scham herauszuholen, er rutschte wieder und immer wieder zurück, wollte sie nicht loslassen, wollte seinen Spaß an diesem Abend noch haben. Dann der Keuschheits-BH. Zwecklos, ihn irgendwie nach unten ziehen zu wollen, die silbern leuchtenden breiten Panzerketten über ihren Schultern verhinderten dies. Vielleicht ging es nach oben? Daniela drückte und schob wie eine Besessene, aber sie hätte sich die eigenen Brüste abtrennen müssen, viel zu dicht lagen die beiden stählernen Halbkugeln auf, da war kein Zwischenraum, da gab es keinen Spalt, ihre gut entwickelten Brüste irgendwie unter der stählernen, mit schwarzem Gummi unterlegten, Stahlkugel hervorziehen zu können.

Sie gab es auf. Sank in sich zusammen wie ein Häufchen Elend. Musik schallte von der Tanzfläche herüber, sie hörte wie die Tür zur Toilette aufgestoßen wurde. Laute Mädchenstimmen drangen an ihr Ohr. "... kann dir versichern, ich hasse dieses scheiß Kleid! Und mich dann hierher zu schleppen! Sauerei verdammte!" Heftiges Klopfen gegen ihre abgeschlossene Tür folgte, dann wieder diese hysterische Stimme: "Wird´s bald? Los los!!!" Faustschläge gegen die Tür. Dann etwas, das sie zu Eis erstarren ließ. "Wird´s bald? Oder soll ich ablecken kommen? Los, Beeilung, oder ich mach sonst wo hin!"
Dann eine andere Mädchenstimme. "Lydia? Hier ist auch frei..." Die Tür der Nebenkabine wurde geöffnet und geschlossen, erst jetzt bemerkte Daniela, dass die Klopapierrolle auf dem Tischchen stand; die Halterung, die normalerweise für das Toilettenpapier vorgesehen war, war abgerissen, eines der Schraubenlöcher war zu einem großen Loch erweitert worden, einem Loch durch das hindurch sie deutlich die Bewegung eines Mädchens sehen konnte, das dabei war, sich hinzusetzen. Es würde sie sehen können ... Lydia! Zweimal war sie ihr über den Weg gelaufen, beide Male hatte sie den Kürzeren gezogen. Sie schüttelte sich. Nein! Lydia durfte sie hier nicht entdecken! Sie zog sich ihr Dirndl wieder an, so schnell es ging, öffnete die Tür, gut, niemand da, und war mit wenigen Schritten aus der Gefahrenzone verschwunden.

Klaus? Ob er wohl schon hier war? Ob er überhaupt kommen würde? Daniela wusste es nicht. Wenn er klug wäre, dann würde er kommen. Die letzte Chance für ihn, eventuell doch noch den Weg ins Leben zurückzufinden. Sie würde ihm dabei helfen, so gut es ging. Sie würde einen Mann aus ihm machen, ihn an die Hand nehmen, seine Weiblichkeit von ihm abspalten... Aber eine innere Stimme sagte ihr: Versöhnen, nicht spalten. Galt dies auch in diesem Falle? Oder war es nur der dahingeworfene Wahlspruch eines längst dahingegangenen Politikers? Sie wusste es nicht.




115. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 25.04.13 22:49

Hi Daniela,

so viele starke Gefühle, so dicht beieinander, da kann einem ja fast schon schwindlig werden: Zweifel, Hoffnung, Verwirrung, Angst, Freude, Wut, Liebe - nur um ein paar zu nennen.

Monika hat es wohl am besten getroffen, Daniela hat weniger Glück, Barbara kämpft immer noch für oder gegen sich, Pia spielt ihr Spiel. Rick´s Plan ist nicht aufgegangen - vielleicht zum Glück für Ingeborg und Bruno nun. Es geschieht so viel in diesem Teil, das einschneidende Konsequenzen haben könnte - wenn der Mut dafür vorhanden ist. Eine dramatische Konsequenz ist ja schon bekannt, jemand wird noch einen viel zu frühen Tod finden. Daß die übrigen alle dann zu einem schönen Leben finden, bleibt zu hoffen. Warum fällt mir hier nur der Filmtitel "Vier Hochzeiten und ein Todesfall" ein...

Nun ja, Monika sollte eigentlich wissen, wo sie "Ich bin der Rebstock..." schon einmal gehört hat. Daß ihr diese Zeile so viel Ruhe und Kraft spendet, finde ich schön. Dennoch bleibt abzuwarten, welche Rebe jetzt zur weiteren Reifung bewahrt wird, und welche dafür abgeschnitten wird.

Keusche Grüße
Keuschling
116. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 28.04.13 22:00

Es geht jetzt mit Riesenschritten dem Ende entgegen. Der heutige Teil meiner Geschichte ist vielleicht etwas kürzer, aber keineswegs undramatischer. Aber es gilt, Kräfte für den nächsten Sonntag zu sammeln....
Ein lieber Gruß an alle Leser, die mir noch verblieben sind...., ihnen danke ich von Herzen für ihre Zuschriften! Es zeigt mir, dass ich mir die viele Arbeit nicht umsonst gemacht habe!
Eure Daniela

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Er fühlte sich nicht sicher. Sein Vorhaben war riskant, aber jetzt war es zu spät. Klaus sah auf die Uhr, die er am Handgelenk eines jungen Mannes erspähte. Sein Glied begann, sich zu regen. Und diesmal war es nicht in einer engen Röhre eingesperrt, diesmal baumelte es frei zwischen seinen Beinen. Was nun, wenn jemand es sah? Der Gedanke erregte ihn umso mehr. Er konnte seine Augen nicht von den vielen Frauen nehmen, die ihn vorne und hinten, links und rechts, umgaben. Er starrte auf ihre Kleider, auf Brüste, die von engen Miedern umschlossen, hochgehoben, gestützt wurden, starrte, wie nur ein Mann starren konnte. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass er jetzt eine von ihnen war.
Er spürte, wie sich seine Eichel am Stoff seines Rockes rieb, wie die stetige Berührung sein Glied mehr und mehr anwachsen ließ. Diskret legte er seine Hand auf die bunte Schürze, die zu seinem Dirndl gehörte, aber es ließ die Erektion nicht abschwellen. Es würde nicht mehr lange dauern, dachte er. Und wusste plötzlich, klar und endgültig, dass er sich etwas vorgelogen hatte. Er war ein Mann. Wenn auch ein Mann in Frauenkleidern...

Alles war wie letztes Jahr. Dieselbe Musik, wahrscheinlich auch dieselben jungen Leute. Und er sah, dass auch dieses Jahr schon wieder die Unsitte um sich gegriffen hatte, jungen Frauen die Hände mit den Bändern ihrer Schürzen auf den Rücken zu fesseln; nicht wenige liefen bereits mit geöffnetem Mieder und hochrotem Kopf herum.
Er irrte umher, stundenlang, unsicher, ob er wirklich hier hingehörte. Alles begann sich zu drehen, überall diese Frauen, Dirndl, wo er auch hinblickte. Es gab in diesem Saal, aus welchen Gründen auch immer, auch mehrere große Spiegel an den Wänden; da sich eine lange Haltestange darunter befand nahm er an, der Saal mochte normalerweise von einer Ballettschule genutzt werden. Die Spiegel verdoppelten seine Eindrücke, zeigten viele der Frauen von vorn wie von hinten, steuerten zu seiner Verwirrung und seiner Erregung bei, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können. Und dann gab es da noch etwas Verstörendes, denn, so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich selber nicht länger sehen, er war nicht da, obwohl er doch alles direkt vor sich hatte... kein Klaus, nirgendwo, nur Barbara, ein Wesen, das es gar nicht gab.

Klaus bemerkte den Blick einer Frau, die verstört auf seinen Rock starrte. Sein Glied hatte sich zu voller Größe aufgerichtet, drückte wie in Protest gegen den Stoff seines Rockes. Wie konnte er nur so leichtsinnig sein? Er musste hier weg, irgendwo hin, wo er etwas Ruhe finden konnte, seine Erektion würde in sich zusammenfallen, da war er sich sicher. Und steuerte die Toilettentür an.

Ein Mann in Lederhose versperrte ihm den Weg. "Mio signore, che abbiamo qui..." Klaus blieb wie angewurzelt stehen. Nein! Bitte nicht hier, nicht jetzt! Und schon verspürte er zwei kräftige Arme, die ihn umfassten, die seine leblosen Hände mit sanftem Druck hinter seinen Rücken führten, er spürte, wie sich die Schleife seiner Dirndlschürze über seine Handgelenke legte, wie die Bänder fest angezogen und mit einer neuen Schleife vor seinem Bauch verknotet wurden. "Iss besser so ... è meglio così ... Barbara!"
Klaus hätte im Boden versinken mögen. Aber nichts geschah, es gab kein Loch im Boden, nur ein moralischer Abgrund tat sich vor ihm auf. Andrea.... Der Italiener, den er unter ganz anderen Umständen kennen gelernt hatte, hatte ihn längst erkannt. Und, schlimmer noch, er hatte gesehen, was sich unter seinem Rock abspielte. Er zog ihn weg von der Toilettentür, fand eine wenig frequentierte Ecke, zog ihn näher heran und begann, ihn zu küssen, während seine Hand sein zuckendes Glied fest umklammerte. Er war angekommen, ganz unten. Er hatte den falschen Weg gewählt. Aber er hatte scheinbar auch das gefunden, was Barbara lange gesucht hatte.


Australien IV. Oktober.

Er ließ ihre Hand nicht los. Seltsam, dachte sie, niemand hat mich je so festgehalten. Es war ungewohnt, aber schön. Dennoch hatte sie immer noch ein wenig Angst, zu neu war die ganze Situation für sie.
George schob sie mit sanftem Druck vor sich her, hielt ihre linke Hand fest, seine rechte Hand lag auf ihrer rechten Schulter. "Komm!", sagte er. Eine Stimme, ein Wort, das Erinnerungen wach rief.
Aber es war anders jetzt. Hatte er sie früher, als sie klein war, immer dorthin geführt, wo es dunkel war, wo kein Licht an sein Tun geraten konnte, so führte er sie nun in das hell erleuchtete Gebäude, hin zu einem jungen Kollegen, der erstaunt aufblickte, als er das seltsame Paar bemerkte.

"My daughter", sagte er mit einer Stimme, aus der tiefste Rührung sprach. "Mein Tochter von Germany! Monika."

Der Kollege, der sich als James vorstellte, gab ihr die Hand. Er zeigte ein breites, gewinnendes Lächeln. "Welcome, Monica! How is it goin´?" Dann, an George gewandt: "One more girl, George? Never told me about her..."

Monika merkte, wie die Furcht, die sich so schwer abschütteln ließ, wieder nach ihr griff. Sie hätte nie hierherkommen dürfen. One more girl.... Noch ein Mädchen? Sie wollte es nicht wissen, wieviele Mädchen es da noch im Leben ihres Vaters gegeben hatte. Der aber lachte bloß.

"She is my oldest daughter.... meine alteste Tochter! My god, my god...." Wieder spürte Monika, wie der Mann hinter ihr dabei war, die Fassung zu verlieren.

"Lustig, dass diese Weingegend nach einem deutschen Kaiser benannt ist...", sagte sie, weil sie irgendetwas sagen musste.

Er ließ sie los, sichtlich überrascht. "Was...?? Kaiser? Uncle Bill"

Monika hatte keine Ahnung, wer ´Uncle Bill´ war. "Nein, Barbarossa."

"Barbarossa Oh my God!" Er begann zu lachen, übersetzte es seinem australischen Kollegen, lachte weiter, es klang schön, verführerisch. Befreiend. "Nein, Moni, nicht Barbarossa, sondern nur Barossa. Mit deinem Kaiser haben wir nichts zu tun..." Er machte eine Pause, holte mühsam Luft, fuhr dann fort, aber sehr ernst jetzt: "...und Barbaren sind wir auch nicht."

Sie drehte sich um, sah tief in seine Augen. Er ließ die Schultern hängen, erwiderte ihren Blick, schwieg sich aus, eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden. Biss sich auf die Lippen. "Nicht mehr, Moni. Nicht mehr. Verzeih mir..."

Monika nahm die Hand ihres Vaters, lächelte ihn an. "Kann man hier mal einen Schluck probieren? Und was war das mit dem one more girl?"



Sie saßen beisammen. Sie und ihr Vater und James, der nicht alles verstand, aber die Kunst beherrschte, mindestens so zu tun, als ob. Monika erzählte von ihrer langen Reise, von zu Hause, ihrer Mutter, ihrem Studium. Ihr Vater klärte sie über den Weinanbau in Australien auf, James berichtete über das Weingut, in dem beide arbeiteten. Die Zeit verging wie im Fluge, plötzlich stellte sie fest, dass es schon später Nachmittag geworden war und sie keinen Plan dafür hatte, wie es nun weitergehen sollte.
Fast hätte sie gelacht, als sie es bemerkte. Sie lebte immer noch, sie war angekommen, ihr Leben ging weiter. Das schöne Gefühl in der Brust war geblieben. Sie sah auf ihre Uhr.

"Wo wohnst du denn?"

"Ich habe ein Hotelzimmer in Adelaide. Ich... ich ..." Sie konnte es nicht sagen, weil sie es nicht wollte. Sie wollte nicht schon wieder fort. Warum auch?

"You know what? Weißt du was? Komm, wir nehmen dein Fahrrad mit ins Auto, fahren in die Stadt und holen deine Sachen. Du kannst gern bei uns wohnen. Willst du?"

"Bei uns??"

"Bei meiner Familie. Meine Frau und deine Geschwister!" Er strahlte sie an.

"Ich habe Geschwister?" Tränen traten ihr in die Augen.

"Ja! Zwei Mädchen. Monique und Pam. Monique ist acht Jahre, Pam ist erst zwei. Ein ... Nachfahre?" Er sah sie fragend an.

"Nachzügler. Nachfahren kommen erst viel später!" Dann merkte sie, was er gesagt hatte. Monique...

"Willst du?" Er wiederholte seine Frage, einen Moment lag Furcht in seinem Blick.

Sie nickte bloß. Sie verabschiedete sich von James, der ihr einen Kuss auf die Wange gab und noch einmal ´Welcome!´ sagte, diesmal aber mit einem kleinen Zusatz: "Welcome home, Monica!"


Oktober XV.

"Warte hier!" Die Stimme des Italieners ließ keinen Widerspruch zu. Der Mann grinste ihn an, ein Atem roch nach Bier. "Ich muss jetzt mal für etwas Erleichterung sorgen." Eine obszöne Geste ließ keinen Zweifel daran zu, welche Art von Erleichterung er meinte. Noch einmal klammerte sich seine Hand um sein immer noch heftig erigiertes Glied. "Oder willst du es mir lieber gleich hier besorgen, Messdienerin Barbara?" Nun machte auch sein Mund eine Geste, die mehr als eindeutig war. Dann nahm er den Rock seines Dirndls in die Hand, schlug diesen vorne hoch, sodass sein pralles Glied zum Vorschein kam und stopfte den Rocksaum vorne unter das Taillenband seiner Schürze. So würde er nirgendwo hingehen, dachte er und beschloss, lieber hier, in dieser dunklen Ecke zu warten. Vergeblich versuchte er, mit seinen gefesselten Händen den Rock irgendwie wieder herunterziehen zu können, aber da war einfach nichts zu machen, er bekam seine Finger nie so weit nach vorn.
Angst griff nach ihm, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte. Es gab hier wohl nur noch eine einzige Person, die ihn retten konnte. Aber wo war sie? Sein Blick folgte Andrea, der hinter der Tür des langen Toilettenganges verschwunden war, und dann sah er, wie diese Tür wieder geöffnet wurde und Daniela, blass und mit gehetztem Blick, heraustrat.

"Dani!!" Er rief, so leise er es konnte, aber doch laut genug, dass Daniela es noch hörte. Einen Moment blieb sie wie angewurzelt stehen, griff sich zwischen die Beine, man sah, wie sie den Körper anspannte, doch als nichts geschah, als es kein Vibrieren, keinen Stromstoß gab, da sah sie wieder hoch und entdeckte ihn in seiner dunklen Ecke.

"Dani.... bitte...." Klaus wusste nicht, was er mehr sagen sollte. Sie kam zu ihm, die Augen verengt, zweifelnd. Dann blieb sie hinter ihm stehen, befühlte seine gefesselten Hände. Sie drehte ihn um, seine Erektion verschwand augenblicklich. Sie reagierte augenblicklich, riss den festgesteckten Rock frei, ließ ihn über seinen nackten Penis fallen.

Dann trat sie einen Schritt zurück. Es zuckte in ihrem Gesicht. "Weißt du, was du bist?? Du bist das letzte Stück Scheiße, das ich kenne! Du bist...!" Sie begann, laut zu werden.

"Es ist nicht so, wie du denkst!"

"So?? Es ist nicht so, wie ich denke??", echote sie. "Was denke ich denn? Viel denken braucht man ja nicht, wenn man dich hier so sieht. Scheinbar hast du schon nette Kontakte geknüpft! Du bist ein gottverdammtes Arschloch, weiter nichts...!!!"
Sie wich weiter vor ihm zurück. Öffnete ihre Handtasche, suchte nach irgendetwas. Eine Garderobenmarke. "Weißt du, was du kannst? Du kannst mich mal gern haben, BARBARA!!" Sie nahm keine Rücksicht mehr auf andere. Schrie es hinaus, hochrot im Gesicht. Würgte den Namen Barbara mit all der Verachtung hervor, die sie meistern konnte.

Er sah, wie sie ihre Garderobenmarke auf den Tisch knallte und um ihre Jacke bat. Er öffnete seinen Mund, versuchte zu atmen, aber alles in ihm war ohne Leben. Kein Wort bildete sich in seinem Kopf, kein Protest. Und dann bemerkte er etwas, dass ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, einen Blick zuerst, dann ein junges Mädchen, das alles mitangehört hatte, das alles gesehen hatte. Diese Augen!
Er hatte davon gehört, dass man im Blick eines Menschen vieles lesen konnte, ja, er erinnerte sich an die verlangenden Augen von Pater Ruprecht, er hatte auch noch Monikas immer so spöttischen Blick vor sich, wenn sie sich um Barbara kümmerte. Aber dieser Blick hier, da lag etwas Furcht einflößendes darin, da zeigte sich kalte Entschlossenheit, blanker Hass. Er schüttelte sich. Quatsch, dachte er, du siehst Gespenster. Er zwinkerte mit den Augen, aber das Gespenst blieb.

Daniela hatte sich ihre Jacke angezogen. Fragte die Garderobiere, ob es hier irgendwo ein Taxi gäbe. "Wie spät ist es denn?" Keine der beiden Damen trug eine Uhr, wahrscheinlich benutzten sie normalerweise ihr Handy.
Daniela sah auf ihre Uhr. "Kurz vor drei."
"Kurz vor drei schon? Da stehen hier keine Wagen mehr rum. Also, wenn du Glück hast, am Taxenstand auf der anderen Seite..."
Mehr bekam Klaus nicht mit. Wieder war dieser hasserfüllte Blick das einzige, was im Moment wichtig schien. Er registrierte, dass sich das Mädchen von der zweiten Garderobenfrau ebenfalls seine Jacke aushändigen ließ. Aber sie ging nicht, stand nur da und wartete, lauernd und, wie er sich jetzt sicher war, Daniela keine Minute aus den Augen lassend. Was ging hier vor??

Er wünschte, er könnte sich den Schweiß von der Stirn wischen, aber er bekam seine gefesselten Hände nicht los. Er sah, wie Daniela das Haus verließ, ohne ihn noch eines einzigen Blickes zu würdigen. Und er sah, dass beide Frauen an der Garderobe ihre Augen in einer Illustrierten vertieft hatten. Wo war die andere Frau abgeblieben? Er sah zur Tür und bekam gerade noch mit, dass diese auch dabei war, das Gebäude zu verlassen.
Klaus wurde immer mulmiger zumute. Er wollte, er musste hinterher, aber seine gefesselten Hände waren mehr als hinderlich. Er wandte sich an die eine Frau an der Garderobe, hatte seine Stimme nicht mehr im Griff: "Machen Sie mir die Hände los, schnell!"
Die Frau sah auf, sichtlich überrascht. "Kommt gar nicht in Frage, Süße. Das darf nur derjenige, der sie dir gefesselt hat. So ist das schon immer bei der Geidi-Gaudi gewesen. Sieh zu, dass du den Typ findest, der so nett war..." Ihre Kollegin unterbrach sie, lachte, tuschelte ihr etwas ins Ohr. ...selber Typ.... konnte er gerade noch hören.
War es wirklich so? Er musste Andrea finden. War der denn immer noch auf der Toilette? Aber so lange hatte seine Auseinandersetzung mit Daniela ja nicht gedauert. Schnell, dachte er, jetzt muss es schnell gehen! Er wandte sich, trotz seiner gefesselten Hände, dem Toilettengang zu, als die Tür von innen aufgestoßen wurde und die junge Frau ihm entgegenkam, die er eben noch hatte hinauslaufen sehen. Was zum Teufel?? Er blieb stehen, holte Luft, eiskalt lief es ihm den Rücken herunter.
"Wo ist der nächste Taxistand??" Mit wenigen Schritten war er zurück an der Garderobe.

"Der nächste Taxistand? Ja, ich glaub, also vielleicht am Europaplatz, aber sicher bin ich mir nicht..."

Den Rest hörte er schon gar nicht mehr. Er stemmte sich gegen die Tür, rannte hinaus in die kalte, finstere Nacht. Er spürte, dass Daniela Gefahr drohte, auch wenn er es sich nicht logisch erklären konnte.

117. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von master1104 am 29.04.13 07:29

So machen die Montagmorgende immer Spaß.

Michael
118. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 03.05.13 01:33

Hi Dani,

also bei Deiner Randbemerkung über das "Komm" von Monika´s Vater hat es mich echt geschüttelt. Was war denn nur in der Zeit, als Monika noch in dunkle Ecken gezogen wurde? Und hat sich dadurch Pia so entwickelt, wie sie heute ist? Und hat Monika durch ihr Handeln an Klaus bzw. Barbara das emotional aufgearbeitet, was man vermuten könnte, das damals geschehen ist? Alles sehr kompliziert, fast so wie das Leben - und dennoch hoffe ich, daß ich falsch liege.

Es liegt etwas Mysteriöses um diesen Abend bei der Geidi-Gaudi: Barbara sieht Daniela zweimal - obwohl er sicherlich nicht betrunken ist, da er sie nacheinander zweimal sieht. Ob es das zweite Mal Lydia war? Nun, wenn er weiterhin seine bzw. ihre Hände verbunden hat, kann er wohl kaum für den Unfall verantwortlich sein, zumindest nicht direkt - oder? Wenn es denn mal Daniela war, die gestürzt ist - und nicht etwa eine Doppelgängerin...

Ich bin gespannt auf die weitere Entwicklung!

Keusche Grüße
Keuschling
119. RE: Agonie (Fortsetzung von \

geschrieben von Daniela 20 am 05.05.13 22:00

Es ist vollbracht! Wir sind endlich dort angekommen, wohin wir seit Monaten auf dem Weg waren.
Ich möchte meine Leser bitten - falls sie es nicht schon getan haben - der Klarheit zuliebe noch einmal die entscheidenden Abschnitte des letzten Kapitels zu lesen.
Passt gut auf Euch auf!
Eure Daniela

---


Australien (V) und München (XVI.) Oktober.

"Willst du mit uns mitfahren?", hatte ihr Vater sie am Morgen nach dem Frühstück gefragt. Monika war am Abend von der Familie ihres Vaters herzlich aufgenommen worden. Seine Frau, Pamela, hatte sie gleich in den Arm genommen. "Oh, Monika! George hat so viel Brief geschrieben, zu dein ... birthday?" Monika half Pam mit dem gesuchten Wort. Nein, von Geburtstagsbriefen hatte sie nie etwas gehört. Nur die Weihnachtspostkarten, aber auch das erst seit ganz wenigen Jahren. Sie war einmal etwas früher aus der Schule nach Hause gekommen und hatte die erste Karte in der Post gefunden.
Reizend waren die beiden Mädchen. Unbekümmert und ganz natürlich. So wie sie selber auch einmal gewesen war. Ein dunkler Schatten legte sich auf ihre Seele. Ob die älteste, Monique, vielleicht auch schon...?

"Wohin mitfahren ... Papa?" Es fiel ihr nicht leicht, dieses Wort zu benutzen.

"In die Kirche. Heute ist Sonntag."

"Katholisch??" Sie konnte sich alles vorstellen, nur nicht, dass ihr Vater auf seine alten Tage noch religiös geworden war.

Er schüttelte den Kopf. Schmunzelte. "Anglikanisch. Low Church.... Man kann auch ohne Papst ein guter Christ sein!"

Jetzt saß sie hier in einer australischen Kirchenbank und verstand nur jedes dritte Wort. Australisch war ein schwieriger Dialekt. ´Low Church´, dachte sie, die ´niedere Kirche´. Wie ganz anders als die katholische Kirche, die sich selber immer gleich als die Heilige Katholische Kirche betrachtete! Ihr Vater hatte ihr auf der Fahrt den Unterschied zwischen High Church und Low Church erklärt. Hier war es anders, es schien mehr Kommunikation als Kommunion zu geben; die beiden Mädchen waren in der Sonntagsschule, wo man versuchte, ihnen in ihrer Sprache die Dinge zu erklären, die die Erwachsenen selber nicht richtig verstehen konnten. Aber Kinder verstehen so manches besser, als Erwachsene, dachte sie.
Immer wieder glitten ihre Gedanken ab. Wo mochte Daniela jetzt sein? Sie rechnete neuneinhalb Stunden zurück, in München war es jetzt mitten in der Nacht. Sicherlich schlief sie.
Die Priesterin begann, einen Text aus dem Epheserbrief vorzulesen. Monika wollte sich konzentrieren, aber sie hatte noch nie erlebt, dass eine Frau Priesterin sein konnte. Alles war neu, und alles stürzte gleichzeitig auf sie ein.
"...Take no part in the unfruitful works of darkness, but instead expose them..."
Was?? Unfruchtbare Werke der Finsternis ... nicht teilnehmen ... aufdecken?? Warum musste Religion so kompliziert sein, dachte sie. Finsternis, sie selber war jahrelang durch die Finsternis geirrt. Und mit einem Mal sah sie ihre Freundin Daniela, die es auch tat.

%%%

Es war kalt, so ganz ohne Jacke und fast nackt unterm Kleid. Aber Klaus spürte die Kälte nicht, denn er hatte nur noch Sorge um Daniela. Von ihr war nichts zu sehen, auch von dem anderen Mädchen nicht. Wieso war sie plötzlich aus der Toilette gekommen?? Er erinnerte sich an die Szene im zweiten Teil von Zurück in die Zukunft, wo Marty sich hinter der Tür versteckt hielt, durch die sein anderes Ich gerade herausgekommen war. Das war doch verrückt! So etwas gab es doch gar nicht!
Wo war er? Wo der Europaplatz? Klaus war sich nicht sicher, hatte nur eine ungefähre Ahnung davon, wo er sich befand. Er war zwar selber hier hinausgefahren, aber der Stadtplan in seinem Kopf funktionierte nicht mehr, ließ sich nicht mehr einnorden. Nur noch ein Gedanke beherrschte ihn: Daniela finden! Wenn er Glück hatte, war sie tatsächlich zum Europaplatz gelaufen, um dort eventuell ein Taxi zu finden. Wo sie dann hinfahren wollte, darauf konnte er sich keinen Reim machen.

Er hetzte vorwärts, nicht auf sein protestierendes Glied achtend, das bei jedem Schritt schmerzhaft gegen seine Oberschenkel schlug. Noch einmal riss er wütend an seinen gefesselten Händen, aber das arg strapazierte Schürzenband hielt stand. Lächerlich! Wieso brachte er nicht die Kraft auf, dieses Stückchen Stoff zu zerreißen?
Er hatte sich verfranzt. War eine dunkle Straße hinuntergelaufen, eine andere wieder hoch und fast an seinem Ausgangspunkt wieder angekommen. Wo lag die Isar? Der Europaplatz lag auf der anderen Flussseite, aber wo war das? Klaus blieb stehen, mühsam um Atem ringend, am ganzen Körper zitternd.
Der Friedensengel! Am Ende der Straße, die links abzweigte, sah er die goldene Figur schwach glänzen. Jetzt wusste er, wo er war, jetzt hatte der Engel ihm eine Richtung vorgegeben! Er rannte weiter, kam nach kurzer Zeit an eine Straßenkreuzung, Dunkelheit lag weiter vorn vor ihm, dort musste die Isar sein, die Luitpoldbrücke! Dann blieb er wie vom Donner gerührt stehen.

Es mochten dreihundert Meter bis zu den beiden Personen sein, die dort an der Brücke standen. Sofort wusste er, dass es Daniela und das andere Mädchen waren. Beide standen sich dicht gegenüber, das andere Mädchen hatte seinen Rock hochgehalten, schien auf etwas zu deuten, streckte dann die Brust heraus, wild gestikulierend. Undeutliche Wortfetzen drangen an sein Ohr, er konnte nichts verstehen. Er sah, dass Daniela einige Schritte zurückwich, sie kam mit dem Rücken an die steinerne Brüstung. Dann sah er, wie Daniela ihre Jacke auszog, sie dem Mädchen hinhielt, vorwurfsvolle Gesten, erneutes Geschrei: du bist Schuld!! hörte er jemanden sagen, aber er konnte nicht ausmachen, ob Daniela oder das andere Mädchen es gesagt hatte.

Seine Starre löste sich endlich, er wollte loslaufen, aber dann sah er, wie das unbekannte Mädchen in einer blitzschnellen Bewegung ausholte, Daniela ins Gesicht traf, und diese, wie von einer Riesenfaust gehoben, über die steinerne Brüstung in die dunkle Nacht verschwand.
Sein Mund öffnete sich zu einem tierischen Schrei, aber seine Kehle ließ weder einen Schrei hinaus, noch lebenspendenden Atem hinein. Er schloss die Augen, nein, das war alles nur Einbildung, ein schlechter Traum, es war Zeit, aufzuwachen. Öffnete die Augen, das Mädchen war noch da, beugte sich über die Brüstung, alles war still, totenstill. Keine Spur von Daniela. Davongeflogen, dachte er.

Er konnte nicht länger stehen. Seine Beine gaben einfach unter ihm nach. Er krümmte sich zusammen, sein Mund öffnete sich, er erbrach sich, spuckte widerlichen Schleim auf den Bürgersteig. In seinen Ohren rauschte es, nein nein nein, du musst jetzt aufwachen, alles ist nur ein Albtraum, wenn auch ein verdammt realistischer Albtraum. Ein Auto fuhr vorbei, der Lichtkegel des Scheinwerfers erfasste ihn, Barbara die komplett zu Boden gegangen war, die schon lange die Kontrolle verloren hatte.

Das andere Mädchen war verschwunden. Er musste helfen... Nein, was sollte er helfen, mit gefesselten Händen? Es ging tief hinab zur Isar, das wusste er. Er lauschte in die Nacht, lauschte nach schwachen Hilferufen, aber da war nichts. Panik ergriff ihn. Er konnte nichts tun. Er war selber hilflos. Er wollte nur noch weg. Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Weg, fort, zurück zu seiner kleinen Wohnung. Er würde ein Messer finden, sich befreien, sich von dieser Chimäre befreien. Er durfte nicht zurück zur Geidi-Gaudi, dort wartete Andrea auf ihn, und danach war ihm im Moment überhaupt nicht.

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Sie fiel und fiel. Skyfall, also doch!, dachte sie. Himmelssturz.

Dann ein furchtbar harter Schlag. Daniela hörte das nervzerreißende Schrammen von Stahl, hin über felsigen Untergrund.

"Eine Schaufel Sand," hörte sie jemanden sagen. "Der liebe Gott hat uns eine Schaufel Sand unter den Bug geschmissen." Sie hörte das Brechen und Splittern von Knochen. Dann war plötzlich alles still. Bis auf plätscherndes, gurgelndes Wasser. Es schien überall um sie herum zu sein. Eiskalte Nässe drang in ihre Kleider. Aber niemand schrie: Wassereinbruch über Torpedoluk!!

Erst jetzt realisierte sie, was geschehen war. Sie hatte sich gebückt, weil etwas aus ihrer Jackentasche gefallen war, hatte es aufgehoben und sich wieder aufgerichtet, als sie dieser furchtbare Schlag ganz unvermittelt traf, genau auf die linke Wange. Der Schlag ließ sie zurücktaumeln, hebelte sie gleichzeitig aus und beförderte sie in aller Einfachheit über die steinerne Brüstung. Nie hätte sie geglaubt, dass so etwas möglich wäre.

Daniela versuchte, sich zu bewegen, aber jede Bewegung tat höllisch weh. Sie wusste, sie hatte sich eine oder mehrere Rippen gebrochen, zumindest auf der Seite, mit der sie zuerst aufgekommen war. Der stählerne Keuschheits-BH hatte zwar ihre Brust beschützt, nicht aber ihren Brustkorb, und hatte ihr einige der unter der Halbschale liegenden Rippen eingedrückt. Wahrscheinlich hatte sie sich auch eine Hand und ein Knie gebrochen, alles war steif und unbeweglich, versagte seinen Dienst.

Ich muss um Hilfe rufen, dachte sie. Dann verlor sie das Bewusstsein.

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Monika sah durch die Windschutzscheibe, konnte aber kaum noch den Weg erkennen, den ihr Vater gewählt hatte, um nach dem Gottesdienst wieder nach Hause zu kommen. Wo kamen denn plötzlich diese unvorstellbaren Wassermassen her? So etwas hatte sie ja noch nie gesehen!

"Now that´s a skyfall!" hörte sie Pamela von der Rückbank sagen, wo diese mit den beiden Mädchen nach dem Gottesdienst Platz genommen hatte. "Welcome to Australia, Monica!"

Welch ein Wolkenbruch! Ganz plötzlich hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet, sie konnte nur dankbar sein, dass alle hier im Auto im Trockenen saßen. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Hielt sich verkrampft am Sitz fest, so als könne das etwas helfen, die nasse Flut von sich abzuwenden. Ihr Vater bemerkte es, sah sie mit einem lächelnden Auge beruhigend an. "Das ist nichts!" sagte er.

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Als Daniela wieder zu sich kam, fror sie nicht mehr. Seltsamerweise hatte sich eine wohlige Ruhe und Wärme in ihr ausgebreitet. Wie lange mochte sie hier schon gelegen haben? Irgendwie schaffte sie es, einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen, aber sie erkannte nur, dass das Deckglas zerbrochen war. Sie würde Hilfe herbeirufen müssen, aber sie hatte in ihrer Eile, von Klaus wegzukommen, ihre Tasche bei ihm stehen lassen, und in ihrer Tasche hatten sich Geld und Handy befunden. Ins Kino hatte sie nur gehen können, weil sie in der Tasche ihres Jankers für Notfälle immer einen 50 EURO-Schein aufbewahrte.

Sie lachte still in sich hinein, als sie bemerkte, wie hoffnungslos ihre Situation war. Die letzte Freiheit, vor dem Verrecken, dachte sie. Solange man lachen kann, muss man nicht weinen...
Wer war diese junge Frau gewesen? Erinnerungsbilder eines nicht sonderlich langen Lebens flogen im Eiltempo an ihr vorbei, überlagerten sich, wurden begutachtet oder gleich wieder aussortiert. Du bist Schuld!! Wieder hörte sie die hysterische Stimme, wieder sah sie, wie das Mädchen seinen Rock hochgehoben hatte und auf etwas deutete, was in der Dunkelheit nicht zu erkennen war. Was hatte sie denn bloß mit dieser Person zu schaffen?
Sie sah ein hämisches Grinsen vor sich. Eine Fratze, die ihr die Zunge raussteckte, immer wieder du bist schuld rief. Plötzlich sah sie alles doppelt, zwei Gesichter lachten sie aus, zeigten mit den Fingern auf sie, sie war umgeben von Frauen, die alle ihre Röcke hochhielten und wieder und wieder du bist schuld ... du bist schuld .... skandierten.

Das leise Plätschern des dunklen Wassers schien ihr vertraut. War es nicht eines Tages schon einmal in ihr Leben gedrungen, als sie noch ganz klitzeklein war, als erste Laute an ihre Ohren drangen und sie zum ersten Mal die Stimme der Mutter gehört hatte? Fruchtwasser, dachte sie. Kann man sich wirklich daran erinnern? Und ganz plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie nie wieder hochkommen würde, hoch auf die Straße, die wenige Meter über ihr verlief. Ihr Lebensweg war an seinem Ende angekommen, sie würde nur noch hinwegschwimmen können...

Oh, der schöne Fischsc hwan z! Wo hatte sie dieses Kostüm getragen? Irgendwo in Florida. Angst hatte sie gehabt, als sie es anziehen sollte, weil sie plötzlich keine Beine mehr hatte, weil sie nicht mehr laufen konnte. Jetzt wünschte sie sich, sie steckte wieder in diesem Kostüm. Sie würde sich lautlos in das Wasser des Flusses gleiten lassen, all ihren Sorgen davonschwimmen...

Diese junge Frau! Lichtete sich der Nebel in ihrer Erinnerung? Sie wusste es nicht. Sie wusste nicht mehr, was sie tat. Warum sollte man etwas tun, wenn nur noch der allerletzte Gang zu gehen ist? Mit ihrer gesunden Hand zog sie ihren Rock hoch, fühlte die glatte Haut ihres Oberschenkels, ertastete die stählerne Barriere ihres Keuschheitsgürtels. Gleich würden alle Ketten von ihr abfallen... Mit letzter Kraft kratzte sie zwei lange Schrammen in ihren Oberschenkel, dann war sie bereit.

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Sie hatten den Rest der Fahrt schweigend zurückgelegt. Nur das monotone Wischen des Scheibenwischers war zu hören; niemand hatte Lust, sich zu unterhalten. Monika starrte hinaus in eine düstere Welt, der alles Licht entzogen schien.
Sie wollte nur noch ankommen, sich in ihr Bett verkriechen, mit ihren Gedanken allein sein. Es war schön, ihren Vater wiedergefunden zu haben, es war wundervoll, die Liebe dieser Familie zu spüren, aber im Moment fühlte sie sich nur noch leer und erschöpft.

Der Regen hatte aufgehört, so plötzlich wie er gekommen war. Sie stieg aus, folgte nicht den anderen, die ins Haus liefen und dort das Licht einschalteten, obwohl es erst Mittag war. Zu viel ging ihr jetzt durch den Kopf. Take no part in the unfruitful works of darkness, but instead expose them! Darkness, Dunkelheit, dachte sie. Nichts fürchtet der Mensch mehr, als Dunkelheit. Sie raubt ihm den wichtigsten Sinn, lässt ihn blind und verletzlich werden. Warum wurden denn in der Kirche all die vielen Lichter entzündet? Klaus´ Großmutter, die fast allabendlich neue Kerzen in der kleinen Seitenkapelle entzündet hatte? Die Taufkerze, die so wichtig war. Feuer und Wasser, das hier zusammenkam, wenn die Taufkerze in das Taufbecken gehalten wurde. Das Lebenslicht, von dem man spricht. Bis es ausgeblasen wird...

Sie fand einen vom Wind umgewehten Campingstuhl, richtete ihn auf, schlug mit der Hand die Nässe vom Sitz. Setzte sich hin und starrte in den düsteren Himmel. Leer, sie war jetzt ganz leer. Bereit, neues Leben zu beginnen, hier in Australien.
Sie erschrak, als ein gleißender Sonnenstrahl die Finsternis durchdrang. Ein leuchtender Finger, der wie auf sie gerichtet schien. Ich bin der Rebstock... Wieder kam ihr diese Stimme in den Sinn....

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Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund, begann, Blut zu spucken. This is the not the end..., erinnerte sie sich der berühmten Wort Churchills. Als sie das helle Licht auf sich zukommen sah, wusste sie, dass sie nicht hier in einsamer Finsternis würde sterben müssen. Und sie verstand, wieso Claudia immer gesagt hatte, alles sei ganz anders, ohne jemals zu sagen, wie anders.
Ihr wurde ganz warm ums Herz, ein Gefühl tiefster Liebe erfüllte sie. Plötzlich wusste sie, dass dies der schönste Augenblick in ihrem Leben war. Sie hatte das Ziel erreicht, ihr Lebensweg war an seinem Ende angekommen, und sie wusste, dass es stimmen mochte, dass die Götter denjenigen eher zu sich holen, den sie lieben.
Ein letzter Gedanke noch, bitte, gib meinen Eltern Kraft, wenn sie es erfahren, dem Bruder und Tante Agnes, Monika und Klaus. Gib ihnen Kraft, gib ihnen Kraft, oh Herrgott.... dann ließ sie los.



Australien VI. Oktober.

Nach dem Mittagessen klappte Monika ihren Laptop auf, suchte aber vergeblich nach einem Stecker für den Internetanschluss. Sie wollte endlich die Frage lösen, was es mit diesem Weinstock auf sich hatte, und hatte gehofft, im Internet eine Antwort zu finden.

"Tut mir leid, Moni. Aber hier zu Hause haben wir kein Internet. Nur im Büro. Was gibt es denn?"

"Ich wollte etwas nachschlagen ... über Weinstöcke. Wieso habt ihr denn kein Internet hier? Seid ihr noch so rückständig hier in Südaustralien?"

Er lachte. "Nein, bestimmt nicht. Wir können alles haben, was wir wollen. Aber wir wollen, dass die Mädchen ohne Computerspiele und Internet und Chatrooms aufwachsen, das kann alle warten, bis sie etwas älter sind. Im Moment gibt es für sie immer noch eine ganz große Welt zu entdecken, hier draußen." Er machte eine Bewegung zum Fenster hin. "Weißt du, das Internet ist verführerisch. Es gaukelt uns vor, auf alles eine Antwort zu haben, aber das stimmt nicht. Erst einmal müssen die Kinder lernen, selber Fragen zu stellen, bevor sie irgendwelche Antworten nachschlagen können. Was wolltest du denn wissen? Etwas über Weinstöcke? Vielleicht kann ich dir heute Nachmittag etwas darüber erzählen. Wir können spazieren gehen, nur wir beide. Was meinst du?"

"Ja, gern." Monika freute sich; gern wollte sie etwas über das Leben hier draußen und die Arbeit mit der Weinherstellung erfahren. "Du, sag mal, wie heißt denn Rebstock auf Englisch?"

"Vine, aber mit v. Nicht wine mit w. Aber jetzt muss ich mich mal etwas um die paperwork kümmern. Bis nachher also, ja? Sagen wir so um drei?"

Kein Internet! Mist! Also auch keine E-Mails, kein Facebook, kein Chat. Leider auch kein Wikipedia. Sie musste ihre Antwort anders finden. Auf die altmodische Art, dachte sie. In einem Buch. Sie stand auf, ging hinüber zum Bücherschrank, überlegte, welches Buch wohl Antwort geben könne. Hm? Sie versuchte es mit einschlägigen Lexika, kam aber nicht wirklich weiter.
HOLY BIBLE. Das Buch der Bücher, wie mancher behauptete. Ihre Finger glitten über den Buchrücken, wanderten weiter, kehrten wieder zurück. Sie wollte weitersuchen, aber es war, als sollte sie es hier einmal versuchen.
Die Bibel enthielt ein Inhaltsverzeichnis. Ja, tatsächlich, das Stichwort vine war aufgeführt!

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Dampfende Wärme umgab sie, als Monika mit ihrem Vater durch die Weinberge ging, die hier weniger Berge, als Felder waren. Es gab nicht die steilen Hanglagen, wie man sie von deutschen Anbaugebieten kannte, allein der Zauber war derselbe. Eine uralte Kulturpflanze, deren Saft den Menschen in seiner vergorenen Form die Zunge löste - In vino veritas!, schon die alten Römer hatten das gewusst.
Sie hatten sich ganz vorsichtig dem Thema genähert, hatten längst vergessene Erinnerungen ausgegraben, ihnen neues Leben eingehaucht. Sätze, die mit weißt du noch... anfingen. Dann waren beide still geworden.

Ihr Vater war stehengeblieben. Wusste nicht, wohin mit seinen Händen, griff nach Monikas Hand, ließ sie wieder los. "Es war ein Versprechen..."

"Ein Versprechen??" Sie blickte ihn überrascht an.

"Yes, a crime." Leise, aber deutlich.

"Ein Verbrechen", korrigierte sie ihn.

Er sah sie an, sagte nichts. Schmerz lag in seinen Augen.

Sie lächelte ihn an. Nahm seine Hand. "Nicht so schlimm," sagte sie. "Ein Versprecher."

George warf die Stirn in Falten. "Was...??" Dann, grinsend: "Deutsches Sprache, schweres Sprache!! Haben wir am ersten Tag im Goethe-Institut gelernt!" Dann, wieder ernst: "Ja, ein Verbrechen. Es hat..." Er stockte, rang mühsam nach Worten. "Es hat fast... mein Leben... dein Leben...."

Sie wusste, was er sagen wollte. Statt einer Antwort wandte sie sich einem Weinstock zu, der erst kleinste Reben entwickelt hatte. "Hat er dir geholfen, der Weinstock?"

Er sah sie an, antwortete nicht.

Monika schloss die Augen, bemüht, den gerade erst auswendig gelernten Satz fehlerfrei wiederzugeben. "I am the vine; you are the branches. If a man remains in me and I in him, he will bear much fruit; apart from me you can do nothing. - Ich bin der Rebstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht...."

"...ohne mich kannst du nichts machen", vollendete ihr Vater den Satz. "Ja, ich weiß nicht, vielleicht. Aber am Anfang, das war damals, als ich aus Deutschland zurückgekommen war, da hatte mir eher der Wein, als der Weinstock geholfen. Aber nicht lange, denn ich musste immer mehr trinken, um den Schmerz zu verbannen..."

"Schmerz?"

"Ja, Schmerz darüber, dich verloren zu haben. Dich und deine Mutter. Es wurde erst besser, als ich in diese Gemeinde kam und begann, zu verstehen, dass es einen viel schlimmeren Schmerz gab." Er blickte auf, machte ein Zeichen zum Weitergehen.

Sie folgte ihrem Vater, tief berührt über das Bekenntnis, das er hier ablegte.

"Ich kam hier in eine Selbst... ach, wie heißt es auf Deutsch?"

"Selbsthilfegruppe?"

"Ja, genau, eine Selbsthilfegruppe. Das war von der Kirche organisiert..."

"Da macht man wohl den Bock zum Gärtner!", warf Monika ein. "Ausgerechnet die Kirche..."

"Ja, ich weiß, was du meinst. Aber wir dürfen die Kirche wegen einige schwarze Schafe nicht unter Generalverdacht stellen! Das wäre zu einfach!"

Monika nickte. "Ja, du hast sicherlich recht. Also kein australisches no worries, mate?"

"Nein, ganz bestimmt nicht!! Wir alle haben uns versündigt, an Kindern, an uns selbst. Das zu erkennen, war die größte... hurdle."

"Hürde." Sie spürte das Verlangen, ihm etwas von seiner Schuld zu nehmen. "Es war ja nicht so schlimm, was du gemacht hast, Papa!"

Ein zorniger Blick blitzte sie an. "Doch!! Es war sogar viel schlimmer! Denn genau das ist das Schlimmste, dass die Kinder meinen, es war ja nicht so schlimm! Sie sind in all ihre Unschuld am schlimmsten verletzt, sie müssen es ein Leben lang tragen, denken oft, sie selber hätten den Erwachsenen verführt... aber, so war es ja nicht! Wir sind die Täter, wir haben Schuld!! Gott sei Dank gibt es diese Selbsthilfegruppe, sie hat mich gerettet! Sie und Pamela..."

"...und die Rebstöcke!"

"Ja, man hat harte Arbeit. Wein ist eine Kulturpflanze, sie muss umsorgt werden. Wenn man sich nicht kümmert, dann geht sie ein, produziert keine Reben mehr, keinen Most, keinen Wein. Komm, ich zeige dir mal, was man da alles machen muss!"

Er hatte seine Hand unbewusst nach hinten ausgestreckt. Sie legte ihre Hand in die ihres Vaters. Nein, sie war kein Kind mehr, aber manchmal müssen auch Erwachsene einander festhalten dürfen, dachte sie, und es war gut so.



November VII.

Sie zuckte zusammen. Kalt!! Unwillkürlich begann sie, ganz leicht zu zittern.

"Was ist los? Hast du Angst?"

Sie biss sich auf die Lippen, versuchte, ihrer Erregung Herr zu werden. Nein, Angst hatte sie keine; sie hatte es ja selber so gewollt. Sie schüttelte den Kopf. "Nein", flüsterte sie, kaum hörbar. "Vielleicht bin ich einfach nur müde ... es ist spät..."

"Soll ich nach Hause fahren?" Seine Stimme klang leicht enttäuscht. Sie spürte, dass sie bereits eine Schwelle überschritten hatte, an der ein Mann normalerweise nicht mehr nach Hause fahren würde. Wortlos reichte sie ihm das kleine Schloss, das sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. Ein Schloss ohne Schlüssel. Alle Schlüssel hatte er gleich an sich genommen, sobald er die von ihr zurechtgefeilten Schlösser gesehen hatte. Sie hatten einen Pakt geschlossen, er würde die Schlüssel behalten, sie die Schlösser.

Ingeborg Wimmer und Bruno Rick waren zu sehr später Stunde in ihre Wohnung gefahren. Beide hatten sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, in der spärlichen Hoffnung, irgendetwas über die Ereignisse des letzten Samstags herauszubekommen. Dass sie wirklich einen möglichen Täter hier würden stellen können, das hatten sie nicht wirklich geglaubt.
Sie fragte sich, warum sie überhaupt bei dieser wenig vielversprechenden Aktion mitgemacht hatte. Und war sich nicht sicher, ob es überhaupt eine schlüssige Antwort gab. War es ein geheimer Wunsch, noch einmal in die Welt der Jüngeren, der Unbesorgten und Unbekümmerten, eintauchen zu können? War es vielleicht doch beruflicher Ehrgeiz, die Hoffnung auf einen zweiten Stern auf der selten benutzten Uniform, wenn sie entscheidend zur Lösung des Falls beitragen konnte?
Wusste sie es nicht besser, oder wollte sie es nicht besser wissen? Sie hatte seine Augen gesehen, als sie vor wenigen Tagen im Dirndl in seinem Büro stand. Hungrige Männeraugen, das hatte sie gleich gedacht. Und sie hatte sich wohl gefühlt dabei. Sie mochte ihren Chef, kam gut mit ihm aus, hatte ein gutes Arbeitsverhältnis mit ihm, ein Verhältnis, wie es sein sollte: frei von anzüglichen Bemerkungen, frei von allzu aufdringlichen Berührungen; wenn es welche gab, dann waren sie angenehm normal.
Sie war schwach geworden, als sie den Keuschheitsgürtel und den stählernen BH sah, hatte in manischem Eifer für neue Schlösser gesorgt, dann aber von jeder weiteren Aktion Abstand genommen. Eine kurze Anprobe gestern Abend, ja, aber mehr verbot ihr ihr Berufsethos. Nur ihre Fantasie hatte keine Grenzen gekannt, hatte sie in unbändiger Freiheit bis an den Rand und darüber hinaus gebracht. Und der lange Abend bei der GeiDi-Gaudi war das einzig Mögliche, das einzig Machbare, was sie tun konnte, um diesen hungrigen Männeraugen einen Schritt näher zu kommen. Im selben Moment, wo er seine Hand auf ihre gelegt hatte, als sie ihr kleines Täschchen im Wagen vergessen hatte, hatte sie gewusst, dass der Abend erst anfangen würde, sobald ihre Under-cover-Mission vorbei war.

Sie hatten wenig gesprochen. Sie hatte ihrem Chef ein Glas Wein angeboten, dann hatten sie sich in ihr Wohnzimmer begeben. Rick betrachtete nachdenklich die verschiedenen Teile des Keuschheitsgeschirrs, das nur eine Woche zuvor noch am Körper einer jungen Frau gesessen hatte, mit oder ohne deren Einwilligung. Sie würden es herausfinden. Und sie würden herausfinden, wer Schuld am Tode dieses Mädchens war.

Er sah sie an. Öffnete den Mund, sprach langsam und überlegt. "Passt er?"

Sie nickte bloß.

"Der BH auch?"

Ein weiteres Nicken. Sie sah, wie er die einzelnen Teile ganz langsam zu ihr hinüberschob. Er betrachtete die drei kleinen Schlösser, schmunzelte leicht, zog von allen die Schlüssel ab und schob auch die Schlösser zu ihr hin.
Sie sah ihn an, bohrte ihren Blick in seine Augen. Griff mit der rechten Hand zu dem kleinen Silberkettchen, welches ihr Mieder verschnürte, lockerte es, nahm sich die Dirndlschürze ab, öffnete den langen Reißverschluss, konnte endlich mal wieder richtig Luft holen, aber jetzt war da bereits etwas ganz anderes, das sie daran hinderte. Sie stieg aus dem Kleid, zog sich mit einer schnellen Bewegung die Dirndlbluse über den Kopf.

Er hatte ihren Blick festgehalten. Wann hatte er sich zum ersten Mal gewünscht, sie so sehen zu können? Er lachte leise in sich hinein. Wie lange arbeiteten sie schon zusammen? Wahrscheinlich hatte er es sich bereits am ersten Tag gewünscht; alles andere wäre wohl nicht zu erklären. Jetzt stand sie vor ihm, sie trug einen spitzenbesetzten weißen Dirndl-BH, dessen Träger seitlicher angebracht waren, als bei einem normalen BH, dazu passend einen Slip. Als er sah, wie ihre Hände hinter sie glitten, stand er auf, nahm die drei kleinen Schlüssel und ging hinaus.
Es war seltsam. Er hatte dabeisein wollen, aber er konnte es nicht. Er konnte ihr auch nicht sagen, was sie tun sollte, und stören wollte er in diesem Moment erst recht nicht. Sie würde das Richtige tun ... oder auch nicht.


Ingeborg Wimmer wusste, dass sie längst aufgehört hatte, zu denken. Sie wunderte sich nicht darüber, dass Bruno hinausgegangen war, sie wunderte sich nicht darüber, dass er mit keinem Wort gesagt hatte, was sie tun sollte. Sie hatte es auch so verstanden, diese deutliche, bestimmte Geste, als er ihr die Sachen über den Tisch geschoben hatte, die sichere Bewegung, mit der er die Schlüssel an sich genommen hatte. Er würde die Schlüssel behalten, sie die Schlösser!
Sie griff mit zitternden Fingern hinter ihren Rücken, hakte ihren BH auf und legte ihn ab. Ihre Brüste waren straff und gut gebaut, nicht sonderlich groß, nicht mit Mogelpackungen aus Silikone gefüllt. Sie begann, sich zu streicheln, wiegte ihre Brüste in den geöffneten Händen, kratzte mit langen Nägeln über ihre Brustwarzen. Gleich würde sie es nicht mehr können.
Ingeborg hörte das Geräusch der Toilettenspülung, dann das Rauschen des Wasserhahns. Die Klotür quietschte leicht, dann war Stille. Sie sah, dass es dunkel blieb in der Diele; er wartete ohne zu murren.
Sie führte die Ketten des stählernen BHs über ihren Kopf, legte das Teil sich von hinten um den Oberkörper, steckte vorne alles zusammen, so wie sie es vorher schon einmal geprobt hatte und hängte das erste Schloss ein. Klick!
Es ging schneller mit dem Keuschheitsgürtel. Sie wusste, dass er wartete, dass er warten würde, bis es hell würde. Aber sie wusste auch, dass sie selber nicht so lange warten würde. Klick! Sie sah, wie ihre Schamlippen sich vergeblich durch den langen, schmalen Schlitz drängten, ihre Hände griffen nach ihrer Scham, sie versuchte, einen Finger in den nicht mehr geöffneten Schoß zu bekommen, nein, es ging nicht, sie machte die Beine breit, aber ihre Lippen öffneten sich nicht mehr, sie war verschlossen, fini l´amour!
Sie zog ihr Dirndlkleid wieder an. Warf BH und slip auf den Boden, trat beides mit dem hohen Hacken, den sie immer noch trug, zur Seite: nichts sollte jetzt stören. Dann räusperte sie sich, strich ein Zündholz an, entzündete einige Kerzen und löschte das elektrische Licht.


"Hattest du Waffeln gesagt?" Er war wieder ins Zimmer gekommen. Kerzenschein fiel in sein Gesicht, eine spezielle Regung konnte sie nicht ausmachen.

"Ja. Hast du Hunger?"

"Riesenhunger." Er lächelte sie an. "Komm, mach welche, sonst fall ich gleich um." Er legte seinen Arm um sie, führte sie mit sanftem Druck in die Küche. Sie fühlte, wie er ihren Rücken abtastete.

Er stand hinter ihr, als das Waffeleisen glühte und sprühte. Teig quoll an den Seiten hinaus; sie konnte sich kaum noch auf ihre Arbeit konzentrieren. Es war mehr als spät, normalerweise lag sie in ihrem Bett und schlummerte, einsam und allein; heute würde es anders sein. Seine Hände glitten von ihren Schultern an abwärts, tasteten sich langsam vor, wie die Hände eines Archäologen, der Angst hat, einen wertvollen Fund mit zu heftigen Bewegungen zu zerstören, ließ sie am Rückenband des BHs ruhen, dann langsam nach vorne gleiten; sie untersuchten die beiden Halbkugeln, die jetzt ihren Brustkorb zierten, Halbkugeln, die ihre Brüste vor jeglicher Berührung schützen wie das Fort Knox die amerikanischen Goldbarren.
Sie hörte sein heftiges Atmen, vermischt mit dem Zischen des Waffeleisens, gleich würde er ihr sein Brandzeichen geben, würde sie einfach hochheben und mit dem nackten Gesäß auf das heiße Waffeleisen drücken, dort ein brennendes, kleines Herzchen hinterlassen.... Sie fantasierte.

Als seine Hände ihre feuchte, aber versperrte Spalte erreicht hatten, da lachte er kurz auf, biss ihr ins Ohr. "Strafe muss sein!", flüsterte er.

"Strafe?? Wofür?"

"Du hast den kleinen Bügel nicht drangemacht!"

Nein, hatte sie nicht. Sie hatte es vergessen, oder es absichtlich vergessen, damit er ihr ins Ohr beißen würde. Sie legte die fertigen Waffeln auf einen Teller, holte ein Dose mit Puderzucker und trug nun beides zurück ins Wohnzimmer. Noch Wein? Nein, er lehnte ab.

"Wir haben morgen beide frei!"

"Ja, ich weiß," antwortete er. "Aber ein Glas reicht... Danke."

Beide aßen ihre Waffeln, unterhielten sich etwas über dieses seltsame Fest. Sie spürte den Druck des BHs auf ihren Oberkörper, den des Schrittreifens auf ihre Scham. Traute sich nicht, sich zu berühren.
Er griff nach dem noch fehlenden Teil. "Es ist Zeit," sagte er. Er machte es selber, ging sehr behutsam zu Werke, küsste ihre Lippen, bevor er den Zugang zu ihnen versperrte, ließ seine Zunge darüber gleiten, trieb sie an den Rand der absoluten Erschöpfung. Dann klinkte er den Onanierschutz ein und verschloss ihn mit dem letzten, noch freien Schlösschen.

Er zog sie an sich. Hielt sie sicher fest, als sie auf ihren hohen Absätzen unsicher wankte. Warum hatte sie die verdammten Schuhe nicht ausgezogen? Sie wusste es nicht. Heftige Küsse ... sie wehrte sich nicht.

"Danke," sagte er. "Danke für diesen schönen Abend, und die leckeren Waffeln. Sehen wir uns morgen Nachmittag?" Er korrigierte sich: "Ich meine natürlich heute Nachmittag. Wir könnten abends essen gehen...?"

Dann war er weg. Wimmer hörte noch das Anlassen seines Wagens, sah die Lichter in der Ferne der Straße verschwinden, dann war Stille. Er hatte die Schlüssel behalten, sie die Schlösser. Sie zog sich aus, griff mit der Hand dorthin, wo nichts mehr zu greifen war, außer hartem Stahl, dann ging sie ins Bett. Allein und einsam, ja, aber doch anders, als sonst immer.




120. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von lupo am 06.05.13 20:57

Oh je, ich glaube mein Gedächtnis wollte die Wahrheit nicht sehen.
Ich hab gerade noch mal den Besuch in der Pathologie nachgelesen - und ja - natürlich fanden sie dort auch den Keuschheits-BH. Hab ich aktiv verdrängt, weil ich wahrscheinlich nicht wollte, daß es Daniela trifft.
Lieber eine unbekannte dritte.
Liebe Dani, vielen Dank für diesen neuen spannenden Teil Deiner Geschichte, von dem ich hoffe, daß es nicht der letzte ist.
Immerhin sind ja noch ein paar Fragen offen - die Zwillingsstriche auf dem Oberschenkel zum Beispiel....da tappe ich noch völlig im Dunkeln...

Viele gespannte Grüße aus dem Allgäu
Lupo
121. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von AK am 07.05.13 14:03

Vielen Dank Daniela für diese tolle Geschichte. Habe sie von Anfang bis Ende mitverfolgt und jede Woche auf die Fortsetzung gewartet.

Würde mich freuen, wen es nicht die letzte war.

Die meisten Handlungsstränge sind nun abgeschlossen, es würde mich aber freuen zu sehen, wie es mit den zwei Polizisten weiter geht.

Liebe Grüsse

AK
122. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 12.05.13 22:00

Zum nun vorletzten Male gibt es am heutigen Sonntagabend eine Fortsetzung meiner Geschichte. Nächsten Sonntag ist Schluss. Nun, ich weiß, inhaltlich hat sich die Geschichte sehr verändert, aber ich bleibe bei meiner Linie, dass Hintergründe aufgedeckt werden sollen, dass Menschen Fragen stellen dürfen, Fragen an die eigene Geschichte, aber auch an das Leben an sich.

Ich kann nur hoffen, dass es Leser gibt, die diese Geschichte als ein Geschenk verstehen. Oder soll ich lieber sagen, als eine Handreichung? Ich weiß, was ich hineingelegt habe, was ein jeder aus ihr wird herausziehen können, liegt nicht in meinen Händen.

Eine gute ´Lesestunde´ wünscht Euch nun Eure Daniela

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Australien VII. November.

Binnen weniger Minuten hatte sich alles verändert. Hatte Monika bis jetzt angenehme, gar liebevolle Tage mit ihrem Vater und dessen Familie erlebt, so war jetzt alles in sich zusammengestürzt. Nichts, was mit Australien zu tun hatte, aber mit München. Und damit mit ihr.

Sie hatte mehrere Tage nicht an zu Hause gedacht, warum sollte sie auch, spürte sie doch immer mehr ein Zuhause-Gefühl hier im australischen Weinanbaugebiet. Ihr Handy blieb ausgeschaltet, viel zu teuer war es, es hier im Ausland benutzen zu wollen. Und daheim bei ihrem Vater gab es kein Internet. Zugegeben, sie hatte eine Zeitlang an Entzugserscheinungen gelitten, was sollte sie hier mir ihrem Laptop OHNE online gehen zu können, aber es gab hier Bücher, und diese entdeckte sie schnell für sich. Bücher über Südaustralien, über Wein, über Natur und Geschichte; es war alles da.

Dennoch hatte sie das Angebot angenommen, einmal mit ihrem Vater in die Firma zu fahren und dort im Internet ihre Mail zu checken; konnte ja sein, dass jemand ihr geschrieben hatte.

Sie hatte den ausgedruckten Brief, den Claudia ihr als E-Mail geschickt hatte, wie in Trance zusammengefaltet, hatte im Moment nicht reagieren können, nicht ihren Schock mit dem Vater teilen wollen. NEIN!!!!!

Jetzt lag er geöfnet auf dem Küchentisch. Sie las ihn ein zweites, ein drittes Mal, die Wörter lösten sich zu einzelnen Buchstaben auf, diese begannen auf dem Papier zu tanzen, schwommen auf ihrer Netzhaut, konnten nicht richtig weitervermittelt werden. Ihr Hirn, eben noch vollgesogen mit australischer Lebensfreude, war wie leer und tot. Sie ließ das Blatt sinken, ließ es, von einem sanften Lufthauch angetrieben, vom Tisch auf den Fußboden segeln; es war egal, sie war wie tot, aber sie atmete noch. Nur ihre Freundin daheim in München, die atmete nicht mehr.

Daniela ... tot!

TOT, dachte sie. Nie wieder würde sie ihre Stimme hören....

"Moni??"

Nie mehr ihr Lachen...

"Monika?"

Die Nacht im Studentenzimmer in Köln. Nie wieder würde sie ähnliches erleben...

"Monika!!?" Ihr Vater drückte sanft ihre Arme zur Seite, die sie wie zum Schutz vor sich aufgebaut hatte. Er versuche es mit dem neuen Zauberwort: "Mein Kind! Was ist los? Schlechte Nachrichten? Komm, Kleines..." Er breitete seine Arme aus, strahlte Geborgenheit aus, ließ sie wieder ein Schutz suchendes Kind sein. Anders als damals, wenn er ´komm Kleines´ gesagt hatte.

Sie begann zu zittern. Konnte es nicht unterdrücken, nicht kontrollieren. Einzig die starken Arme ihres Vaters hinderten sie daran, auseinanderzufallen.

Es dauerte lange, ehe sie die Contenance wiederfand. Für den Moment musste es reichen, dass sie ihrem Vater sagte, dass eine sehr gute Freundin von ihr gestorben war. Claudia hatte mit wenigen Worten die mysteriösen Umstände geschildert, aber niemand schien zu wissen, was genau vorgefallen war. Dann zog sie sich eine Jacke über und stürzte hinaus.


Es dunkelte schon. Erste Sternbilder zeigten sich am Firmament, das Kreuz des Südens kroch langsam über den Horizont. Monika hatte den Weg in den Weinberg gefunden, hatte sich dort, unweit des Hauses, auf eine kleine Steinbank gesetzt. Denken konnte sie nicht.
Sie horchte in sich hinein, suchte die ´Rebstock-Stimme´, aber es blieb alles still. Vielleicht, weil sie es jetzt nicht mehr brauchte?

"Moni?" Sie blickte auf, sah ein schwankendes Licht auf sich zukommen. Das Geräusch von rollenden Steinchen. Ein Lachender Hans schrie sein merkwürdiges Lachen hinaus in die laue Frühsommernacht. "Monika, bist du hier?"

"Papa?" Er kam sie zu retten. Er würde sie nicht sterben lassen.

Ihr Vater setzte sich auf die Steinbank neben sie, legte einen Arm um sie. "Hier, trink einen Schluck!" Er hatte seine Taschenlampe ausgeschaltet, hielt ihr irgendetwas hin, das sie kaum erkennen konnte. Sie trank einen Schluck - ein Flachmann! - hochprozentiger Alkohol ließ sie husten und nach Atem ringen.

"Danke. Es ... es geht schon." Sie schwieg. Er war klug genug, nichts zu sagen.

"Daniela war ... sie war meine beste Freundin. Die Nichte von meiner Nachbarin ... also Claudias Kusine."

George nahm ihre Hand. "Sie war vielleicht mehr als eine Freundin?"

"Ja, wir hatten ein Verhältnis. Seit dem letzten Herbst. Sie hatte ihre Tante besucht und ich hatte sie da kennen gelernt. Ich ... ich glaube, ich habe Schuld an ihrem Tod..."

George drückte sein Kind fester an sich. "Willst du mir davon erzählen? Bist du..." Er legte eine Gedankenpause ein, "bist du lesbisch, Moni?"

War sie lesbisch? "Ich bin ein Teufel, Papa. Ein böses Mädchen...." Und dann sprudelte es aus ihr heraus, alles, was sie mit Daniela gemacht hatte, beichtete all ihre Schandtaten. Lockerte ihr Vater seinen Griff? Nein.

"Es steckt in uns allen drin, Moni."

"Was meinst du?" Sie verstand nicht recht, was er sagen wollte.

"Das Böse, Moni. In allen Menschen steckt es, aber es schlummert bloß. Wartet immer darauf, eines Tages geweckt zu werden. Wenn du Glück hast im Leben, dann wird es nie geweckt. Wenn du Pech hast, dann..." Er schwieg.

"Was meinst du mit ´wecken´?"

Er bot ihr einen weiteren Schluck aus seinem Flachmann an. "Das ist schwierig. Besonders deshalb, weil es sich nicht offen zeigt. Es lockt den schwachen Menschen mit Versuchungen, gaukelt ihm Freude da vor, wo sie später ins Verderben führt."

"So wie mit Drogen?"

"Ja. Aber ich spreche eher von seelischen Drogen. Krankhafter Ehrgeiz, Neid, Missgunst. Aber auch die verbissene Jagd nach Anerkennung, nach ..."

"...Liebe?" Sie hatte es so hingeworfen.

"Ja, die ganz besonders."

Monika schüttelte sich. "So wie Mutter..."

Er sog die Luft hörbar ein. "Ja, so wie deine Mutter. Sie war eifersüchtig, sie wollte deine Liebe nur für sich. Du musstest ihr die Eltern ersetzen, die sie verloren hatte. Und dann kam es ihr gerade recht, einen Grund zu finden, mich loszuwerden. Verstehst du, das war keine Mutterliebe...."

"Nein. Das war es nicht. Und sie hat das Böse in mir geweckt...." Sie hatte nie jemandem davon berichtet, was ihre Mutter mit ihr gemacht hatte. Einzig Daniela hatte einigen Einblick erhalten. Es tat weh, ihrem Vater davon zu berichten.

"Herr im Himmel! Armes Mädchen!" Er wusste, es war zu einfach, alles in Gut und Böse einzuteilen. "Nein Moni, du bist kein böses Mädchen, und erst recht keine Teufelin. Ganz bestimmt nicht. Und glaube nicht, dass du Schuld am Tod deiner Freundin hast. Es gibt kein absolut Gutes, und es gibt kein absolut Böses. Jeder Mensch reagiert anders auf die Versuchung. Mancher reagiert sofort, andere überhaupt nicht. Es gibt keine Menschen, die nur gut sind, und es gibt auch keine, die nur böse sind. Vielleicht verstehst du es heute nicht, aber du bist noch jung und ich zweifle nicht daran, dass du es eines Tages verstehen wirst. Komm, lass uns nach Hause gehen! Pamela wird sich schon Sorgen machen!


Dezember I.

"Wimmer? Mein Zimmer!"

Es war spät Freitagabend. Ingeborg Wimmer und ihr Chef, Hauptkommissar Bruno Rick, waren fast die einzigen, die noch auf der Dienststelle waren. Wimmer war tagsüber unterwegs gewesen, hatte weitere Ermittlungen eingezogen, diesmal schon wieder in einem anderen Fall; die Personaldecke war dünn, kam man mit einem Fall nicht weiter, nahm man sich einen anderen vor. Nichts sollte länger als nötig liegenbleiben.

Ihr Umgangston war der gleiche geblieben, zumindest hier im Dienst; beide wussten nur zu gut, dass eine Versetzung drohte, sollten Kollegen und Mitarbeiter etwas von ihrer Affäre mitbekommen.
Die leicht genervte Kommissarin sah auf ihre Uhr, schon dreiviertel sieben, dachte sie. Was würde der Abend bringen? Würde er überhaupt endlich mal wieder etwas bringen? Ihr Verhältnis zu Bruno hatte sich anders entwickelt, als sie es sich hätte wünschen mögen.

Es hatte erste Anzeichen gegeben, nicht lang nach ihrer ersten Nacht zusammen, jene Nacht nach ihrem ´Under-cover-Einsatz´. Es hatte als harmloses Spiel begonnen, ein Spiel um Sex, wie sie damals noch dachte, inzwischen wusste sie, dass es ein Spiel war, das weniger mit Sex, als mit Unterwerfung zu tuin hatte. Etwas, das ihr vollommen neu war. Etwas, das zu steuern sie noch nicht gelernt hatte. Etwas, das er jetzt steuerte.

Sie betrat sein Zimmer, schloss wie immer seine Bürotür hinter sich. Ein Stück Holz, das sie gegen die Kollegen abschirmte, ein Stück Holz aber auch, das sie zu seinem Objekt machte. Sie blieb stehen, verschränkte die Arme hinter dem Rücken, wie sie es für angemessen hielt. Er hatte es ihr nicht gesagt, sie selber hatte eines Tages diese Haltung angenommen, unklar woher der Gedanke kam, unsicher, wohin er sie führen würde.

Rick holte sein Feuerzeug aus der Tasche, beschäftigte sich mit dem Adventsgesteck auf seinem Tisch, richtete die Tannenzweige etwas, warf eine der roten Beeren in den Müll, die schon vom Zweig abgefallen war. Dann zündete er die Kerze an und klappte sein Feuerzeug wieder zu.

"Schön, nicht? Gefällt es dir?"

Sie lächelte ihn an. "Sehr. Aber deswegen hast du mich jetzt nicht gerufen, oder?" Sie wusste, es war eine leichte Provokation.

Rick schüttelte den Kopf. "Nein. Du scheinst mich schon gut zu kennen ... vielleicht zu gut?" Er ging auf sie zu, berührte ihren Rock, hob ihn an, legte seine Hand in ihren Schritt. "Schön", sagte er und ließ den Rock wieder fallen. "Kommst du klar damit?"

Sie zögerte mit der Antwort. Kam sie klar damit? Als er sie das erste Mal in ihrer Wohnung gut verschlossen zurückgelassen hatte, war sie gar nicht klar gekommen. Hatte eine furchtbare Nacht gehabt, kaum schlafen können, hatte am Morgen lange unter der Dusche gestanden, ohne das belebende Wasser dort zu spüren, wo es hinsollte, in ihre feuchte Scham, auf ihre harten Brustwarzen. Sie hatte sich berührt, wieder und immer wieder, ohne etwas zu fühlen, ohne etwas auszulösen, anderes als das Gefühl von Scham und Erniedrigung.
Nachmittags, als er kam, hatte er sie in einem desolaten Zustand vorgefunden. Sie hatte ihn fast auf Knien gebeten, ihn endlich von all den stählernen Sachen zu befreien, aber sobald er sie in den Arm genommen und ihr leise zugeredet hatte, war der psychische Schmerz verschwunden, denn sie wusste, er hatte die Schlüssel, sie die Schlösser, und solange es so blieb, war alles gut. Erklären konnte sie es sich nicht.

Er hatte sie nicht sofort befreit. War mit ihr spazieren gegangen, noch einmal hatte sie ihm zuliebe das Dirndl angezogen, man war hinausgefahren nach Hellabrunn, wo man sich wegen des kalten Novemberwetters mehr in den Innenanlagen aufhielt, als draußen. Innen, wo sie ihren Mantel ablegen konnte...

"Ja. Unten geht es so, hier oben ist es schlimmer..."

Er verbrannte einige Tannennadeln, herb süßlicher Geruch füllte sein Büro. "Also, was haben wir bis jetzt? Vielleicht fassen wir unsere Ermittlungsergebnisse noch einmal zusammen. Also, das Mädchen hieß Daniela Krause, stammte aus Köln, 19 Jahre jung, wohnhaft bei ihrer Tante Agnes Jensen, hier in München..."

"Das stimmt so nicht ganz, Bruno. Sie sollte laut Plan bei ihrer Tante wohnen, aber aus Platzmangel - eine Kusine war da wohl aus Australien von ihrem Sabbatjahr zurückgekehrt - war sie vorübergehend bei einer befreundeten Nachbarin, Frau Pia Sommer, eingezogen, bis sie irgendwo einen Platz in einem Studentenwohnheim bekäme."

"Ja, richtig. Aber wir wunderten uns darüber, dass diese Nachbarin Daniela nicht als vermisst gemeldet hatte..."

"... weil sie selber uns glaubhaft versichern konnte, Daniela an jenem Abend ,oder Nachmittag, sie verlassen hätte um mit einem jungen Mann, den sie kennen gelernt hatte, zusammen zu wohnen."

Bruno fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Es war spät und eigentlich hatte er gar keine Lust mehr auf diesen Fall. Alle Spuren, die sie verfolgt hatten, hatten nur ins Nichts geführt. "Ja, das sagte sie wohl aus. Und diesen jungen Mann haben wir auch ausfindig gemacht, der wohnte aber nicht unter seiner gemeldeten Adresse, oder?"

Wimmer blätterte noch einmal in den Unterlagen, die sie vom Schreibtisch genommen hatte. "Nein. Gemeldet war er im Hause seiner Großmutter, Frau Annegret Meisner, deren Grundstück an das dieser Pia Sommer grenzt, wo Daniela zuletzt gewohnt hatte. Der junge Mann, Klaus Behrend, betreut vorübergehend die Wohnung einer anderen Studentin, die zur Zeit in den USA arbeitet."

"Und warum hat er dann seine Freundin nicht als vermisst gemeldet?"

"Er hatte ausgesagt, sie sei nicht zu ihm hingekommen. Dummerweise aber fanden wir ihren kleinen Koffer in seiner Wohnung."

"Ja, wir haben ja bei ihm eine Hausdurchsuchung gemacht und dabei einige interessante Dinge gefunden..." Er setzte ein diabolisches Lächeln auf, griff in seine Schreibtischschublade und holte einen kleinen Kasten hervor, dessen Display erloschen war. "Dies hier, und dann noch diese lustigen Halbschalen mit den vielen kleinen Stacheln, von denen wir erst gar nicht wussten, wofür sie sein sollten..." Er grinste sie an. "Wissen wir es jetzt?"

Seine Kollegin biss sich auf die Lippen. "Ja," antwortete sie kaum hörbar.

"Ja, was?"

Sie antwortete nicht. Tränen traten ihr in die Augen. Nein, sie wollte nicht weinen! Sie tat es ja für ihn, und es war gut.

Er war wieder aufgestanden, trat einen Schritt näher und umarmte sie. Drückte sie fest an sich, die Hände hinter ihrem weichen Mohair-Pullover fest verschränkt. "Ist es so schlimm?" Er hauchte es in ihr Ohr, biss vorsichtig in ihr Ohrläppchen, seine Zunge spielte mit dem langen Ohranhänger, den sie trug. Es tat weh.

"Nimm mir wenigstens den BH ab!", kam es leise stöhnend aus ihr heraus, als er immer fester an ihrem Ohranhänger zog.

"Ist es so schlimm?", wiederholte er seine Frage. "Schlimmer als der Keuschheitsgürtel?"

Sie nickte, spürte, wie sie nachgeben wollte. Sie biss die Zähne zusammen. "Ja," presste sie hervor. "Die Brüste sind für eine Frau viel wichtiger, als Männer glauben. Ohne Brüste ist eine Frau nichts. Ohne Brüste kann sie kein Kind ernähren..."

"Ohne Brüste kann sie sich nicht stimulieren, habe ich recht?" Er drückte sie fester an sich, spürte den harten Druck ihres stählernen BHs gegen seinen Oberkörper.

"Bitte, Bruno, schließ den BH auf. Ich bin schon ganz zerstochen von diesen blöden Stacheleinlagen!" Sie entwand sich seinem Griff und versuchte demonstrativ, die fest verschlossenen Cups des BHs etwas zu lockern.

"Wenn der Fall gelöst ist, Wimmer! Geben Sie sich Mühe!" Er lachte. "Und zu Weihnachten wollen wir auch dieses nette Teil einmal ausprobieren, ja? In der Bibel steht doch nur: ´Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen!´ Dass man andere Dinge nicht versuchen soll, insbesondere solche hier, davon steht nichts geschrieben!"

Sie wusste, es war zwecklos, mit ihm zu diskutieren. Unterwerfung. Sie hatte es selber so gewählt. Und bis Weihnachten waren es noch einige Wochen.

"Hast du diese ominöse Barbara ausfindig gemacht? Hier liegt die Zeugenaussage einer Garderobiere vor, die sagt, dass Daniela sich laut mit einer Barbara gestritten habe, kurz bevor sie das Etablissement verlassen hatte. Und dass diese Barbara ihr dann wohl gefolgt sei? Und, was ich überhaupt nicht kapiere - und in meinen Augen ist diese Aussage mehr als zweifelhaft - das alles soll kurz vor 3 Uhr nachts gewesen sein. Wir wissen aber, dass Daniela schon um 2 Uhr 18 verunglückt ist. Wie soll das denn zusammenhängen?"

"Ja, Chef, daran habe ich mir auch die Zähne ausgebissen. Das klang ja total verrückt, insbesondere, weil die Zeugin behauptete, nicht sie, sondern Daniela selber hätte die Zeit angegeben, als sie nach einem Taxi fragte. Also, wie kann ein Mensch eine knappe Stunde nachdem er zu Tode gekommen ist, noch nach einem Taxi fragen?"

"Sie spannen mich auf die Folter, Frau Kommissarin!"

Sie lächelte, wünschte sich, er läge vor ihr auf einer altmodischen Streckbank. "Die Antwort ist ganz einfach! Sie hatte eine Funkuhr, die ihr die Eltern zum Abitur geschenkt hatten. Die Uhr hatte sich selber um eine Stunde zurückgestellt, weil in der Nacht die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit erfolgte." Sie lächelte ihn an, nicht wenig stolz darauf, wenigstens dieses Rätsel gelöst zu haben.

"Nicht schlecht, Ingeborg. Aber sag mal, diese Barbara, hast du die ausfindig gemacht?"

"Ich bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht ... ja. Ich glaube inzwischen, dass es gar keine Barbara gibt..."

"Aber hier in der Aussage dieser Frau steht doch ganz deutlich: ´... heftiger Streit mit einer anderen Frau, ebenfalls im Dirndl und wohl mit einem Kerl da, und Daniela hatte sie laut und deutlich Barbara genannt...´. Und was soll diese ominöse Aussage: ´...mit einem Kerl da...´?

Ingeborg Wimmer setzte sich hin. Man sollte die Unterwürfigkeit auch nicht zu weit treiben. "Ich habe die Zeugin noch einmal vernommen. Sie sagte, diese Barbara hätte sie gebeten, ihr die auf dem Rücken gefesselten Hände loszumachen, was sie aber nicht getan habe, da dies nur der Kerl wieder tun dürfe, der sie gefesselt hätte."
Sie sah den zweifelnden Gesichtsausdruck ihres Chefs und beeilte sich, diese Unsitte etwas näher zu erklären. "Vergiss nicht, das Ganze stand unter dem Motto >Geile Dirndl Gaudi<. Viel Dirndl, viel geil. Das gibt es wohl schon seit einigen Jahren!"

"Sie ist also mit immer noch gefesselten Händen hinter Daniela her, richtig?"

Wimmer nickte.

"Und hat ihr dann, mit gefesselten Händen, ins Gesicht geschlagen? Gefesselt, womit denn überhaupt?"

"Mit den Schürzenbändern, Chef."

Er knurrte leicht unzufrieden. "Die hat sie doch einfach zerrissen..."

"Ich glaube nicht, dass die sich so leicht zerreißen lassen...", gab sie zu bedenken.

"Wir machen morgen mal einen Selbstversuch! Also, Ingeborg, morgen ist wieder mal Dirndl-time! Ich komme zum Frühstück, okay? Und danach dann wollen wir mal sehen, wie lange du brauchst, dich zu befreien. Und dann müssen wir unbedingt herausfinden, wer diese Barbara ist. Keiner kennt sie! Das gibt es doch gar nicht!
Er blies die Kerze aus, schnappte sich seinen Mantel, und drückte seine Kollegin noch einmal an sich. "Also, bis morgen, ja? Ich hab noch was vor heute Abend..."


Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wieder einmal würde sie den Abend allein verbringen. Vorbei waren auch die Zeiten, an denen sie im Schwabing willige Männer abgeschleppt hatte. Welcher Mann hatte noch Interesse an ihr, wenn er feststellte, dass er bei ihr eine Bruchlandung machte? Sie atmete schwer auf, löschte das Licht im Büro, ordnete ihren eigenen Schreibtisch und machte sich dann auf den Heimweg. Schlösser und Schlüssel hatten sich wieder voneinander entfernt, aber sie wusste, dass beides zusammengehörte.

Kommssarin Wimmer verabschiedete sich vom diensthabenden Beamten, der ihr ein Frohes Fest wünschte. Verdutzt blieb sie stehen. "Wie jetzt, ist es schon so weit?"

"Urlaub, Frau Kollegin", antwortete der Mann mit einem Grinsen, dem man leicht anmerken konnte, wie wohlverdient dieser Urlaub sein mochte. Nein, bis Weihnachten waren es noch einige Wochen, Wochen in denen sie hart würde arbeiten müssen, wollte sie den Fall bald aufgeklärt haben.
Sie nahm den Lift hinunter in die Tiefgarage, ging zu ihrem Wagen und setzte sich hinein. Wie hatte ihr Chef es geschafft, dass diese Keuschheitsdinger in keinem einzigen Bericht auftauchten? Nicht einmal im Bericht der Pathologin? Und kein einziger Angehöriger der jungen Frau hatte um ihre Herausgabe gebeten, fast so, als sei man froh, das Zeug endlich los zu sein?

Und sie selber? Wann würde sie es wieder loswerden? Würde Rick seine Drohung wahrmachen, sie so lange darin herumlaufen zu lassen, bis sie den Fall aufgeklärt hatte? Falls sie nicht schon vorher verrückt wurde? Ihre rechte Hand fuhr unter den flauschigen Stoff ihres Wollpullovers, tastete sich aufwärts bis dahin, wo normalerweise weiche, warme Brüste von einem hübschen BH in Form gehalten und auf eine Berührung warteten, aber diesmal trafen ihre Finger nur ein weiteres Mal auf die stählernen Halbschalen des Keuschheits-BHs, der bisher sehr effektiv jede intime Berührung verhindert hatte. Wie oft hatte sie bereits zu Hause versucht, sich das Teil irgendwie abzustreifen, aber da war rein gar nichts zu machen, ihre Brüste waren einfach zu gut entwickelt, um sich irgendwie unter der Kante hindurchschieben zu lassen.
Vielleicht war gerade dies hier das Schlimmste, das Bewusstsein, mthilfe dieses transportablen ´Brüstegefängnisses´ aller Welt Maße von einem Pornomodell vorzugaukeln, obwohl sie in Wahrheit gar keine Brüste mehr hatte - zumindest keine, die ihr selber noch zugänglich waren. Sie musste sich schwer beherrschen, nicht hier und jetzt in einen Weinkrampf auszubrechen; man konnte nie wissen, wer hier plötzlich vorbeikam. Nein, der eigentliche Keuschheitsgürtel war viel weniger schlimm als dieser BH. Zwar gab es Abende, an denen sie vor lauter aufgestauter Geilheit kaum einschlafen konnte, an denen sie manchmal glaubte, ihre Finger zum Glühen zu bringen, aber nie war auch nur ein Funke dieses Glühens dorthin übergesprungen, wo er ihr etwas Freude bereiten konnte.

Nein, Bruno hatte sie zu gar nichts gezwungen. Im Grunde genommen hatte er ihr nur einen Gefallen getan, als er die Schlüssel und damit die Kontrolle zu ihrem Sexualleben an sich genommen hatte. Sie spürte, dass er damit ein Opfer brachte, denn es war ihr ganz klar, dass Bruno heiß auf sie war. Aber richtigen Sex hatten sie noch nicht miteinander gehabt. Sie hatten sich beide dazu entschlossen, ein ganz anderes Liebesspiel miteinander zu betreiben. Was er davon hatte, wusste sie nicht, aber was sie selber NICHT hatte, das war ihr mittlerweile klar geworden: keinen Sex. Eine ´sexuelle´ Erfahrung, die ihr mehr über ihren Körper gesagt hatte, als ein halbes Dutzend Männerkontakte zuvor. Mit jedem Tag, mit jeder Stunde wuchs eine unerklärliche Zufriedenheit in ihr, ließ sie, von vereinzelten Geilheitsattacken abgesehen, eine innere Ruhe finden, die ihr bis jetzt unbekannt gewesen war.

Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Wagen. Egal, was bei ihren Ermittlungen herauskommen würde, sie würde den Täter nie ermitteln, das war ihr jetzt klar...


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Bald wäre es Weihnachten! Er fror und zitterte am ganzen Leibe. Alles war zerstört. Das Fest der Liebe, aber es war niemand mehr da, der ihn lieben würde. Mit der Großmutter hatte er sich überworfen. Monika war weit weg und würde wohl nie wieder in sein Leben kommen. Und Daniela....
Er hatte es gewusst, im selben Moment hatte er es gewusst, als er sich dafür entschieden hatte, das Weite zu suchen. Sein Verbrechen. Und diesmal konnte er die Schuld nicht auf andere abwälzen.

Die Polizei hatte ihn lange vernommen. Man hatte einen Abdruck seiner Hand genommen, hatte Fragen zu den vielen Kleidern gestellt, die in seiner Wohnung gefunden wurden. Er hatte auf die junge Frau verwiesen, deren Wohnung er nur vorübergehend bewohnte. Und seine Vermieterin, die alte Dame im Erdgeschoss, war für längere Zeit zu Besuch bei ihrem Sohn in Chile. Überwintern im Süden.

Er konnte, er wollte nicht länger hier bleiben. Er musste weg, möglichst bald. Auch wenn er wusste, dass er nicht vor sich selber davonlaufen konnte. Es gab nur noch eine einzige Person, die ihm so etwas wie Sicherheit und Geborgenheit geben konnte, auch als Barbara. Er musste sie finden, er musste sie bald finden. Ein Leben in der Hölle war immer noch besser, als gar kein Leben.


123. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 16.05.13 21:27

Hi Daniela,

fantastische Fortsetzungen, mit so vielen Handlungssträngen, Emotionen und Ereignissen, daß ich sie glatt zweimal lesen mußte - was sich gelohnt hat.

Deine Geschichte ist wirklich ein Geschenk, auch wenn es viel Aufmerksamkeit braucht, um alle Fascetten voll zu durchdringen - was sich aber auszahlt!

Danke an Dich, und ich freue mich schon auf kommenden Sonntag - auch wenn dann das Ende leider erreicht sein wird...

Keusche Grüße
Keuschling
124. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 19.05.13 22:00

Es ist vollbracht! Wir sind am Ende der Trilogie angekommen! Da ich bereits sehr viel unter der Rubrik ´Diskussion zu Stories´ unter dem Stichwort ´München-Trilogie´ geschrieben habe, möchte ich mich hier darauf beschränken, allen ein schönes Pfingsfest zu wünschen und ein letztes Mal viel Vergnügen beim Lesen! Ich danke allen, die sich die Mühe gemacht, mir immer wieder zu schreiben, so ist es auch für mich ein schönes Erlebnis geworden!

Eure Daniela

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Dezember II. Australien

"Merry Christmas!"

Monika drehte sich um, schweißgebadet. Warum nur musste es in diesem Land so verdammt heiß sein? Und wieso feierten sie Weihnachten mitten im Sommer? Nicht genug damit, dass man hier dauernd mit dem Kopf nach unten hing...

"Did you sleep well?" Ein freundliches Gesicht blickte sie an.

Sie zwang sich ein müdes Lächeln ab. "Yes, thank you, dear." War es wirklich schon Weihnachten. Das Fest der Liebe? Ohne es selber zu bemerken, verzog sich ihr Mund zu einem hämischen Grinsen. Ihr Glaube ans Christkind hatte in den letzten Jahren arg gelitten.
Mühsam raffte sie sich auf. Freute sich über die Tasse Tee, die ihr entgegengeboten wurde. Der Tee half ihr, wach zu werden. Erinnerungsbilder tauchten auf.

Daniela! Sie sah ihre Freundin am Ufer der Isar liegen, kalt und leblos, weiß wie der Schnee. Sie hatte mehrere Briefe von Claudia erhalten, war bestens darüber informiert, was passiert war, Auch wenn der Fall noch nicht gänzlich aufgeklärt war, so wusste sie doch, dass sie niemals den schweren Mantel der Schuld von sich würde abstreifen können. Egal, was ihr Vater darüber dachte.
Immer wieder fühlte sie, dass sie eigentlich gar nicht hätte hiersein dürfen. Wieso war sie nicht dort, wo man sie jetzt brauchte? In München? Aber sie verstand auch, dass es dort niemanden gab, der ausgerechnet sie jetzt brauchte. Sie, die alles angefangen hatte, die vor einem Jahr den ersten Anstoß gegeben hatte, einen Anstoß, der jetzt zu jenem fatalen Fall hinab in das Bett der Isar geführt hatte.

Sie verstand nicht, wie falsch dieser Gedanke in Wirklichkeit war. Dass auch sie nur ein kleines Rädchen in einem großen Räderwerk war, einem Kampf um Liebe und Anerkennung, der schon begonnen hatte, als ein notgeiler, junger Mann ihre Großeltern bei einem verherendem Verkehrsunfall aus dem blühenden Leben in den Tod befördert hatte.

Vielleicht war es besser, dass sie hier im fernen Südaustralien war. Sie hatte in den letzten Wochen eine neue Familie gefunden, die Familie ihres Vaters hatte sie von Anfang an liebevoll aufgenommen, hatte ihr einen Platz eingeräumt, der ihr immer frei gehalten worden war, über all die Jahre der Trennung hinweg. Ihr Vater hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er eine Tochter in Germany hatte, einzig der wahre Grund für die Trennung war nur wenigen Mitgliedern der Gemeinde bekannt gewesen; kein Mensch hat Grund, sein Haupt immer wieder neu mit Asche zu bestreuen, das hatte er auch in der Therapie gelernt.

Anfangs des Monats hatte Monika einige dieser lustigen Weihnachtskarten gekauft, die sie Familie und Freunden zu Weihnachten schicken wollte. Wem aber sollte sie die Karte mit den vielen Koalas schicken, wem die mit dem Känguruh im Weihnachtsmannkostüm? Ihrer Mutter? Klaus? Sie hatte mit ihrer Mutter ge-skype-t, hatte aber deren Unwillen, über die Ereignisse zu sprechen, selbt über die weite Entfernung gespürt. Und von Klaus hatte sie noch gar nichts gehört. Hatte Daniela nicht noch vor ihrer Abreise recht deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich ein wenig an Klaus heranmachen wollte? War es noch dazu gekommen? Und wenn ja, hatte Klaus eventuell etwas mit ihrem Tod zu tun?

Sie hatte niemandem geschrieben. Die Menschen, die ihr wirklich etwas bedeuteten, die waren hier, hier unten im sonnigen Australien. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie, wie befreiend es sein konnte, Freundschaft, ohne Facebook als unsicherem Bindeglied, ausleben zu können.

James sah sie fragend an. "What´s the matter? Anything wrong?"

Sie zog ihn zu sich hinab. "Nein," sagte sie, "nein, es ist alles in Ordnung. Danke! Aber ich muss nachher zu meiner Familie rüber, danke." Sie war froh, dass es ihn gab. Fast hätte sie sich verschluckt, als sie ihn nach seinem Nachnamen gefragt hatte. Harriot, hatte er geantwortet, und sie hatte Harriet verstanden. Einen Moment hatte sie an ihrem Verstand gezweifelt, hatte sie ihn in Frauensachen gesehen, aber dann hatte sie diese bizarre Vorstellung von sich abgeschüttelt, hatte sie ihrer Fantasie Einhalt geboten: Schluss, Schluss jetzt! Es musste vorbei sein. Jetzt und für immer!

Bist du lesbisch?, hatte ihr Vater sie gefragt. Nein, sie war es nicht. Aber sie war ganz einfach offen für alle, die ihr etwas Liebe schenkten, ganz egal, ob Mann oder Frau. Und sie war dankbar, wenn sie diese Liebe erwidern konnte.


Daheim, bei ihrer Familie, wie sie die Familie ihres Vaters jetzt ganz offen bezeichnete, fiel es ihr im ersten Moment schwer, die Weihnachtsfreude der Mädchen zu teilen. FOSTERS und Barbeque waren ein seltsamer Ersatz für Glühwein und Stollen. Aber es gab echt deutsches Marzipanbrot, immerhin gab es einen ALDI in Adelaide, und kein Auswanderer mochte daran zweifeln, dass dieser für viele in erster Linie ein kulinarisches Verbindungsglied zur Heimat darstellte.

Monika freute sich riesig über die Geschenke der Kinder, die sie sofort in ihr Herz geschlossen hatten. Nur, immer wieder tauchte dasselbe Bild vor ihren Augen auf, die tote Freundin, leichenblass und vom Wasser der Isar umspült...
Es war zuviel der Liebe und Freude, sie konnte es kaum ertragen, entschuldigte sich und ging zu jener kleinen Bank, oben im Weinberg, der hier ja kaum so genannt werden konnte, wo sie schon am Abend nach ihrer Ankunft gesessen hatte, allein mit ihren schweren Gedanken, bis ihr Vater sie dort gefunden hatte. Und fast so, als hätte er ihre stumme Bitte erhört, so kam er auch heute wieder zu ihr, setzte sich neben sie und wartete ab.

Sie gab einen langen Seufzer von sich, sagte nichts, wusste nicht, was sie sagen sollte, wusste nicht einmal, was sie selber dachte.

"Kommst du gleich mit zum Gottesdienst?" George blickte sie nicht an, sah von ihr weg, wollte sie nicht drängen.

"Das Fest der Liebe," antwortete sie. Und zog die Nase hoch. "Ich...," Sie hob die Schultern und ließ sie kraftlos wieder fallen.

"Ein schönes Fest! Wir sollten dankbar sein, dass wir es haben."

"Ein christliches Fest!"

Er sah sie überrascht an. "Hast du Probleme damit?"

"Ja. Ich kapier´s einfach nicht. Wenn es so schön und so wahr wäre, wieso schlagen sich die Menschen dann ständig die Schädel ein und....", sie stockte, "bringen einander um?"

"Tja..." Er wusste nicht, was er diesem Kind antworten sollte. "Es ist nicht wie eine Medizin, die man einfach einnehmen kann. Weißt du, Jesus...."

"Gottes Sohn! Ha!" Sie hatte all ihren Zweifel in ihre Worte legen können. "Komm mir bloß nicht mit dem Sohn Gottes!"

"Hast du Angst?"

"Angst? Ich wüsste nicht, wovor ich Angst haben sollte. Aber dass dieser Jesus Gottes Sohn ist, das glaubt doch kein Mensch mehr!" Sie überlegte kurz. "Wenn du wüsstest, wie oft ich als Mädchen gebetet habe, er solle mich aus all diesem Unglück befreien! Und erlöse mich von dem Bösen...! Stundenlang habe ich das gebetet, wie ein Mantra!" Ihre Stimme zitterte; sie wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht.

"Ich glaube an ihn."

Monika sah ihren Vater an. Redete er im Ernst? "Dass er der Sohn Gottes ist, und das ganze Zeug da?"

"Nein. Ja."

Sie sah ihn an. "Deine Rede sei ja ja, oder nein nein, das gilt auch für dich, Papa, So steht es zumindest in der Bibel."

Er lachte leise. "Yes, so sorry! Also, nein, ich glaube nicht, dass er der Sohn Gottes ist, zumindest nicht so, wie man es in kindlicher Phantasie vorstellt, aber ich glaube an das ganze Zeug da. An die Befreiung ... an die Vergebung ... an die Erlösung. Ja, daran glaube ich." Er nahm ihre Hand. "Und ich denke, dass du es auch glaubst. Sonst wärst du gar nicht hier."

Sie zog ihre Hand zu sich. "Aber ich kapier das nicht! Wenn es stimmt, was er da von sich gesagt hat: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, wieso gibt es dann diese vielen Konfessionen? Ich kannte einmal einen vom Militär, der sagte, im Grunde genommen steckt hinter allen Kriegen die Religion. Ist das wirklich so? Katholiken gegen Protestanten, und alle gegen die Moslems?"

Herrgott, welch eine Diskussion! George kratzte sich verlegen am Bart. "Vielleicht war es so, vielleicht ist es so, vielleicht wird es so sein. Aber wir dürfen uns nicht irre machen lassen! Wir müssen lernen, die Wahrheit zu begreifen...

"Was ist Wahrheit? Meine? Deine? Oder die der Moslems, der Buddhisten, der Hindus, der Shintoisten, Maoisten, Kommunisten, Kapitalisten? Oder haben am Ende doch die Atheisten recht?"

Das Herz schlug ihm bis zum Halse. Kein Mensch konnte diese Frage beantworten. Dann aber breitete er seine Hände aus, machte eine Geste in die Landschaft hinaus. "Das hier, Moni, das ist Wahrheit. Diese Welt. Sie hat schon existiert, lange bevor irgendwelche Götter in sie hinein kamen. Sie musst du begreifen. Nur durch diese Welt wirst du zu dir selber finden können ... wenn wir Menschen sie nicht vorher kaputt gemacht haben. Weißt du, die Welt wäre sicherlich besser, würden wir Menschen nicht immer behaupten, im Besitz der alleingültigen Wahrheit zu sein. Wenn die Christen aufhören würden, zu behaupten, dass Jesus der Sohn Gottes sei; wenn die Moslems aufhören würden, zu behaupten, ihr Koran stamme direkt vom Erzengel Gabriel ab; wenn die Buddhisten aufhören würden zu behaupten, den Weg ins glückseligmachende Nirvana zu kennen. Es wäre an der Zeit, dass die Menschen sich selber als das erkennen, was sie - im Moment zumindest - sind: die Zerstörer dieser Welt. Dummerweise haben wir keine andere! Wusstest du übrigens, dass es wissenschaftlich erwiesen ist, dass alle heute lebenden Menschen von höchstens zweitausend Menschen abstammen, die vor einigen zehn- oder hunderttausend Jahren überlebt haben? Wir sind alle Brüder, es hat nur noch keiner so richtig bemerkt!"

"...und Schwestern, das hat erst recht noch keiner so richtig bemerkt," fügte Monika hinzu.

"Ja, leider. Da hat die Menschheit noch eine ganze Menge zu tun!" Ihr Vater lächelte, aber er blieb ernst. "Ich weiß, Weihnachten ist ein nerviges Fest. Der ganze Stress, die Erwartungen, die Enttäuschungen. Und hier, in der südlichen Hemisphäre, hier ist sowieso alles verkehrt. Statt Eis und Schnee Kerzen, die am Weihnachtsbaum in der Hitze schmelzen. Und was machen wir dagegen? Gucken uns Weihnachtsfilme an, die irgendwo oben im Norden in winterlicher Pracht spielen...."

"...wie Die Hard, Teil 2," fiel Monika ihrem Vater ins Wort. Und konnte ein lästerndes Lachen nicht unterdrücken.

"Ja, wie Die Hard! Ein gutes Beispiel, Moni. Es illustriert ein Grundproblem: Wir schaffen es nicht, uns nur über das Gute zu freuen. Die Geburt des Friedensfürsten, wie man es so schön sagt. Immer steht das Böse gleich bereit, uns den Spaß zu verderben!"

"Friedensfürst! Wenn ich das schon höre! Nach zweitausend Jahren Christentum sollte die Friedensbotschaft doch endlich einmal angekommen sein!"

"Oh! Sie ist bereits angekommen! Aber du weißt, das Fleisch ist schwach. Hast du noch nie vom sogenannten Weihnachtsfrieden 1914 gehört?"

Monika schüttelte den Kopf. "Erster Weltkrieg?"

"Ja. Damals lagen sich Deutsche und Franzosen in den Schützengräben gegenüber. Ein furchtbares Morden war das! Dann aber war Heiligabend und die Deutschen bastelten ein kleines Christbäumchen, mit Kerzen und so, und stellten es so, dass es von den Engländern und Franzosen auf der anderen Seite gesehen werden konnte. Dann begannen sie, Weihnachtslieder zu singen. Stille Nacht. Und weißt du, was dann geschah? Dann sangen die Tommies ... die Engländer ... plötzlich mit, denn Holy Night, das kannten sie ja auch."

Monika hörte gebannt zu. "Ist das wahr? Aber, der 1. Weltkrieg dauerte doch bis 1918. Lange hat dieser Weihnachtsfriede wohl nicht angehalten?"

Ihr Vater schüttelte etwas traurig den Kopf. "Eine Woche, oder so. Man kam aus den Schützengräben, klopfte sich gegenseitig auf die Schultern, redete über den Wahnsinn des Krieges, qualmte ein paar Zigaretten zusammen und spielte mancherorts sogar Fußball gegeneinander."

"Mancherorts?"

"Ja. Es gab viele ähnliche Ereignisse entlang der gesamten Front. Und die ging immerhin vom Ärmelkanal bis hinunter an die schweizer Grenze."

"Und wieso hat dieser Frieden nicht gehalten? Die Religion allein macht es dann doch wohl nicht, oder?"

"Nein, anders. Das Fußballspielen allein macht es nicht. Es wurden neue Kommandeure an die Front geschickt, die Soldaten wurden schlichtweg gezwungen, wieder aufeinander zu schießen, es war ja Krieg, da ist das Morden ja seltsamerweise legal, solange der Kerl da eine andere Uniform trägt. Man hat schlichtweg eine historische Chance vergehen lassen. Du sollst nicht töten! Hätten die Leute sich an dieses simple Gebot gehalten, wären sie von ihren Feldgeistlichen darin unterstüzt worden, dann wäre dem 20. Jahrhundert sehr viel Leid erspart geblieben. Weißt du, Moni," und jetzt sah er seine Tochter direkt an, "es ist nicht so unbedingt eine Frage des Glaubens, sonder eher eine Frage, wie der Mensch handelt. Ich kenne viele Leute hier, die glauben an rein gar nichts, erst recht nicht an Gott oder Mohammed oder Jesus und Buddha und wie sie alle heißen, aber das sind trotzdem ganz tolle Leute, die über jeden Zweifel erhaben sind."

Monika antwortete nicht. Sie wusste, dass sie im Moment keine Antwort auf all diese Gedanken hatte. Es brauchte Zeit, und Zeit hatte sie nicht.

Ihr Vater rührte sich. "Kommst du mit? Wollen wir gehen? Die anderen würden sich freuen, wenn du mitkommst!" Er stand auf, aber Monika hielt in zurück.

"Warte ... bitte!"

"Da ist noch etwas, oder?" Ihr Vater setzte sich wieder. Die Kirche konnte warten; wichtiger war sein Kind, das neben ihm saß.

"Ach," stöhnte sie leicht auf, "ich könnte ewig hier so sitzenbleiben."

Er nahm sie in den Arm. "Du willst nicht wieder zurück, stimmt´s? Wegen James?"

Monika schüttelte den Kopf. "Nein..." Tränen liefen ihr die Wangen hinab.

"Wegen Pia?" Er hatte es lange geahnt. "Hast du Angst, Moni? Angst vor deiner eigenen Mutter?"

Ihre Tränen flossen schneller, tropften von ihrem Kinn herab. Aber wieder schüttelte sie nur den Kopf.

Und mit einem Mal verstand er, dass alles noch viel komplizierter war. "Moni, damals...," er musste heftig schlucken, "damals als ich mich an dir vergangen habe, da hast du es nicht mit-gemacht, weil du Angst vor mir hattest?" Eine offene Frage. Er wagte es nicht, sie anzusehen. Aber er spürte doch ihr kaum wahrnehmbares Kopfschütteln. "Du hast es gemacht, weil du Angst...," er holte tief Luft, "weil du Angst vor dir selber hattest. Nicht wahr? Vor deinem eigenen Versagen."

Sie ließ den Kopf noch mehr hängen.

"Und jetzt hast du Angst, die bizarren Fantasien deiner Mutter bedienen zu müssen? Keuschheitsgürtel und Kebel und der ganze Mist?"

Sie nickte. Biss sich auf die Lippen. Seufzte laut auf.

Er drückte sie fester an sich. "Ruhig, Kleines! Alles wird gut. Es ist vorbei, glaube mir das."

"Wie kannst du das wissen?"

"Weil ich an dich glaube!"

"Du glaubst an mich?" Sie sah ihren Vater irritiert an.

"Ja. Ich glaube an dich, weil ich glaube, dass du so langsam verstehst, wie das alles geschehen konnte. Weißt du, damals, da hat deine Mutter dich vor mir beschützt, indem sie dir diesen Keuschheitsgürtel anlegte. Nun, ich habe jetzt keinen Keuschheitsgürtel, um dich vor deiner Mutter zu beschützen. Ich kann dir nur helfen, Licht in das Dunkel zu bringen, dass du verstehst, warum du nicht nur von mir, sondern auch von deiner Mutter missbraucht worden bist. Es muss dir klar sein, dass du deiner Mutter gegenüber keine Pflichten hast, dass es da nichts gibt, womit du auch bei ihr versagen könntest. Mit dem gewaltsamen Tod ihrer Eltern muss sie allein klarkommen; es ist nicht deine Aufgabe, hier den Lückenbüßer zu spielen. Verstehst du das?"

Monika antwortete nicht. Ja, sie verstand es, aber sie verstand auch, dass sie immer noch nicht alles verstanden hatte, weil immer noch nicht alles ganz offen auf den Tisch gelegt worden war. Aber wie sollte sie danach fragen, ohne all das gleich wieder zu zerstören, was sich gerade erst so mühsam ans Licht gekämpft hatte? Sie merkte, dass sie immer noch Angst hatte, diesmal jedoch Angst davor, eine alte Wunde wieder aufzureißen. Bei ihrem Vater.
Sie überlegte, wie sie ihn ansprechen sollte. Papa? Daddy??
"Ja, ich verstehe das, ...George. Aber ... aber ich verstehe immer noch nicht alles. Warum..." Sie stockte, kam nicht weiter. Es schnürte ihr den Hals zu. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Gleich würde er den Moment verfluchen, als sie in sein Leben zurückgekehrt war; gleich würde er sie zum Teufel jagen. Sie schaffte es einfach nicht, ihrem Vater die Frage zu stellen, die sie selber sich ständig während der letzten Jahre gestellt hatte.
Sie merkte, wie er neben ihr zusammensackte. Wie vom einen Moment auf den anderen ein mühsam aufgebauter Mensch Risse bekam.
Er sprach stockend. Seine Stimme ließ tieferes inneres Leiden vermuten. "Ich ... ich weiß es nicht, Moni. Bitte glaube mir, ich habe mir diese Frage selber immer und immer wieder gestellt, oh ja, ich habe Psychologen mit der Frage gelöchert und den Himmel auf Knien angefleht, mir endlich eine Antwort zu geben..."
Monika blickte erstaunt auf, hatte sie ihre Frage doch gar nicht zu Ende formuliert.

Er holte tief Luft, sammelte all seine Kräfte. "Du willst wissen, warum ich es getan habe. Dein eigener Vater." Qual entrang sich seiner Kehle, schwang mit in seinen Worten. "Niemand hat es mir sagen können. Du glaubst gar nicht, wieviele Gründe die anderen in der Selbsthilfegruppe vorbrachten." Er zog die Nasenfeuchte hoch, schüttelte den Kopf, aufgebend. "Nein. Nein, ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß es selber nicht. Die einzige Antwort die ich geben kann ist: das Böse. Es war das Böse in mir, Monika." Er zuckte die Schultern, ließ sie hilflos fallen. "Ich habe immer Angst gehabt, dass du mich das eines Tages fragen würdest, und dass ich keine Antwort für dich hätte."

Sie schwiegen sich aus. Monka blickte in die weite Landschaft hinaus. Während ihrer Anwesenheit waren die Trauben sichtlich größer geworden, aber bis zur Ernte würde sie es wohl nicht mehr schaffen. In wenigen Wochen müsste sie zurück nach München.
Sie erinnerte sich an jenen Tag, als sie mit dem Fahrrad von Adelaide aus hier hergekommen war. Ihre Angst davor, diesen Schritt zu tun, ihr Bedürfnis, sich irgendwo festhalten zu können. Plötzlich wandte sie sich ihrem Vater zu. "Glaubst du, dass Gott sich uns offenbaren kann?"

George erschrak. Setzte man deshalb Kinder in die Welt, damit sie eines Tages Fragen stellten, die niemand beantworten kann? Für einen Moment erinnerte es ihn an die Szene in Zurück in die Zukunft, Teil 2, als Marty seinen ´Adoptivvater´ Biff Tannen nach dem Sportalmanach fragte und dieser sich wunderte, dass es ausgerechnet Marty war, der ihm diese Frage stellte. Und hier saß nun sein eigenes Kind neben ihm und stellte ihm die Frage aller Fragen, die der Mensch sich seit Urzeiten immer wieder stellte. Was sollte er antworten? Und wieso fragte sie überhaupt?
"Ja. Ich glaube schon. Er hat sich uns allen in Jesus offenbart..."

"Nein, nein! Das meine ich nicht. Nicht immer dieser Jesus!", begehrte Monika auf. "Ich meine, offenbart er sich uns, so ganz persönlich... wie... wie... Keine Ahnung, wie. Vielleicht ja wie ein brennender Dornbusch?" Sie klang wieder verzagt.

George lachte. "Tut mir leid, Moni. Mit brennenden Dornbüschen kenne ich mich nicht so aus. Aber hier in Australien haben wir jedes Jahr mit dem brennenden Busch zu tun, und zwar mehr als genug. Es wundert mich direkt, dass es bis jetzt ruhig geblieben ist."

Sie ließ sich nicht vom Thema abbringen. "Du glaubst es also nicht?" Ihre Stimme verhieß Resignation.

"Ich weiß es nicht." Kurz und knapp. "Moni, und wenn ich es glaubte, was würde es dir helfen? Du musst es selber glauben, oder nicht. Nur du allein kannst für dich wissen, was Wahrheit ist. Wieso fragst du eigentlich?"

Ich bin der Rebstock..., kam es ihr wieder in den Sinn. Sie hatte es gehört. Und es lief ihr eiskalt den Rücken runter. "Nichts, Papa. Komm, lass uns gehen. Die Anderen werden schon auf uns warten! Komm, lass uns Weihnachten feiern... und froh und munter sein!"



Dezember III. München

Ingeborg Wimmer hatte keine Ahnung, was sich gleichzeitig auf der anderen Seite der Welt abspielte, Monikas Name war nur ein einziges Mal ganz am Rande ihrer Ermittlungen aufgetaucht; eine uninteressante Randfigur, die in Australien ihren Vater besuchte.

Sie war, wie bereits befürchtet, mit ihrer Suche nach dem Täter/der Täterin keinen Schritt weitergekommen. Gewissenhaft hatte sie das Personenumfeld der jungen Frau abgesucht, aber dieses war äußert überschaubar, war schnell abgearbeitet und hatte zu keinem neuen Ermittlungsansatz geführt. Lange Zeit vedächtig blieb der junge Mann, bei dem man ihren Koffer gefunden hatte, nebst einiger Dinge, die ganz ohne Zweifel zu diesem Keuschheitsgürtel gehörten, aber man hatte einen Abdruck seiner Hand genommen und ihn somit ganz klar von der Liste der Verdächtigen streichen können.
Vollkommen unauffindbar blieb jene mysteriöse Barbara. Niemand schien sie zu kennen. Man hatte nach Beschreibung der beiden Garderobefrauen ein Phantombild anfertigen lassen, hatte dieses an alle Einheiten verteilt, hatte diverse Jugendtreffs aufgesucht und die Gäste befragt, aber niemand erinnerte sich, niemand kannte sie. Konnte man in einer Stadt wie München so mir nichts dir nichts verschwinden? Ja, man konnte! Es war ja gar nicht gesagt, dass sie überhaupt aus München stammte. Sie konnte aus Freising stammen, aus Rosenheim, aus Ingolstadt, sogar aus Österreich. Auch die ominöse Sache mit den langen Kratzern hatte zu keinem Ergebnis geführt. Womöglich hatte es sie einfach irgendwo gejuckt, wenn sie überhaupt noch ganz bei Sinnen war. Niemand hatte irgendeinen logische Erklärung für die Kratzer beisteuern können; der Fall blieb ein ungelöstes Rätsel.

Sie hatte versagt. Ein Versagen, das sie deutlich spürte, seit einigen Wochen jetzt, und das deutlicher, als ihr lieb sein konnte. ´Der Rick´, ihr Chef, hatte seine Drohung wahr gemacht. Wenn der Fall gelöst ist, wollte er sie aufschließen. Und zu Weihnachten wollte er das ´nette Teil´ an ihr ausprobieren, wie er gesagt hatte. Sie hatte den Fall nicht gelöst, und jetzt war Weihnachten!

Sie setzte sich in aller Unbescheidenheit in die zweite Reihe der kleinen Kirche. Wimmer hatte lange überlegt, ob sie, wie in den Jahren davor, zur Mitternachtsmette in die Frauenkirche gehen sollte, aber beim Blick auf den Stadtplan war ihr jene kleine, alte Kirche Sankt Peter und Paul aufgefallen, und sis beschloss ganz spontan, dort hinzugehen.

Eine heimelige, gemütliche Atmosphäre empfing sie; hier war es doch schöner, als im kalten Weiß des großen Domes. Der Priester hatte einen Diakon dabei, vier Messdienerinnen waren für den Dienst am Altar vorgesehen. Recht erstaunlich war, dass die kleine Kirche gut gefüllt war; woher kamen all diese Gläubigen, die man sonst nie sah?
Es fiel ihr schwer, sich auf die Liturgie zu konzentrieren. Als die Messdienerinnen während der Gabenbereitung am Altar niederknieten, gingen ihr seltsame Gedanken durch den Kopf.


´Knie dich hin!´, hatte Bruno das letzte Mal zu ihr gesagt. Und sie hatte bereits gelernt, dass es nicht gut für sie war, Fragen zu stellen. Sie hatte es einmal gemacht, und wenige Minuten später war er gegangen, hatte er sie zurückgelassen, in ihrer Scham, ohne ihr die erhoffte Liebe zu schenken. Sie hatte sich selber befreien müssen, hatte die vor ihre Füße geworfenen Schlüssel mit den nackten Füßen aufheben und zu ihren gefesselten Händen bringen müssen, wollte sie nicht noch mehrere Stunden gefesselt am Pranger stehen. Und nein, er hatte sie nicht aufgeschlossen, hatte sie weiter ihr transportables Gefängnis tragen lassen, aus dem sie nicht ausbrechen konnte, weil sie nicht die Kraft, nicht einmal den Willen dazu hatte.

Kommissarin Wimmer horchte auf, als in den Fürbitten auch des an Ostern verstorbenen Pastors Flemming gedacht wurde. Flemming? Sie hatte den Namen schon einmal gehört, aber in welchem Zusammenhang? Wieder blieb ihr Auge an einer der Messdienerinnen hängen. Machte sie hier freiwillig mit? Oder hatte es den Druck der Familie gegeben, hatte man sie irgendwie dazu gezwungen, Messe zu dienen? Sie schloss die Augen, die Bilder überlagerten sich, sie sah sich selber, als Messdienerin verkleidet, hier in der Kirche niederknien; ´der Rick´ stand am Altar, die Hände zum Segen erhoben, oder zum Fluch? ER war der Hohepriester, ER das Zentrum der Macht. Und sie seine Dienerin. Eine Frau, der es trotz Polizeiausbildung, trotz hundert Jahren Frauenbefreiung, nicht gelingen wollte, sich selbst zu befreien.

Sie setzte sich zurück in die Bank, kaute wie immer verlegen auf dem Leib Christi herum, fragte sich seit gefühlten vierzig Jahren, was es mit dieser ganzen Sache auf sich haben mochte, denn wenn das hier der Leib des Herrn war, dann war das ziemlich fad.
Auf der harten Holzbank spürte sie deutlich den unbequemen Schrittreifen ihres Keuschheitsgürtels. Kein Mensch hatte danach gefragt; niemand hatte ihn zurückhaben wollen, niemand dieses Folterwerkzeug vermisst. Ihr Herz begann zu hämmern, als sie sich erinnerte, was in ihrer Wohnung auf sie wartete: dieser monströse Phallus ... morgen...

Ingeborg Wimmer schüttelte sich. Solche Gedanken! Hier, während der Christmette! Sie wusste nichts von alldem, was bereits hier in dieser kleinen, alten Kirche passiert war, hatte keine Ahnung davon, wie der Zufall sie ausgerechnet an diesen Ort geführt hatte. Und während die Gemeindemitglieder um sie herum das Schlusslied anstimmten, während ein lautes Oh du fröhliche! den jetzt nach Weihrauch duftenden Kirchraum erfüllte, ohne ihn verlassen zu können, da gingen ihre Gedanken schon wieder an den kommenden Tag, wenn er ihr befahl, sich niederzuknien, wenn er ihr jenes Teil einführte und mit dem Keuschheitsgürtel sicherte, und wenn er zu den Knöpfen der Fernbedienung griff...




Januar I. Australien

"You are coming back to me?" James sah sie mit fragenden Augen an.

Monika begegnete seinem Blick. Ja, sie hatte seine Frage sehr gut verstanden: ...to me, hatte er gesagt, zu mir. Ein breites Lächeln umspielte ihre Lippen, ein Lächeln das sich hoch bis zu ihren Augen erstreckte. "No worries, mate!", sagte sie und zwinkerte ihm zu.

Sie hatten sich gefunden. Hier unten, tief im australischen Busch, wie mancher meinen mochte, denn es war ja kein Busch, keine Wildnis, sondern ein von Menschenhand kultivierter Weinberg. Ihren Vater hatte sie gesucht, eine neue Familie hatte sie gefunden - und einen lover, der vielleicht einmal der Mann fürs Leben werden konnte. Man würde sehen.

Und sie hatte sich selbst gefunden. Endlich. Niemals wäre ihr das gelungen, hätte sie nicht diese Reise unternommen. Sie war nicht mehr das arme Kind von nebenan, das seine Großeltern bei einem tragischen Unfall verloren hatte, einem Unfall, unter dem die Mutter so sehr gelitten hatte; sie war nicht mehr das kleine Mädchen, das erst vom Vater, dann von der Mutter benutzt wurde, um Wärme zu geben, um Liebe zu geben, welche es selber nicht hatte; und sie war nicht mehr die alte Lesbe, als die viele sie sehen wollten, weil es so modern war, immer gleich andere mit dem Wort schwul oder lesbisch abzustempeln, nur weil diese die Liebe dort fanden, wo das Schicksal sie hatte gedeihen lassen.

Selten hatte sie ein Abschied von einem Menschen so sehr geschmerzt, wie jetzt, da sie James auf Wiedersehen sagen musste. Er hatte sie im Auto zurückgebracht zu ihrer Familie, sie hatten sich ein letztes Mal umarmt, ein letztes Mal geküsst, dann war sie ausgestiegen und er war mit feucht schimmernden Augen davongefahren und sie hatte seinem Pickup hinterhergeblickt, bis kein Wagen mehr zu sehen war, nur noch eine hoch aufsteigende Staubfahne, die sich auf das Band legte, das zwischen ihnen gewachsen war. Endlich verstand sie, dass sie für diese Liebe wirklich alles tun würde, niemand sollte ihr in die Quere kommen, niemand ihr Glück zerstören.


Monika verbrachte das ganze Wochenende bei ihrem Vater, seiner netten Frau und den beiden Mädchen. Alle waren sehr bemüht um sie, alle schienen ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Und sie wusste, ja, sie würde wieder zurückkommen, denn hier war ihr Zuhause jetzt; alles andere war ein abgeschlossenes Kapitel.
Ein Paradies war es nicht. Vor einigen Wochen hatte es begonnen, zu brennen, riesige Landflächen wurden ein Raub der Flammen. Sogar auf Tasmanien brannten ganze Ortschaften ab. Aber niemand war dabei ums Leben gekommen; Häuser konnten wieder aufgebaut werden; zerstörte Leben nicht. Auch für sie galt dies, auch sie hatte ihr Leben gerettet, hatte hier ein neues Haus aufbauen können, und sie hatte es sich angewöhnt, der Stimme zu antworten, auch wenn es jeden Abend vor dem Schlafengehen nur ein kurzes Danke für diesen Tag war.

Es war Abend geworden. Man hatte einen wunderschönen Sommertag zusammen verbracht; jetzt hatten alle ein wenig mit sich selber zu tun. Monika überlegte, was sie noch tun könnte, aber sie hatte alles gepackt, was sie mitnehmen wollte; viel war es eh nicht. Morgen in aller Herrgottsfrühe würde ihr Vater sie zum Flughafen nach Adelaide bringen, dann folgte ein ewig langer Rückflug ins kalte München.
Sie würde nicht dort bleiben. Ihr Vater hatte sie gefragt, ob sie gern in Australien bleiben möchte, und sie hatte ohne zu zögern mit ja geantwortet. Woraufhin George sich an die Behörden gewandt hatte, Erkundigungen einzuziehen. Family reunification, Familienzusammenführung, war das Zauberwort. Es würde auf sie viel Papierarbeit zukommen, es würde seine Zeit dauern, auf jeden Fall müsste sie erst einmal wieder in die Heimat fliegen, und dort dann ihre Anträge bei der Australischen Botschaft stellen. Man war sich sicher, dass sie eine positive Antwort bekommen würde.

Die Dämmerung war hereingebrochen. Monika hatte sich ins Wohnzimmer zurückgezogen. Draußen schrie wieder der Lachende Hans. Langsam ließ sie ihre Hände über das ungeordnete Bücherregal ihres Vaters schweifen. Oft genug hatte sie hier das eine oder andere Buch gefunden, auch jetzt zog sie eins hervor, aber sie hatte nicht mehr die Muße, es aufzuschlagen, sondern schob es sogleich zurück ins Regal.

Nanu? Es ließ sich nicht ganz hineinschieben; irgendetwas war im Weg. Sie bückte sich, drückte die angrenzenden Bücher zur Seite und fasste mit der Hand in das entstehende Loch. Und zog ein kleines Taschenbuch hervor.
Es war ein dünnes Buch der dtv-Reihe, dem man sein Alter bereits ansehen konnte. Das Titelbild, im Kritzelstil der 60er Jahre, zeigte die Köpfe sieben älterer Herren, die an einem Tisch saßen; vor sich eine Kiste mit Zigarren, eine Flasche mit mehreren Gläsern und einen sehr großen Topf mit einer rötlichen Flüssigkeit, in welche es von einem undefinierbaren Klumpen über dem Gefäß langsam hineintropfte.
Monika schmunzelte, als sie den Titel las; ja, die Geschichte war ihr bestens bekannt. Sie schlug das Buch auf und las die Widmung, die jemand für ihren Vater hineingeschrieben hatte: ´Für meinen Schorsch, in inniger Liebe, für immer Dein!´ Darunter befand sich ein stilisiertes Herzchen, in dessen Inneres die schnörkeligen Buchstaben G&G geschrieben waren.

G&G? Sie überlegte. George und.... Ihre Mutter hieß Pia. Ihre Mutter konnte es nicht sein. Sie erinnerte sich an die Tage nach Ostern, als sie mit malädiertem Hinterteil im Krankenhaus gelegen und Besuch von Agnes, der lieben Nachbarin, bekommen hatte. Was hatte diese gesagt? "Ja, sie hatte ihn ja immer bayrisch Schorsch genannt. Sie hatten sich als Nachbarn kennen gelernt, hatten oft hinten zusammen am Zaun gestanden."
Annegret? Richtig, sie wollte ja immer Gretl genannt werden! Also George und Gretl, G&G!
Und sie erinnerte sich auch daran, dass Agnes gemeint hatte, sie selber sei letztendlich Schuld daran, dass diese Liebe in die Brüche gegangen war, wenn auch auf Umwegen. Liebe?? Es lief ihr kalt den Rücken runter, als sie erkannte, was in Wahrheit falsch gelaufen war. Noch einmal las sie die kurze Widmung: mein... dein. Dieser fatale Besitzanspruch! Hatte es etwas mit Liebe zu tun, wenn man einen anderen Menschen derart besitzen wollte? Sicherlich nicht. Aber hatte nicht sie selber, vor wenigen Stunden erst, noch ähnlich gedacht? Niemand sollte ihr in die Quere kommen, ihr Liebesglück mit James zerstören! Wahrscheinlich hatte Annegret aus dem gleichen, niederen Beweggrund heraus gehandelt, als sie, das Kind, ihr in die Quere gekommen war.
Monika atmete tief durch. Manchmal musste man die halbe Welt umrunden um die verborgenen Falltüren des Lebens aufzudecken! Nein, sie würde anders handeln, würde niemals einen anderen Menschen besitzen wollen, sie wollte nicht, dass ihre neugewonnene Liebe einen anderen Menschen zerstörte.

Sie blätterte das dünne Büchlein im Schnellgang durch, las dann noch einmal, weil sie sich nicht richtig erinnerte, den Schluss der Geschichte. Oh ja, das stimmte, was Heinrich Spoerl hier geschrieben hatte, alles stimmte und ließ sich problemlos auch auf ihr Leben, ihre Geschichte übertragen, man brauchte nur das Wort Feuerzangenbowle mit Keuschheitsgürtel auszutauschen, dann stimmte es haargenau.


Monika stellte das Taschenbuch zurück ins Regal. Draußen war es dunkel geworden. Sie ging hinaus, betrachtete zum vorerst letzten Mal den prächtigen Sternenhimmel. Schritte näherten sich; ihr Vater kam und stellte sich hinter sie, legte seine Arme schützend um ihren Körper.
Monika kämpfte gegen Bilder an, die sie nicht loslassen wollten. ´Du wirst mir heut die Treppe wischen!´, und ´...den Knebel nehme ich dir ab, wenn du deine Arbeit verrichtet hast!´ Jener Abend, als sie bei Klaus´ Großmutter noch hatte saubermachen müssen. Das kleine Kabuff oben auf dem Dachboden hatte sie dabei entdeckt, hatte anhand der vielen Bilder besser verstanden, was in Klaus vorging. Und hatte da oben nicht auch ein astronomisches Fernrohr gestanden?

"Du hast sie geliebt?" Es war aus ihr herausgebrochen, obwohl sie eigentlich nicht fragen wollte.

"Ja, ich habe sie geliebt." Sein Griff wurde etwas fester. Seltsamerweise fragte er aber nicht, wen Monika meinte. "Ja, Moni, ich habe sie geliebt. Ist es nicht das Beste, was ein Mensch tun kann? Einen anderen Menschen zu lieben?"

Sie spürte, dass er den Kopf zurückbog.

"Siehst du da oben die vier hellen Sterne, die dicht zusammenstehen, ein etwas schwächerer ist noch dazwischen? Das ist das Kreuz des Südens. Das kleinste Sternbild am gesamten Himmel. Ist es wirklich ein Kreuz? Natürlich nicht. Sie sind alle ganz unterschiedlich weit von uns entfernt, der ganz oben ist von den vieren mit 220 Lichtjahren am nächsten, der ganz rechts mit 590 Lichtjahren am weitesten. Nur wir können sie als Kreuz wahrnehmen, nur wir Menschen. Seefahrern hat es lange den Weg gewiesen, denn es gibt hier unten, am südlichen Himmel, keinen Polarstern. Aber es ist nicht ganz einfach, man muss die mittlere Achse nehmen und mehrmals verlängern, dann hat man genau Süden. Und direkt unter dem Kreuz...", er lachte, "direkt darunter ist ein weiteres kleines Sternbild, Musca, die Maus. Sie knabbert beständig am Kreuz..." Sein Lachen wurde lauter. Er drückte sie an sich, fester jetzt. "Danke, dass du gekommen bist! Danke danke danke!!!"


Epilog

Es war kalter, eisiger Winter, als Monika wieder in München landete. Eine ungewisse Zeit lag vor ihr, auch wenn sie die weiteren Schritte mit ihrem Vater bereits gut besprochen hatte.
Monika wohnte wieder daheim, bei ihrer Mutter, die sich freute, sie nach so vielen Monaten gesund wiederzusehen. Pia zeigte Interesse für all das, was in Australien geschehen war, blockierte aber jegliches Gespräch über die traurigen Vorgänge in München während Monikas Abwesenheit. Auch machte die Mutter keinerlei Versuch, sich der Tochter gegenüber in irgendeiner Weise wieder so dominant zu verhalten, wie es vor ihrer Abreise geschehen war.

Gleich an einem der ersten Abende suchte Monika das kleine Haus auf, in welchem Klaus, bzw. Barbara, seit einem kanppen Jahr wohnte. Vielleicht würde Klaus/Barbara ja endlich etwas Licht in Danielas traurigen Tod bringen können? Aber nicht Klaus öffnete ihr die Tür, sondern Sofie, ihre ehemalige Komilitonin, die ihrerseits erst vor wenigen Tagen von ihrem Auslandsjahr in den USA wieder nach Hause gekommen war. Ja, die Vermieterin hatte ihr von Barbara, jener netten jungen Frau, erzählt, und sie selber hatte sogar einen großen Pralinenkasten und einen netten Brief vorgefunden, aber mehr wisse sie auch nicht. Monika bat darum den Brief einmal lesen zu dürfen, aber es war eigentlich nur eine nette Grußkarte, Barbara schrieb, sie dankte für die schöne Zeit in Sofies gemütlicher Dachwohnung, aber sie wolle jetzt für eine längere Zeit München verlassen. Sofie fügte hinzu, sie habe die Wohnung aufgeräumt und sehr sauber vorgefunden, nur über einen kleinen Schlüssel, den sie zufällig unter einem Blumentopf gefunden habe, hätte sie sich gewundert. Ob Monika eventuell etwas damit anfangen könne? Monika nahm den Schlüssel an sich und versprach, ihn Klaus, äh, Barbara zu geben, sollte sie sie bei Gelegenheit wiedertreffen.

Es blieb der Gang, der ihr am schwersten fallen wollte. Hinüber zu Agnes, Danielas Tante. Auch ihre Mutter hatte seit Wochen keinen Kontakt mehr zu ihrer langjährigen Freundin gehabt, der Tod eines Menschen kann selbst alte Freundschaften auseinanderreißen. Auch von Claudia hatte sie in ihrer ersten Woche noch nichts gehört, was aber an ihr selber liegen mochte, denn sie war in den letzten Wochen nicht mehr dazu gekommen, ihrer Freundin von all dem Guten in Australien zu berichten, geschweige denn von ihrer baldigen Heimreise nach München.

Agnes öffnete ihr, nachdem sie lange geklingelt hatte. Sie sah alt und grau aus, starrte Monika einen entsetzlich langen Moment an, als könne sie sich nicht erinnern, diese braungebrannte, strahlende junge Frau jemals gesehen zu haben, dann aber breitete sie ihre Arme aus und zog sie an sich.
Agnes freute sich sehr über den Besuch, insbesondere als sie hörte, wie gut es Monika in Australien gegangen war, ging diese Reise doch in erster Linie auf ihren eigenen Vorschlag zurück, Monika solle einmal ihren Vater aufsuchen.
Viel Neues konnte leider auch Agnes Jensen nicht zum Tode ihrer Nichte beitragen. Monika erkundigte sich nach dem Stand der polizeilichen Ermittlungen, bekam aber nur ein Schulterzucken als Antwort, nichts Genaues wisse man nicht. Die Polizei habe Zeugen befragt, habe das persönliche Umfeld von Daniela erkundet, man fahnde immer noch nach einem Mädchen namens Barbara, sei aber wohl nicht richtig weitergekommen. Inzwischen aber sei man davon überzeugt, dass es sich wohl um einen tragischen Unfall handele, wenn auch ein höchst seltsamer. Man würde dranbleiben, wolle den Fall so schnell wie möglich aufklären, aber das sei keine Garantie dafür, dass es auch wirklich schnell gelänge. Danielas Leiche sei nach Köln überführt worden, der Familie ginge es noch schlechter, als ihr selber.
"Und Claudia?", wollte Monika wissen. Claudia habe es sehr schwer getroffen, berichtete Agnes. Gleich nach Neujahr habe sie sich auf den Weg nach Indien gemacht, zu irgendeinem Guru, irgendso einem Ashram, oder wie das heißt, sie wisse schon, Räucherstäbchen von morgens bis abends und immer wieder om mani padme hum und Schellenklang...
Dann berichtete Agnes, dass sie Anfang des Jahres Annegret, die Großmutter von Klaus, im Pflegeheim besucht hätte. Monika war bereits aufgefallen, dass es im Nachbarhaus, auf der anderen Gartenseite, immer dunkel blieb, hatte sich aber keinen Reim darauf machen können. Ja, so berichtete Agnes, Annegret habe noch vor dem ersten Advent einen Schlaganfall erlitten, man habe die alte Frau sofort in ein Pflegeheim eingewiesen. Es ginge ihr jetzt wieder so halbwegs, aber an eine Rückkehr ins eigene Haus sei wohl nicht mehr zu denken. Insbesondere jetzt, wo auch Klaus nicht mehr da war. Annegret habe ihr gesagt, der Bub sei mit einer Freundin namens Andrea nach Italien gefahren, wahrscheinlich wolle er etwas näher bei der Mutter sein, aber genau wisse sie das auch nicht. Monika hätte beinahe ihren Wein verschüttet, als sie das hörte. Das waren ja mal interessante Nachrichten! Aber sie ließ sich nichts anmerken; Klaus, oder Barbara, war ein abgeschlossenes Kapitel für sie.

Es war klar, dass Monika in den kommenden Wochen nicht in München bleiben konnte, oder wollte. Durch Vermittlung ihres Vaters bekam sie einen Job bei einem fränkischen Weingut. Auch wenn es zu Beginn noch nicht unbedingt die Jahreszeit für den Weinbau war, so bekam sie hier dennoch einen hervorragenden Einstieg in die Kunst, nein, nicht Wasser zu Wein, aber immerhin Rebsaft zu Wein werden zu lassen. Und es gab immer etwas zu tun. Bald schon begann die Zeit, wo im Weinberg gearbeitet werden musste, eine Arbeit, die ihr leicht von der Hand ging und ihr gut gefiel.
So vergingen die Monate fast wie im Fluge. Immer wieder besuchte sie ihre Mutter in München, das Verhältnis war, wenn auch nicht gerade perfekt, so doch ohne weitere Spannungen; allein, eine gewisse Distanz blieb.
Ende des Sommers erhielt Monika Bescheid von der australischen Botschaft, dass ihr Antrag auf Familienzusammenführung angenommen sei und sie nun ihren Wohnsitz nach Australien verlegen dürfe. Sie erlebte noch schöne Spätsommertage am Main, arbeitete bei der Weinlese mit und verabschiedete sich dann von ihrem Arbeitgeber, bei dem sie so vieles gelernt hatte, was ihr für ihr zukünftiges Leben nützlich sein würde.

Doch bevor sie endgültig München und damit die Heimat verließ, machte sie noch einen Abstecher nach Köln, wo sie Danielas Grab aufsuchte. Sie hatte niemandem von diesem Besuch erzählt, stand nun da und rang nach Worten, Worten, die tief in ihr steckten, aber einfach nicht hervorkommen wollten. Aus ihrer Tasche entnahm sie einen roten Sandstein, den sie aus Australien mitgebracht hatte, drückte diesen Stein in stummer Geste gegen ihre Lippen, legte ihn dann auf das Grab ihrer Freundin.

Zurück in München drängte es sie am Abend vor ihrer Abreise noch ein letztes Mal hinüber zur Nachbarin. Auch Agnes ging es ganz offensichtlich wieder besser; der Mensch lernt es, sich mit Schicksalsschlägen abzufinden. Sie berichtete von ihrer Zeit am Main, sah aber keinen Anlass, von ihrem Besuch an Danielas Grab zu sprechen.
Aber sie spürte, dass ihr eine ganz andere Frage auf der Seele lag. Etwas, wovon sie bisher niemandem berichtet hatte. Agnes war womöglich die Einzige, die ihr eine Antwort geben konnte.
Die beiden Frauen, jung und alt, saßen bei einem gemütlichen Schoppen Wein beisammen. Monika berichtete davon, wie es gewesen war, als sie vor einem Dreivierteljahr sich mit dem Fahrrad von Adelaide aus auf den Weg zu ihrem Vater gemacht hatte. Es war das erste Mal, dass sie davon erzählte, bisher hatte sich niemand dafür interessiert.
"Ich wäre fast wieder umgekehrt, nur wenige Meter vor dem Ziel. Plötzlich konnte ich einfach nicht mehr, es gab kein vor und kein zurück..." Sie legte eine Pause ein, kam auch in ihrer Erzählung nicht vorwärts.

Agnes legte ihre Hand auf Monikas Hand. "Aber dann bist du doch weitergefahren, oder? Wie hast du es geschafft, Moni?"

Daniela blickte auf, sah ihr direkt in die Augen. "Ich habe eine Stimme gehört...."

Agnes entgegnete dem Blick, lächelte sie liebevoll an.

"Eine Stimme, Agnes. Laut und deutlich. Auf Deutsch. Ich bin der Rebstock!, hatte diese Stimme gesagt. Dann...." Sie kam nicht weiter. Tränen quollen ihr aus den Augen.

"...dann war alles anders, nicht wahr?", nahm Agnes den Satz wieder auf.

Monika nickte nur. "Agnes, war das ... war das ´Gott´? Oder wenigstens Jesus"

Agnes antwortete nicht. Sie lächelte sie weiter liebevoll an, aber es war ein ernsthaftes Lächeln jetzt. "Ach mein Kind... Nein, weißt du, diese Frage kann ich dir nicht beantworten. Niemand kann das. Ich weiß nur, dass du nicht ´wenigstens Jesus´ sagen kannst."

Monika verstand es nicht sofort. Sie gab sich nicht zufrieden mit der Antwort. "Agnes, können wir ... Gott erkennen?"

Agnes schüttelte den Kopf. Ihr Züge wurden ernster. "Ich habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht, Moni. Nein, ich glaube es nicht. Nur Gott selber kann das, nur er weiß, wer er ist, was er ist, wo er ist, wie er ist und wann er ist. Und sollte es oben im Himmel von Engeln nur so wimmeln, auch sie könnten Gott nicht in ganzer Größe erkennen." Sie blickte hinüber zu Monika, die plötzlich einen traurigen Gesichtsausdruck angenommen hatte. "Sei nicht traurig, Moni. Es obliegt uns nicht, die Frage nach Gott zu stellen. Es gibt etwas ganz anderes, das wir erkennen können, und das ist wichtiger und besser, als alles andere."

Monika schaute sie fragend an.

"Uns selbst, Monika. Wir können nur uns selbst erkennen, wer wir sind, wie wir sind, und warum wir so sind, wie wir sind. Du hast einen wichtigen Schritt gemacht, aber, glaube mir, du bist noch lange nicht am Ende des Weges angekommen! Halte fest an dem, was du erkannt hast, aber hinterfrage es ständig. Zögere nicht, Schritte hinein in neues, unbekanntes Terrain zu machen. Aber vergiss eines nicht...", ihr Mund wurde immer breiter, sie begann leise zu lachen, "gehe nie mit den Händen in der Hosentasche! Halte sie immer so, dass andere dich auffangen können, wenn du stolperst, denn der Weg ist lang und uneben und früher oder später kommt jeder von uns ins Stolpern! Ja, versprichst du mir das??"

Monika stand auf und zog die gute Nachbarin an sich. Ja, das versprach sie, denn es konnte ja auch sein, dass sie selber andere würde auffangen müssen! Andere, die genauso wie sie durchs Leben stolperten, auf der ewigen Suche nach Liebe und Wahrheit...


:´´(
125. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 21.05.13 21:34

Liebe Daniela!
Jetzt, wo wir am Ende der Trilogie stehen, jetzt kann ich Dir nur danken. Es war großartig, wie Du uns über drei Winter hindurch mit der besten Story die ich je im Netz gelesen habe, verwöhnt hast!
Euer Maximilian
126. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Zwerglein am 23.05.13 01:09

Danke für diese super Story.

Ich habe mir mal die Mühe gemacht, und festgestellt, das die ganze Story ÜBER 125000 Wörter enthält.

Das ist also schon keine Story mehr sondern schon ein Roman bzw. ein größeres Taschenbuch mit fast 300 Seiten.

Wenn man jetzt noch bedenkt wie lange Du an diesem Werk gesessen bist, biss das Konzept auch veröffentlicht werden konnte!!!

Nur schade das wir jetzt nicht mehr erfahren, wie es mit der Kommissarin Ingeborg Wimmer weitergeht.

Liebe Daniela 20 zum schluss nochmals meinen herzlichen DANK.

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Gruß vom Zwerglein

127. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Keuschling am 23.05.13 21:28

Liebe Daniela,

ein sehr starker und tiefgründiger Abschluß, den Du hier lieferst. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, worauf ich mich die kommenden Sonntag-Abende freuen soll.

Wie im wahren Leben gibt es einiges, was ungeklärt bleibt - und das Leben geht weiter, zumindest für die, die überlebt haben. Aber vielleicht setzt Du ja noch einen drauf, und machst eine Quadrilogie aus dieser Geschichte - ich würde mich freuen.

Auf jeden Fall meinen herzlichsten Dank für so viele unterhaltsame und auch inspirierende Stunden, die ich mit Deiner Geschichte verbringen durfte.

Dir alles herzlich Gute, und keusche Grüße
Keuschling
128. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von maximilian24 am 29.05.13 22:12

Liebe Daniela!
Ich bin überzeugt, dass Du gar nicht abschätzen kannst, wie oft ich (und sicherlich viele Deiner Leser) immer wieder an Deinen Roman zurück denken müssen. Selten ein Text, der so vielfältige Interessen berührt.
Heute zum Beispiel habe ich mich spontan an jene Schwester Hildegard in Köln erinnert. Sie wurde ja förmlich infisziert, wie sie sich da als Chefin der Messdienerinnen entwickelt hat. Ich frage mich, wie sie vom weiteren Schicksal Danielas berührt wurde? Was muss passieren, dass man auf so einem Weg umkehrt? Oder konnte sie gar nicht umkehren? Gute Vorsätze?

Euer Maximilian, der jedem Leser empfiehlt, die ganze Trilogie durch zu lesen.
129. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Toree am 01.06.13 00:43

Hallo Daniela,
erst einmal Danke für diese tolle Geschichte.
Leider bleiben viele Fragen ungeklärt, wie schon die Schreiben vor mir feststellen mussten.
1. Was geschied mit Frau Wimmer am Heiligenabend?
- Der Fall scheint ja nicht bis dahin aufgeklärt zusein.
- Und wie geht es mit den zwei weiter?
2. Bei Klaus / Babara wurde eine Hausdurchsuchung gemacht.
- Was war der Grund? (Oder habe ich da was überlesen)
3. Wenn schon nicht für die Kriminalisten, hättest du doch uns lesern mitteilen können, wer die Täterin war, und woran war Daniela schuld

Viele offene Fragen, die du Beantworten könntest. Vielleicht in der Geschichte Agonie II
130. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 15.06.13 17:36

Liebe Leser!

Dies ist keine Fortsetzung der Geschichte. Ich möchte nur meine drei Teile der München-Trilogie ein wenig zusammenführen.
Mir geht es gut. Ich wünsche allen Lesern weiterhin gute Spannung beim Lesen meiner Geschichte!

Eure Daniela 20
131. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 22.12.14 17:14

Liebe Leser meiner langen Geschichten!

Nein, leider gibt es immer noch keine richtige Fortsetzung! Ich muss gestehen, es gibt einen Anfang von Teil 4 unter dem Titel "Schuld", aber ich hänge seit Jahren fest, finde nicht mehr die Ruhe und den inneren Drang zum Schreiben. Obwohl ich durchaus spüre, dass es da noch etwas gibt, was ich gern loswerden möchte.

So möchte ich nun wenigstens meine drei Teile hier wieder einmal zusammenfügen. Es kann sein, dass es immer noch Leser, neue wie alte, gibt, die noch nicht alles gelesen haben.

Euch allen wünsche ich von Herzen ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gesundes neues Jahr 2015!

Eure Daniela 20
132. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Lederhosenfreund am 23.12.14 09:35

Dir auch ein schönes Weihnachstsfest und guten Rutsch
133. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 01.03.16 15:43

Ich möchte meine drei Geschichten wieder nach vorne bringen. Ein letzter Teil ist in Vorbereitung, man wird ihn besser verstehen können, wenn man die ganze Geschichte kennt. Näheres lese man bitte unter der Rubrik Diskussion über Stories: München-Trilogie. Daniela 20
134. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 23.10.16 18:38

Bald geht es los mit Teil 4!!
135. RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust")

geschrieben von Daniela 20 am 13.11.17 13:39

13.11.2017

Liebe Leser! In wenigen Wochen werde ich hier im Forum den fünften und

abschließenden 'Band' meiner München-Trilogie vorstellen - was diese somit zu einer

Pentalogie macht.

Wie immer wird es den Winter hindurch jeden Sonntagabend um 22 Uhr ein neues

Kapitel geben. Meine Begründung für diesen Termin ist einfach: Macht Euch erst ein

schönes Wochenende! Kümmert Euch um Familie und Freunde, gern auch etwas um

ein gemütliches Zuhause. Und zum Schluss dann gibt es von mir ein wenig zur

'geistigen Erbauung'.... hihi.

Teil 5 unter dem Titel "Versöhnung" setzt, zum besseren Verständnis, die Kenntnis der

ersten vier Teile voraus. (Zuspätgekommene werden bei mir nicht vom Leben bestraft!)

Klar, lesen kann man den neuen Teil auch ohne Vorkenntnis, aber besser ist es schon,

wenn man weiß, warum alles so kommt, wie es kommen musste.

Um es dem Leser einfacher zu machen, möchte ich nun hier die Teile "Herbstferien"

(1.Teil), "Frust" (2.Teil), "Agonie" (3.Teil) und "Schuld" (4.Teil) ein wenig nach vorne

bringen.

Wenn Ihr Meinungen oder Kritik habt, schreibt sie bitte nicht hier, sondern in der

Rubrik 'Diskussion über Stories', unter der Überschrift 'München-Trilogie'!

Herzlichen Dank und bis bald!

Eure Daniela 20


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