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eröffnet von Daniela 20 am 26.11.17 22:00
letzter Beitrag von MartinII am 22.10.20 17:26

1. Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 26.11.17 22:00

Liebe Leser! Es ist so weit. Hiermit möchte ich nun den fünften und wirklich letzten Teil meiner München-Trilogie im Forum veröffentlichen. Wie man sieht, es wurden bereits zwei Teile mehr, als ich selber gedacht hatte. Weswegen wir von einer Pentalogie sprechen müssen.

Wie üblich werde ich mich bemühen, die Fortsetzungen immer an einem Sonntagabend um 22 Uhr hochzuladen; an Heiligabend wahrscheinlich nicht, da wollen wir doch mal an etwas anderes denken. Aber zeitnah werde ich es machen, wenn ich daran denke.

Freuen werde ich mich als Autorin über kurze, nette Kommentare. Natürlich möchte ich wissen, wie diese Geschichte bei Euch ankommt. Ich weiß, sie fordert dem Leser einiges ab. Wirklich verstehen kann man sie nur, wenn man sich die Mühe macht, die ersten vier Teile vorher zu lesen: "Herbstferien", "Frust", "Agonie" und "Schuld". Und noch einmal der Hinweis: wer hier, bei mir, den schnellen Kick sucht, möge sich besser anderswo bedienen.

Es ist in Ordnung, wenn jemand heftige Kritik üben möchte. Aber tut das bitte nicht hier, direkt in der Geschichte - Ihr könntet anderen das Lesevergnügen nehmen. Für Kritik ist Platz in der Rubrik 'Diskussion über Stories' --> Die München-Trilogie.

Jetzt wünsche ich allen Lesern viel Vernügen und einen langen Atem....

Eure Daniela 20





Prolog

"Du hast WAS?? Du hast uns WO angemeldet?? Ich soll.....??" Der Gedanke kam Ingeborg so verrückt, so lächerlich, so bizarr vor, dass sie die Frage nicht eimal aussprechen konnte. "Nein, Klaus! Ohne mich! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich bei so einem Kinderkram wirklich mitmache?" Sie legte eine Kunstpause ein, erinnerte sich an die Gedanken, die ihr genau zu diesem Thema vor gar nicht allzu langer Zeit selbst durch den Kopf gegangen waren. Nein, nie im Leben. Dann aber wurde sie sich einer seltsamen Spannung, einer inneren Unruhe bewusst. Ihre Hand fuhr unbewusst über ihre Brust, wieder war es nur der harte Stahl des Keuschheits-BHs, den sie spürte, und obwohl sie genau wusste, dass sie auch weiter unten nichts spüren würde, legte sie trotzdem ihre Hand auf ihre verschlossene Scham.

Klaus hatte ihre Reaktion genau beobachtet, sich aber ruhig verhalten. Nur der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen, doch seine Augen lächelten nicht mit. Der Blick war matt, nach innen gekehrt, wie seit längerer Zeit schon.

Die junge Kriminalbeamtin, seit längerer Zeit mit Klaus eng befreundet, wiederholte ihre Frage. "Klaus, du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich da mitmache? Du konntest doch nicht einfach unsere Namen da aufschreiben! Ingeborg Wimmer und Klaus Behrend. Wir sind doch viel zu alt für diesen Scheiß! Und gibt es da nicht eine Altersbegrenzung?"

Jetzt reagierte er. "Nein, es gibt keine Altersbegrenzung. Erwachsene können das auch machen. Und außerdem habe ich meinen Namen da nicht hingeschrieben."

"Aber sagtest du denn nicht eben, du hättest uns beide angemeldet?"

Er lächelte. "Ich habe Barbara angemeldet! Und ich glaube schon, dass du mitmachen wirst." Er griff in seine Hosentasche, kramte etwas herum, zog dann ein kleines Schlüsselbund hervor und klimperte damit herum. Nächste Woche geht es schon los! Wir bekommen zwei Wochen Schnelltraining. Wir waren die einzigen, die sich gemeldet haben, und die Not ist groß. Glaube mir, der Pfarrer war heilfroh wegen der Anmeldung. Und mach dir keinen Kopf wegen Barbara. Gott sind alle willkommen, besonders diejenigen, die freiwillig dienen wollen!"

Freiwillig? Von freiwillig und wollen konnte gar keine Rede sein, dachte Ingeborg. Auf einmal sah sie sich selber vor dem Altar knien. Eine bescheidene Dienerin. Nein, dachte sie, bescheiden war falsch. Eine keusche Dienerin, das wäre besser. Zusammen mit Barbara. Zwei keusche Messdienerinnen! Das war das beste!



München, Januar

Es war anders. Nicht mehr so, wie zuvor. Komplizierter irgendwie. Was ihm lange wie ein Spiel vorgekommen war, eine Art lustiger Zeitvertreib, oder auch eine Rückzugsmöglichkeit, wenn die Sorgen des Alltags zu groß wurden, jetzt kam es ihm vor wie eine schwere, eiserne Kugel, die das Schicksal an sein Bein gekettet hatte.

Es fröstelte ihn. Klaus stand oben auf der Luitpoldbrücke und schaute in die schwarzen Fluten der Isar hinab. Du musst nur springen, dann bist du deine Probleme los! Es ist ganz einfach...., was willst du dich noch weiter quälen?? Er schloss die Augen; Bilder liefen vor seinem Inneren ab, wie ein Film. Wie ein Horrorfilm, dachte Klaus. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Daniela hier in hohem Bogen über die steinerne Brüstung geflogen war, weil dieses junge Mädchen aus Frankfurt all ihre lange aufgestaute Wut in einen furchtbaren Schlag gelegt hatte, der, so muss es wohl gewesen sein, sie einfach unglücklich getroffen hatte. Mordabsicht würde man ihr nicht unterstellen können.
Wie anders aber verhielt es sich mit der fast identischen Nachfolgetat? Es war erst wenige Wochen her, seit er hier, an genau dieser Stelle, im letzten Augenblick hatte dazwischengehen können. Er hatte die Waffe gesehen, die genau auf die Brust der Kommissarin zielte, einen Augenblick später hätte es Mord und Totschlag gegeben, wäre er nicht beherzt dazwischen gesprungen.

Ein kalter Wind blies unter seinen Rock; er hätte sich doch besser zwei Strumpfhosen anziehen sollen, dachte er. Oder besser gleich eine dicke Hose. Aber Hosen mochte Barbara nicht. Wer aber trug bei solch einer Witterung überhaupt einen Rock? Vielleicht die eine oder andere Frau, dachte er. Frauen, die im Büro arbeiteten, die ihren Wagen bequem in der Tiefgarage abstellen konnten, die kaum je mitbekamen, dass es Winter war. Männer? Nein, Männer eher nicht. Männer trugen keine Röcke.

Wo genau mag sie gelegen haben, fragte er sich. Er hatte Daniela nie gesehen, hatte ihren Lebenskampf nicht miterlebt, hatte sich feige aus dem Staub gemacht. Oh ja, er trug Mitschuld an ihrem Tod. Aber niemand hatte ihn angeklagt, niemand außer ihm selbst. Und er hatte lange schon das Urteil gefällt, mit dem er würde leben müssen: mitschuldig zu sein am Tode seiner damaligen Freundin. Eine Strafe, die nie gebüßt werden sollte, eine Zukunft ohne wirkliche Aussicht auf Versöhnung.

Barbara! Wieder glaubte er die schwere Fußfessel zu spüren. Unsicher knickte er auf seinen hohen Schuhen um, lange hatte er keine mehr getragen, aber Barbara besaß keine flachen Latschen, ich ziehe doch keine flachen Schuhe zum Rock an, hatte sie gesagt, wie sieht das denn aus??
Sie war nicht sofort tot gewesen, hatte die Obduktion erbracht. Daniela war nicht in die Fluten gestürzt, sondern knapp links davon auf einen steinernen Brückenpfeiler aufgeschlagen, hatte sich mehrere Knochenbrüche zugezogen und war schließlich ihren inneren Verletzungen erlegen. Ob sie noch einmal zu Bewusstsein gekommen war, oder nicht, war nicht zu sagen gewesen. Einzig einige Kratzer an ihrem Bein ließen diese Vermutung zu.

Nun mach schon! Oder willst du ewig diese Schuld mit dir herumtragen? Komm, es ist ganz einfach..., du wirst es gar nicht merken.....

Für einen Moment nahm der Verkehr auf der Brücke wieder zu. Klaus blickte hinüber zum Friedensengel, der, angeleuchtet, vor dem Hintergrund des dunklen Nachthimmels über allem zu schweben schien. Frieden, dachte er, wo finde ich endlich Frieden? Unten, im schwarzen Wasser? Oder oben, bei dir? Er schloss die Augen, beugte sich weiter über die Brüstung der Brücke. Lag sie noch dort unten? Wartete sie auf ihn? Er spürte den Sog der Tiefe, schwarze Schatten, die nach ihm griffen. Wogen, die ihm zuflüsterten.... komm her... komm her.... komm zu mir.... ich warte auf dich....

Klaus richtete sich auf. Nein, Daniela wartete nicht auf ihn. Wohl aber Gertrud, die ältere Schwester seiner vor wenigen Wochen verstorbenen Großmutter. Gertrud hatte ihm den Schlüssel geliefert, sie hatte ihm endlich Klarheit darüber geben können, was Schreckliches passiert war, als er noch ein kleines Kind war. Und sie hatte ihm von den Anfängen von Barbara berichten können. Jetzt lag es einzig an ihm, Schlüssel und Schloss zusammenzubringen. Er hatte es versucht, hatte einige Wochen von Barbara nichts mehr wissen wollen, von ihre vielen Klamotten, von Keuschheitsgürteln und -BHs, dann aber war sie plötzlich wieder da, ließ sich nicht mehr abweisen, nicht mehr aussperren. Willst du mich nicht mehr?, hatte sie geflüstert, brauchst du mich nicht mehr, deine gute Barbara? Und er hatte sie wieder zurück gelassen in sein Leben, war vor ihr in die Knie gegangen, hatte sich alten Gewohnheiten hingegeben, wieder den Rausch der fließenden Stoffe erlebt, wieder die Sicherheit ihrer stählernen Unterwäsche.

Und jetzt stand er hier und dachte über das Ende nach. Das endgültige Ende. Oder seine endlose Schuld.


% % %

Ingeborg Wimmer stand vor ihrem Spiegel und sah doch nicht hin. Sie schloss die Augen, blickte sofort wieder in den Lauf der Waffe, die auf sie gerichtet war, sah den eiskalten Killerblick in den Augen der jungen Frau, die vor ihr stand und deren Finger sich um den Abzug krümmte. Im Gerangel hatte sie ihre eigene Dienstwaffe verloren, die sie vorsichtshalber unter den Beinabschluss ihrer engen Miederhose geschoben hatte, ein Griff unter den weiten Rock ihres Dirndls hätte genügt, aber ihre Hände waren auf dem Rücken mit den Bändern ihrer Dirndlschürze gefesselt und sie hatte nicht die Kraft aufgebracht, sich zu befreien. Dann hatte sie einen lauten Schrei gehört, einen schwarzen Schatten gesehen, der von irgendwo her angeflogen kam und der jungen Frau die Waffe aus der Hand schlug, dann war sie bewusstlos zusammengebrochen. Klaus hatte sie gerettet, im allerletzten Moment.

Keine zwei Monate waren seitdem vergangen. Nein, so etwas steckt man nicht einfach weg, dachte sie. Für solche Ereignisse ist der Mensch einfach nicht eingerichtet. Es gab genug Fälle von im Dienst angegriffenen Kollegen, die nach weit weniger gefährlichen Situationen nicht mehr arbeiten konnten. Hunderte von guten Polizeibeamten wurden selber Opfer von Gewalt, Schlafstörungen waren da die mildesten Probleme; so mancher musste früher oder später aus dem Dienst ausscheiden. Woher kam bloß all diese Gewalt, fragte sie sich?

Sie hatte in den letzten Monaten ein gutes Vertrauensverhältnis zu Klaus aufbauen können, dafür war sie mehr als dankbar. Der Altersunterschied von knappen acht Jahren spielte im Moment keine große Rolle, die gemeinsam durchlebte Schreckensnacht hatte ihre Freundschaft noch verfestigt. Sie wusste, dass es in ihrem Falle wohl schon mehr als nur Freundschaft war. Was sie aber nicht wusste, war, ob sie Klaus oder Barbara liebte.
Sie hatte lange gebraucht, bis sie es richtig verstanden hatte. Nein, Klaus war wohl mehr als bloß so eine drag queen, oder wie sich das nannte. Auch der seltsame Ausdruck eines Transvestiten schien auf ihn nicht zuzutreffen. Ganz zu schweigen von angeblicher Persönlichkeitsspaltung, falls es so etwas überhaupt gab. Klaus war ein ganz normaler junger Mensch. Und Barbara war ebenfalls ein ganz normaler junger Mensch. Nur halt eben so, dass Klaus kein normaler Mann und Barbara keine normale Frau war.

Was war denn heutzutage überhaupt noch normal? Und wer hatte das Recht, Normen zu erstellen? Schubkästen, in die Menschen einsortiert werden konnten? Und wie konnte es sein, dass die Gesellschaft einerseits vom Unnormalen angezogen wurde, es aber gleichzeitig fürchtete, wie der Teufel das Weihwasser? Sie fragte sich, welche Gesellschaft eigentlich lebenswerter sei. Ein wilder Haufen von lauter spannenden oder spinnenden Individualisten, oder eine gleichgeschaltete, uniformierte Masse? Und gab es nicht schon wieder hirnlose Schreihälse, die genau jenes propagierten, als einzige Rettung eines bedrohten Vaterlandes? Welcher dämonische Trieb brachte Menschen immer wieder dazu, die eigene Individualität zu leugnen und sich statt dessen in der grauen Masse einzuordnen, eigene Vollkommenheit in der Selbstunterdrückung zu suchen?

Der Gedanke an das Weihwasser ließ sie abschweifen. Sie hatte sich furchtbar aufgeregt, als Klaus ihr von der blödsinnigen Idee mit dem Messedienen erzählt hatte. Nie im Leben würde sie so einen Unfug mitmachen! Und Klaus Drohung, sie einfach nicht mehr aus ihrem Keuschheitsgürtel und dem lästigen -BH herauszulassen, hatte sie auch nicht wirklich beeindruckt. Sie hatten keine SM-Beziehung, bis jetzt war eigentlich alles nur eine Art erweitertes Spiel gewesen. Und richtig, bereits zwei Tage später hatte er sie wieder befreit, als sie ihre Tage bekommen hatte. Keuschheitsgürtel konnten lustig sein, wenn man viel Sex im Kopf hatte und richtig angetörnt war, sonst aber waren sie eher nur ein nerviges Übel. Der Reiz des Eingeschlossenseins nutzte sich schneller ab, als so mancher Phantast glauben mochte.

Sie zögerte, wusste nicht recht, was sie heute anziehen sollte. Sie hatte Spätschicht, etwas Besonderes lag nicht an, der übliche Alltag wartete auf sie. Das hieß, Akten unaufgeklärter Fälle aus dem Archiv zusammensuchen, diese in ihr gammeliges Büro zu schleppen, und dann diese noch einmal nachzulesen und auf eine eventuell neue Sachlage auszuwerten. Und gerne bevor die Fälle verjährten. Sie brauchte sich also nicht wirklich schick zu machen.
Ein schneller Blick aus dem Fenster und auf ihr Handy verhießen nichts Gutes. Es war kalt und der Wind war frisch. Ekeliges Januarwetter halt. Also Hose. Am besten Strumpfhose und Hose!
Ingeborg öffnete die Schublade mit ihrer Unterwäsche. Ach ja, das Weihnachtsgeschenk von Klaus! Er hatte ihr ein hübsches, weißes Hosenkorselett geschenkt, etwas verschämt, aber sie hatten schon öfters über Wäsche und Korsetts gesprochen, und, nun ja, für ein richtiges Korsett fehle ihm leider das Geld, da müsse man auch vorher Maß nehmen. Aber so ein Hosenkorselett sei doch auch eine schöne Sache. Und schön warm, hatte er lachend hinzugefügt. Ja, hübsch war es ja anzuschauen, aber getragen hatte sie es bis jetzt nur einmal ganz kurz, nur um ihm einen Gefallen zu tun. Ihre Welt war das nicht. Irgendwie eng und unbequem, dachte sie.

Ihre Finger glitten suchend über den glatten Stoff. Er fühlte sich kühl an. Sie zog das Korselett hervor, berührte ihren nackten Körper damit. Augenblicklich reagierten ihre Brustwarzen. Sie schloss erneut die Augen, schaffte es diesmal, das Bild von der drohenden Kanone zu verscheuchen. Ihre Hand glitt in ihre Scham. Sie verstand es nicht: wieso konnte ein simples Stück Stoff solch eine Reaktion hervorrufen?
Neu war dies nicht. Auch als sie im letzten Sommer ab und zu ihr Dirndl getragen hatte, hatte es ähnliche Gefühle gegeben. Gefühle, die sehr sanft unter ihren Fingerkuppen entstanden, ihren Arm emporkrochen und seltsamerweise häufig den Weg hin zu sexueller Stimulanz fanden.
Ingeborg fand einen sauberen Slip, zog darüber eine feste schwarze Strumpfhose an und schlüpfte dann, auf der Bettkante sitzend, mit beiden Beinen zugleich in das Korselett. Leicht ließ es sich über der Strumpfhose hochziehen. Wieder kam dieses seltsame Gefühl auf, unter Strom zu stehen. Ihr Becken machte kleine Probleme, dann spürte sie, wie sich der feste Stoff um ihre Taille legte. Sie schob die breiten Träger über ihre Arme, zog alles weiter hoch, legte gekonnt ihre Brüste in die festen Cups.
Ihr Spiegelbild lächelte sie zufrieden an. Wenn es bloß nicht so unbequem wäre! Sie überlegte, ob sie nicht besser zur Arbeit etwas anderes anziehen sollte. Niemand hatte schließlich was davon, dass sie in diesem engen Ding steckte. Sie würde es bestimmt gleich wieder ausziehen... es sei denn....

Zwei Wochen! Zwei Wochen, dachte sie, hatte sie ihren Keuschheitsgürtel nicht mehr getragen. Hatte sie ihn das letzte Mal wenigstens ordentlich gereinigt in den Schrank gelegt? Sie öffnete die Schranktür, holte den stabilen Karton hervor, der alles enthielt. War der schwer!
Als sie ihn öffnete sah sie gleich das Malheur! Ja, sie hatte ihn gereinigt, aber Klaus hatte damals nur die beiden Schlösser am BH und am Taillenreifen geöffnet; er war in Eile gewesen und hatte keine Zeit. Jetzt hing alles immer noch zusammen! Mist!
Ihre Hände glitten über den kalten, polierten Stahl und die breiten Ketten, die alles verbanden. Wieder spürte sie dieses Prickeln, das sie durchwogte. Ihr Atem ging schneller, als sie ihre Beine vorsichtig in die breiten Schenkelbänder schob. Der Schrittreifen legte sich wie eine schützende Hand über ihren Venushügel und die tieferen Teile. Es war nicht ganz einfach, die Schulterkette des BHs über ihren Kopf zu bekommen, aber irgendwie klappt es beim vierten Versuch; sie konnte nun die Halbschalen von hinten über ihre Brüste ziehen. Ihre Brustwarzen standen steil hervor, so als wüssten sie, dass sie gleich hinter stählernen Cups verschlossen würden.

Ingeborg Wimmer suchte die beiden Schlösschen aus dem Karton hervor, nestelte das eine an die Befestigung zwischen ihren Brüsten, dann das andere an ihren Taillenreifen, was einfacher ging. Sie versuchte, tief durchzuatmen, aber der Brustreifen des BHs ließ das nicht zu. Sie würde wieder etwas flacher atmen müssen. Ihre Hände spielten mit den beiden Schlössern. Wenn sie sie zudrückte, würde sie das Korselett nicht mehr ausziehen können. Sie dachte nicht darüber nach, wie schwierig es werden könnte, wenn sie auf die Toilette musste. Sie dachte eigentlich nie richtig nach, wenn sie so weit war, wie jetzt. Sie wusste nur, dass sie die Schlösser jetzt zudrücken musste. Nur so wäre es richtig. Egal, wie falsch alles eigentlich war.

Ingeborg wachte auf, als sie das leise Klicken der Schlösser hörte. Sie hatte sich im Griff, hatte es gelernt, eine unmittelbare Paniksituation zu vermeiden, wusste sie doch, dass alles Gezerre und Gejammere nicht wirklich halfen. Schließlich waren es Schlösser, die sich mit einem Schlüssel wieder aufschleßen ließen. Ihre Hand zuckte dennoch zu ihren Brüsten, dann in ihre Scham, aber sie hatte sich jede Möglichkeit der Stimulierung genommen. Dummerweise auch die Möglichkeit, eine Hose anzuziehen! Also doch wieder Rock! Ein Glück, dass sie die Möglichkeit hatte, in der Tiefgarage des Präsidiums zu parken. Warm war es dort zwar auch nicht, aber wenigstens windgeschützt.

Sie sah auf die Uhr. Etwas Zeit hatte sie noch. Sie zog sich fertig an, dann nahm sie ihr Handy und schrieb Klaus eine kurze SMS: >Komme heute Abend! Kuss!< Klaus hatte die Schlüssel. Er musste sie heute Abend einfach wieder herauslassen!!


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Klaus hatte sein Handy ausgeschaltet. Warum hätte er es auch ständig eingeschaltet lassen sollen? Es gab kaum Leute, die Umgang mit ihm hatten. Er drehte die Heizung in der Küche etwas höher, das alte Haus war geräumig, aber leider schlecht isoliert. Und die alte Ölheizung war wohl auch nicht mehr auf dem Stand der Technik. Immerhin, Großmutters Haus bot ihm eine gute Bleibe. Er korrigierte sich. Sein Haus, musste es jetzt heißen. Er hatte es geerbt. Seine Großmutter hatte ein schlichtes Testament hinterlassen aus dem hervorging, dass er als Alleinerbe eingesetzt war. Was auch immer dies zu bedeuten hatte.

Für den Moment bedeutete es, ein Dach über dem Kopf zu haben. Aber Häuser kosten Geld für den Unterhalt, und viel Geld hatte er leider nicht geerbt. Früher oder später würde er vermieten müssen, vielleicht ein oder zwei Zimmer an Studenten; man würde sehen. Jetzt wärmte er sich mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen auf.
Wie häufig in letzter Zeit kreisten seine Gedanken um die Geschehnisse des letzten Jahres. Die hoffnungslosen Monate seiner Gefangenschaft bei Andrea in Rom. Seine Flucht. Seine Jagd auf Pater Ruprecht, der ihn als Schüler misbraucht hatte. Und natürlich das Zusammentreffen mit Ingeborg. Weitere Namen und Bilder tauchten in seiner Erinnerung auf. Daniela, die nette Abiturientin aus Köln, die Opfer einer Gewalttat wurde, die niemand hatte vorhersehen können. Monika, die ihre sadistischen Spielchen an ihm ausgelassen hatte. Ihre Mutter Pia, die selber schon als Kind Opfer wurde, als ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, verursacht durch einen jungen Mann, der sich selbst und sein Fahrzeug nicht mehr unter Kontrolle gehabt hatte. Seine Oma Annegret und deren Schwester Gertrud. Auch sie waren schon als Kinder von schlimmen Ereignissen geprägt worden, als sie erst die Naziherrschaft und dann den Zusammenbruch erleben mussten. Sein eigener Vater, der die Ängste seines Vaters geerbt und seine Schwester mishandelt hatte. Nicht viel besser war jener alte Pfarrer gewesen, der glaubte, Monika zwecks Buße quälen zu müssen und schließlich in der Kirche einem Herzinfarkt erlag. Es war ein Wunder, dass Monika das damals überlebt hatte.
Er grübelte. Noch jemand war gestorben. Aber wer? Er versuchte, sich an ein Gesicht zu erinnern, aber es gelang nicht. Egal. Es würde ihm schon wieder einfallen!
Evelyn! Ja, Evelyn gab es ja auch noch! Die nette Rettungssanitäterin, die er kennen gelernt hatte, als er damals seine Oma mit gebrochenem Bein unten im Keller gefunden hatte und die dann mit dem Rettungswagen gekommen war. Evelyn war sicherlich, neben Ingeborg, der wichtigste Mensch. Mit einigem Schauder dachte er an jenen schneereichen Dezembertag zurück, als es ihm gelungen war, seinen frühern Lehrer zu überführen. Die im Turm angebrachten Überwachungskameras hatten nichts gebracht, erst auf einem der Fotos, die Evelyn mit ihrer Kamera gemacht hatte, war er eindeutig zu identifizieren gewesen!

Aber Evelyn war mehr, als nur eine Sanitäterin. Sie war zu einem wichtigen Ratgeber und Wegweiser geworden. Sie hatte angefangen, sich auch um sein Seelenheil zu kümmern. An jenem Tag hatte sie ihm unerwegs einen langen Vortrag gehalten, was sein weiteres Leben betraf. Klaus hörte auf zu kauen. Was hatte sie doch gleich gesagt? Ein Schlüsselwort? Ach, das war ja wieder einmal typisch! Er erinnerte sich daran, dass sie von einem Schlüsselwort gesprochen hatte, aber an das Wort selber erinnerte er sich nicht! Vielleicht sollte er sie einmal anrufen? Lange hatte er nichts von ihr gehört, Weihnachten und der Jahreswechsel, hatte sie gesagt, da gäbe es immer viel zu tun, die Leute sind besoffen oder spielen mit Feuerwerkskörpern herum und sprengen sich die Hände kaputt, und bei mieser Witterung, bei Glatteis, da stürzten die Leute reihenweise, weil niemand mehr die Bürgersteige sauber hält beziehungsweise streut.

Klaus schaltete sein Handy ein. Ein leichtes Summen bestätigte ihm den Empfang einer SMS. Er öffnete die App, ah, Ingeborg wollte ihn abends sehen, sehr schön, da würde es nicht langweilig werden!!

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Ingeborg Wimmer war genervt. Trockenes Aktenstudium war nie ihre Stärke gewesen. Selten nur gab es dank technischer Neuentwicklungen die Möglichkeit, Fälle nach Jahren noch aufzulösen. Dementsprechend war auch ihre Erfolgsquote sehr bescheiden.
Obendrein war es eine eher eintönige Arbeit. Der berufliche Umgang mit Kollegen fehlte. Sie arbeitete für sich allein, Gesprächspartner war Kollege Computer. Was manchmal auch sein Gutes hatte. Ihr ehemaliger Vorgesetzter, Hauptkommissar Bruno Rick - gern 'derRick' genannt, hatte sie mit dieser Arbeit beauftragt, weil es ihr, ausgestattet mit Keuschheitsgürtel und Schenkelbändern, unmöglich geworden wäre, auf normale Verbrecherjagd zu gehen.

Sie hatte zu wenig getrunken. Ingeborg hatte Angst, ihre Blase nicht mehr unter Kontrolle zu haben, und genau das wäre jetzt ausgesprochen schlecht, denn sie trug ihren Keuschheitsgürtel über Slip, Strumpfhose und Korselett. Ließe sie es laufen, dann gäbe es eine ziemliche Sauerei. Mit etwas Glück konnte sie es bis zum Feierabend aushalten. Und dann, wenn sie bei Klaus wie gewohnt parken konnte, dann könnte sie sich bei ihm erleichtern. Er würde sie aufschließen.
Zum wiederholten Male klappte sie ihr Handy auf. Immer noch keine SMS von Klaus! Wahrscheinlich hatte er sein Handy wieder ausgeschaltet! Sie sah auf die Uhr: noch eine Stunde bis Feierabend! Würde sie es noch so lange aushalten? Und würde er sie denn wirklich aufschließen? Sie merkte, wie genau diese Frage ihren müden Körper wieder belebte. Sie legte ihre Hand in ihren Schoß, aber der straff sitzende Rock ließ sie nicht einmal den Schrittreifen ihres Keuschheitsgürtels spüren. Ihre Hand glitt aufwärts, unter ihren Pullover, sie ertastete den festen, glatten Stoff des Korseletts, sie begann, ein wenig heftiger zu atmen. Weiter oben stießen ihre Finger an die stählernen Halbschalen ihres BHs, den sie ebenfalls über dem Korselett trug. Sie spürte ein leichtes Ziehen in den Brustwarzen, es verstärkte sich sogar, aber im Moment war jede Berührung ausgeschlossen.

Sie versuchte, sich wieder auf ihr Arbeit zu konzentrieren. Es war still auf den Fluren. Nachts im Museum? Nein, natürlich nicht. Aber nachts in der Löwengrube war im Augenblick nicht viel besser. Sie erinnerte sich an eine der besten Fernsehserien der letzten Jahre, ebenfalls mit dem Titel "Löwengrube". Da wurde die Arbeit in Münchens Polizeiinspektion während der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts thematisiert! Immer noch lief es ihr kalt den Rücken runter, wenn sie an die Stelle dachte, als die SS die Polizei übernahm... dieser fiese Nazi... Sie werden sich an eine schärfere Gangart gewöhnen müssen! Ekelhaft, absolut ekelhaft! Konnte es denn wirklich wieder Leute geben, die sich solche Zeiten zurückwünschten?

Eine halbe Stunde später hielt sie es nicht mehr aus. Ihr Mund war trocken, ihre Augen tränten vom künstlichen Licht. Und ihre Blase würde nicht mehr lange mitmachen! Sie klappte die Aktendeckel zu und fuhr ihren Computer herunter. Egal, sie hatte Gleitzeit, konnte es sich selber einteilen. Sie sah auf die Uhr. Genau hatte sie Klaus nicht geschrieben, wann sie kommen würde. Aber das sollte nicht das große Problem sein. Der Feierabendverkehr würde schon vorbei sein, meistens schaffte sie es in knappen zwanzig Minuten.
Sie packte ihren wenigen Kram zusammen, schnappte sich ihren Mantel, nein, es war kein Kollege mehr da, dem sie einen schönen Feierabend hätte wünschen können. Dann ging sie zum Fahrstuhl, stempelte elektronisch aus und fuhr hinunter in die Tiefgarage.

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Was sollte er anziehen?? Klaus wusste, dass Ingeborg einen Narren an Barbara gefressen hatte. Auch wenn er es nicht so ganz verstand. Sie hatte öfters enttäuscht ausgesehen, wenn er in Jeans bei ihr ankam, hatte es ihn sogleich mit spürbarer Distanz wissen lassen: Nein, Klaus interessiert mich nicht so sehr! Ich möchte Barbara bei mir haben!

Er seufzte. Warum musste es denn so kompliziert sein? War er denn als Barbara so viel attraktiver als als Klaus? Er griff zu einem Dirndl, hielt es sich prüfend vor den Körper. Normalerweise hätte es genügt, eine komplizierte Handlungskette in Gang zu setzen, aber nichts geschah. Es ist abgeschaltet, dachte er. Und wieder hörte er Gertruds Stimme, wie sie ihm gesagt hatte, du hattest ihre Sachen entdeckt! Ja, wenn du die Sachen deiner Schwester anzogst, dann wurdest du gleich ruhiger!
Es war der lang gesuchte Schlüssel zu der Frage gewesen, warum in Gottes Namen er immer wieder das Verlangen verspürte, seine weibliche Seite auszuleben. Lange hatte er geglaubt, es hinge einzig und allein mit dem zusammen, was er im Internat hatte erleben müssen. Aber dass es eine noch viel sublimere Ursache gab, das war wie ein Sonnenstrahl an einem dunklen Regentag gekommen, gänzlich unerwartet und überraschend, aber auch blendend, was er bis jetzt übersehen hatte.
Er hatte sich beeilt, Schloss und Schlüssel zusammenzubringen, hatte Barbaras Sachen nicht mehr beachtet, kein Verlangen mehr verspürt, aber er verstand auch, dass dieser eine Sonnenstrahl schon längst wieder erloschen war. Kurz und gut, es ging ihm nicht wirklich besser, seitdem er diese neue Erkenntnis mit sich trug.
2. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MarioImLooker am 28.11.17 09:54

Schön geht die Münchner Geschichte weiter... Freue mich auf die vielen Fortsetzungen die einem durch den Winter begleiten werden
3. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 03.12.17 22:01

Und schon ist es wieder Sonntagabend und es geht weiter. Ein herzliches Dankeschön denjenigen, die mir geschrieben haben, und allen Lesern wünsche ich auf diesem Wege eine schöne Adventszeit!! Eure Daniela 20

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Es konnte einfach nicht wahr sein! Scheiß Karre, dachte Ingeborg Wimmer, als sie zum wiederholten Male den Schlüssel im Zündschloss drehte, der Motor einen gequälten Laut von sich gab, die Scheinwerfer müde aufblitzten. Muss das wirklich jetzt sein? Ich pisse mich gleich ein!
Sie überlegte, ob es Sinn machen würde, mit dem Kopf einmal kräftig gegen das Armaturenbrett zu schlagen, so wie Marty McFly in ihrem Lieblingsfilm, aber als sie das hohle Quietschen von Reifen in der Einfahrt zur Tiefgarage hörte, wusste sie, dass Hilfe unterwegs war.

Sie winkte die beiden uniformierten Kollegen herbei, die ganz in ihrer Nähe ihren Streifenwagen abgestellt hatten. "Guten Abend, Kollegen! Ich glaube, ich brauche mal eine Starthilfe. Könntet ihr mir bitte mal helfen?"

"Frau Wimmer? Kein Problem, das machen wir doch gern. Warten Sie mal, ich hole eben ein Überbrückungskabel aus dem Wagen!", antwortete die junge Beamtin, die den Wagen gefahren hatte. Aber ihr Kollege hielt sie auf. "Dit kleene Ding? Dit kriejen wa och ohne Kabel hin, wa?" Es bedurfte keiner Sonderausbildung zu hören, woher der Kollege stammte. "Nu stejen Se ma in, Frau Kollejin, zweeten Gang, wenn ick bitten darf und wir beede schaffen dit schon!"
Herrlich! Beinahe hätte Ingeborg gelacht, aber ihre Blase musste unter Kontrolle gehalten werden. Es tat gut, hier einmal etwas anderes als die lokale Mundart zu hören. Wie aufgefordert legte sie den zweiten Gang ein, die Kollegen gaben ihrem kleinen Mini einen ordentlichen Schubs, sie ließ die Kupplung kommen, und schon schnurrte der kleine Motor in sanftem Ton, als sei nie etwas gewesen. Sie winkte und bedankte sich mit zweimaligem, kurzem Hupen, dann suchte sie den Weg hinaus in die abendliche Dunkelheit.

Wimmer beschloss, zur Sicherheit einen größeren Umweg zu fahren. Sie konnte es einfach nicht riskieren, dass ihr Wagen nachher wieder nicht ansprang. Dann würde sie halt etwas später zu Klaus kommen. Aber nicht viel später, dachte sie, als ihre Blase sich wieder meldete. Wie konnte ich nur so dämlich sein, den Keuschheitsgürtel überm Korselett anzulegen?? Als ob das nun heute so viel Spaß gemacht hätte!
Machte es überhaupt Spaß, diese Sachen zu tragen?? Sie hatte es sich schon öfter gefragt. Schon als sie ihre ersten diesbezüglichen Erfahrungen mit Bruno gemacht hatte. Er hatte sie nie zu irgendetwas gedrängt. Sie nie verschlossen. Immer war sie es selber gewesen, die sich die metallene Unterwäsche angezogen und verschlossen hatte. Spaß? Sie wusste es nicht. Spaß war etwas anderes. Dies hier war eine seltsame Mischung aus Angst und Geilheit, unerklärlich für denjenigen, der derlei Emotionen nicht kannte. Hatte es eigentlich Bruno Spaß gemacht?

Sie trat voll in die Bremsen, als ein lebensmüder Radfahrer vor ihr die Fahrbahn kreuzte. In Gedanken schleuderte sie dem jungen Mann eine Unzahl bajuwarischer Flüche hinterher, aber der war längst irgendwo verschwunden. Pass besser auf, Wimmer!, dachte sie. Einen Unfall heute Abend kannst du dir nicht leisten!
Als sie das Gefühl hatte, ihre Batterie genug aufgeladen zu haben, und gleichzeitig ihr Drang immer stärker wurde, fuhr sie endlich auf kürzestem Wege zu Klaus Haus. Sie mochte das hübsche, alte Viertel mit den gemütlichen Einfamilienhäusern, wusste aber auch, dass hier niemand mehr würde neu einziehen können. Zumindest niemand mit einem schmalen Beamtengehalt!
Sie hatte Glück, ihr normaler Parkplatz war wieder frei. Sie stellte den Wagen ab, tätschelte sicherheitshalber das Armaturenbrett, möge es helfen, wenn ich wieder fahren will!, dann stieg sie aus und knallte die Tür zu.

Es war still in der Straße. Gut, hier war es eigentlich immer still, aber war es heute nicht stiller als sonst? Sie lief die wenigen Stufen zur erhöht gelegenen Eingangstür hinauf und klingelte.
Das Haus war dunkel. Dunkler als sonst, dachte sie. Wahrscheinlich saß Klaus im nach hinten gehenden Wohnzimmer. Oder? Sie drückte noch einmal auf den altmodischen Klingelknopf; nichts tat sich. Seltsam.

Wimmer spürte wie eine seltsame Mischung aus Kälte unter ihren Rock griff. Sie drückte ihre Hand gegen ihren Schritt, vielleicht half es ja, das 'Wasser-lassen' noch einen Moment zurückzudrängen, aber lange würde es nicht mehr gut gehen.
Der Türklopfer! Sie hatte ihn bisher immer als eine antiquierte Dekoration angesehen, aber jetzt schlug sie mehrmals mit dem kleinen, eisernen Hammer gegen die Tür. "Klaus!? Klaus, mach auf! Ich müsste dringend mal für kleine Mädchen!!" Sie kam sich blöde vor, als sie so laut rief, dass sie befürchten musste, Nachbarn zu alarmieren. Warum zum Teufel machte er nicht auf??

Sie ging wieder hinab, bog um die Ecke des Hauses um zu sehen, ob eventuell irgendwo Licht war. Aber alles war dunkel. Dann sah sie, dass etwas fehlte! Klaus kleiner Roller war weg! Sie erschrack, verlor nun endgültig die Kontrolle über ihre Blase und ließ es laufen. Gern hätte sie wenigstens ihre Beine etwas gespreizt, aber der enge Rock und die verdammten Schenkelbänder verhinderten es. Ein erst warmes, dann schnell kälter werdendes Gefühl ekelte sie. Gut, damit könnte sie leben. Aber was nun?
Wenn ich heute gar nicht mehr aus diesem Scheißteil herauskomme?? Sie würde nach Hause fahren, so wie sie war in die Badewanne steigen, sich anschließend halbwegs warm und trocken rubbeln und vor die Heizung setzen. Und dann ein Hühnchen mit Klaus rupfen! Falls sie ihn irgendwo erreichte.

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Klaus sah auf seine Uhr. Schon so spät? Normalerweise kam Ingeborg doch immer früher! Ob sie etwas aufgehalten hatte? Er machte es sich bequem, so gut es ging. Mehr würde er sowieso nicht machen können.
Leise drang der Verkehrslärm zu ihm hinein. Das da, konnte das vielleicht ihr Mini sein? Nein, der Wagen fuhr vorüber. Beeile dich, Ingeborg! Mir wird langsam kalt!, dachte er und mummelte sich fester in seine Winterjacke. Vielleicht sollte er doch einmal sein altersschwaches Handy einschalten? Wenn sie ihm nun eine Nachricht geschickt hatte?

Es kostete ihn einige Überwindung, sein Handy hervorzuziehen. Jede Bewegung ließ kalte Luft an seinen Körper kommen, irgendwo gab es immer Löcher, und weil er keine Lust hatte, wie ein dämliches Michelin-Männchen herumzulaufen, besaß er auch keine modische Daunenjacke. Bloß gut, dass ich nicht wieder als Barbara....., dachte er, während er sein Hady mit steifgefrorenen Fingern aktivierte. Wieso gab es eigentlich noch keine Handys mit Wärmeelement? Doch jetzt konnte er nicht mehr an sich halten. Wärmeelement?? Doch, die gab es ja schon! Die neuen Dinger von Samsung! 900 Glocken teuer und dann gehen sie einfach in Flammen auf! Hahaha! Immerhin hätte er sich schön an so einem Teil wärmen können!

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Ingeborg hatte sich eine alte Decke, die sie normalerweise im Kofferraum aufbewahrte, unter das unangenehm feuchte Gesäß geschoben. Sie hatte den Wagen wieder angemacht, diesmal hatte er gottlob keine Mucken gemacht, und die Heizung erst einmal voll aufgedreht. Was nun? Sie beschloss, noch für eine Zigarette vor dem Haus warten zu bleiben. Immerhin hatte ihr ärgstes Problem sich gerade von selber erledigt. Vielleicht würde er ja doch noch kommen?
Es blieb dunkel. Niemand kam. Jetzt würde sie in den sauren Apfel beißen müssen. Ihr war der Notschlüssel eingefallen, an den hatte sie aus gutem Grund gar nicht mehr gedacht.

Klaus hatte die kleinen Schlüssel, die sie zum Öffnen ihres stählernen BHs und des Keuschheitsgürtels brauchte, irgendwo in der Wohnung versteckt. Die Zweitschlüssel, korrigierte sie sich. Die normalen Schlüssel trug er ja meist bei sich in der Hosentasche.... oder der Handtasche, wenn er als Barbara unterwegs war. Wo genau, wusste sie nicht. Und obwohl sie schön einige Male sehr intensiv nach ihnen gesucht hatte, hatte sie bisher keine Schlüssel gefunden. Wohl aber einen lustigen Reklamekugelschreiber, den sie lange vermisst hatte.
Die Sache hatte allerdings einen Haken. Sie hatten ausgemacht, dass wenn einer von ihnen um den Reserveschlüssel bat, dann dürfte der andere ein ganzes Wochenende mit einem machen, was er - oder sie - machen wollte. Was würde er mit ihr machen? Sie hatte sich bizarre Dinge ausgedacht, hatte ab und zu eine seltsame Gefühlsmischung aus Angst und Spannung erlebt, aber bisher war es noch nicht zu derartigen Handlungen gekommen. Ja, sie hatten Sex miteinander gehabt. Aber irgendwie war es immer etwas sonderbar gewesen. Kam er als Barbara, was meist der Fall war, dann wirkte er ausgeglichen und anschmiegsam, kam er als Klaus, dann machte er eher einen unruhigen und unsicheren Eindruck auf sie.

Sie klappte ihr Handy auf, ging sofort in das SMS Menü und tippte eine einzige, kurze Botschaft: >Ich brauche den Notschlüssel!<. Das musste reichen. Sie konnte nur hoffen, dass er antwortete, am besten, noch während sie unterwegs war.

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Klaus sah verwundert auf das Display seines Handys. Was sollte das jetzt? Wieso brauchte Ingeborg den Notschlüssel? Jetzt, wo sie doch gar nicht zu Hause war? Wahrscheinlich würde sie bald kommen. Und bestimmt hätte sie eine gute Erklärung. Trotzdem wunderte er sich. Sie muss sich wieder eingeschlossen haben!, dachte er. Sie kann es einfach nicht lassen...., sie braucht den Kick! Nun gut, die Sache mit dem Notschlüssel hatte sich sowieso erledigt. Er hatte den richtigen Schlüsselbund dabei, er würde sie aufschließen können.... Wenn es wichtig ist...., vielleicht aber tue ich es nicht!

Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Spielchen miteinander spielten. Auch anders herum war es vorgekommen. Aber er hatte lange schon den Verdacht, dass Ingeborg es zwar lieber sah, wenn Barbara zu ihr kam, als Klaus, aber sie hatte andererseits auch öfters Interesse an Sex mit ihm gehabt. Und dabei war ein verschlossener Keuschheitsgürtel doch eher hinderlich.
Etwas anders verhielt es sich mit seinem stählernen BH. Es war eigentlich eine verrückte Idee, einem Mann solch einen BH anzulegen und zu verschließen, es gab schließlich keine Brüste, keine Nippel, deren Berührung verhindert werden sollte - gut, ja, er hatte Brustwarzen, aber er hatte auch einen dicken Zeh, geile Gefühle hatten sie ihm nie beschert, aber er hatte schnell gemerkt, welche Macht sie über Barbara ausübte, wenn er den BH nicht mehr abnehmen konnte. Dann konnte er nicht aus der Barbara-Rolle aussteigen, denn die ihm aufgezwungene weibliche Form wäre nie unter seiner männlichen Kleidung zu verbergen gewesen.

Noch einmal las er die SMS. >Ich brauche den Notschlüssel!<. Er blätterte aus Gewohnheit zurück. >Komm heute Abend!<, hatte sie nachmittags schon geschrieben. Hoffentlich musste er nicht mehr lange warten; es war schon ungewöhnlich, dass sie so spät nach Hause kam. Es war ein Glück gewesen, dass ihn jemand wenigstens ins Haus gelassen hatte; so hatte er wenigstens nicht draußen warten müssen. Aber auch das Treppenhaus war ungeheizt; ewig würde er es hier nicht aushalten können.

Das Summen des Fahrstuhls erweckte seine Lebensgeister. Der Fahrstuhl fuhr hinab ins Erdgeschoss, dann kam er wieder hoch, blieb jedoch eine Etage tiefer stehen. Er hörte Stimmen, Schlüssel klapperten, eine Wohnungstür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Dann wurde es wieder ruhig.

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Ingeborg Wimmer fand einen Parkplatz in der Nähe ihrer Wohnung. Sie war heilfroh, dass sie nicht weit zu laufen hatte. Sie fühlte sich dreckig, auf eine gewisse Weise ausgestoßen. Eine Hure auf dem Weg nach Hause.
Seltsamerweise erregte sie dieser Gedanke etwas. Gleich würde sie.... Nein, geht ja nicht, erinnerte sie sich. Und warum hatte Klaus immer noch nicht von sich hören lassen? Wo steckte der Kerl denn bloß? Ob sie noch einmal nach dem Notschlüssel suchen sollte? Keine Chance! Du hast doch schon alles abgesucht! So ein blöder kleiner Schlüssel konnte doch überall stecken! In einem Plattencover. In einem Buch. Unter einer Teppichleiste. Im Badesalzbehälter. Hinter einem Bilderrahmen. Nein. Sie würde sich, mit ihren Klamotten, in die Badewanne setzen und sich dann halt eben so gut waschen, wie es möglich war, wenn man unterm fest verschlossenen Keuschheitsgürtel Slip, Strumpfhose und Korselett trug.

Sie schloss ihre Haustür auf, drückte auf den Knopf des Fahrstuhls und brauchte die kurze Wartezeit, um schnell einen Blick in ihren Briefkasten zu werfen. Nichts, außer blöder Reklame, die sie sofort in einen fast überquellenden Abfallbehälter warf. Sie öffnete die Fahrstuhltür, das eklige Kaugummi klebte immer noch dort, hatte die Reinigungsfirma einmal übersprungen? Sie drückte den Knopf zu ihrem Stockwerk; ein Glück, dass sie nicht laufen musste, aber es war auch schon vorgekommen, dass sie mit schwer beladenem Einkaufstrolley die Treppen bis nach oben hatte nehmen müssen.

Oben angekommen hatte sich das Licht bereits wieder ausgeschaltet. Sie fummelte nach dem matt schimmernden Lichtknopf, als eine Stimme sie zu Tode erschreckte: "Ingeborg? Da bist du ja endlich! Wurde auch langsam Zeit! Ich bin schon halbtot!"


"Bist du wahnsinnig?? Willst du mich zu Tode erschrecken? Was machst du eigentlich hier? Hier, bei mir??" Ingeborg war kurz davor, ihrem Freund eine deftige Ohrfeige zu verpassen - teils aus Ärger, teils aus Erleichterung. Etwas unsanft schubste sie ihn zur Seite, dann schloss sie ihre Wohnungstür auf. Sie war endlich zu Hause, gleich würde alles besser.


Sie hatte heiß geduscht und sich wie immer in ihren weißen Bademantel gehüllt. Ihr Haar war noch nass. Klaus hatte sie, ohne zu zögern, sofort aufgeschlossen; eine Wohltat, nach den vielen Stunden, die sie hatte leiden müssen. "Also??"

"Also was?" Klaus hatte die Frage längst wieder vergessen.

"Warum bist du hier? Weißt du eigentlich, wie lange ich vor deiner Haustür gewartet habe? So lange, bis ich mich am Ende eingepisst habe....!!"

"Wie....? Ich verstehe nicht ganz..."

"Was gibt es da nicht zu verstehen?" Sie war schon wieder auf hundertachtzig.

"Aber du hattest doch selber geschrieben, dass ich heute Abend kommen sollte!"

"Was?? Ich hatte geschrieben, dass ICH heute Abend komme!"

"Hattest du nicht! Wart mal..." Er kramte sein Handy hervor; es war noch eingeschaltet. "Hier! Siehst du, hier steht es: 'Komm heute Abend!'"

"Quatsch! Ich habe geschrieben: 'Komme heute Abend!' Hier...!" Geübt wischte sie über das Display ihres Smartphones. "Hier, sieh selbst!" Sie warf einen Blick auf den Text, dann zog sie den bereits ausgestreckten Arm wieder zurück. "Scheiße!!!"

Klaus versuchte, sie ein wenig zu trösten. "Ach komm, ist doch nicht so schlimm. Kann ja jedem in der Schnelle mal passieren! Und ist doch alles gut ausgegangen. Und jetzt hast du schön geduscht und dein Haar duftet gut..." Er umarmte sie und roch an ihren noch nassen Locken. "Kannst ja froh sein, dass es nicht schon während der Arbeitszeit passiert ist. Komm, lass uns was essen. Ich habe schon mal etwas angefangen in der Küche, während du im Bad warst."



Eine halbe Stunde später saßen sie gemütlich bei einem Glas Wein zusammen. Ingeborg studierte ihren Kalender. "Oh, das hätten wir bald vergessen!"

"Was denn?"

"Diese Messdienersache mit der alten Kirche!"

"Ach, ich weiß nicht...." Er blickte weg.

"Was weißt du nicht? Du hast uns doch selber angemeldet! Mich - und Barbara..." Sie schaute ihn verblüfft an. "Jetzt sag nicht, dass du einen Rückzieher machen willst!"

"Barbara...," wiederholte er. "Es gibt keine Barbara mehr!" Seine Stimme wirkte kraftlos.

Ingeborg stellte ihr Glas ab und rückte näher an ihn heran. Sie legte ihren Arm um ihn. "Was ist los? Wieso sollte es Barbara nicht mehr geben? Die hübschen Kleider, die sie hat. Die Petticoats und Röcke, ihren geilen high heels?" Sie legte ihre Hand in seinen Schritt. "Das soll es nicht mehr geben? Das glaubst du doch selber nicht!" Sie fühlte, dass sie irgendwie recht hatte. Aber sie bemerkte auch, dass es ihrem Freund nicht gut ging.

"Es ist nicht richtig..."

"Was ist nicht richtig? Dass du Frauenkleider trägst? Dass es dich aufgeilt, ein enges Korsett zu tragen? Dass du es toll findest, wenn du im Petticoat draußen herumlaufen kannst? Zumindest im Sommer?"

Klaus drückte ihre Hand weg. "Lass das bitte! Ja, genau das! Es ist nicht richtig!"

Ingeborg goss etwas Wein nach. "Ach Quatsch. So musst du nicht denken! Ich mag Barbara. Sie ist offener, mutiger und vielleicht auch lustiger als du! Ich finde auf jeden Fall, wir sollten das machen. Ist doch bestimmt lustig!" Sie schwieg. Lustig?? Wieso hatte sie das gesagt? Sie wusste doch selber, dass es so nicht stimmte. Es gab andere Gründe, weshalb sie es machen wollte. Unbestimmte Gründe, dachte sie.

"Aber nicht als Barbara!" muckte er auf.

"Du hast dich dort als Barbara angemeldet. Und wir sind beide dort so angenommen worden: zwei junge, erwachsenen Frauen, die Messe dienen wollen. Hatte der Pastor nicht gesagt, genau das sei eine schöne Sache? Wie hatte er sich ausgedrückt?"

Klaus erinnerte sich gut an das kurze Gespräch. "Wegen der Symmetrie! Ja, das hatte er gesagt." Sie waren beide zu einem kurzen Vorgespräch eingeladen gewesen. Der Pastor hatte sich anfangs überrascht gezeigt, statt einer Barbara einen Klaus zu begrüßen, war aber nicht abgeneigt, ihn trotzdem aufzunehmen, nachdem er über die Hintergründe gehört hatte. Gott liebt alle sein Schäfchen, hatte er gesagt, da wolle er nicht der erste sein, der die schwarzen von den weißen trennte!

"Siehst du!" Ingeborg spürte leichten Rückenwind. "Ach komm, sei kein Spielverderber! Ab nächste Woche vier Wochen Training, wenn ich mich recht entsinne. Und danach dann soll es wohl losgehen. Aber wahrscheinlich erst zu Ostern, also so richtig. Hochamt, oder wie das heißt. Habs schon wieder ganz vergessen. Vorher könnten wir möglicherweise auch schon mal bei der Abendmesse eingesetzt werden!"

"Da kommt doch kein Mensch!" Er ärgerte sich, hätte es besser für sich behalten sollen.

"Wieso? Was weißt du denn darüber?" Ingeborg beäugte ihn misstrauisch. Ihre Polizeiinstinkte ließen sich nicht ausschalten.

Klaus griff zu seinem Handy. Musste er nicht bald nach Hause fahren? Er gähnte gekünstelt. Sollte er wirklich Ingeborg erzählen, was er bereits in dieser alten Kirche erlebt hatte? Und wie lange würde es dauern, bis Ingeborg aus ihm herausgequetscht hätte, was er selber dort gemacht hatte?? Seine Hand begann zu zittern. "Nichts. Ich kannte mal eine, die war auch Messdienerin. Die hat mir oft berichtet, gerade diese Abendmessen seien totlangweilig, und außer ein paar alten Leuten käme da sowieso niemand mehr hin." Überzeugend klang es nicht, was er vor sich hinstammelte.

"Ach so." Gern hätte Ingeborg mehr erfahren. Diese untertriebene Beschreibung, 'ich kannte mal eine', es klang so beiläufig, so bewusst uninteressant. Sie war sich sicher, dass sie hier einen wunden Punkt entdekt hatte. Was hält er zurück, was ich nicht wissen soll?, dachte sie. Aber fürs Erste beschloss sie, keinen Druck auf ihn auszuüben.
Wichtig war es jetzt, Barbara wieder aufzubauen. Sie konnte seine plötzlich erwachten Zweifel gut verstehe, sah aber auch, wie unglücklich er auf sie wirkte. Da war etwa zerbrochen, was nicht kaputt gehen durfte. Klaus kam ihr im Moment vor wie ein Querschnittsgelähmter, der seinen Rollstuhl nicht mehr benutzen wollte. Er brauchte Barbara, daran gab es gar keinen Zweifel. Aber sie selber brauchte Barbara auch, obwohl es ihr schwerfiel, sich das einzugestehen. Das Spiel von Unterwerfung und Dominanz, das sie gerade erst begonnen hatte, durfte nicht schon wieder aufhören, bevor es richtig spannend wurde.

"Ich sehe schon, du musst ins Bett! Schaffst du es noch nach Hause? Oder möchtest du lieber bei mir schlafen?"

Er griff, ohne zu zögern, nach dem Strohhalm, den sie ihm bot. "Klar schaffe ich es noch nach Hause. Hab ja kaum was getrunken! Und du musst morgen ja wieder früh raus, nicht wahr?"

Sie verabschiedeten sich. Ingeborg Wimmer drückte ihren jungen Freund an sich. Ach, er wirkte mit einem Mal so dünn, so zerbrechlich. Was war denn bloß los mit ihm? Sie hatte davon gehört, was alles in den Tagen nach Weihnachten geschehen war. Die Schwester, von der er nichts gewusst hatte. Die alte Dame, Schwester seiner verstorbenen Großmutter, die ihm über vieles die Augen geöffnet hatte! All dies mochte Auswirkungen gehabt haben.
"Ich möchte, dass nächste Woche Barbara kommt, wenn wir da in der Kirche anfangen. Bitte..."

Er entwand sich ihrer Umarmung. Er verzog die Lippen, ließ ein kaum zu deutendes Kopfnicken sehen. Dann ging er hinaus, schaltete das Licht im Treppenhaus ein und sprang die Treppe hinunter.


München, Anfang Februar

"Lyn!! Das ist aber schön! Lange nichts mehr von dir gehört!" Klaus hatte Glück gehabt, hatte sein Handy diesmal eingeschaltet gelassen und verpasste deshalb Evelyns Anruf nicht. Oder sollte er besser sagen, sie habe Glück gehabt?

"Danke gleichfalls. Du hast dich ja in letzter Zeit sehr rar gemacht. Was ist los? Hast du ein Studium angefangen?" Ihre Stimme hatte einen ironischen Unterton. "Oder wenigstens eine Ausbildung?", beeilte sie sich hinzuzufügen.

Er krümmte sich innerlich. Er wusste, sie hatte recht. Auch mit dem, was sie zuletzt noch zu ihm gesagt hatte. Er hatte ihr, auf dem Weg zum tief verschneiten Chinesischem Turm, erzählt, er würde gern etwas mit Kindern machen, sich aber sogleich eine heftige Abfuhr eingefangen. 'Nein, das machst du nicht! Du darfst nichts mit Kindern machen!' Und sie hatte argumentiert, mit seiner Vorgeschichte als Missbrauchsopfer sei die Gefahr viel zu groß, dass er eines Tages selber zum Täter würde.
"Nicht wirklich, Lyn. Nein, ich überlege noch, was ich machen könnte." Er spürte sofort, wie dünn seine Antwort war. "Ich habe lange darüber nachgedacht, was du mir gesagt hattest."

"Gut, Klaus. Das freut mich, zu hören. Und wie geht es Barbara so? Oder ist sie selber am Telefon? Kann dich ja nicht sehen..." Ihre Stimme wurde heller, wahrscheinlich lachte sie am Telefon.

"Barbara? Ach...." Er verstummte. Wusste er selber eine Antwort auf die Frage?

"Wohl nicht so gut?"

"Nicht wirklich. Nein. Ist nicht so die richtige Zeit für Transenspielchen.... zu kalt, weißt du?" Er spürte förmlich, wie seine Nase immer länger wurde.

Evelyn horchte auf. Transenspielchen?? Was sollte das jetzt? So etwas war es bei ihm doch nie gewesen, das hatte sie schnell begriffen. Kerle, die zum Fasching in unsäglichen Männerballetts auftraten, fielen unter diese Kategorie. Bei Klaus war es anders. "Hm... kannst du sie mal ans Telefon holen?"

Er zögerte. "Sie... sie ist nicht da?"

"Sie ist nicht da? Wo ist sie denn?" Evelyn hielt den Atem an.

"Sie ist weg."

Als erfahrene Rettungssanitäterin hatte sie es gelernt, genau hinzuhören, wie ein Patient etwas sagte. Was er sagte war oft nicht so ausschlaggebend als vielmehr, wie er es sagte. Und sie erkannte sofort, dass es nicht stimmen konnte, was Klaus da gerade gesagt hatte. Aus seinen wenigen Worten ließ sich leicht die seelische Qual heraushören, die ihn belastete. Was schlimm war, auch für sie. Sie war zwar Sanitäterin, hatte es gelernt, bei Verunglückten eine Erstversorgung vorzunehmen, Blutungen zu stillen, Knochenbrüche zu schienen, aber das hier lag außerhalb ihrer beruflichen Kompetenz.

"Sehen wir uns bald mal wieder, Klaus?"

Er schüttelte den Kopf.

"Klaus??"

"Äh, entschuldige. Ich hatte nachgedacht. Nein, im Moment ist es schlecht, Lyn."

"Viel zu tun, ja?"

"Ja."

"Was denn? Gehst du irgendwo hin, mit dieser netten Kommissarin? Kino und so?" Sie machte eine Pause, aber als Klaus nicht antwortete, fiel ihr ein, dass sie noch gar nicht gefragt hatte, wie es in dieser Sache mit Ruprecht Huber, ex Pater Ruprecht, stand. Nicht zuletzt wegen ihres Fotos würde man ihn überführen können.
"Sag mal, wie steht es nun um diesen verfluchten Kerl, der dir und anderen das alles angetan hat? Sitzt der im Bau?"

"Pater Ruprecht?" Er biss sich auf die Zunge. Er hatte sich geschworen, diesen Namen nie wieder auszusprechen, jetzt, da er seinen wirklichen Namen wusste. Huber, Ruprecht Huber. Funtenseeweg! Aber alte Gewohnheiten ließen sich nur sehr schwer ablegen. "Ingeborg - Kommissarin Wimmer - sagt, dass das Verfahren gegen ihn läuft. Wahrscheinlich kommt es in einigen Monaten zum Prozess. Man möchte die Anklage wasserdicht machen. Aber es sei schwierig, frühere Opfer ausfindig zu machen, die gegen ihn aussagen. Ist ja eine öffentliche Verhandlung, da hat so mancher Schiss."

"Ja, das glaube ich sofort. Aber schade, dass du im Moment so wenig Zeit hast. Bei mir ist gerade etwas weniger los. Wird aber bald wieder losgehen, Fasching, du weißt. Da wird viel gesoffen. Und wenn es dann noch glatt ist, dann landen die alle bei uns. Also, ruf doch einfach mal an, wenn du Zeit hast. Ja? Würde mich gern mal wieder mit dir treffen - und mit Barbara!"

"Sie ist nicht hier! Sagte ich doch!" Seine Reaktion war heftig. Zu heftig, wie sie fand.

"Schon gut! Du, ich muss wieder! Wir sprechen uns! Kannst jederzeit bei mir anrufen, ja?" Sie legte auf. Unruhe machte sich in ihr breit. Was war mit Klaus los, und wo war Barbara??


4. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 10.12.17 22:00

Es kann weitergehen!! Heute kam der Schnee, und auch die langen und dunklen Winternächte sind wieder da. Ich muss meine Leser um etwas Geduld bitten; ich weiß, im Moment ist die Handlung meiner Geschichte noch nicht so wirklich spannend. Aber das kommt schon noch!!

Die Fortsetzungen an den kommenden Sonntagen könnten etwas unregelmäßig ausfallen, da ich zu Besuch bin. Etwas unsicher bin ich mir, ob ich am Heiligen Abend etwas hochladen soll. Einerseits widerstrebt es mir etwas, andererseits aber könnte es für viele einsame Leser das Highlight des Tages sein, die vielleicht einzige 'Bescherung', auf die sie sich freuen. Schreibt mir bitte mal, was ich tun soll!

Eure Daniela 20

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München, Ende Februar

"Ehrlich gesagt, ich hatte es mir spannender vorgestellt." Ingeborg Wimmer warf einen schnellen Seitenblick auf die Person, die sie begleitete.

"Spannender? Was zum Teufel soll denn daran spannend sein?"

"Nun ja... ich weiß auch nicht. Aber eigentlich ist es doch Kinderkram, meinst du nicht... - sie zögerte, den Namen auszusprechen - ...Barbara?"

"Wird ja normalerweise auch von Kindern gemacht. Erwachsenen Messdiener gibt es solange noch nicht!"

"Ich hatte gelesen, dass es früher einmal ganz anders gewesen sein muss? Da hatten es nur Erwachsene gemacht."

Klaus verlangsamte seinen Schritt. Es war und blieb ein heikles Thema. "Ja... früher. Das war wohl, bevor der Klerus sein Interesse an keuschen Jungs entdeckt hatte!" Es sollte eine lustige Bemerkung sein, aber bei seinem persönlichen Hintergrund war die Bitternis in seinen Worten nicht zu überhören. "Hoffentlich werfen sie das Schwein den Krokodilen zum Fraß vor!!"

Ingeborg brauchte kein Horoskop um zu wissen, von wem er sprach. "Das dürfte schwierig sein...."

"Du meinst, er kommt völlig ungeschoren davon? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein!" Er blieb stehen, sah die Kommissarin mit einem Blick an, als sei sie persönlich für die Rechtsprechung in Deutschland verantwortlich.

"Ich meinte das mit den Krokodilen, Klaus!" Klaus! Wieso hatte sie ihn jetzt Klaus genannt? "Und sieh mich bitte nicht so an! Ich bin nur dafür verantwortlich, die bösen Buben zu fangen. Für den Kerker sind andere zuständig. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Huber - Pater Ruprecht - ungestraft davon kommt."

"Immerhin haben wir sein Geständnis auf Video!"

"Nun ja..." Sie wusste, was es wert war. Nicht viel. "Ich will dich nicht entmutigen, aber solch ein Geständnis..., also, das wird ein geschickter Verteidiger leicht zerpflücken können!"

"Was zum Teufel brauchen wir denn noch? Du weißt doch, wie schwer es der Anklage fällt, glaubwürdige Zeugen zu finden!"

"Ja, ich weiß. Er wird sich herausreden wollen. Alles nur Hirngespinste einiger Jungen, die seinen Unterricht nicht mochten! 'Herr Vorsitzender, WER macht schon gern Latein?', wird er sagen. Oder so etwas in der Art. Und sein Geständnis, das wir oben im Turm aufnehmen konnten, als übertriebene Theatralik darstellen. Er habe halt einfach das gesagt, was du hören wolltest!"

"Ach, Scheiße! Aber ich werde gegen ihn aussagen!"

"Hast du Beweise? Sei nicht naiv, Klaus! Weißt du, deshalb bin ich eigentlich ganz gern in der Mordkommission!"

Klaus war weitergegangen, blieb jetzt aber stehen und hielt Ingeborg fest. Kalter Wind fuhr unter seinen Rock; hätte er doch eine dickere Strumpfhose anziehen sollen? "Weshalb, Ingeborg? Wie kann man gern mit Leichen zu tun haben?"

"Ganz einfach, weil sie da sind! Sie lassen sich nicht weg interpretieren! Die Anklage hat einen sehr triftigen Grund, gegen jemanden vorzugehen. Und ganz egal, wie lange es schon her ist! Mord verjährt nicht!"

"Ja, ich weiß. Die Auschwitz-Prozesse damals. Man hatte Angst, die Nazimörder von damals könnten sich ihrer Strafe entziehen, würde Mord nach den üblichen 20 Jahren verjähren. Also hatte man das abgeändert. Schade also, dass wir keine Leiche haben!" Sie waren weitergegangen. Schon hatten sie die kleine Kirche erreicht. "Komm, wir sind da. Können ja ein andermal darüber sprechen. Bin gespannt, was wir heute lernen sollen!"

Ingeborg lachte. "Vielleicht das korrekte Knien? Dass der Messdiener sich dabei nicht auf seinen Allerwertesten setzt! So, wir sind da!"




Die Messdienerstunde, die sie zusammen mit einigen wenigen Kindern und Jugendlichen absolvierten, war wie immer. Sie hatten bereits mehrer Male teilgenommen, es wurde viel gezeigt und geredet und viel gelacht. Der Pastor höchstselbst hatte das Training übernommen, er hatte sich erfreut gezeigt, dass jetzt sogar eine Kriminalkommissarin ministrieren wollte. 'Endlich jemand, der mir hilft, die schwarzen Schafe einzufangen!', hatte er amüsiert bemerkt. Und hinzugefügt, dass er sie eventuell einmal um einen Gefallen bitten müsse.

Bis jetzt war alles in etwa so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Seltsam war allerdings, dass sie bis jetzt noch kein einziges Mal die Gewänder anziehen mussten, in denen Messdiener während der Messe vor den Altar traten. Das kommt erst zu Ostern, wenn es den feierlichen Einführungsgottesdienst gibt, hatte sie in Erfahrung gebracht. Nun gut, sie konnte warten.

Sie hatten ihre Jacken und Mäntel angezogen und wandten sich zum Gehen, als der Pastor noch einmal auf sie zukam. "Frau Wimmer? Hätten Sie einen Augenblick Zeit?"

Ingeborg Wimmer hatte Zeit. Es war Samstag Nachmittag, es lag nichts an. "Aber sicher doch. Was kann ich für sie tun?"

"Frau Wimmer. Ich habe große Probleme mit den Aufgaben, die auf meinen Schultern liegen. Sie wissen, dazu gehören auch Besuche im Krankenhaus und in manchen Fällen auch Hausbesuche: Nicht jeder, der Probleme hat, geht damit zur Polizei. So mancher arme Sünder kommt auch zu mir, oder ich zu ihm. Und glauben Sie mir bitte, wäre dem nicht so, würden viele früher oder später bei ihnen landen!"

"Ja, das glaube ich gern. Sicherlich tun Sie in der Richtung mehr, als ich tun kann. Wo also drückt der Schuh?"

Der Pastor kam gleich zur Sache. Ich brauche jemanden, der sich um die Kirche kümmert! Zumindest um das Absperren abends, an einigen Tagen in der Woche. Nicht immer, aber es kommt halt vor, dass ich selber verhindert bin. Und heute bin ich es. Ich müsste dringend zu einem Gepräch...!"

"Können Sie nicht einfach so lange abschließen, bis Sie wieder da sind? Zur Abendmesse dann? Also in etwas über einer Stunde?"

"Nein. Nein, das geht nicht. Wissen Sie, ich werde pünktlich zur Messe zurück sein. Aber es gibt immer einige Leute, die gern schon eine halbe Stunde eher kommen. Und auch die Messdiener möchten ungern vor verschlossener Tür stehen." Seine Stimme drückte Enttäuschung aus. "Aber, wenn es nicht geht, dann geht es halt nicht...."

"Doch, doch, natürlich geht es! Nicht wahr, Barbara? Du hast doch auch nichts vor, oder? Also, kein Problem, Herr Pastor. Natürlich machen wir das! Sie wissen doch, die Polizei dein Freund und Helfer! Also, gehen Sie getrost, wir halten Wache!!"



Sie waren allein. Der Pastor hatte die Beleuchtung ausgeschaltet, ihnen aber erklärt, wo sie sie wieder anschalten könnten. Sie könnten solange in der Sakristei Platz nehmen, sollten aber auch die Kirche nicht unbeobachtet lassen.

"Und jetzt??"

"Weiß nicht. Rumgucken vielleicht? Klamotten anprobieren?" Klaus klang hohl. Wahrscheinlich nur wegen der schlechten Akustik in der Sakristei.

"Was für Klamotten denn?"

"Na, die Messdienersachen halt. Mal sehen, ob wir etwas in unserer Größe finden!" Er hörte sich selber sprechen. Warum laufe ich nicht einfach davon? Hinaus in die schwarze Nacht? Hinunter zur Luitpoldbrücke, sein letzter Blick würde dem leuchtenden Friedensengel gelten und dann....

Ingeborg stand auf. Öffnete einen der vielen Schränke. Schwarze Talare, nach Größe geordnet. Öffnete eine weitere Schranktür, weiße Rochetts. Sie griff danach, befühlte den festen Stoff. Stoff, der einen Hauch von Weihrauch ausströmte. Sie merkte, wie ihr Herz schneller schlug. Soll ich wirklich??

"Das hier müsste dir passen!" Barbara hielt ihr einen Talar entgegen. "Komm, probiere ihn mal an. Und dann das hier!" Sie suchte nach einem passenden Rochett.

Ingeborg hatte sich den Moment anders vorgestellt. Öffentlicher, nicht so intim wie hier und jetzt, in der stillen Sakristei, mit Barbara. Sie zog die Sachen an, sah sich nach einem Spiegel um, es gab keinen. Barbara zupfte die Kleidung etwas zurecht. "Und? Wie sehe ich aus? Gefalle ich Dir? Was soll ich jetzt tun?"

Ich bin im falschen Film!, dachte Klaus. Das alles hier konnte, nein, durfte nicht sein!! Ist Barbara so stark, dass ich jetzt wieder hier bin? Es gab eine kleine Kniebank vor einem Kruzifix. Klaus suchte nach Streichhölzern, fand sie in einer Schublade, entzündete die beiden Kerzen neben dem Kruzifix. Dann löschte er das Licht. "Komm, knie dich hin!" Mit sanftem Druck schob er Ingeborg hinüber zur Kniebank. Sie kniete sich hin. Er stand hinter ihr, legte seine Hände um ihren Hals, bückte sich, tastete weiter abwärts. Fand die sanfte Wölbung ihrer Brust. Kein stählerner BH. Er vergaß Zeit und Raum.

Sie sackte unter seinen Händen weg. Und fing an zu lachen. "Puh, das ist aber ganz schön spooky! Und anstrengend, so lange so gerade zu knien. Viel länger halte ich das so nicht aus!" Sie versuchte aufzustehen, aber er drückte sie weiter nach unten.

"Manchmal kann man es sich nicht aussuchen!" Er lockerte seinen Griff. "Es gibt....." Er sprach nicht weiter.

Ingeborg stand auf. Wann hatte sie zuletzt in einer Bank gekniet? "Es gibt.... was?"

"Nichts."

"Willst du dich nicht auch umziehen, Messdienerin Barbara?" Sie sah seine Verwandlung augenblicklich. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren; selbst hier, im flackernden Kerzenlicht, konnte sie es erkennen. "Was ist Klaus? Ist dir schlecht? Vielleicht möchtest du etwas an die Luft gehen? Komm, ich ziehe mich eben wieder um, dann gehen wir mal raus!"

Kalter Schweiß brach ihm aus. Klaus schloss die Augen, alles drehte sich. Er hielt sich an Ingeborgs Arm fest. Er brachte keinen Ton heraus, sein Hals war wie zugeschnürt. Dann hörte er es wieder: 'Messdienerin Barbara! Du hast Mist gebaut und in der Kirche mit deinem Handy telefoniert. Das trägt dir jetzt eine Stunde auf der Strafbank ein. Los, mitkommen, und kein Wort mehr!' Seine Hand zitterte.

"Soll ich ein Glas Wasser holen? Mensch, Klaus, du siehst ja aus, als wäre dir der Leibhaftige über den Weg gelaufen!" Ingeborg zögerte. Sie wollte sich die Messdienerkleidung ausziehen, aber Klaus hielt sie fest.

"Nicht! Es geht schon wieder. Nur ein kleiner Schwächeanfall...., Hunger...., ja, es muss Hunger sein, habe seit heute früh nichts mehr gegessen." Er wollte sich abwenden, wollte es damit gut sein lassen, aber er hörte sich weiterreden: "Komm, Ingeborg, komm mit. Ich muss dir etwas zeigen! Nein, lass es an. Du kannst es nachher ausziehen.... Komm jetzt!" Er griff fester zu, öffnete die Tür in den dunklen Kirchraum. Nur das Ewige Licht vorn am Altar warf etwas diffuses Licht in den großen Raum, kaum waren ihre Schatten auszumachen, als sie durch den Mittelgang nach hinten liefen.

"Hier! Sie ist hier, in der kleinen Anbetungskapelle..."

Ingeborg zögerte. Ihr war leicht unheimlich zumute. Sie hatte die kleine Kapelle bisher kaum wahrgenommen. "Was ist hier, Klaus? Oder WER ist hier??"

Er achtete nicht auf ihre Worte, die wiederum von einer ganz anderen Stimme überlagert wurden. 'Los, Messdienerin Barbara, hinknien, die Beine nach hinten in den Block und die Hände vorn in das Brett!' "Komm, ich zeige es dir! Hab keine Angst!"


Ingeborg schauderte. Sie hatte es schon einige Male in ihrem Berufsleben gehört, dieses hab keine Angst! Und sie wusste, es wurde nur in Situationen gesagt, wo jeder normale Mensch Angst haben musste. Sie blieb stehen, aber Klaus drängte sie weiter, bis in die vorderste der wenigen Kniebänke, die hier vor einem kleinen Altar und einem Blechtisch mit mehreren flackernden Kerzen standen.

"Hier, Ingeborg. Die alte Messdienerstrafbank!"

Ingeborg sah nichts. Das zuckende Irrlicht der Kerzen sorgte für einen schnellen Wechsel aus Licht und Schatten. "Was denn? Ich sehe gar nichts. Kannst du nicht Licht machen?"

Wie auf Kommando wurde es plötzlich heller in der Kirche. "Ja, so ist es besser! Also, was erzählst du mir da für komische Geschichten? Eine Strafbank? Für Messdiener? Was soll das denn??"

Klaus hatte gar nicht registriert, dass das Licht angegangen war. Was geschieht hier mit mir?, dachte er. "Hier! Siehst du, hier in der Mitte der Sitzbank, dieses etwas lose Teil? Es kann gedreht werden."

Ingeborg bückte sich. "Au! Da sind ja ganz spitze Stacheln auf der Unterseite!" Sie versuchte, es zu drehen. "Ich kann das nicht drehen. Es ist irgendwie fest. Aber sag mal, was soll dieses seltsame Ding? Und wieso eigentlich weißt du davon?" Sie versuchte es noch einmal, sah dann aber einige sehr lange Schrauben, die von mehreren Seiten so in die Bank geschraubt waren, dass es fest arretiert war.

Klaus erklärte ihr den Mechanismus. "Siehst du, hier unten ist so ein Brett, an dem können deine Füße festgemacht werden. Und hier vorne - er ging auf die Vorderseite der Bank - hier vorne ist ebenfalls so ein Brett. Man konnte es früher hochklappen und damit dann die Hände fesseln."

Ingeborg blickte skeptisch. "Das verstehe ich nicht. Du meinst also, man musste sich hier hinknien und wurde dann praktisch so, mit diesen Dingern da, an die Bank gefesselt. Aber das mit der umklappbaren Sitzbank kapiere ich nicht. Wenn die umgeklappt wurde, also dann...." Sie verstummte und biss sich auf die Lippe.

"Genau. Ich sage dir, das war eine ziemlich schmerzhafte Sache!"

"Klingt ja fast, als hättest du mal das Vergnügen gehabt."

"Man hat mir davon erzählt. Diese Bekannte von mir..."

"... die mal Messdienerin war!", ergänzte Ingeborg seinen angefangenen Satz. "Wer ist die Frau? Hat sie einen Namen?

Hatte er seine Stimme im Griff?? Zitterte sie leicht, als er weitersprach? "Monika. Eine Nachbarstochter. Sie... sie hat mir davon erzählt."

"Sie war hier Messdienerin?? Warum hast du mir nie von ihr erzählt? Und was macht sie jetzt? Ist sie - sie zögerte leicht - ist sie ein Kind?" Klaus und Monika? Hatte er auch schon angefangen....?

"Nein, sie ist ein Jahr älter als ich. Ist wohl dabei, zu ihrem Vater in Australien auszuwandern."

"Ah! Aber sie hat das hier wohl nicht selber erlebt, oder? Das sieht mir mehr nach finsterem Mittelalter aus! Das muss echt schlimm sein, wenn man hier sitzen soll!"

"Knien, Ingeborg. Sitzen kann man da nicht. Das ist ja Sinn der Sache! Monika hat...." Ein lauter Glockenschlag übertönte seine Antwort. Sofort darauf setzte ein bescheidenes Geläut ein, welches zur Abendmesse rief.

Sie hörten die Schritte nicht, die sich ihnen näherten. "Barbara? Frau Wimmer? Sind Sie hier?"

Ingeborg erschrak. Sie beeilte sich, aufzustehen; diese seltsame Strafbank würde sie ein andermal genauer untersuchen. Zusammen mit Klaus eilte sie zurück ins Kirchenschiff, wo ihnen der Pastor entgegenkam.

"Oh, Frau Wimmer....!" Er blieb überrascht stehen. "Wie ich sehe, konnten Sie es bis zur richtigen Aufnahme gar nicht mehr abwarten! Aber ich muss sagen, die Messdienersachen stehen Ihnen hervorragend! Wie vom besten Pariser Schneider!" Er lachte ein wenig über seinen platten Witz. "Ja. Es hat doch nicht so lange gedauert, wie ich vorher glaubte."

Wimmer bemerkte plötzlich, dass in einigen Bänken bereits erste Leute saßen. In der Mehrzahl alte Leute. Nur ein Mann Anfang Fünfzig war dabei. Gemeinsam eilten sie durch einen Seitengang zurück in die Sakristei.

Der Pastor blickte beunruhigt auf seine Uhr. "Wo bleibt er denn bloß? Er sollte doch schon längst hier sein!"

Ingeborg hatte die Unruhe des Pastors bemerkt. "Fehlt jemand? Gibt es Probleme? Der Organist?"

"Der Organist?? Nein, der kommt schon lange nicht mehr zur Abendmesse. Der steht ja selber bereits vor dem Umzug ins Altersheim. Und glauben Sie bitte nicht, dass ein jüngerer einfach so zu bekommen wäre! Wissen Sie - er beugte sich etwas näher an sie heran - es gibt bereits Gemeinden, wo eine mechanische Apparatur die Orgel bedient! Wirklich! Man sollte es kaum glauben.... eine Maschine, die 'Großer Gott wir loben dich' spielt! Furchtbar! Nein, der Junge, der heute Abend Messe dienen sollte, kommt mal wieder nicht. Also, auf die Messdiener ist heutzutage auch kein Verlass mehr..." Entmutigt ließ er sich schwer auf einen Stuhl fallen. Ingeborg stand vor ihm; er tat ihr leid.

Der Pastor schien einen Moment über seine Schuhe nachzudenken, dann blickte er unvermittelt auf. Sein eben noch so trostloser Blick hatte sich verändert. "Sagen Sie, Ingeborg, könnten Sie eventuell...??"

"Ja? Soll ich mal nachsehen, ob der Junge nicht bald kommt?"

"Nein." Er schüttelte heftig den Kopf. "Der wird nicht mehr kommen. Entweder eine Viertelstunde vor Beginn der Messe, oder gar nicht. Und jetzt ist es schon fünf Minuten vor! Nein. Vergessen Sie den Jungen! Könnten Sie nicht gleich für ihn einspringen? Eingekleidet sind Sie ja schon!"

Sie brauchte einen Moment, bevor sie es kapierte. Sie sollte hier und jetzt...?? Sie nickte. Jetzt also schon, dachte sie, und spürte wie ihr Herz etwas schneller schlug.

Dem Pastor huschte ein dankbares Lächeln über sein Gesicht. "Und Sie, Barbara? Kann ich auch mit Ihnen rechnen?"

Klaus trat erschrocken einen Schritt zurück. Was zum Teufel tue ich hier eigentlich?? "Nein," stotterte er. "Es tut mir leid. Ich.... ich kann nicht. Habe noch etwas Wichtiges vor!" Er schnappte sich seine Jacke, machte sich nicht einmal die Mühe, sie noch anzuziehen, dann war er auch schon verschwunden.


München, Mitte März

Evelyn Kasulke machte sich Sorgen. Seit Wochen hatte sie nichts mehr von Klaus gehört. Von Barbara einmal ganz zu schweigen. Sie erinnerte sich ungern an jenen Vorfall vor einigen Wochen.
Man hatte sie an einem Samstagabend zu einem verunglückten Radfahrer gerufen, der mit seinem Fahrrad zu Fall gekommen war und sich wahrscheinlich den Knöchel gebrochen hatte. Sie hatte den Rettungswagen so abgestellt, dass das Unfallopfer im Lichtkegel der Scheinwerfer zu liegen kam. Und wie immer hatte sie zu allererst an die Sicherung der Unfallstelle gedacht. um sich dann um die Versorgung des Mannes zu kümmern.
Glockenläuten von der kleinen Kirche ganz in der Nähe hatte eingesetzt, dann hatte sie schnelle Schritte gehört, eine Frau kam in hohem Tempo gelaufen, noch im Vorbeijagen zog sie sich ihre Jacke an. Und schon war sie auch wieder weg gewesen. Barbara?
Es war alles viel zu schnell gegangen. Außerdem musste sie sich um ihre Arbeit kümmern. Sie und ihr Kollege hatten Wichtigeres zu tun, als jemand hinterherzulaufen.

Erst als sie Stunden später daheim zur Ruhe kam, erinnerte sie sich des Vorfalls. Quatsch, du hast Gepenster gesehen, Evelyn! Wieso sollte es Barbara gewesen sein? Und dennoch, es war das Viertel, in dem Klaus wohnte. Sie wusste, er hatte das Haus seiner Großmutter geerbt. Sie schmunzelte etwas, als sie daran dachte, unter welchen Umständen sie ihn dort kennen gelernt hatte. Die alte Dame hatte sich etwas gebrochen, war wohl eine steile Kellertreppe hinabgestürzt und Klaus hatte die Rettung angerufen. Und dann war da kein Klaus, sondern Barbara, sein weibliches alter ego, die sie erwartete. Sie selber hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es besser sei, er würde als Angehöriger seinen richtigen Namen angeben, denn seine angenommene Rolle als Frau hatte sie schnell durchschaut.

Nicht durchschaut hatte sie, nachdem sie sich näher kennen gelernt hatten, warum genau er immer wieder in diese Rolle zurückfiel. Erst Gertrud, die ältere, noch lebende Schwester seiner Großmutter, hatte etwas Licht ins Dunkel bringen können. Sie hatte ein jahrelang gehütetes Geheimnis gelüftet, das so furchtbar war, dass sie es am Anfang als reinen Quatsch abgetan hatte. Nun waren alle schlauer.

Instinktiv aber spürte sie, dass etwas aus dem Lot gekommen war. Sie konnte den Finger nicht darauflegen, aber es kam ihr so vor, als würde Klaus im Moment vor Barbara davonlaufen. Auch wenn dies ihrer Meinung nach völlig unmöglich war. Aber was zählte schon ihre Meinung in diesen Dingen?
Sie hatte in letzter Zeit eine etwas ruhigere Arbeit gehabt. Mit dem fast gleichzeitigen Ende von Fasching und Eis und Schnee hatte sich die Zahl der Unfälle fast halbiert. Und so hatte sie mehrmals bei Klaus angerufen. Einem Treffen war er bis jetzt stets ausgewichen. Und zu Fragen nach Barbara schwieg er. Nur einmal hatte er, in einer Mischung aus Trauer und Wut, sie heftig angefahren: 'Es gibt keine Barbara mehr!'

Sie verstand, was er sagen wollte. Aber sie verstand auch, dass er unbewusst noch etwas ganz anderes gesagt hatte: 'Es gibt keinen Klaus mehr!'

% % %

Er war davongelaufen. Seit Tagen, ja seit Wochen machte er gar nichts anderes mehr, als immer nur wegzulaufen. Fort, nur fort von allem!! Aber er musste auch feststellen, dass der Mensch, und liefe er einmal um die ganze Welt herum, am Ende wieder an seinem Ausgangspunkt ankam. Back to the roots!, dachte er. Seine Wurzeln! Aber wo genau waren diese? War es möglich, die ganze Scheiße, die ganze Verzweiflung mit den Wurzeln auszureißen?

Er hatte längst gemerkt, dass seine Kräfte nachließen. Seit Tagen hatte er keine Lust mehr, ans Telefon zu gehen. Es waren sowieso immer nur zwei Nummern, die er auswendig kannte: Ingeborg und Lyn. Hatte er nicht alles gesagt, was er sagen konnte? Aber wie war es mit den Dingen, die er nicht sagen konnte? Weil er es nicht einmal wagte, sich die wichtigen Fragen zu stellen?
Ein Blick in den Spiegel ließ ihn erschrecken. Konnte man wirklich so schnell abgleiten? Zwei Wochen lang nicht rasiert und wenig gegessen und viel zu wenig geschlafen?
Sterben, dachte er. Es wird nur ein Schritt sein, dann bist du bei all den anderen, die schon dort sind.... im Jenseits.... Namen flogen wieder einmal durch seinen Kopf.... Daniela; Oma Gretl, der alte Pastor Flemming, Lenchen, seine Schwester.... Nein! Erschrocken fuhr er hoch. Lenchen gehörte nicht dazu! Sie brauchte ihn, sie wartete auf ihn - oder nicht!

Der Gedanke an seine Schwester belebte ihn. Er ging ins Bad, kramte sein Rasierzeug hervor, duschte anschließend und föhnte sich die Haare. Zum Glück fand er noch saubere Sachen in seinem Schrank; er würde wohl doch bald wieder Wäsche machen müssen. Ein schneller Blick in den Kühlschrank überzeugte ihn davon, dass er auch bald wieder einkaufen müsste. Ein Glück, dass es ihm nicht an Geld mangelte.



Schwarze Wolken begleiteten seinen Weg durch die Stadt. Hoffentlich blieb es trocken, denn seine Kleidung war nicht besonders wetterfest. Schon gar nicht wenn er mit dem Roller unterwegs war. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er das hübsch im Grünen gelegene Heim erreicht hatte.

Freundliches Lachen seitens des Pflegepersonals empfing ihn. Wie schon am Tag nach Weihnachten musste er wieder heftig schlucken, als er seine Schwester in ihrem Zimmer besuchte. Und wieder kämpfte er mit der Erkenntnis, dass menschliches Glücksempfinden nicht von der Stärke des Geistes abhängig war. Den Unterschied zwischen fossilen Energieträgern und erneuerbarer Energie würde er mit ihr nie diskutieren können, aber da war etwas, was ihn selbst an diesem Gedanken zweifeln ließ.
Sie freute sich wieder wie ein kleines Kind .... mein Gott, sie ist ein kleines Kind! .... sagte wieder 'Laus helfen!' und freute sich, als er ihr aus einem kleinen Bilderbuch vorlas. Eine Geschichte mit einem kleinen Mädchen. 'Ena!', sagte sie, zeigte auf das Kind und lächelte. Ein Kind, das von zu Hause weggelaufen war. Als es auf der letzten Seite wieder in die Arme der besorgten Eltern fiel, da klappte sie, bevor er den Text lesen konnte, das Buch schnell zu und stopfte es mit einiger Vehemenz unter einen großen Bücherstapel. Mein Gott, sie erinnert sich!, dachte Klaus. Sie erinnert sich, dass sie von den eigenen Eltern misshandelt wurde!

Er blieb noch eine Weile bei ihr. Es tat ihm gut, ihr unbefangenes Lachen zu sehen. Als er sich von ihr verabschiedete gab sie ihm einen dicken Kuss. Sie begleitete ihn bis zu jener Tür, die immer verschlossen blieb. Eingesperrt, dachte er. Sie wird ihr Leben lang eingesperrt sein. Dann aber sah er, dass sie nicht eingesperrt war, sondern beschützt. Wäre sie damals nicht die Treppe hinabgefallen, und in der Folge in dieses Heim gekommen, die Eltern hätten sie am Ende tot geprügelt. Er trat hinaus ins helle Sonnenlicht. Eine erste Amsel sang ihre lockende Strophe in den frühen Abendhimmel. Das Leben würde weitergehen.
Als er seinen Roller anwarf, merkte er es deutlich, die neue Energie, die ihm dieser Besuch gegeben hatte. Er würde weiterlaufen. Aber nicht mehr weglaufen.




5. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MarioImLooker am 11.12.17 09:48

Auch wenn ich die Geschichte nicht gerade am 24. um 10 Uhr lesen würde, so würd ich mich echt auch über eine weihnachtliche Folge freuen. Irgendwann in der Woche werd ich sie mit Begeisterung verschlingen.
6. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von AlfvM am 11.12.17 10:32

Hallo Daniela,
du könnest doch einen Teil am 23.12 u. ggf. einen weiteren am 25.12 hochladen, das wär dann genügend Lesestoff für die Feiertage für den der möchte und sofern du das willst und kannst.
LG Alf
7. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von bd8888 am 12.12.17 16:27

Hallo Daniela
Erst einmal danke für die neue Fortsetzung deiner Geschichte.
Wegen Weihnachten sehe ich eine Fortsetzung eher
als Weihnachtsgeschenk und wer nicht will, der kann
sie ja nach den Feiertagen lesen.
bd888
8. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 17.12.17 22:33

Nur noch eine Woche bis zum Fest!! Herzlichen Dank den Lesern, die mir geschrieben und gute Argumente geliefert haben. Aber noch habe ich mich nicht entschieden.
Heute möchte ich einmal eine ganz andere Frage stellen. Ich möchte gern wissen, ob es eigentlich auch Frauen gibt, die Interesse an meiner langen Geschichte finden. Als Autorin würde mich dies schon sehr interessieren. Bitte, ich erwarte keine langen Berichte, ein kurzer Gruß genügt.

Ich möchte auch noch einmal klarstellen, dass mir jeder Gruß hier, auf dieser Seite, immer willkommen ist. Der anfangs angeführte Hinweis auf die Diskussionsseite war nur für tieferschürfende Kritiken, auch der ablehnenden Art, gedacht. Also, macht Eurer Daniela eine kleine Freude und meldet euch ab und zu. Immerhin liefere ich seit Jahren spannenden Lesestoff zum Nulltarif.

Vielleicht mag der eine oder andere auch ein paar Euro für das Forum spenden. Leider habe ich keinen Überblick über die finanzielle Lage, aber ich glaube gern, dass die Kassen immer leer sind.

Euch allen eine schöne vierte Adventswoche!!



München, Ende März

"Was ist los, Klaus? Hast du keine Lust mehr? Soll ich diese Sache jetzt ganz allein machen?" Endlich hatte Ingeborg wieder Kontakt zu ihm bekommen.

"Ja.... nein. Es ging mir nicht gut. Aber jetzt geht es schon wieder."

"Du machst also wieder mit?" Ingeborg wartete gespannt auf eine Antwort; sie kam nicht. "Klaus? Machst du wieder mit bei den Messdienern? Es war schließlich deine Idee gewesen. Du selber wolltest es doch so!"

"Barbara wollte es so, Ingeborg! Das ist ein Unterschied!"

"Ja.... und jetzt? Was willst du mir eigentlich sagen?"

Er schwieg wieder lange Zeit. "Sie will nicht mehr. Barbara will das jetzt nicht mehr! Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen!"

"Ach, das ist doch Blödsinn! Also ohne Barbara macht mir das auch keine Lust! Ich habe wahrlich besseres zu tun, als tausend Kniebeugen zu machen. Verbrecher fangen zum Beispiel!" Sie hatte etwas mehr Schärfe in ihre Worte gelegt; würde es ihn aus seiner Lethargie aufwecken?

"Thomas..." Er hatte keine Ahnung, warum er es gesagt hatte. Oder wo der Name so plötzlich herkam.

"Wer?" Ingeborg fragte sich, warum er plötzlich einen Namen nannte, den sie nie vorher gehört hatte. "Thomas?? Was für ein Thomas jetzt?"

Er dachte nach. Thomas, ein ehemaliger Mitschüler. Damals im Internat in Ettal. Thomas hatte den Stein ins Rollen gebracht. Sein Brief an den Bischof.... Klaus, wir müssen das Schwein fertigmachen, ehe es uns fertigmacht! Wir haben keine Wahl. Kämpfen, oder untergehen.... Und dann war er plötzlich von der Schule abgemeldet worden und er hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
"Ein früherer Mitschüler vom Internat. Er war damals von der Schule genommen worden.... ich habe nie wieder von ihm gehört."

"Das soll ja wohl vorkommen! Ich habe auch lange nichts mehr von Barbara gehört!" Sie war gereizt, mochte diesen Themawechsel überhaupt nicht.

Klaus ging nicht darauf ein. "Ich dachte nur, vielleicht könntest du mal herausfinden, ob da was passiert ist! Du sitzt doch mit diesen Cold-case-Akten. Brauchst doch nur einmal seinen Namen einzugeben!"

Komisch, dachte sie, wie die Leute sich immer die Polizeiarbeit vorstellen. Total an der Realität vorbei. "Klaus, ich kann nicht einfach so Nachforschungen anstellen! Auf eigene Faust!" Sie merkte, dass es besser war, einen etwas versöhnlicheren Ton anzuschlagen. "Wie hieß er denn?"

"Aber mit dieser Pater Ruprecht Sache konntest du es doch auch! Und er hieß Thomas, sagte ich doch schon!"

Sie seufzte. "Ja, das war auch knapp am Rande der Legalität! Und nur Thomas ist schon ein wenig dürftig, findest du nicht? Nachname, Geburtsdatum, Wohnort.... oder was glaubst du, was mein Rechner sagt, wenn ich da nur Thomas eingebe?"

"Tut mir leid. Mehr habe ich nicht. Aber ich bin mir sicher, er würde sofort gegen das Schwein aussagen!"

"Ist er auch von diesem famosen Pater missbraucht worden?" Skepsis lag in ihrer Stimme.

Klaus zögerte. "Nein, ich glaube nicht. Irgendweshalb hatte Pater Ruprecht sich von ihm ferngehalten."

"Dann fällt er für uns doch sowieso aus. Ein Gericht möchte Opfer, wenigstens Augenzeugen. Nicht Leute, die von anderen was gehört hatten!" Sie ärgerte sich.

"Du kannst doch mal wieder in der Schule anrufen. Die haben es bestimmt irgendwo stehen, wie er mit Nachnamen hieß! Und wo er überhaupt herkam. UND sein Geburtsdatum...."

"Schon gut, schon gut! Nun beruhige dich mal!" Ihr kam ein Gedanke. "Aber dann musst du mir auch helfen, jemanden zu finden!"

"Und wen suchst du jetzt? Ich kenne doch sowieso niemanden!"

"Barbara, Klaus. Ich möchte Barbara wiederfinden! Und sie soll mit mir zusammen bei den Messdienern weitermachen! Wenn sie morgen Nachmittag zur Messdienerstunde kommt, dann werde ich am Montag mal da im Internat anrufen und sehen, ob ich diesen Thomas für dich ausfindig machen kann. Ja?" Ihr schlug das Herz bis zum Hals. "Also dann bis morgen Nachmittag.... Barbara...." Das letzte Wort hauchte sie so leise, dass sie es selber kaum hören konnte. Dann beendete sie das Gespräch.

% % %

Er hatte sich rasiert und war frisch geduscht. Dann aber hatte ihn alle Energie schlagartig verlassen. Jetzt stand Klaus in seinem Schlafzimmer, unschlüssig, was er tun sollte.
Es war Samstagnachmittag. Nur noch zwei Stunden! Warum konnte er nicht einfach so gehen, so wie er war. Klaus, nicht Barbara. Und warum hatte Ingeborg alles von Barbaras Erscheinen abhängig gemacht? Er konnte keine Entscheidung treffen. Oder will ich mich nicht entscheiden?

Der Stundenschlag der großen Standuhr hallte durch das leere Haus. Früher, als seine Oma noch lebte, hatte er ihn nie so deutlich wahrgenommen, da hatte es immer Leben im Haus gegeben. Und jetzt? Nur noch Tod??
Der Besuch bei seiner Schwester hatte ihn unerwartet mit neuer Energie versehen, alles schien plötzlich hell und klar, für einen Moment hatte er geahnt, welchen Weg er würde gehen müssen. Aber dann hatte ihn die Wirklichkeit wieder eingeholt. Seine Wirklichkeit, und die von Barbara. Hatte er sich nicht vorgenommen, nicht mehr wegzulaufen? Aber vor wem lief er eigentlich weg? Vor sich, oder vor Barbara??

Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Wieso hatte sich so vieles verändert, seit er die ganze Wahrheit über seine Schwester erfahren hatte? Sie war der Schlüssel zu seinem Gebahren, zu seinem Phantasieprodukt. Barbara hatte er sie genannt! Stimme das überhaupt? Er erinnerte sich schwach an Monika. 'Wir müssen einen anderen Namen für dich suchen! Wie wäre es mit Barbara? Der Name ist zwar furchtbar, aber da gibt es kein vertun. Nicht? Du meinst, er passt nicht zu dir? Hm...' Nein, er hatte sich den Namen wirklich nicht ausgesucht. Gab es nicht schönere Mädchennamen? Aber letzten Endes hatte er sich auch daran gewöhnt. Immerhin hatte seine Unterwerfung unter Monikas Dominanz einer latenten Schwäche bei ihm zum Ausdruck verholfen.

War es anfangs noch der reinste Horror, fühlte er sich ständig angegafft und beobachtet, so entdeckte er doch bald, dass Barbara ihm sogar Spaß bereiten konnte. Es war lustig, im Sommer mit wehendem Petticoatrock durch die Straßen zu laufen und so manchen Pfiff zu hören, der sicherlich ihm galt. Nein: ihr, verbesserte er sich. Ihn hatte es lange gar nicht mehr gegeben!

Ingeborg wollte Nachforschungen anstellen. Aber nur, wenn er wieder mitmachen würde, und nur, wenn er als Barbara mitmachen würde! Habe ich überhaupt eine Wahl?, fragte er sich.
Mechanisch leerte er den kleinen Beutel, in dem er Keuschheitsgürtel und -BH aufbewahrte. Das Metall war kalt, als es seinen Körper berührte. Kein Wunder, denn er heizte wenig in seinem Schlafzimmer. Sein schlaffes Glied ließ sich problemlos in die enge Röhre einführen, gekonnt verband er die einzelnen Teile miteinander, setzte das kleine Schloss am Taillenreifen ein und schloss es ab.
Der BH war wie immer eine dämliche Fummelei, er brachte die breite Kette über seinen Kopf, griff hinter sich nach den stählernen Halbschalen, führte sie nach vorn um seinen Oberkörper herum, dann führte er sie über den Stift der kleinen Platte, die vorn herabhing; auch hier setzte er ein Schloss ein und verschloss es. Ein Schloss, zu dem er keine Schlüssel hatte, wie auch zu seinem Keuschheitsgürtel.

Klaus stand ein wenig da, wie ein begossener Pudel. Ist es das, was du willst? Fühlt es sich gut an? Macht es Spaß?
Er wusste es nicht. Nein, er wusste nicht, ob es das war, was er wirklich wollte. Oder ob es sich gut anfühlte. Spaß machte es auf jeden Fall nicht.

% % %

Ingeborg blickte nervös auf ihre Uhr. Sie war rechtzeitig zur Messdienerstunde gekommen, einer der letzten, bevor die offizielle Aufnahme stattfinden sollte. Obwohl sie bereits den perfekten Fehlstart hingelegt hatte! Bereits zweimal hatte sie abends einspringen müssen; es machte ihr nichts aus, so kam sie unter Menschen; es war allemal besser, als nur zu Hause seinen Gedanken nachzuhängen.
Würde Klaus kommen? Nein, falsch! Würde Barbara noch kommen? Sie brauchte Barbara, brauchte hier, in dieser Kirche, jemanden, mit dem zusammen sie ihren Plan würde ausführen können. Sie wollte unbedingt ausprobieren, ....

Die schwere Tür zur Sakristei wurde aufgestoßen. Herein kamen der Pastor und Barbara, mit der er sich scheinbar einmütig unterhielt. "....ja, aber das kann doch jedem mal passieren! Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, Barbara! Auf jeden Fall ist es schön, dass Sie jetzt wieder dabei sein können. Sie werden sehen, wirklich viel haben Sie die letzten Male nicht versäumt..." Er warf einen verschmitzten Blick in die kleine Runde - neben Ingeborg waren auch drei Kinder zum Unterricht erschienen - dann fuhr er lachend fort: "....höchstens einige wirklich gute Witze und ein paar Negerküsse - oh! das darf man wohl nicht mehr sagen??" Er setzte eine Unschuldsmine auf, begab sich dann nach nebenan und traf einige Vorbereitungen für die Stunde.

"Schön, dass du gekommen bist, Barbara!" Ingeborg sandte Klaus einen dankbaren Blick. Aber sie merkte sogleich, dass er ihr auswich.

"Klaus!" Er sagte es sehr leise; die Kinder sollten es besser nicht hören.

"Ja. Okay. Alles wird gut! Und am Montag werde ich mal einige Nachforschungen anstellen." Sie kamen nicht mehr dazu, sich einmal auszusprechen. Ingeborg beobachtete Klaus, oder doch Barbara, sie trug einen schicken Pullover, dazu einen schlichten Jeansrock. Alles schien wie immer. Oder doch nicht??

Die Stunde verlief wie im Fluge. Und anschließend bat der Pastor Ingeborg wieder einmal, ob sie noch bis zur Abendmesse bleiben könnte.

"Bleibst du auch, Klaus?" Sie hatte ihn leise gefragt. Er aber hatte wie durch sie hindurchgeblickt. Und den Kopf geschüttelt. "Kommst du heute Abend noch zu mir? Ist lange her, dass du mal bei mir warst..." Aber Klaus hatte nicht reagiert. Und war gegangen. Mein Gott, was ist bloß mit ihm los? Er wird Hilfe brauchen, sonst geschieht am Ende noch etwas Schlimmes.

Wieder war es dunkel und still geworden in der Kirche. Sie war allein. Als niemand mehr da war schlüpfte sie wieder in die Messdienergewänder, nahm ihre Tasche und machte sich auf den Weg in die kleine Seitenkapelle.


% % %

Er hatte es schlichtweg vergessen! Der BH! Dieser verdammte BH. Mit diesem Ding auf seiner Brust hatte er keine Wahl.... Klaus oder Barbara, das war plötzlich keine Wahl mehr. Er fluchte leise vor sich hin. Ingeborg würde sich freuen, wenn Barbara zu ihr käme! Keine Frage! Aber da war etwas, was einfach nicht mehr ging...

Er legte seine Hände auf die beiden Stahlkugeln, die so prominent seine männliche Brust zierten. In seinem Falle bewirkte der Keuschheits-BH etwas ganz anderes, als bei einer richtigen Frau. Mochte eine Frau fühlen, dass ein wichtiger Körperteil unerreichbar geworden war, so war es bei ihm so, dass er einen wichtigen Körperteil nicht mehr verstecken konnte - einen wichtigen weiblichen Körperteil! Früher oder später müsste er Ingeborg besuchen, sie um die Schlüssel bitten. Verzweiflung machte sich in ihm breit. Noch einmal versuchte er, die stählerne Last irgendwie abzustreifen; es war zwecklos. Und plötzlich spürte er, weiter unten, ein Verlangen, ein Feuer, an das er schon lange nicht mehr geglaubt hatte. Seine Hand wanderte in seinen Schritt, suchte nach dem, was ihn zum Mann machte, aber da war nichts, kein pochendes, hartes Glied, nur der harte Stahl, der sein Geschlecht umfangen hielt.

Er wunderte sich, wie schnell es weiter bergab ging. Hatte er in den letzten Wochen den initimen Kontakt zu Barbara bereits verloren, so drohte ihm jetzt auch Klaus zu entgleiten.


% % %

'Und was kann ich diesmal für Sie tun?', hatte sie der Verkäufer im Baumarkt gefragt. Sie hatte sich ob der etwas seltsamen Eröffnung eines Verkaufsgespräch gewundert, bis ihr endlich eingefallen war, dass sie bereits im Spätsommer an denselben jungen Mann geraten war, als sie nach geeignetem Werkzeug suchte, um ihre stählerne Unterwäsche loszuwerden.
Diesmal lagen die Dinge anders. Diesmal wollte sie keine Kneifzange, auch keine Blechschere, sondern nur einen Akkuschrauber. Einen kräftigen Akkuschrauber, hatte sie gesagt. 'Oder soll es nicht doch besser ein Presslufthammer sein, gnädige Frau?', hatte er scherzhaft nachgefragt. Nein, ein Akkuschrauber genügte vollkommen. Sie fand einen, der solide genug aussah, aber auch klein genug für die Handtasche schien, dann hatte sie bezahlt und war gegangen.

Mit dem Ding würde es bestimmt gehen! Aber nur, wenn Barbara mitmachte! Sie musste ganz einfach mitmachen, dachte Ingeborg...


München, Anfang April

"Frau Wimmer! Aber natürlich erinnere ich mich an Sie! Was kann ICH für Sie tun??"

Gott, habe ich ein Glück!, dachte Ingeborg. Wieder diese furchtbare Sekretärin! Sie hatte es endlich geschafft, die Nummer des Internats zu wählen. Etwas verspätet, wie sie hatte zugeben müssen. Und auch nicht, ohne Druck von Klaus bekommen zu haben. Er hatte sie besucht, trug immer noch Barbaras Sachen. Hatte dagesessen wie ein Häufchen Elend, ihre Annäherungsversuche abgewehrt, kaum etwas gesagt. Sie hatte ihn aufschließen müssen, hatte ihm Keuschheitsgürtel und -BH abgenommen; beide Teile hatte er bei ihr zurückgelassen, als er wieder gegangen war. Etwas erleichtert, wie ihr schien, aber keineswegs glücklich.

Er hatte ihr Vorwürfe gemacht. "Und warum hältst du deinen Teil der Verabredung nicht ein, wenn ich meinen gehalten habe?"

Sie hatte sich mit stressiger Arbeit entschuldigt. Gesagt, dass es ihr leid täte. Und dass sie es bei Gelegenheit erledigen wollte. Und hatte es dann wieder vergessen.

"Sind Sie immer noch auf der Suche nach diesem Pater von damals? Ein Glück, dass ICH Ihnen helfen konnte!" Die Sekretärin legte eine Kunstpause ein, legte dann sogar noch nach. "Nicht wahr, Frau Kommissarin?"

Ingeborg Wimmer merkte förmlich, wie sich ihre Fußnägel bogen. Aber im Moment musste sie klein beigeben. "Ja. Ein Glück. Ohne ihre Hilfe hätten wir den Kerl nie bekommen!" Sie biss sich auf die Zunge. Verplapper dich nicht, Ingeborg! Was geht das diese blöde Kuh an? Um gar nicht erst weitere Fragen aufkommen zu lassen, fuhr sie hastig fort. "Nein. Ich bin auf der Suche nach einem ehemaligen Schüler. Er hieß Thomas."

Ein schlecht unterdrücktes Lachen war zu hören. "Thomas? Sagten Sie Thomas, Frau Wimmer? Ach, Thomas...." Pause.

"Ja! Sagt Ihnen der Name etwas?"

"Allerdings, Frau Wimmer! Allerdings...."

"Und, was, bitte?"

"Jeder zehnte Schüler heißt bei uns Thomas! Wann soll denn das gewesen sein?"

Ingeborg nannte ihr Klasse und Schuljahr. Beides wusste sie noch von ihren Ermittlungen gegen Pater Ruprecht.

"Hm, da müsste ich einmal nachrechnen. Dann müsste dieser Thomas ja hier in dieser Kartei zu finden sein. Jahrgang 2010, wissen Sie! Hm..... Thomas, sagten Sie? Nein, da hat hier kein Thomas Abitur gemacht. Leider, Frau Wimmer, werde ich Ihnen diesmal wohl nicht bei der Verbrecherjagd behilflich sein können. Was hat er denn ausgefressen?"

Ingeborg war für einen Moment irritiert. "Nein, tut mir leid, ich glaube, Sie haben mich missverstanden. Er hat bei Ihnen nicht das Abitur gemacht!"

"Oh!"

"Er war schon lange vorher von der Schule genommen worden. Ich möchte gern wissen, wie hieß dieser Thomas mit Nachnamen und wohin ist er gegangen?"

"Das möchte ich auch gern wissen, Frau Kommissarin. Der Polizei helfe ich immer gern!"

"Ja, dann schauen Sie doch bitte einmal in ihren Unterlagen nach!" Ingeborg ballte die Hand zur Faust. Lange würde sie sich nicht mehr beherrschen können.

"Das tue ich doch schon. Aber er ist hier nicht aufgeführt...."

"....weil er bei Ihnen kein Abitur gemacht hat! Ja, das habe ich ja kapiert. Aber in ihren andern Unterlagen...."

"Es gibt keine anderen Unterlagen! Tut mir leid. Wir archivieren immer nur die fertigen Abiturjahrgänge. Es gibt leider sehr viele Kinder, die nur vorübergehend bei uns zur Schule gehen. Oft müssen die Eltern für ein paar Jahre ins Ausland, dann werden die Kinder zu uns geschickt! Wissen Sie, wir sind eines der besten katholischen Internate in...."

"Ja, das glaube ich ja gern!" Hatte die wirklich keine Ahnung, was bei denen passiert war?? "Sagen Sie, letztes Jahr, da konnte ein alter Lehrer weiterhelfen. Vielleicht ließe sich das jetzt auch machen?"

"Kein Problem, Frau Wimmer. Ich tue, was ich kann..."

Ingeborg wartete auf mehr, aber mehr kam nicht. Im Geiste legte sie ihre Hände um den Hals dieser nervigen Sekretärin. "Danke. Ja, herzlichen Dank. Das tun Sie bestimmt. Also, bitte erkundigen Sie sich. Dieser Thomas ging damals in dieselbe Klasse wie Klaus Behrend, vielleicht hilft Ihnen das weiter. Und rufen Sie dann bitte zurück, ja? Es pressiert! Vielen Dank!"

Sie knallte ihre Faust auf den Tisch. Komische Schule! Und eine ziemlich anstrengende Sekretärin.




Ihr Telefon klingelte bereits keine Stunde später. "Frau Wimmer? Ah, gut. Also, wir haben Glück!"

Ingeborg wunderte sich. Wir? Wieso haben WIR jetzt Glück? "Na so ein Glück aber auch!" Etwas besseres fiel ihr schlichtweg nicht ein.

"Sagen Sie das nicht, Frau Kommissarin! War eine ganz schöne Detektivarbeit, das kann ich Ihnen sagen!"

"Toll, haben Sie gut gemacht!" Blöde Kuh, du kannst mich mal! "Also, was haben Sie denn nun herausgefunden?"

"Ja, also, das war wirklich kompliziert!" Wieder legte die Sekretärin eine Kunstpause ein. Aber diesmal tat die Beamtin ihr nicht den Gefallen. "Ich fragte in der Pause einige der anwesenden, älteren Lehrkörper, ob sie was wüssten."

Hatte sie wirklich 'Lehrkörper' gesagt?? "Ah, gut. Und was wussten die ... Körper?" Beinahe hätte sie laut aufgelacht.

"Leider Fehlanzeige! Frau Wimmer. Aber dann telefonierte ich mal etwas herum und erreichte einen ehemaligen Kollegen, der sich recht gut an diesen Thomas erinnern konnte. Thomas Weber hieß der Junge. Ja, die Eltern hatten ihn damals auf Anraten unserer Anstalt von der Schule genommen. Der Kollege erinnerte sich, es habe sich um einen schwierigen Charakter gehandelt, ein Junge, der sich nicht anpassen konnte oder wollte. Und der Kollege wusste sogar noch, aus welchem Ort der Junge stammte! Der Junge hatte ihm einmal eine Flasche mitgebracht und behauptet, es sei Bier. Und der Kollege hätte sich nach nur wenigen Schlucken geweigert, mehr davon zu trinken! Rauchbier! Stellen Sie sich das einmal vor, Frau Kollegin!"

Ob der Sekretärin dieses letzte Wort nur so rausgerutscht war, oder nicht, ließ Ingeborg Wimmer dahingestellt. Aber jetzt hatte sie einen Namen und einen Wohnort: Bamberg! "Bingo! Frau äh.... - wie hieß die Sekretärin eigentlich?? - Frau Kollegin. Und herzlichen Dank! Übrigens kenne ich das Zeug! Mein Fall ist das auch nicht! Sie haben mir wirklich weitergeholfen!! Was aber sonst mit dem Jungen wurde, das wissen Sie nicht zufällig?"

"Nicht wirklich. Der Kollege war sich nicht sicher, ob der Junge dann auf ein normales Gymnasium kam. Oder auf ein anderes Internat!"

"Nun gut. Ich werde es herausfinden. Noch einmal meinen herzlichsten Dank!" Sie beeilte sich, den Hörer aufzulegen. Jetzt hatte sie auf jeden Fall eine erste Spur.


% % %

Ostern näherte sich mit Siebenmeilenstiefeln. Längst hatte Ingeborg sich daran gewöhnt, den Dienst als Messdienerin auszuüben. Mehrere Male hatte sie zur Abendmesse aushelfen müssen. Es war wirklich nie etwas besonderes. Zum Schluss hatte es noch einige Übungsstunden gegeben; Auch Barbara war jedes Mal gekommen. Die gelassene Ruhe, die sie sonst ausgestrahlt hatte, war jedoch nicht mehr bei ihr zu finden.

Ingeborg hatte Klaus von ihrem Anruf in dessen früherem Internat berichtet. Er hatte sich zufrieden gezeigt, gleichzeitig aber auch bemängelt, dass sie mit ihren Nachforschungen noch nicht weitergekommen war.
Wieder hatte sie das Problem, dass sie nicht einfach auf eigene Faust arbeiten konnte. Natürlich hatte sie ihr eigenes Computersystem nach Thomas Weber befragt, aber Bamberg war eine andere Polizeidirektion, deren Daten nicht so ohne weiteres einzusehen waren. Und wer sagte überhaupt, dass der Junge jemals nach Bamberg zurückgekehrt war? Wenn seine Eltern, wie vermutet, irgendwo im Ausland für eine deutsche Firma arbeiteten, dann konnte er weiß Gott wo auf einer deutschen Schule gelandet sein. Die gab es schließlich auf der ganzen Welt. Und das waren wohl nicht die schlechtesten deutschen Schulen, dachte sie.

Trotzdem lief alles auf eine Anfrage bei den Kollegen hinaus. Eine informelle Anfrage. Und informelle Anfragen stellte mal lieber etwas indirekt. Wer konnte helfen?

Sie wählte die private Nummer ihres früheren Chefs.

"Ingeborg!! Das ist aber eine schöne Überraschung! Sag, wie geht's, wie steht's? Vermisst du mich schon? Möchtest du dich nicht auch nach Passau versetzten lassen? Hier ist gerade eine Stelle frei geworden!"

"Bruno!" Muss das Leben immer solche Überraschungen machen? Artig begrüßte sie ihren geschätzten Kollegen und ehemaligen keyholder. Wie lange ist das jetzt her?, überlegte sie. Ein Dreivierteljahr? "Ja, doch, natürlich vermisse ich dich. Und endlich mal wieder gescheite Polizeiarbeit! Vielleicht sollten wir uns bald mal wieder sehen?"

"Hätte ich nichts dagegen! Kommst du zu mir?" Sie hörte das Schnippen eines Feuerzeuges, anscheinend hatte er sich eine Zigarette angezündet. "Doch sag mal, deswegen rufst du wohl nicht an? Hast du Ärger? Soll 'derRick' kommen und dich aus der Scheiße hauen?"

Ingeborg lachte. Ja, das war typisch Bruno. Ihm konnte man nichts vormachen. "Ich brauche eine Auskunft, Bruno. Sozusagen auf dem ganz kleinen Dienstweg. Kennst du jemanden oben in Bamberg?"

Er dachte kurz nach. "Ja, kenne ich. Wieso, was kann ich für dich tun? Hat dir jemand in die Suppe gespuckt? Übrigens Glückwunsch dazu, wie du den Fall mit unserer Isarleiche gelöst hast!"

Ingeborg Wimmer nannte ihm die wenigen Details, die sie selber hatte.

"Hm, ja, das werde ich für dich herausbekommen. Und über den Hintergrund willst du mir nichts berichten?"

"Es gibt keinen Hintergrund. Halt eben nur einen früheren Mitschüler, der sich darüber wundert, wieso er nie etwas von diesem Thomas Wagner gehört hatte, nachdem dieser von der Schule genommen wurde."

"Das soll ja wohl vorkommen!"

"Das hatte ich auch gesagt. Also... - sie druckste ein wenig herum, wusste nicht, wie sie es sagen sollte - ... sagen wir mal, es handelt sich um einen Gefallen."

"Einen Gefallen? Und jetzt also soll ich dir einen Gefallen tun?"

"Ja, ich bitte dich darum, Bruno!"

"Hm. Okay, aber dann musst du mir auch einen Gefallen tun!"

"Klar doch, Bruno. Alles was du willst!"

"Hast du deine hübsche Unterwäsche noch? Und die Schlüssel dazu?" Sie hörte eine leichte Anspannung seiner Stimme.

"Ja, hab ich noch. Aber nicht die Schlüssel...."

"Oh! Na so was! Wer hat denn die Schlüssel?"

Ingeborg hatte keine Lust, die Frage zu beantworten. "Jemand. Ein Keyholder, Bruno."

"Okay okay. Geht mich ja nichts an. Aber den Gefallen musst du mir jetzt tun....!"

"Sie wusste genau, was er meinte. Es gab gar keine andere Möglichkeit. Dumm nur, dass sie nicht die geringste Lust dazu verspürte. "Du meinst, ich soll....?"

"Ja. Alles. Den ganzen Kram bitte. Sagen wir es einmal so: Wenn du dich nicht in spätestens einer halben Stunde über Skype gemeldet hast, dann kannst du es vergessen! Und ich möchte dabei zusehen!" Er legte auf, ohne noch ein Wort zu sagen. Weil er wusste, dass es nicht das Ende war?




9. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Erni am 19.12.17 09:06

Zitat
Nur noch eine Woche bis zum Fest!! Herzlichen Dank den Lesern, die mir geschrieben und gute Argumente geliefert haben. Aber noch habe ich mich nicht entschieden.
Heute möchte ich einmal eine ganz andere Frage stellen. Ich möchte gern wissen, ob es eigentlich auch Frauen gibt, die Interesse an meiner langen Geschichte finden. Als Autorin würde mich dies schon sehr interessieren. Bitte, ich erwarte keine langen Berichte, ein kurzer Gruß genügt.

Ich möchte auch noch einmal klarstellen, dass mir jeder Gruß hier, auf dieser Seite, immer willkommen ist. Der anfangs angeführte Hinweis auf die Diskussionsseite war nur für tieferschürfende Kritiken, auch der ablehnenden Art, gedacht. Also, macht Eurer Daniela eine kleine Freude und meldet euch ab und zu. Immerhin liefere ich seit Jahren spannenden Lesestoff zum Nulltarif.

Vielleicht mag der eine oder andere auch ein paar Euro für das Forum spenden. Leider habe ich keinen Überblick über die finanzielle Lage, aber ich glaube gern, dass die Kassen immer leer sind.

Euch allen eine schöne vierte Adventswoche!!



München, Ende März

\"Was ist los, Klaus? Hast du keine Lust mehr? Soll ich diese Sache jetzt ganz allein machen?\" Endlich hatte Ingeborg wieder Kontakt zu ihm bekommen.

\"Ja.... nein. Es ging mir nicht gut. Aber jetzt geht es schon wieder.\"

\"Du machst also wieder mit?\" Ingeborg wartete gespannt auf eine Antwort; sie kam nicht. \"Klaus? Machst du wieder mit bei den Messdienern? Es war schließlich deine Idee gewesen. Du selber wolltest es doch so!\"

\"Barbara wollte es so, Ingeborg! Das ist ein Unterschied!\"

\"Ja.... und jetzt? Was willst du mir eigentlich sagen?\"

Er schwieg wieder lange Zeit. \"Sie will nicht mehr. Barbara will das jetzt nicht mehr! Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen!\"

\"Ach, das ist doch Blödsinn! Also ohne Barbara macht mir das auch keine Lust! Ich habe wahrlich besseres zu tun, als tausend Kniebeugen zu machen. Verbrecher fangen zum Beispiel!\" Sie hatte etwas mehr Schärfe in ihre Worte gelegt; würde es ihn aus seiner Lethargie aufwecken?

\"Thomas...\" Er hatte keine Ahnung, warum er es gesagt hatte. Oder wo der Name so plötzlich herkam.

\"Wer?\" Ingeborg fragte sich, warum er plötzlich einen Namen nannte, den sie nie vorher gehört hatte. \"Thomas?? Was für ein Thomas jetzt?\"

Er dachte nach. Thomas, ein ehemaliger Mitschüler. Damals im Internat in Ettal. Thomas hatte den Stein ins Rollen gebracht. Sein Brief an den Bischof.... Klaus, wir müssen das Schwein fertigmachen, ehe es uns fertigmacht! Wir haben keine Wahl. Kämpfen, oder untergehen.... Und dann war er plötzlich von der Schule abgemeldet worden und er hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
\"Ein früherer Mitschüler vom Internat. Er war damals von der Schule genommen worden.... ich habe nie wieder von ihm gehört.\"

\"Das soll ja wohl vorkommen! Ich habe auch lange nichts mehr von Barbara gehört!\" Sie war gereizt, mochte diesen Themawechsel überhaupt nicht.

Klaus ging nicht darauf ein. \"Ich dachte nur, vielleicht könntest du mal herausfinden, ob da was passiert ist! Du sitzt doch mit diesen Cold-case-Akten. Brauchst doch nur einmal seinen Namen einzugeben!\"

Komisch, dachte sie, wie die Leute sich immer die Polizeiarbeit vorstellen. Total an der Realität vorbei. \"Klaus, ich kann nicht einfach so Nachforschungen anstellen! Auf eigene Faust!\" Sie merkte, dass es besser war, einen etwas versöhnlicheren Ton anzuschlagen. \"Wie hieß er denn?\"

\"Aber mit dieser Pater Ruprecht Sache konntest du es doch auch! Und er hieß Thomas, sagte ich doch schon!\"

Sie seufzte. \"Ja, das war auch knapp am Rande der Legalität! Und nur Thomas ist schon ein wenig dürftig, findest du nicht? Nachname, Geburtsdatum, Wohnort.... oder was glaubst du, was mein Rechner sagt, wenn ich da nur Thomas eingebe?\"

\"Tut mir leid. Mehr habe ich nicht. Aber ich bin mir sicher, er würde sofort gegen das Schwein aussagen!\"

\"Ist er auch von diesem famosen Pater missbraucht worden?\" Skepsis lag in ihrer Stimme.

Klaus zögerte. \"Nein, ich glaube nicht. Irgendweshalb hatte Pater Ruprecht sich von ihm ferngehalten.\"

\"Dann fällt er für uns doch sowieso aus. Ein Gericht möchte Opfer, wenigstens Augenzeugen. Nicht Leute, die von anderen was gehört hatten!\" Sie ärgerte sich.

\"Du kannst doch mal wieder in der Schule anrufen. Die haben es bestimmt irgendwo stehen, wie er mit Nachnamen hieß! Und wo er überhaupt herkam. UND sein Geburtsdatum....\"

\"Schon gut, schon gut! Nun beruhige dich mal!\" Ihr kam ein Gedanke. \"Aber dann musst du mir auch helfen, jemanden zu finden!\"

\"Und wen suchst du jetzt? Ich kenne doch sowieso niemanden!\"

\"Barbara, Klaus. Ich möchte Barbara wiederfinden! Und sie soll mit mir zusammen bei den Messdienern weitermachen! Wenn sie morgen Nachmittag zur Messdienerstunde kommt, dann werde ich am Montag mal da im Internat anrufen und sehen, ob ich diesen Thomas für dich ausfindig machen kann. Ja?\" Ihr schlug das Herz bis zum Hals. \"Also dann bis morgen Nachmittag.... Barbara....\" Das letzte Wort hauchte sie so leise, dass sie es selber kaum hören konnte. Dann beendete sie das Gespräch.

% % %

Er hatte sich rasiert und war frisch geduscht. Dann aber hatte ihn alle Energie schlagartig verlassen. Jetzt stand Klaus in seinem Schlafzimmer, unschlüssig, was er tun sollte.
Es war Samstagnachmittag. Nur noch zwei Stunden! Warum konnte er nicht einfach so gehen, so wie er war. Klaus, nicht Barbara. Und warum hatte Ingeborg alles von Barbaras Erscheinen abhängig gemacht? Er konnte keine Entscheidung treffen. Oder will ich mich nicht entscheiden?

Der Stundenschlag der großen Standuhr hallte durch das leere Haus. Früher, als seine Oma noch lebte, hatte er ihn nie so deutlich wahrgenommen, da hatte es immer Leben im Haus gegeben. Und jetzt? Nur noch Tod??
Der Besuch bei seiner Schwester hatte ihn unerwartet mit neuer Energie versehen, alles schien plötzlich hell und klar, für einen Moment hatte er geahnt, welchen Weg er würde gehen müssen. Aber dann hatte ihn die Wirklichkeit wieder eingeholt. Seine Wirklichkeit, und die von Barbara. Hatte er sich nicht vorgenommen, nicht mehr wegzulaufen? Aber vor wem lief er eigentlich weg? Vor sich, oder vor Barbara??

Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Wieso hatte sich so vieles verändert, seit er die ganze Wahrheit über seine Schwester erfahren hatte? Sie war der Schlüssel zu seinem Gebahren, zu seinem Phantasieprodukt. Barbara hatte er sie genannt! Stimme das überhaupt? Er erinnerte sich schwach an Monika. 'Wir müssen einen anderen Namen für dich suchen! Wie wäre es mit Barbara? Der Name ist zwar furchtbar, aber da gibt es kein vertun. Nicht? Du meinst, er passt nicht zu dir? Hm...' Nein, er hatte sich den Namen wirklich nicht ausgesucht. Gab es nicht schönere Mädchennamen? Aber letzten Endes hatte er sich auch daran gewöhnt. Immerhin hatte seine Unterwerfung unter Monikas Dominanz einer latenten Schwäche bei ihm zum Ausdruck verholfen.

War es anfangs noch der reinste Horror, fühlte er sich ständig angegafft und beobachtet, so entdeckte er doch bald, dass Barbara ihm sogar Spaß bereiten konnte. Es war lustig, im Sommer mit wehendem Petticoatrock durch die Straßen zu laufen und so manchen Pfiff zu hören, der sicherlich ihm galt. Nein: ihr, verbesserte er sich. Ihn hatte es lange gar nicht mehr gegeben!

Ingeborg wollte Nachforschungen anstellen. Aber nur, wenn er wieder mitmachen würde, und nur, wenn er als Barbara mitmachen würde! Habe ich überhaupt eine Wahl?, fragte er sich.
Mechanisch leerte er den kleinen Beutel, in dem er Keuschheitsgürtel und -BH aufbewahrte. Das Metall war kalt, als es seinen Körper berührte. Kein Wunder, denn er heizte wenig in seinem Schlafzimmer. Sein schlaffes Glied ließ sich problemlos in die enge Röhre einführen, gekonnt verband er die einzelnen Teile miteinander, setzte das kleine Schloss am Taillenreifen ein und schloss es ab.
Der BH war wie immer eine dämliche Fummelei, er brachte die breite Kette über seinen Kopf, griff hinter sich nach den stählernen Halbschalen, führte sie nach vorn um seinen Oberkörper herum, dann führte er sie über den Stift der kleinen Platte, die vorn herabhing; auch hier setzte er ein Schloss ein und verschloss es. Ein Schloss, zu dem er keine Schlüssel hatte, wie auch zu seinem Keuschheitsgürtel.

Klaus stand ein wenig da, wie ein begossener Pudel. Ist es das, was du willst? Fühlt es sich gut an? Macht es Spaß?
Er wusste es nicht. Nein, er wusste nicht, ob es das war, was er wirklich wollte. Oder ob es sich gut anfühlte. Spaß machte es auf jeden Fall nicht.

% % %

Ingeborg blickte nervös auf ihre Uhr. Sie war rechtzeitig zur Messdienerstunde gekommen, einer der letzten, bevor die offizielle Aufnahme stattfinden sollte. Obwohl sie bereits den perfekten Fehlstart hingelegt hatte! Bereits zweimal hatte sie abends einspringen müssen; es machte ihr nichts aus, so kam sie unter Menschen; es war allemal besser, als nur zu Hause seinen Gedanken nachzuhängen.
Würde Klaus kommen? Nein, falsch! Würde Barbara noch kommen? Sie brauchte Barbara, brauchte hier, in dieser Kirche, jemanden, mit dem zusammen sie ihren Plan würde ausführen können. Sie wollte unbedingt ausprobieren, ....

Die schwere Tür zur Sakristei wurde aufgestoßen. Herein kamen der Pastor und Barbara, mit der er sich scheinbar einmütig unterhielt. \"....ja, aber das kann doch jedem mal passieren! Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, Barbara! Auf jeden Fall ist es schön, dass Sie jetzt wieder dabei sein können. Sie werden sehen, wirklich viel haben Sie die letzten Male nicht versäumt...\" Er warf einen verschmitzten Blick in die kleine Runde - neben Ingeborg waren auch drei Kinder zum Unterricht erschienen - dann fuhr er lachend fort: \"....höchstens einige wirklich gute Witze und ein paar Negerküsse - oh! das darf man wohl nicht mehr sagen??\" Er setzte eine Unschuldsmine auf, begab sich dann nach nebenan und traf einige Vorbereitungen für die Stunde.

\"Schön, dass du gekommen bist, Barbara!\" Ingeborg sandte Klaus einen dankbaren Blick. Aber sie merkte sogleich, dass er ihr auswich.

\"Klaus!\" Er sagte es sehr leise; die Kinder sollten es besser nicht hören.

\"Ja. Okay. Alles wird gut! Und am Montag werde ich mal einige Nachforschungen anstellen.\" Sie kamen nicht mehr dazu, sich einmal auszusprechen. Ingeborg beobachtete Klaus, oder doch Barbara, sie trug einen schicken Pullover, dazu einen schlichten Jeansrock. Alles schien wie immer. Oder doch nicht??

Die Stunde verlief wie im Fluge. Und anschließend bat der Pastor Ingeborg wieder einmal, ob sie noch bis zur Abendmesse bleiben könnte.

\"Bleibst du auch, Klaus?\" Sie hatte ihn leise gefragt. Er aber hatte wie durch sie hindurchgeblickt. Und den Kopf geschüttelt. \"Kommst du heute Abend noch zu mir? Ist lange her, dass du mal bei mir warst...\" Aber Klaus hatte nicht reagiert. Und war gegangen. Mein Gott, was ist bloß mit ihm los? Er wird Hilfe brauchen, sonst geschieht am Ende noch etwas Schlimmes.

Wieder war es dunkel und still geworden in der Kirche. Sie war allein. Als niemand mehr da war schlüpfte sie wieder in die Messdienergewänder, nahm ihre Tasche und machte sich auf den Weg in die kleine Seitenkapelle.


% % %

Er hatte es schlichtweg vergessen! Der BH! Dieser verdammte BH. Mit diesem Ding auf seiner Brust hatte er keine Wahl.... Klaus oder Barbara, das war plötzlich keine Wahl mehr. Er fluchte leise vor sich hin. Ingeborg würde sich freuen, wenn Barbara zu ihr käme! Keine Frage! Aber da war etwas, was einfach nicht mehr ging...

Er legte seine Hände auf die beiden Stahlkugeln, die so prominent seine männliche Brust zierten. In seinem Falle bewirkte der Keuschheits-BH etwas ganz anderes, als bei einer richtigen Frau. Mochte eine Frau fühlen, dass ein wichtiger Körperteil unerreichbar geworden war, so war es bei ihm so, dass er einen wichtigen Körperteil nicht mehr verstecken konnte - einen wichtigen weiblichen Körperteil! Früher oder später müsste er Ingeborg besuchen, sie um die Schlüssel bitten. Verzweiflung machte sich in ihm breit. Noch einmal versuchte er, die stählerne Last irgendwie abzustreifen; es war zwecklos. Und plötzlich spürte er, weiter unten, ein Verlangen, ein Feuer, an das er schon lange nicht mehr geglaubt hatte. Seine Hand wanderte in seinen Schritt, suchte nach dem, was ihn zum Mann machte, aber da war nichts, kein pochendes, hartes Glied, nur der harte Stahl, der sein Geschlecht umfangen hielt.

Er wunderte sich, wie schnell es weiter bergab ging. Hatte er in den letzten Wochen den initimen Kontakt zu Barbara bereits verloren, so drohte ihm jetzt auch Klaus zu entgleiten.


% % %

'Und was kann ich diesmal für Sie tun?', hatte sie der Verkäufer im Baumarkt gefragt. Sie hatte sich ob der etwas seltsamen Eröffnung eines Verkaufsgespräch gewundert, bis ihr endlich eingefallen war, dass sie bereits im Spätsommer an denselben jungen Mann geraten war, als sie nach geeignetem Werkzeug suchte, um ihre stählerne Unterwäsche loszuwerden.
Diesmal lagen die Dinge anders. Diesmal wollte sie keine Kneifzange, auch keine Blechschere, sondern nur einen Akkuschrauber. Einen kräftigen Akkuschrauber, hatte sie gesagt. 'Oder soll es nicht doch besser ein Presslufthammer sein, gnädige Frau?', hatte er scherzhaft nachgefragt. Nein, ein Akkuschrauber genügte vollkommen. Sie fand einen, der solide genug aussah, aber auch klein genug für die Handtasche schien, dann hatte sie bezahlt und war gegangen.

Mit dem Ding würde es bestimmt gehen! Aber nur, wenn Barbara mitmachte! Sie musste ganz einfach mitmachen, dachte Ingeborg...


München, Anfang April

\"Frau Wimmer! Aber natürlich erinnere ich mich an Sie! Was kann ICH für Sie tun??\"

Gott, habe ich ein Glück!, dachte Ingeborg. Wieder diese furchtbare Sekretärin! Sie hatte es endlich geschafft, die Nummer des Internats zu wählen. Etwas verspätet, wie sie hatte zugeben müssen. Und auch nicht, ohne Druck von Klaus bekommen zu haben. Er hatte sie besucht, trug immer noch Barbaras Sachen. Hatte dagesessen wie ein Häufchen Elend, ihre Annäherungsversuche abgewehrt, kaum etwas gesagt. Sie hatte ihn aufschließen müssen, hatte ihm Keuschheitsgürtel und -BH abgenommen; beide Teile hatte er bei ihr zurückgelassen, als er wieder gegangen war. Etwas erleichtert, wie ihr schien, aber keineswegs glücklich.

Er hatte ihr Vorwürfe gemacht. \"Und warum hältst du deinen Teil der Verabredung nicht ein, wenn ich meinen gehalten habe?\"

Sie hatte sich mit stressiger Arbeit entschuldigt. Gesagt, dass es ihr leid täte. Und dass sie es bei Gelegenheit erledigen wollte. Und hatte es dann wieder vergessen.

\"Sind Sie immer noch auf der Suche nach diesem Pater von damals? Ein Glück, dass ICH Ihnen helfen konnte!\" Die Sekretärin legte eine Kunstpause ein, legte dann sogar noch nach. \"Nicht wahr, Frau Kommissarin?\"

Ingeborg Wimmer merkte förmlich, wie sich ihre Fußnägel bogen. Aber im Moment musste sie klein beigeben. \"Ja. Ein Glück. Ohne ihre Hilfe hätten wir den Kerl nie bekommen!\" Sie biss sich auf die Zunge. Verplapper dich nicht, Ingeborg! Was geht das diese blöde Kuh an? Um gar nicht erst weitere Fragen aufkommen zu lassen, fuhr sie hastig fort. \"Nein. Ich bin auf der Suche nach einem ehemaligen Schüler. Er hieß Thomas.\"

Ein schlecht unterdrücktes Lachen war zu hören. \"Thomas? Sagten Sie Thomas, Frau Wimmer? Ach, Thomas....\" Pause.

\"Ja! Sagt Ihnen der Name etwas?\"

\"Allerdings, Frau Wimmer! Allerdings....\"

\"Und, was, bitte?\"

\"Jeder zehnte Schüler heißt bei uns Thomas! Wann soll denn das gewesen sein?\"

Ingeborg nannte ihr Klasse und Schuljahr. Beides wusste sie noch von ihren Ermittlungen gegen Pater Ruprecht.

\"Hm, da müsste ich einmal nachrechnen. Dann müsste dieser Thomas ja hier in dieser Kartei zu finden sein. Jahrgang 2010, wissen Sie! Hm..... Thomas, sagten Sie? Nein, da hat hier kein Thomas Abitur gemacht. Leider, Frau Wimmer, werde ich Ihnen diesmal wohl nicht bei der Verbrecherjagd behilflich sein können. Was hat er denn ausgefressen?\"

Ingeborg war für einen Moment irritiert. \"Nein, tut mir leid, ich glaube, Sie haben mich missverstanden. Er hat bei Ihnen nicht das Abitur gemacht!\"

\"Oh!\"

\"Er war schon lange vorher von der Schule genommen worden. Ich möchte gern wissen, wie hieß dieser Thomas mit Nachnamen und wohin ist er gegangen?\"

\"Das möchte ich auch gern wissen, Frau Kommissarin. Der Polizei helfe ich immer gern!\"

\"Ja, dann schauen Sie doch bitte einmal in ihren Unterlagen nach!\" Ingeborg ballte die Hand zur Faust. Lange würde sie sich nicht mehr beherrschen können.

\"Das tue ich doch schon. Aber er ist hier nicht aufgeführt....\"

\"....weil er bei Ihnen kein Abitur gemacht hat! Ja, das habe ich ja kapiert. Aber in ihren andern Unterlagen....\"

\"Es gibt keine anderen Unterlagen! Tut mir leid. Wir archivieren immer nur die fertigen Abiturjahrgänge. Es gibt leider sehr viele Kinder, die nur vorübergehend bei uns zur Schule gehen. Oft müssen die Eltern für ein paar Jahre ins Ausland, dann werden die Kinder zu uns geschickt! Wissen Sie, wir sind eines der besten katholischen Internate in....\"

\"Ja, das glaube ich ja gern!\" Hatte die wirklich keine Ahnung, was bei denen passiert war?? \"Sagen Sie, letztes Jahr, da konnte ein alter Lehrer weiterhelfen. Vielleicht ließe sich das jetzt auch machen?\"

\"Kein Problem, Frau Wimmer. Ich tue, was ich kann...\"

Ingeborg wartete auf mehr, aber mehr kam nicht. Im Geiste legte sie ihre Hände um den Hals dieser nervigen Sekretärin. \"Danke. Ja, herzlichen Dank. Das tun Sie bestimmt. Also, bitte erkundigen Sie sich. Dieser Thomas ging damals in dieselbe Klasse wie Klaus Behrend, vielleicht hilft Ihnen das weiter. Und rufen Sie dann bitte zurück, ja? Es pressiert! Vielen Dank!\"

Sie knallte ihre Faust auf den Tisch. Komische Schule! Und eine ziemlich anstrengende Sekretärin.




Ihr Telefon klingelte bereits keine Stunde später. \"Frau Wimmer? Ah, gut. Also, wir haben Glück!\"

Ingeborg wunderte sich. Wir? Wieso haben WIR jetzt Glück? \"Na so ein Glück aber auch!\" Etwas besseres fiel ihr schlichtweg nicht ein.

\"Sagen Sie das nicht, Frau Kommissarin! War eine ganz schöne Detektivarbeit, das kann ich Ihnen sagen!\"

\"Toll, haben Sie gut gemacht!\" Blöde Kuh, du kannst mich mal! \"Also, was haben Sie denn nun herausgefunden?\"

\"Ja, also, das war wirklich kompliziert!\" Wieder legte die Sekretärin eine Kunstpause ein. Aber diesmal tat die Beamtin ihr nicht den Gefallen. \"Ich fragte in der Pause einige der anwesenden, älteren Lehrkörper, ob sie was wüssten.\"

Hatte sie wirklich 'Lehrkörper' gesagt?? \"Ah, gut. Und was wussten die ... Körper?\" Beinahe hätte sie laut aufgelacht.

\"Leider Fehlanzeige! Frau Wimmer. Aber dann telefonierte ich mal etwas herum und erreichte einen ehemaligen Kollegen, der sich recht gut an diesen Thomas erinnern konnte. Thomas Weber hieß der Junge. Ja, die Eltern hatten ihn damals auf Anraten unserer Anstalt von der Schule genommen. Der Kollege erinnerte sich, es habe sich um einen schwierigen Charakter gehandelt, ein Junge, der sich nicht anpassen konnte oder wollte. Und der Kollege wusste sogar noch, aus welchem Ort der Junge stammte! Der Junge hatte ihm einmal eine Flasche mitgebracht und behauptet, es sei Bier. Und der Kollege hätte sich nach nur wenigen Schlucken geweigert, mehr davon zu trinken! Rauchbier! Stellen Sie sich das einmal vor, Frau Kollegin!\"

Ob der Sekretärin dieses letzte Wort nur so rausgerutscht war, oder nicht, ließ Ingeborg Wimmer dahingestellt. Aber jetzt hatte sie einen Namen und einen Wohnort: Bamberg! \"Bingo! Frau äh.... - wie hieß die Sekretärin eigentlich?? - Frau Kollegin. Und herzlichen Dank! Übrigens kenne ich das Zeug! Mein Fall ist das auch nicht! Sie haben mir wirklich weitergeholfen!! Was aber sonst mit dem Jungen wurde, das wissen Sie nicht zufällig?\"

\"Nicht wirklich. Der Kollege war sich nicht sicher, ob der Junge dann auf ein normales Gymnasium kam. Oder auf ein anderes Internat!\"

\"Nun gut. Ich werde es herausfinden. Noch einmal meinen herzlichsten Dank!\" Sie beeilte sich, den Hörer aufzulegen. Jetzt hatte sie auf jeden Fall eine erste Spur.


% % %

Ostern näherte sich mit Siebenmeilenstiefeln. Längst hatte Ingeborg sich daran gewöhnt, den Dienst als Messdienerin auszuüben. Mehrere Male hatte sie zur Abendmesse aushelfen müssen. Es war wirklich nie etwas besonderes. Zum Schluss hatte es noch einige Übungsstunden gegeben; Auch Barbara war jedes Mal gekommen. Die gelassene Ruhe, die sie sonst ausgestrahlt hatte, war jedoch nicht mehr bei ihr zu finden.

Ingeborg hatte Klaus von ihrem Anruf in dessen früherem Internat berichtet. Er hatte sich zufrieden gezeigt, gleichzeitig aber auch bemängelt, dass sie mit ihren Nachforschungen noch nicht weitergekommen war.
Wieder hatte sie das Problem, dass sie nicht einfach auf eigene Faust arbeiten konnte. Natürlich hatte sie ihr eigenes Computersystem nach Thomas Weber befragt, aber Bamberg war eine andere Polizeidirektion, deren Daten nicht so ohne weiteres einzusehen waren. Und wer sagte überhaupt, dass der Junge jemals nach Bamberg zurückgekehrt war? Wenn seine Eltern, wie vermutet, irgendwo im Ausland für eine deutsche Firma arbeiteten, dann konnte er weiß Gott wo auf einer deutschen Schule gelandet sein. Die gab es schließlich auf der ganzen Welt. Und das waren wohl nicht die schlechtesten deutschen Schulen, dachte sie.

Trotzdem lief alles auf eine Anfrage bei den Kollegen hinaus. Eine informelle Anfrage. Und informelle Anfragen stellte mal lieber etwas indirekt. Wer konnte helfen?

Sie wählte die private Nummer ihres früheren Chefs.

\"Ingeborg!! Das ist aber eine schöne Überraschung! Sag, wie geht's, wie steht's? Vermisst du mich schon? Möchtest du dich nicht auch nach Passau versetzten lassen? Hier ist gerade eine Stelle frei geworden!\"

\"Bruno!\" Muss das Leben immer solche Überraschungen machen? Artig begrüßte sie ihren geschätzten Kollegen und ehemaligen keyholder. Wie lange ist das jetzt her?, überlegte sie. Ein Dreivierteljahr? \"Ja, doch, natürlich vermisse ich dich. Und endlich mal wieder gescheite Polizeiarbeit! Vielleicht sollten wir uns bald mal wieder sehen?\"

\"Hätte ich nichts dagegen! Kommst du zu mir?\" Sie hörte das Schnippen eines Feuerzeuges, anscheinend hatte er sich eine Zigarette angezündet. \"Doch sag mal, deswegen rufst du wohl nicht an? Hast du Ärger? Soll 'derRick' kommen und dich aus der Scheiße hauen?\"

Ingeborg lachte. Ja, das war typisch Bruno. Ihm konnte man nichts vormachen. \"Ich brauche eine Auskunft, Bruno. Sozusagen auf dem ganz kleinen Dienstweg. Kennst du jemanden oben in Bamberg?\"

Er dachte kurz nach. \"Ja, kenne ich. Wieso, was kann ich für dich tun? Hat dir jemand in die Suppe gespuckt? Übrigens Glückwunsch dazu, wie du den Fall mit unserer Isarleiche gelöst hast!\"

Ingeborg Wimmer nannte ihm die wenigen Details, die sie selber hatte.

\"Hm, ja, das werde ich für dich herausbekommen. Und über den Hintergrund willst du mir nichts berichten?\"

\"Es gibt keinen Hintergrund. Halt eben nur einen früheren Mitschüler, der sich darüber wundert, wieso er nie etwas von diesem Thomas Wagner gehört hatte, nachdem dieser von der Schule genommen wurde.\"

\"Das soll ja wohl vorkommen!\"

\"Das hatte ich auch gesagt. Also... - sie druckste ein wenig herum, wusste nicht, wie sie es sagen sollte - ... sagen wir mal, es handelt sich um einen Gefallen.\"

\"Einen Gefallen? Und jetzt also soll ich dir einen Gefallen tun?\"

\"Ja, ich bitte dich darum, Bruno!\"

\"Hm. Okay, aber dann musst du mir auch einen Gefallen tun!\"

\"Klar doch, Bruno. Alles was du willst!\"

\"Hast du deine hübsche Unterwäsche noch? Und die Schlüssel dazu?\" Sie hörte eine leichte Anspannung seiner Stimme.

\"Ja, hab ich noch. Aber nicht die Schlüssel....\"

\"Oh! Na so was! Wer hat denn die Schlüssel?\"

Ingeborg hatte keine Lust, die Frage zu beantworten. \"Jemand. Ein Keyholder, Bruno.\"

\"Okay okay. Geht mich ja nichts an. Aber den Gefallen musst du mir jetzt tun....!\"

\"Sie wusste genau, was er meinte. Es gab gar keine andere Möglichkeit. Dumm nur, dass sie nicht die geringste Lust dazu verspürte. \"Du meinst, ich soll....?\"

\"Ja. Alles. Den ganzen Kram bitte. Sagen wir es einmal so: Wenn du dich nicht in spätestens einer halben Stunde über Skype gemeldet hast, dann kannst du es vergessen! Und ich möchte dabei zusehen!\" Er legte auf, ohne noch ein Wort zu sagen. Weil er wusste, dass es nicht das Ende war?


Danke für Deine tollen Geschichten. Bitte schreibe weiter.

10. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von wmms am 19.12.17 10:36

Was soll der Quatsch?
um sich zu bedanken, muss man nicht gleich den ganzen Text kopieren.
Gruss wmms
11. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 19.12.17 13:40

Jetzt ist das passiert, was ich eigentlich vermeiden wollte. Unser Freund 'Ernie' mag ein Sklavenhalter sein, ein 'Federhalter' ist er auf jeden Fall nicht.

Meinen ganzen Beitrag hier noch einmal zu kopieren ist natürlich kompletter Unsinn, der einem schnell das Lesevergnügen nimmt. Ich habe versucht, es zu löschen, aber leider bin ich nicht dazu befugt (was ich, liebe Admins, unverständlich finde, da es sich ja um meine Geschichte handelt.)

Wie gesagt, ich freue mich, dass Ernie meine Geschichte gefällt, möchte aber in Zukunft darum bitten, dass solch ein Lapsus nicht wieder passiert!

Eure Daniela 20
12. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 24.12.17 23:28

Heiligabend.... Ich habe lange mit mir gelungen, ob ich ausgerechnet heute meine Geschichte fortsetzen sollte, oder nicht. Eine pornographische Geschichte zu Weihnachten
Bis mir klar wurde, dass es eine ganz andere Geschichte ist. Vielleicht mag es der eine oder andere meiner Leser auch schon gemerkt haben. Und bis mir klar wurde, dass für viele Weihnachen alles andere als ein glückliches Familienfest ist; Leser, deren vielleicht sogar einzige Freude darin besteht, weiterlesen zu können, was mit Klaus geschieht.
Euch allen möchte ich deshalb von Herzen ein frohes Weihnachtsfest wünschen, frei von Stress, Kummer, Sorgen und Einsamkeit!

Ich weiß nicht, wann genau ich die Lesung des Tages hochladen kann; aber ich werde mir Mühe geben, Euch nicht zu lange warten zu lassen!

Ganz liebe Weihnachtsgrüße von Eurer Daniela 20

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Ihr veraltetes Diensttelefon klingelte, als Ingeborg Wimmer gerade dabei war, Daten eines weiteren, ungelösten Falls in das Computersystem zu überführen.

"Wimmer!"

Eine Stimme meldete sich, sie klang leicht verstellt. "Kommissarin Wimmer? Sie haben einen Schlüsseldienst bestellt?"

"Bruno?? Ha-ha, sehr witzig! Nein danke, ich brauche keinen Schlüsseldienst!" Sie reagierte leicht gereizt. Warum habe ich mitgemacht?? Ingeborg ballte die Hand zur Faust. Warum hatte sie wieder mitgemacht? Sie hatte lange überlegt, ob sie auf Brunos knallharte Forderung eingehen sollte, hatte die Minuten heruntergezählt und erst im letzten Momen sich bei Skype eingeloggt. Und sich dann vor ihrer Kamera ausgezogen und, nachdem sie Keuschheitsgürtel, Schenkelbänder und den stählernen BH hervorgeholt hatte, alles angezogen und mit den kleinen Schlössern abgeschlossen. Schlösser, zu denen sie keinen Schlüssel hatte. Schlösser, zu denen diesmal nicht Bruno, sondern ihr neuer Keyholder die Schlüssel hatte. Klaus.... Holt er sich jetzt einen runter?, hatte sie überlegt, als sie sich selber wieder einmal die Möglichkeit genommen hatte, ihre eigene Lust zu verwöhnen. Lust, die augenblicklich wieder in ihr entbrannte. Wie jedes Mal, wenn sie sich verschlossen hatte.

Es war ihre Wahl gewesen. Sie hätte es bleiben lassen können. Was ging sie dieser Junge an? Hatte sie es nur deswegen getan, oder um Klaus einen Gefallen zu tun? Vielleicht, um ihr Verhältnis zu Klaus wieder in den Griff zu bekommen? Besser gesagt, zu Barbara? Weil sie Barbara dringend benötigen würde, für das, was sie noch vorhatte? Oder hatte sie es aus viel subtileren Gründen getan? Weil sie es ganz einfach brauchte??

"Hat er dich schon wieder rausgelassen, dein keyholder?" Bruno klang enttäuscht. Scheinbar gefiel ihm der Gedanke, seine ehemalige Kollegin in all den soliden, abgeschlossenen, Stahlsachen zu wissen.

"Das geht dich mal einen feuchten Dreck an!!" Sie hatte es herausgepresst, bevor sie hatte überlegen können. Warum kann ich meine Gusche nicht halten??

"Oho!! Wer ist denn da so gereizt?" Belustigung war zu hören. "Hat er dich noch nicht wieder rausgelassen? Wart mal, wieviele Tage sind es jetzt?" Er zählte die Tage auf, die seit ihrem freiwilligen Einschluss vergangen waren. "Schon fast eine Woche!! Ich muss schon sagen...."

"Hast du was rausbekommen?" Es drängte Ingeborg, das Thema zu wechseln. Dieses Thema, das sie bei jeder neuen Bemerkung nur wieder daran erinnerte, wie unbequem alles wieder war. Dass es jedes Mal auf der Toilette eine Ewigkeit dauerte. Dass sie, wegen des engen Brustbandes, nie richtig Luft holen konnte. Dass die Schenkelbänder sie dazu zwangen, Röcke zu tragen, worauf sie auch verzichten konnte. Und nicht zuletzt, dass sie seit Tagen das Gefühl hatte, weder ihren Körper noch ihre Nerven unter Kontrolle zu haben. Alles, woran sie dachte, war....

"... das ist schon ganz schön lange. Hat dich also noch nicht rausgelassen! Ich muss schon sagen...."

"Sag mir lieber, ob du was über diesen Thomas Wagner herausgefunden hast!" Er fing an, sie zu nerven. Hoffentlich wird die Leitung nicht irgendwo abgehört, überlegte sie. Nun ja, die Amis von der NSA. Aber die verstanden sicherlich kein Deutsch! "Chastity belt!"

"Wie bitte? Was redest du denn da?"

"Nichts, Bruno. Das war nur für die Selektorenliste unserer Freunde!"

"Ich verstehe kein Wort..."

"Macht nichts. Also, nun sag schon!"

"Jawoll! Hab mir die Finger wundgewählt, das kannst du mir glauben!"

"Blödsinn! Das hättest du mir vor zwanzig Jahren erzählen können!! Nun mach es nicht so spannend!" Ingeborg griff zu Papier und Kugelschreiber, notierte die wenigen Angaben, die Bruno machen konnte. Und schon war er zurück bei seinem Lieblingsthema.

"Muss schon sagen, hast ja wirklich einen prima keyholder jetzt! Der weiß, was dir gut tut! Wann seht ihr euch denn wieder?"

"Freitag, Bruno. Laut Plan sehen wir uns am Freitag wieder!"

Er schnaufte leicht. "Was, das sind ja noch vier Tage!! Wirst du es so lange aushalten können, Ingeborg? Das ganze enge Stahlzeug? Deine armen Brüste, so eingesperrt. Und die süße Muschi....." Er ließ ein leichtes Lachen hören. "Also Karfreitag dann? Hoffentlich kommt er auch, dein Keyholder! Ist ja ein gefährlicher Tag! Bei Karfreitag muss ich immer so an Tod und Verderbnis denken...."

"Bruno? Ich muss hier weitermachen! Danke auf jeden Fall, dass du helfen konntest. Ist ja nicht gerade die Auskunft, die ich erhofft hatte, aber, nun ja. Kann mich ja mal selber bei den Kollegen in Bamberg erkundigen, ob man eventuell mehr weiß! Also, bis demnächst mal, und noch mal vielen Dank!"


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Diese komische Stille!, dachte Ingeborg, als sie sich auf den Weg zur kleinen Kirche machte. Irgendetwas stimmte heute nicht. Karfreitag! Sie hatte den Tag noch nie gemocht. Sie erinnerte sich dunkel an Karfteitage ihrer Kindheit, wenn einen die Eltern schon schräg ansahen, wenn man bloß einmal laut lachen musste. Was aber selten vorkam, denn an Karfreitagen gab es nie etwas zu lachen. Ein furchtbarer Tag, mochte der Liebe Gott oder dessen Sohn da auch irgendwann einmal an irgendein dämliches Kreuz genagelt worden sein - was man sowieso nie recht begriff. Eigentlich begreife ich es immer noch nicht, dachte sie.

'Das Schweigen der Glocken ist das Ende des Abendlandes', hatte sie irgendwo einmal gehört. War es nicht schon einmal so weit gewesen? In England, während des Krieges? Weil Glockengeläut einen deutschen Angriff signalisiert hätte? Nein, dachte sie, nicht das Schweigen der Glocken ist das Ende des Abendlandes. Sondern das Schweigen der Christen in diesem Lande! Wer kam denn überhaupt noch in die Messe? Ein paar alte Leute, kaum noch Familien mit Kindern. Sie fragte sich, warum sie all das hier überhaupt mitmachte?

Ingeborg betrat die Kirche, die in nachmittäglichem Dämmerlicht lag. Die Kerzen waren verlöscht, das Allerheiligste am Altar hinter einem violetten Tuch verborgen. Der Gedanke an Tod und ewige Finsternis ließ sie frösteln.
Mussten sie denn ausgerechnet heute ihre letzte Übungsstunde abhalten? Es hatte sich nicht anders machen lassen; man wollte die gesamte Messdienerschar - sechs Mädchen und vier Jungen - zusammentrommeln, um mit ihr und den anderen Neuen, den für Sonntag geplanten Ablauf des Hochamts zu üben. Die Generalprobe, mit Rauchfass und allem Brimborium; natürlich ohne Weihrauch. Am Sonntag sollte dann endlich die feierliche Aufnahme stattfinden.

Ingeborg begrüßte die anderen. Sie blickte in ernste Kindergesichter. Gesichte, wie ihr eigenes, damals, vor vielen Jahren. Sie überlegte, ein nettes Wort einzuwerfen, einen kleinen Witz gar, aber sie kam nicht gegen die Mauer an, die selbst in ihrem Inneren eine scheinbar unüberwindbare Hürde darstellte.
Hoffentlich käme Barbara bald!!
Die Zeit verging. Alle hatten sich umgezogen. Jetzt, da alle versammelt waren, war es gar nicht so einfach, passende Gewänder für alle zu finden. Die Frage nach rot oder schwarz für den Talar erübrigte sich: die Jüngsten würden rot tragen, sie sollten auch Kerzen tragen, die etwas älteren aber schwarz. Und für sie und Barbara gab es sowieso nur passende, schwarze Talare.

Der Pastor hatte einige Mühe gehabt, bei der Wahl der Kleider zu helfen. Jetzt aber schaute er bereits zum wiederholten Male auf seine Armbanduhr und warf schließlich Ingeborg einen besorgten Blick zu. Diese zuckte mit den Schultern, wurde aber sogleich wieder unsanft an ihren engen BH erinnert. Nach dieser letzten Übungsstunde würde sie mit zu Barbara nach Hause gehen, sich endlich aufschließen lassen und dann....

"Haben Sie von Barbara gehört, Ingeborg? Ist sie wieder krank geworden?"

Ingeborg biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. "Nein, tut mir leid. Ich habe keine Ahnung. Bestimmt wird sie gleich noch kommen!" Wieder blickte sie in die Reihe der Gesichter. Ernste Gesichter, aber auch zufriedene Gesichter. Menschen, die nach vorne blickten. Bei Klaus hatte sie das schon lange nicht mehr gesehen.

"Kinder! Frau Wimmer! Wir können leider nicht mehr auf Barbara warten. Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Lasst uns besser mal anfangen! Vielleicht kommt sie ja noch dazu! Also, wer möchte am Sonntag was machen?"

Schnell waren die Aufgaben verteilt. Der Pastor delegierte gekonnt die Schar seiner Messdiener. Man ging den komplizierten Vorgang des Hochamts durch, es gab Fragen, einige standen verkehrt, oder gingen verkehrt, oder knieten verkehrt. Aber was für jedes Schauspiel galt, das galt auch hier: Eine verpatzte Generalprobe ist Garant für eine gelungene Premiere!
Die Stunde dauerte diesmal etwas länger. Am Ende schrieben alle kleine Zettel mit ihren Namen, die sie mit Wäscheklammern an ihre Talare und Rochetts hefteten; so ließe sich erneutes Chaos am Sonntag vermeiden!

Ingeborg beeilte sich, aus der Kirche zu kommen. 'Hoffentlich ist ihr nichts passiert!', hörte sie wieder die besorgte Stimme des Pastors. Sie würde handeln müssen! Sie spürte, jetzt war sie gefragt. Sie musste Klaus zu Hilfe kommen, bevor es zu spät war. Vor einigen Monaten hatte er sie gerettet, ohne nachzudenken, hatte sich in letzter Sekunde dazwischen geworfen, als diese junge Frau sie mit ihrer eigenen Waffe bedrohte, dort auf der Luitpoldbrücke. Jetzt müsste sie ihn retten, wenn sie ihn noch rechtzeitig fand. Oder Barbara....


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Sie überlegte kurz, was sie zuerst tun sollte. Gleich zu Klaus fahren? Oder erst nach Hause gehen und ihn anrufen? Dummerweise hatte sie ihr Handy nicht dabei; sie hatte zur Übungsstunde ungestört bleiben wollen.
Ingeborg entschied sich, erst einmal den Heimweg einzuschlagen. Erst einmal bei ihm anrufen! Vielleicht war ihm ja wirklich nur etwas dazwischen gekommen! Vielleicht hatte er sogar versucht, sie anzurufen!
Eine halbe Stunde später schloss sie, völlig außer Atem, ihre Wohnungstür auf. Wieso fahre ich eigentlich nicht mit dem Auto?, fragte sie sich. Sie mochte lange Spaziergänge, brauchte sie als Ausgleich zum ewigen Sitzen im Büro. Außerdem käme es ihr komisch vor, mit dem Auto vorzufahren, während alle anderen zu Fuß oder mit dem Fahrrad kamen.

Sie griff nach ihrem Handy, das zum Laden an der Steckdose gehangen hatte, und schaltete es ein. Nichts! Leicht enmutigt biss sie sich auf die Unterlippe. Das bedeutet gar nichts, Ingeborg! Sie schlug ihr persönliches Telefonbuch auf, suchte Klaus' Eintrag und tippte auf Anrufen. Eine Stimme am anderen Ende ließ sie für den Bruchteil einer Sekunde Hoffnung schöpfen, dann aber, als sie bloß hörte, dass der gewünschte Teilnehmer momentan nicht zu erreichen sei, brach sie die Verbindung wieder ab. Ich muss hinfahren! Vielleicht liegt er ja auch mit gebrochenem Bein unten im Keller!

Sie wollte losstürmen, kam dann aber auf einen anderen Gedanken. Es hatte mit Barbara zu tun! Es musste mit ihr zu tun haben! Sie hatte es seit Wochen gespürt, wie er sich immer mehr in sich selber zurückgezogen, immer größeren Abstand zu seinem alter ego gesucht hatte. Was auch immer es war, sie verstand nur so viel, dass es Klaus seit Wochen nicht mehr wirklich gut ging, weil es Barbara schlecht ging. Eine missglückte Trennung, die beide zu verschlingen drohte.

Schnell packte sie etwas ein, was sie mitnehmen wollte. Vielleicht gelänge es ihr ja, diese Trennung aufzuhalten, sie eventuell sogar rückgängig zu machen. Sie wusste, Gewalt würde sie nicht anwenden dürfen. Wohl aber Überredungskunst. Vielleicht gelang es ja!


Sie hatte Pech. In der Nähe seines Hauses war diesmal kein Parkplatz zu finden gewesen. Also laufen! Längst hatte sie es gelernt, den typischen Watschelgang zu vermeiden, in den viele, die das erste Mal einen Keuschheitsgürtel trugen, schnell verfielen. Auch das Laufen mit den angelegten Schenkelbändern hatte sie lange genüg üben können, um nicht mehr aufzufallen. Einzig der enge Reifen um ihre Brust ließ sie kurzatmig werden; tiefes Luftholen war einfach nicht möglich.
Noch war es draußen zu hell, Licht brannte man noch nicht in den Wohnungen. Auch bei Klaus war alles dunkel. Sie läutete mehrmals, legte ihr Ohr an die Tür; nichts. War er zu Hause? Lag er vielleicht bewusstlos im Keller?
Ingeborg ging um die Ecke und sah, dass sein Roller nicht da war. Sie war erleichtert. Aber wo konnte er sein?

Ratlos ging sie zu ihrem Wagen zurück. Was nun, Wimmer? Sie hatte keine Ahnung. Was blieb ihr anderes übrig, als wieder nach Hause zu fahren? Am Ende saß er wieder bei ihr vor der Wohnungstür!
Es begann zu regnen. Erleichtert erreichte sie ihren Wagen, schloss die Tür auf und setzte sich ins Trockene. Aus ihrer Handtasche kramte sie eine Zigarette hervor, zündete diese an, öffnete das Fenster einen Spalt und schaltete das Radio an. Marschmusik? Ääh... klar doch: Karfreitag!
Sie dachte nach. Wo konnte er sein? Hatte sie auch nur den geringsten Anhaltspunkt? Nein, hatte sie nicht.

"Hier ist der Bayrische Rundfunk. Wir übertrugen...." Sie startete den Motor; es war kalt geworden im Auto. ".... den Galoppmarsch...." Ingeborg klappte ihre Sonnenblende herunter, blickte in den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. "... Prinzregent Luitpold..." Sie sah müde aus. Sie hatte einfach keine Lust mehr mit ihm, oder mit ihr, mit wem auch immer. ".... von Karl Schleht, in einer Aufnahme aus dem Jahr....."
Sie erschrak, als der Name mit einigen Sekunden Verspätung in ihr Bewusstsein sickerte. Luitpold!! Die Brücke! Diese verdammte Brücke! Es konnte einfach nicht sein! So etwas gab es vielleicht im Roman, oder im Film, aber hier, im wirklichen Leben? Was weiß ich schon über das wirkliche Leben?, dachte sie, warf ihre Kippe aus dem Fenster und gab Gas.


Sie umfuhr die Schleife am Friedensengel, es war wenig Verkehr, ein Glück, schon sah sie die Brücke. Sie fuhr langsamer, dort, konnte es sein Motorroller sein? Ingeborg hielt ihren Wagen auf der Mitte der Brücke an, parkte der Einfachheit halber auf dem Gehweg, egal, sie war die Polizei, auch ohne Blaulicht. Der Regen hatte zugenommen, sie riss ihre Tür auf, säbelte beinahe einen genervten Radfahrer um, der ihr ein Blöde-Kuh! hinterherwarf.
Die dreimal verdammten Schenkelbänder! Beinahe hätte sie selber die Balance verloren, gerade noch konnte sie einen Sturz verhindern. Ja, es war sein Motorroller! Aber keine Spur von Klaus. Sie blickte über die steinerne Brüstung, es schwindelte sie, wieder sah sie die junge Stundentin dort unten liegen, die Kollegen, die sie bereits erwarteten. Ingeborg schloss für einen Moment die Augen, bemüht, die Fassung wieder zuerlangen. Luft! Sie versuchte, tief und ruhig durchzuatmen, aber immer noch behinderte sie ihr stählerner Keuschheits-BH. Ich werde Bruno den Arsch aufreißen, wenn ich ihn jemals wiedersehe!

Die Isar führte viel Wasser. Wasser, das aus den Tiroler Alpen nach Einsetzen der Schneeschmelze nach Norden abgeführt wurde. Der steinerne Brückenpfosten, an dem Daniela gelegen hatte, war überspült; vielleicht hätte sie heute den Sturz überlebt? Wo aber war Klaus??
Ingeborg ließ den Wagen stehen. Achtete nicht darauf, dass er mit offener Tür im Regen stand; er würde nass werden, sie selber merkte den heftigen Regen kaum noch. War sie bereits zu spät gekommen?
Sie lief hinüber zum westlichen Teil der langen Brücke. Hier hatte die junge Frankfurterin Daniela den furchtbaren Schlag versetzt, der letztendlich einem jungen Leben ein Ende gesetzt hatte. Sie würde sich vor Gericht dafür verantworten müssen. Hier hatte Klaus sie selber vor ganz ähnlichem Schicksal bewahrt, vor wenigen Wochen erst, als er ihr gerade noch rechtzeitig zu Hilfe gekommen war. Und jetzt?
Sie bog, am Ende der Brücke angekommen, um die Ecke. Drohend richtete sich die Figur des Jägers vor ihr auf, die sich hier an der nordwestlichen Flügelwand der Brücke befand; der wuchtige Jäger, den erlegten Gamsbock an seiner Seite. Und wäre fast über die Figur gestolpert, die vor ihr am Boden lag.

Er lag, zusammengekrümmt, unter einer grauen Pelerine. Ingeborg erkannte das etwas altmodische Teil, das Klaus für Notfälle unter dem Sattel seines kleinen Motorrollers aufbewahrte. Sie riss das graue Tuch zur Seite, Gott sei Dank, er lebt! Sie wollte sich zu ihm hinknien, aber die verdammten Schenkelbänder verhinderten es.

"Klaus!! Verdammt noch mal, was machst du für Sachen!! Ich hatte eine Scheißangst wegen dir!!"

Er sah sie an. Tief in den Höhlen liegende Augen, aus denen die Verzweifelung sprach. "Ich.... ich konnte nicht...." Er versuchte, sich aufzurichten. "Ich wollte sie umbringen, Ingeborg. Aber ich konnte es nicht. Dann wollte ich ihn umbringen, aber..."

Erst jetzt bemerkte Ingeborg, dass er wieder Frauenkleider trug. "Aber er wollte leben, nicht wahr? Klaus wollte sich nicht umbringen lassen..."

"Nein...." Er schüttelte den Kopf und brach in einen heftigen Weinkrampf aus.

"Komm, Klaus! Alles wird gut! Komm mit mir. Wir fahren nach Hause.... 'Erst mal raus aus den nassen Sachen!' " Sie zitierte aus seinem Lieblingsfilm, hoffte, es würde ihn für den Moment auf andere Gedanken bringen. Auftauchen, statt untergehen.

"Jawoll Herr Kaleun!" Er rappelte sich mühsam hoch. "Mein Roller?"

"Kein Problem. Den stellen wir hier in die Ecke und schließen ihn ab. Komm jetzt! Es ist gut, dass du es nicht getan hast. Übrigens haben wir schon eine Leiche..."


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Er hatte auf der Fahrt zu seinem Haus kein Wort mehr gesagt. Ein Häufchen Elend, das kaum Lebenszeichen von sich gab. Ingeborg fuhr schweigend, mit sich selbst beschäftigt. Sie fror, alles an ihr war nass geworden. Glück hatte sie mit dem Auto gehabt, der Regen war von der anderen Seite gekommen und wehte nicht in den Innenraum. Gleich würde sie etwas Trockenes anziehen können, Klaus hätte sicherlich etwas da, was sie tragen könnte. Und gleich würde sie endlich aus dem vermaledeiten Keuschheitsgürtel herauskommen!

Wortlos reichte er ihr die Schlüssel, nachdem sie ihn darum gebeten hatte. "Danke, Klaus!" Sie streifte die nassen Kleider vom Körper, öffnete die kleinen Schlösser, zuerst am BH, dann an den Verbindungsketten zwischen Schenkelbändern und Keuschheitsgürtel, dann das Schlösschen, welches ihren Taillenreifen zusammenhielt. Endlich!
Zitternd schlüpfte sie in einen hübschen Morgenrock, seine Oma hatte durchaus Geschmack besessen, wenn auch den Geschmack der späten 90er Jahre; egal, das Kleidungsstück war sauber. Dann, bevor sie selber unter die Dusche ging, kümmerte sie sich um Klaus. Half ihm, sich auszuziehen, ließ in der Zwischenzeit Wasser in die Wanne laufen, dann verfrachtete sie ihn ohne große Mühe hinein. Klaus ließ alles mit sich geschehen. Aber sie wusste auch, dass ein heißes Bad manchmal nicht genug war, einen verkommenen Körper von innen zu erwärmen. Sie fand Brühwürfel, Hühnerbouillon, prima!, bereitete eine Tasse zu, reichte sie, während er noch in der Wanne saß.

Wenig später saß er im Sofa, eingehüllt in ein dickes Plaid, während sie selber sich das heiße Wasser aus dem alten Boiler über den Körper laufen ließ. Nach Bouillon war ihr nicht zumute, aber sie würde etwas Hochprozentiges finden; manch alte Dame gönnte sich gern ein Gläschen gegen die Einsamkeit.

Endlich saßen sie beisammen. Sie hatte eine Flasche 'Echt Stonsdorfer' gefunden; nun gut, ein ordentlicher Whisky wäre ihr lieber gewesen, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. "Geht es so langsam wieder, Klaus?"

Er zitterte immer noch. Hielt ihr wortlos seine Tasse hin. Ingeborg zögerte einen Moment, igitt, Kräuterlikör in diese Tasse?, aber dann war es ihr auch egal; im Magen würde sich eh alles vermischen.
Komisch, dachte sie, kommt es nicht eigentlich immer nur auf die richtig Mischung an? Auch im täglichen Leben? Wenn alles gut durchmischt wäre, sodass niemand mehr die Oberhand unter dem Vorwand der Norm würde gewinnen können? Alles schön durcheinander.... Gläubige mit Atheisten, Christen mit Moslems und Juden und Buddhisten und - was gab es noch? - 'Weiße' mit 'Schwarzen'....??

"Ingeborg?" Klaus hielt ihr seine Tasse hin.

"Entschuldige bitte! Ich kam gerade etwas ins Grübeln." Sie goss ihm mehrere Schlucke der roten Flüssigkeit in seine Tasse.

"Danke." Er trank, setzte wieder ab. "Du meintest aber nicht Daniela, oder?"

Die Kommissarin blickte erstaunt hoch. Für einen Moment wusste sie nicht, wovon er sprach. Richtig! Die junge Studentin aus Köln, Krause hieß sie, Daniela Krause. "Du hast sie gekannt?" Seltsam, dass sie sich diese Frage bisher noch gar nicht gestellt hatte. Zuviel war in den letzten Wochen geschehen, um sie aufkommen zu lassen. Man hatte sich darauf konzentriert, Pater Ruprecht irgendwie zu überführen. Schließlich die unverhoffte Aufklärung im Fall Krause.

Klaus nickte müde. "Flüchtig..." Er blickte sie nicht an.

"Woher denn?"

"Sie war mit Monika befreundet gewesen."

"Das Mädchen aus dem Nachbarhaus? Die auch Messdienerin war?"

"Ja." Er nahm einen weiteren, kleinen Schluck.

"Und, ... habt ihr was zusammen unternommen?" Sie beobachtete ihn genau.

"Eine Leiche. Wir haben eine Leiche, sagtest du, oben auf der Brücke. Wer ist tot? Jemand, den ich kenne? Hoffentlich dieser scheiß Pater!" Er antwortete nicht auf ihre Frage.

Ingeborg goss sich etwas nach. Griff nach einer Zigarette, sie waren im Auto in ihrer Handtasche geblieben und noch trocken. Glück gehabt! "Ja, du kanntest ihn! Thomas. Thomas Wagner. Er starb bei einem Verkehrsunfall." Sie zögerte etwas, streckte ihre Hand nach seiner aus. "Tut mir leid, Klaus...."

Er reagierte nicht sofort. Dann blickte er sie an. Was sagen mir diese Augen?, überlegte sie. Überraschung? Angst? Oder vielleicht sogar Neid?? Er zog die Nase hoch. "Scheiße. Wurde er überfahren?"

Ingeborg zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Habe es nur über einen Bekannten erfahren, der hat es wiederum von einem anderen Bekannten. Und daraufhin hat dann mein Bekannter in Bamberg bei der Friedhofsverwaltung angerufen. Also alles über drei Ecken!"

"Aber wann er gestorben ist? Weißt du das?"

"Ja. Darüber konnte die Verwaltung Auskunft geben. 2003 war das!"

Plötzlich wurde sein Blick klar. "Ein Jahr später schon? Ich werd verrückt. Jetzt versteh ich, wieso ich nie von ihm gehört hatte! Irre....!"

"Ein Jahr später?"

"Als diese Sache mit Pater Ruprecht damals. Hatte ich dir nicht erzählt, dass man ihn von der Schule genommen hatte?"

"Ja, hattest du.". Sie drückte ihre Zigarette in Omas altem Patentaschenbecher aus. "Wie gesagt, es tut mir leid. Hätte ihn gern für dich gefunden!"

"Ja." Klaus sinnierte etwas. "Könntest du Näheres herausbekommen? Wie das geschehen ist, meine ich? Ich möchts halt gern wissen!"


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Karsamstag. Ingeborg blickte verschlafen an die Wohnzimmerdecke. Ein breiter Lichtstrahl hatte es durch die Vorhänge geschafft und streifte gerade noch die vorsintflutliche Deckenlampe. Wieviele Birnen steckten darin? Zwölf? Und alles alte 40 Watt Birnen? Sie würde Klaus dringend raten müssen, etwas Moderneres zu besorgen.

Sie war bei ihm geblieben. Wollte ihn nicht allein lassen. Noch nicht. Erst musste sie versuchen, ihm etwas mehr Festigkeit zu geben. Er hatte ihr angeboten, mit in sein Bett zu kommen, aber sie wusste, sie schlief unruhig, brauchte Platz zum Drehen und Wenden, besonders jetzt, wo sie die Stahldinger losgeworden war. Und sein Bett war einfach zu schmal für zwei Personen.

Ein Glück, dass sie bis Dienstag frei hatte. Ein langweiliger Schreibtischjob hat also auch seine Vorteile!, überlegte sie.

"Morgen, Ingeborg!" Klaus stand in der Wohnzimmertür, gähnte sie an. "Danke, dass du dich um mich gekümmert hast und heute Nacht hiergeblieben bist."

Sie stand auf. Ging zu ihm hinüber, umarmte ihn. "Klar doch, Klaus. Ich werde dich nicht loslassen!" Etwas leiser fügte sie hinzu: "Und Barbara auch nicht!"

"Barbara....," antwortete er leise. "Ich... ich weiß nicht..."

"Doch, Klaus. Was du gestern versucht hast, oder versuchen wolltest... so geht das halt nicht. Du kannst sie dir nicht einfach abschneiden! Nein, du musst dich mit ihr versöhnen. Sonst wirst du nie mehr deines Lebens froh! Und ich glaube, ich weiß auch schon, wie ich dir dabei helfen kann! Geh mal erst ins Bad und mach dich fertig. Ich werde inzwischen was aus dem Auto holen!"

Sie hatte Glück gehabt, hatte ihren Wagen diesmal doch direkt vor der Haustür parken können. Und da sie immer noch die Joggingsachen von gestern Abend trug konnte sie, ohne sich großartig umzuziehen, eine Tüte aus ihrem Wagen holen. Sie durfte ihm keine Wahl lassen. So einfach war es.

Es dauerte lange, bis Klaus mit dem Duschen fertig war. Er hatte sich in seinen Bademantel gehüllt und erschrak, als er sah, was Ingeborg aus der Tüte nahm und ihm hin hielt. "Nein! Nein, Ingeborg! Nicht die Dinger.... bitte... ich möchte es....." Er sprach das letze Wort nicht mehr aus, dachte es nur noch für sich selber. Er ließ den Bademantel fallen, betrachtete sein schlaffes Glied. Vielleicht war es besser so?

"Doch! Ich lasse dir keine Wahl. Ich möchte dich jetzt als Barbara wieder bei mir haben! Verstehst du? Ich möchte nicht, dass du weiterhin vor ihr wegläufst. Sie ist doch ein Teil von dir selber!" Sie spürte sein Zögern. Welcher Mann ließ sich schon freiwillig in einen Keuschheitsgürtel einsperren? Und, viel schlimmer noch, einen stählernen BH, den er nicht ablegen, nicht einmal verbergen konnte? Musste sie eventuell noch etwas mehr Druck machen?
"Klaus, wenn du es nicht machst, dann habe ich auch keine Lust, mich weiterhin um deinen verstorbenen Schulfreund zu kümmern!" Sie wartete.

Klaus ging einen Schritt vor. Na bitte, geht doch!, dachte sie erleichtert. Dann aber ging er gleich zwei Schritte wieder zurück. "Ingeborg, ich.... ich weiß nicht, ob das richtig ist. Ob das alles hier richtig ist. Aber wenn ich das machen soll, dann du aber auch!"

Ingeborg verstand es nicht sofort. Dann aber kapierte sie, dass er den Ball geschickt zurückgespielt hatte. Jetzt wartete er auf ihre Reaktion. Sie betrachtete ihn, sah, dass jetzt auch seine Reaktion nicht ausblieb. Er hielt eine Hand vor sein Glied; seine Reaktion war nicht zu verbergen.Wie lange war sie selber zuletzt verschlossen gewesen? Zwei Wochen? Drei Wochen? Nein, sie hatte absolut keine Lust mehr. Spätestens heute Abend wollte sie, wenn sie wieder daheim war, ihren eigenen Spaß haben!
"Morgen ist Ostersonntag!", sagte sie und wunderte sich selber, warum sie es sagte.

"Und?"

"Morgen ist die offizielle Aufnahme der neuen Messdiener. Wirst du.... wirst du kommen?"

Er drehte sich um, blieb aber stehen. Schwieg lange. "Ja. Okay. Ich komme. Wenn du auch deinen KG und den BH anziehst. Von mir aus ohne die Schenkelbänder!"

Sie nickte. "Mache ich!", sagte sie leise. "Wenn du.... wenn Barbara sich auch einschließen lässt!"

Er nickte ebenfalls. "Okay. Aber versprich mir, dass du gleich nach Ostern herausfindest, was das mit dem Verkehrsunfall gewesen ist. Ich möchte es einfach wissen. Ja?"


13. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von peter_pan am 25.12.17 22:18

Ach dir liebe Weihnachtsgrüße, danke dass du uns weiter mit deinen Geschichten erfreust!
14. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MarioImLooker am 27.12.17 11:03

Vielen Dank für das Weihnachtsgeschenk.

Die Geschichte ist alles andere als pornografisch sondern zeigt eine tragische Geschichte, welches zu eigenem Nachdenken verleitet.

Immer wieder gerne lese ich die Fortsetzungen der Münchner-Tragödie und wünschte mir, die Story möge nie enden.

LG
Mario
15. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 28.12.17 17:36

Liebe Daniela!
Auch von mir ein großer Dank für diese Fortsetzung. Ich bin wieder voll begeistert, wie Du Spannungen und Probleme schilderst, die auch mich sehr nachdenklich stimmen. Ich als ziemlich betagter Leser kann mich gut in diese Hintergründe hinein denken und harre der weiteren Ereignisse.
16. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 01.01.18 22:00

Es kann weitergehen! Einen Tag später als gewohnt, aber wer hat am Silvesterabend schon Lust, Geschichten zu lesen? Und ich kann Euch versprechen, wir sind noch lange nicht fertig! Einen ganz besonderen Dank an die Leser, die mir geschrieben haben; es ist für mich der einzige Lohn für eine mühsame Arbeit!

Allen Lesern wünsche ich ein gutes neues Jahr 2018. Bleibt gesund und Eurer Daniela treu!

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München, Mitte April

Barbara hatte sich, mit Ingeborgs Hilfe, hübsch zurecht gemacht. Es war ungewohnt, sie zum ersten Mal seit jenem Abend auf der GeiDi-Gaudi wieder in Dirndl und high heels zu sehen. Sie überhaupt wieder bei sich zu haben.
Sie hatte in den letzten Monaten etwas zugenommen. Das Dirndl hatte nicht passen wollen; Ingeborg hatte sie ein wenig in ihr Korsett schnüren müssen. "Du hättest besser nicht so viel Süßkram essen sollen, Barbara! Deine eigene Schuld, dass ich dich jetzt schnüren muss!" Sie hatte, aus lauter diabolischer Lust, die Schnüre fester angezogen, als es wohl notwendig war. "Na, macht's Spaß! Sag mal, wie fühlt man sich eigentlich in so einem engen Ding?"

"Hast du noch nie ein Korsett getragen?", wollte sie wissen.

"Nein, wie denn? Aber vielleicht kann ich ja deins hier mal anprobieren?"

"Es wird dir nicht passen. Wir sind viel zu unterschiedlich gebaut. Monika hatte eines, das könnte dir gepasst haben!"

Monika? "Die Nachbarstochter? Die auch Messdienerin war?" Alles drehte sich irgendwie um Daniela, Monika und Klaus, beziehungsweise Barbara! Was hatten die drei gemacht?? "Die ist ja nun leider in Australien. Sie wird es mitgenommen haben!"

"Zu ihrem Vater? Nein, das glaube ich nicht. Jemand, der auswandert, wird bei maximal 20 Kg Reisegepäck wohl wichtigere Dinge mitnehmen, als ausgerechnet ein Korsett oder andere Spielsachen!"

"Spielsachen, Barbara?" Was genau hattet ihr gespielt??

"Ich kann ja mal schauen..." Warum hatte er es gesagt? Klaus wusste es nicht. Vielleicht fand er den Gedanken einfach reizvoll, einmal seinerseits Ingeborg in ein enges Korsett schnüren zu können - noch dazu Monikas Korsett!


Barbara sah in ihrem Dirndl wieder sehr verführerisch aus. Und sie hatte auch nichts gegen Ingeborgs intime Umarmung. Es war ja nicht das erste Mal. Sie hatten zusammen ein spätes Frühstück zu sich genommen, dann hatte Ingeborg Barbara mit ihrem Wagen zur Luitpoldbrücke gebracht. Der Motorroller stand unversehrt dort, wo sie ihn am Tage zuvor abgestellt hatten. Dann war jeder zu sich nach Hause gefahren.

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Es wr Dienstagmorgen. Alles hatte am Sonntag prima geklappt. Das Hochamt war sehr feierlich gewesen, die Kirche sogar mehr als halbvoll. Und auch mit Barbara war alles glatt gelaufen; sie hielt sich einfach die ganze Zeit neben Ingeborg. Niemand hatte ahnen können, was sie selber und Barbara unter ihren Kleidern trugen; sorgfältig hatte sie darauf geachtet, nicht allzu eng anliegende Sachen zu tragen. Auch Barbara hatte sich für einen etwas lockereren Rollkragenpullover und einen knielangen, weiten Rock entschieden. Richtige Kleidung, hatte sie gedacht, nicht diese kurzen, dünnen Dinger, die kaum das Gesäß bedeckten und die man über einer Leggins trug!

Sie hatte die Nummer der zuständigen Polizeidirektion in Bamberg herausgesucht. Ein Beamter meldete sich am Telefon. Sie stellte sich kurz vor, bat den Kollegen um genauere Angaben.

"Frau Kollegin? Ja, warten Sie bitte, ich habe es leider noch nicht im EDV-System! Wenn Sie sagen, es sei über zehn Jahre her, dann müsste ich mal eben ins Archiv. Also, ja ich schreibe mal auf: Wagner, Klaus Wagner. Unfallopfer, sagen Sie. Gut. Ich rufe sofort zurück!"

Es dauerte eine knappe halbe Stunde. "Frau Wimmer? Polizeihauptmeister Franz am Apparat. Also, ja, ich habe die Akte. Sie ist, warten Sie mal...." Ingeborg hörte ihn blättern. "... sie ist erstaunlich dick!"

Ingeborg wunderte sich nicht. Unfallakten waren eigentlich immer dick.

"Also, ja, verunglückt im Winter 2003. Er wurde angefahren... Hier sind Fotos vom Unfallort..., ja, viel Schnee. Hm... oh! Ach herrje!"

Ingeborg wurde aus dem Gestammel nicht ganz schlau. "Ja? Herr Franz? Was gibt es? Doch wohl ein eindeutiger Unfall?"

"Ja." Der Beamte räusperte sich. "Er wurde abends in einer eher dunklen Gegend überfahren, nur...." Er zögerte etwas, scheinbar las er die Akte.

"Nur...??"

"Fahrerflucht, Frau Kollegin."

Ingeborg spürte augenblicklich, wie sich ihr Magen zusammenzog. "Fahrerflucht? Hat man den Fahrer des Wagens ermitteln können?"

"Warten Sie... muss das erst lesen... ist ne Menge Zeug!" Wieder hörte sie es rascheln, dann husten. Sie wusste gut, dass man an Staublunge erkranken konnte, wenn man viel mit Akten zu tun hatte. "Negativ, Frau Wimmer! Darf ich Sie fragen, wieso sich die Kripo München plötzlich für diesen Fall interessiert?"

"Der Junge wurde als Zeuge in einer Pädophiliesache gesucht."

"Das hat sich jetzt ja wohl leider erledigt!" Auch ein Kommentar, überlegte Ingeborg. "Ja, könnte man so sagen. Sagen Sie, was hat die KTU erbracht? Wahrscheinlich nicht viel, wenn kein Fahrer ermittelt werden konnte."

"Also, hier steht, schwere Kopfverletzung, der Junge muss sofort tot gewesen sein. In der Nähe wurden, an einem Pfahl, Farbspuren eines PKW festgestellt. Diese konnte man aber nicht wirklich in Zusammenhang mit dem Unfall bringen und wurden deshalb, nach einer Analyse, nicht weiter verfolgt."

"Ja. Das glaube ich gern. Kann ja ein ganz anderer Wagen gewesen sein. Was hatte die Analyse ergeben?"

"Also, ja, Farbe Leuchtorange, Auto möglicherweise ein VW 411E oder 412 E. Baujahr 1972. Muss also eine alte Kiste gewesen sein, mindestens so an die dreißig Jahre alt. Tut mir leid, Frau Kollegin, dass wir Ihnen da nicht weiterhelfen konnten. Ich hoffe, sie finden noch andere Zeugen in Ihrem Fall. Ich mag diese alten Wichser nicht!"

Ingeborg bedankte sich für die Auskunft. VW 411 oder 412? Nein, das sagte ihr rein gar nichts. Und ein Auto in Orange?? Wer fuhr denn so was?


München, Ende April

Barbara hatte Evelyn erst gesehen, als es bereits zu spät war, noch in irgendeinem Hauseingang Zuflucht zu suchen. Sie war in der Stadt unterwegs, musste einfach mal wieder unter Menschen, sehen, wie es ging, und ob es überhaupt ging.

"Barbara! Endlich treffen wir uns mal wieder! Mann, bin ich froh, dich zu sehen. Also, du glaubst ja gar nicht, wie oft ich schon in den letzten Wochen an dich gedacht hatte!" Man konnte ihr die echte Freude ansehen. Doch ihre nächste Frage irritierte um so mehr. "Es gibt Barbara also noch, Klaus?"

"Siehst du doch, Lyn!", gab dieser pampig und gereizt zurück.

Evelyn sandte ihm einen wissenden Blick. "Na, dann ist ja doch wohl alles in Ordnung, nicht? Hast du etwas Zeit? Wollen wir einen Kaffee zusammen trinken?"

Er suchte verzweifelt nach eine Ausrede, nein, Lust hatte er keine, und in Ordnung war gar nichts. Wie aber sollte er der Rettungssanitäterin erklären, aus welchem simplen Grund es Barbara immer noch gab? Weil er immer noch diesen beschissenen stählernen BH trug? Und weil Ingeborg ihm auch nicht die Schenkelbänder ersparen wollte? 'Glaube mir,' hatte Ingeborg gesagt, 'es ist besser so! Ohne die Schenkelbänder wirst du bloß wieder in Versuchung kommen, Hosen anzuziehen!' Und er hatte es stillschweigend über sich ergehen lassen, wie auch all das andere, was Ingeborg von ihm wollte. Diese dämliche Messdiener-Geschichte! Erwachsenen-Messdiener? Bescheuert. Ja, er hatte mitgemacht an Ostern, wollte ihr einen Gefallen tun, wollte er doch wissen, warum sein Freund Thomas bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
Und jetzt war er hier, unterwegs in Münchens Fußgängerzone als Barbara, nicht, weil er es gut fand, sondern weil er keine Wahl hatte. "Klar doch, Lyn. Können wir machen!"

Wenig später hatten sie in einem Café Platz genommen, ihre Jacken und Mäntel abgelegt und Kaffee und Kuchen bestellt. Sie spürte deutlich den fehlenden Schutz ihres Mantels; die prominente Wölbung ihrer Brust ließ wohlentwickelte, volle Brüste erahnen; Männer mochten hinschauen, sie mit ihren Röntgenblicken abtasten. Männliche Röntgenaugen, die Stahl durchdringen konnten - und sahen, dass nichts dahintersteckte?, überlegte er.

"Wie geht's denn so?" Evelyn wartete keine Antwort ab. "Weißt du, ich hatte mir echt Sorgen gemacht, dass du nicht klarkommst, also mit Barbara. Ich wollte dir schon ernsthaft zu einer Therapie raten!"

Er wich zurück. Nicht einen Meter, wohl aber einen gefühlten halben Meter. Etwas lauter, als für ein Café angebracht, fuhr er auf. "Soll ich etwa zu einem Psychiater gehen? 'Zwei rote und zwei gelbe', wie bei 08/15? Oder so wie in 'Einer flog übers Kuckucknest'?" Theatralisch verschränkte er in einer unmissverständlichen Geste seine Arme vor der Brust.

Evelyn verstand das erste nicht, wohl aber die Geste. "Ach, Quatsch! Davon ist doch gar keine Rede! Übertreib mal nicht gleich. Ich hatte an Gesprächstherapie gedacht, irgendeine Gruppe, oder so. Oder halt Beratung durch einen Psychologen."

Barbara blickte weg. Warum sollte sie zu einem Psychologen?? "Ich komm schon klar, Lyn. Brauchst dir um mich keine Sorgen machen!"

"Dann ist ja alles gut." Sie sah ihn an; ihre Augen drückten etwas anderes aus, als was sie gerade gesagt hatte.

"Viel zu tun?" Er versuchte, das Thema zu wechseln.

"Geht so. Im Moment ists eher ruhig. In ein paar Monaten dann wirds schlimmer.... die ganzen Abifeiern, Schnapsleichen, du weißt. Und im Sommer dann gibt es Badeunfälle und Leute, die mit ihrem Grill Mist machen. Und du?"

Klaus zuckte die Schultern. "Weiß noch nicht. Mal sehen, was ich mir bis zum Spätsommer überlegt habe... also Studium, oder Ausbildung." Er stocherte lustlos in seiner Torte herum. Musste sie denn nicht bald gehen?

"Schön. Hast also darüber nachgedacht, was ich letztens gesagt hatte, dass du besser nichts mit Kindern...."

"Ja! Hab ich!", fuhr er ihr ins Wort. Dann, etwas leiser: "Hast ja recht. Es sitzt wohl in einem drin und die Gefahr ist zu groß, dass es eines Tages hervorbricht und neues Unheil anstiftet. Pater Ruprecht behauptet ja auch schon, er sei selber ein Missbrauchsopfer!"

Evelyn trank ihren Kaffee aus. "Läuft der Prozess schon?"

Klaus schüttelte den Kopf. "Nein, noch längst nicht. Es ist schwierig, Zeugen zu finden. Aber er sitzt wohl noch in U-Haft. Von mir aus können sie dem Schwein da was abschneiden...."

"Na, die Zeiten sind gottlob vorbei, wo Tätern was abgeschnitten wurde. Zumindest in unserem Rechtsverständnis. Und von den Ländern, wo Dieben die Hand abgehackt wird, wollen wir lieber nicht lernen!" Sie überlegte, machte eine kurze Pause. "Weißt du, unser Strafrecht beruht darauf, dass der Mensch fehlbar ist. Aber auch auf der Erkenntnis, dass derjenige den ersten Stein werfen solle, der ohne Sünde ist. Anders gesagt, niemand von uns ist wirklich besser. Und weil niemand besser ist, beruht unser Strafrecht nicht auf Strafe, sondern auf Vergebung und Versöhnung. Einem Dieb, dem ich die Hand abhacke, werde ich sie nie wieder reichen können, wenn dieser Dieb geläutert wurde. Deswegen passt auch die Todesstrafe nicht in unser Weltbild, weil wir den Täter nicht mehr als Mensch sehen, sondern nur noch als ein Stück Fleisch, das weggeworfen werden kann!"

Welch eine Rede! Klaus wusste nicht, was er erwidern sollte. "Auch wahr. Schade, dass du nicht in die Politik gegangen bist, Lyn!" Er sah, dass Evelyn bereits wieder zu ihrem roten Rucksack griff. "War auf jeden Fall schön, mal wieder mit dir zu sprechen. Ich sage dir Bescheid, wann es zum Prozess kommt. Willst ja vielleicht auch dabei sein...."

Evelyn stand auf und gab Barbara einen Kuss auf die Wange. "Kannst stolz auf dich sein, Barbara!", flüsterte sie. Dann ging sie.


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Konnte er stolz auf sich sein? Klaus ging sehr langsam zurück nach Hause. Nein, dachte er, sie hat ja nicht mich gemeint, sondern Barbara! Warum aber konnte er sie nicht greifen, warum verschwand sie ihm immer wieder, so wie einem feiner, trockener Sand durch die Finger rieselt?
Er hatte lange vor einem Schaufenster gestanden, hatte kaum registriert, was ausgestellt war; es interessierte ihn nicht. Er sah nur Barbaras Spiegelbild, das lange braune Haar, den gepolsterten Satinhaarreifen, den hübschen, knielangen Rock mit dem darunter getragenen Unterrock, dessen Spitze knapp unter dem Rocksaum hervorblitzte, und die Schuhe mit den hohen Absätzen, nach denen sich jeder zweite Mann umdrehte. Ein Bild, dachte er, es ist nur ein Bild, das ich anderen zeige. Mehr nicht. Es verschwand, wenn man es, wie eine Photographie, von der Kante betrachten wollte.

Er war müde. Und er hatte die Schnauze gestrichen voll von der stählernen Unterwäsche, die er immer noch tragen musste, und die ihm genau dieses Bild weiterhin aufzwang. Es war an der Zeit, es loszuwerden. Ingeborgs ganze Aktion hatte rein gar nichts gebracht, außer blauen Druckrändern auf seiner Haut.

Er sah auf seine Uhr. Bald würde Ingeborg Feierabend machen. Vielleicht könnte er sie noch an ihrer Dienststelle abfangen, mit ihr nach Hause fahren, dann den ganzen Mist endlich loswerden?
Es war nicht weit bis zur 'Löwengrube'. Wirklich abholen konnte er sie nicht; hingehen, an die Tür klopfen und sagen 'hallo, ich hole dich ab!' Aber er konnte sich an die Ausfahrt der Tiefgarage stellen und darauf hoffen, dass sie innerhalb der nächsten halben Stunde herauskäme.

Er hatte Glück. Es dauerte nicht einmal zwanzig Minuten, bevor das automatische Rolltor sich öffnete und ihr kleiner Wagen zum Vorschein kam. Er winkte, Ingeborg Wimmer sah ihn, hielt an und ließ ihn zu sich einsteigen.

"Barbara!" Sie freute sich, sie zu sehen. "Du, entschuldige bitte, dass schon wieder eine ganze Woche vergangen ist, seit wir Ostersonntag zusammen Messe gedient hatten. Wir sind übrigens...."

"Ist schon okay, Ingeborg. Kann ich mit zu dir nach Hause?" Er hatte nicht auf ihre Worte geachtet.

".... für die Abendmesse am Mittwoch eingeteilt. Nur du und ich!" Sie blickte kurz zu ihm hinüber; endlich hatte er sich angeschnallt; sie konnte weiterfahren. "Klar doch! Kannst immer gern mit zu mir kommen, Barbara!"

Sie fuhren schweigend weiter. Ingeborg musste sich auf den zunehmenden Berufsverkehr konzentrieren. Dann aber fiel ihr doch noch etwas ein. "Sag mal, weißt du, was ein VW 411 oder 412 ist?"

Klaus schaute sie verwundert an. "Ja, klar weiß ich das!"

Ingeborg wartete auf mehr, aber den Gefallen wollte er ihr scheinbar nicht tun. Vielleicht hatte sie die Frage falsch gestellt? "Ja? Und was?"

"Ein Volkswagen, Ingeborg!"

"Haha, Witzbold! Auf den Gedanken bin ich ja noch gar nicht gekommen!" Ingeborg lachte still in sich hinein. "Volkswagen? Hm, ich kenne den Käfer, Golf und Polo. Aber von dieser Kiste habe ich noch nie gehört!"

"Warum fragst du?"

"Man hatte Lacksplitter von so einem Wagen in der Nähe von Thomas Unfallort gefunden. An irgendso einem Pfahl!"

"An einem Pfahl? Was für ein Pfahl denn?"

"Na, ein Pfahl halt. Ein Zaunpfahl, oder ein Lampenpfahl, was weiß denn ich? Es ist nicht einmal gesagt, dass diese Spur irgendetwas mit dem Unfall und der Fahreflucht zu tun hat. Ein Kollege sagte, es handele sich um einen wahrscheinlich dreißig Jahre alten Wagen. Genauso alt können also diese Lacksplitter sein."

"Man müsste halt herausfinden, wie alt der Pfahl war!"

"Haha, da spricht der Fachmann. Also, Barbara, da könnte man diese Lackspuren auch gleich auspendeln! Freiwillige vor!"

Sie sieht immer nur Barbara!, dachte Klaus. "Ach, was weiß denn ich!"

Sagt dir also auch nichts, dieses Modell?"

"Nicht wirklich."

"Egal. Komm, wir sind gleich bei mir. Komisch übrigens... lauter dunkle Autos hier! Früher gab es da ganz andere Farben! Leuchtorange zum Beispiel! So was würde heute doch kein Mensch mehr kaufen! So, wir haben Glück, ein Parkplatz vor der Haustür!"



Sie hatten ihre Jacken an Ingeborgs wackligem Ständer aufgehängt. Ingeborg hatte sich bequeme Socken angezogen, Klaus seine high heels abgestreift. Ingeborg hatte ihm ebenfalls dicke Socken angeboten, die er gern über seine dünnen Nylons anzog.
Kaffeeduft erfüllte bald die Küche. Klaus hatte auf einem der ungepolsterten Küchenstühle - skandinavisches Design in weißem Schleiflack! - Platz genommen und ruckelte unruhig hin und her. Etwas theatralisch drückte er gegen seinen stählernen BH.

"Lass mich bitte raus, Ingeborg. Ich kann's nicht mehr haben! Es nervt nur noch!"

Ingeborg wandte ihm den Rücken zu, goss Kaffee in zwei große Becher und schüttete einige Kekse aus einer Packung auf einen Teller. "Kommst du am Mittwoch?"

"Die Dinger hier sind einfach beschissen! Wenn ich wenigstens richtige Brüste darunter hätte, so wie du.... Dann würde es wenigstens Sinn machen!"

"....zur Abendmesse?" Sie stellte die Becher und die Kekse auf den Tisch und setzte sich. Verdammt, die Milch vergessen! Sie stand noch einmal auf.

"....und meine Oberschenkel sind schon ganz wund gescheuert."

"Wir sind für die Abendmesse eingeteilt, Barbara!" Sie nahm einen Liter Milch aus dem Kühlschrank, holte ein kleines Kännchen aus dem Wandschrank, goss die Milch hinein und stellte die Tüte zurück in den Kühlschrank.

"Wo hast du meine Schlüssel, Ingeborg?"

Ingeborg betrachtete ihn. Warum reagiert er nicht auf meine Fragen? "Wirst du kommen??"

Klaus griff nach einem Keks. "Das bringt doch alles nichts, Ingeborg. Die Dinger hier sind verdammt unbequem..."

Sie beugte sich etwas vor. "Wem sagst du das? Glaubst du, mir macht das hier Spaß?" Sie legte beide Hände unter ihre Brüste. "Ich würde vielleicht ganz gern mal wieder meine richtigen Brüste spüren, nicht immer nur diesen beschissenen BH! Und hier," sie legte eine Hand in ihren Schritt, "möchte ich mich auch ganz gern mal wieder verwöhnen! Also hör auf zu jammern. Du kannst mich ja auch endlich mal rauslassen! Immerhin habe ich dir die ganzen Informationen über deinen Freund geliefert, die du haben wolltest!"

Klaus erstarrte. Mit einer so heftigen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Wie es wohl ist, wenn man wochenlang nicht an seine Brüste kann?, überlegte er.

"Es ist scheiße!" Ingeborg klopfte gegen die stählernen Halbkugeln, unter denen ihre Brüste verschlossen waren. Konnte sie Gedanken lesen? "Also, kannst mich auch ruhig mal rauslassen!" Sie legte ihre offene Hand auf den Tisch. Alles erinnerte irgendwie an jenen ersten Kontakt in einem Café, als der Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel und -BH mehrmals zwischen ihnen hin und her gewandert war.

"Ich hab deine Schlüssel nicht hier! Das weißt du doch!"

"Siehst du! Und ich habe deine Schlüssel auch nicht hier!" Sie blickte ihn an.

Klaus hob den Kopf. "Echt jetzt? Mach keinen Scheiß! Wieso hast du die Schlüssel nicht hier? Und wo sind sie denn?"

Ingeborg hielt seinem Blick stand. Wenigstens lernt man bei der Polizei gutes Lügen, dachte sie. "Ich habe sie in meinem Schreibtisch. Im Präsidium. Ich hatte sie eingesteckt, weil ich eventuell nach der Arbeit zu dir fahren wollte. Und im Büro fielen sie mir aus der Tasche. Eine Kollegin fand sie, hob sie auf und legte sie mir auf den Schreibtisch. Und ich legte sie dann in meine Schublade, weil sie mich störten." Eine hübsche Geschichte! Gleich würde sie selber daran glauben! "Tut mir leid, Barbara. Aber da liegen sie halt immer noch!"

Klaus knallte seine Kaffeetasse etwas heftig auf den Tisch, sagte aber kein Wort.

"Ach, weißt du was? Bis übermorgen werden wir es wohl noch aushalten können! Ich werde dann abends deine Schlüssel mitbringen in die Kirche, und du bringst meine mit. Ist doch gar kein Problem!" Sie registrierte das Zucken seines Gesichtes. "Ach komm, ist schon nicht so schlimm. Nimm deinen Kaffee mit. Lass uns rübergehen ins Wohnzimmer. Im Sofa sitzt es sich doch wesentlich bequemer, so lange wir in diesen blöden Dingern stecken! Außerdem wollte ich endlich mal nachsehen, was für ein seltsamer Wagen dieser alte Volkswagen ist."


Beide nahmen ihre Tassen, nachdem Ingeborg noch einmal nachgeschüttet hatte, Klaus dachte auch an den Teller mit den Keksen. Ingeborg klappte ihr Notebook auf, fuhr es hoch und tippte dann die entsprechende Angabe bei Google in das Suchfeld. Alsbald hatten sie und Klaus jede Menge Information über ein Auto, das es lange schon nicht mehr gab.
"Schon mal gesehen, so eine Karre, Barbara?"

"Nicht wirklich. Sieht auch irgendwie recht hässlich aus. Er las flüchtig den Artikel bei Wikipedia. "War wohl nicht der große 'burner'. Komische Sache eigentlich, dass VW damals mit praktisch nur zwei Modellen so eine Riesenfirma aufbauen konnte. Gab ja mal nur den 'Käfer' und den 'Bulli' damals, also wenn ich das richtig verstehe. Also den Transporter. Und als diese komische Kiste dann dazukam, da ging es dann langsam los mit der Produktentwicklung."

"Ja. Ich weiß nur noch, Käfer sah man damals noch eine ganze Menge, als ich klein war. Aber dieses komische Gefährt hab ich auch noch nie gesehen. Erst recht nicht in so einer krassen Farbe!" Sie klappte das Notebook zu, nachdem sie kurz ihr Mailprogramm gecheckt hatte.

Und was machen wir jetzt?, fragte sie und schob sich dichter an Klaus heran. Langsam schob sie einen Fuß unter seinen Rock, wanderte an seinem Bein entlang, bis sie auf harten Wiederstand traf. "Arme Barbara....", murmelte sie. Dann zog sie ihren Fuß zurück und beugte sich zu ihm hinüber.


München, Ende April, Anfang Mai

Sie war erleichtert als sie sah, dass Barbara, etwas verspätet, die Tür zur Sakristei öffnete. Ingeborg selber hatte sich schon umgezogen und für die Zeit nach der Messe alles vorbereitet. Der Pastor hatte sie bereits vorher darum gebeten, alles aufzuräumen und die Kirche abzuschließen; er müsse ganz dringend noch einen Hausbesuch machen.

"Da bist du ja! Schön, dass du kommst, Barbara!"

Klaus nickte ihr zu. Wie lange soll ich diesen Scheiß noch mitmachen?? "Kein Problem. Außerdem hattest du ja für heute die besseren Argumente." Er lachte etwas, hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, seine Stimme etwas anzuheben; es war außer ihnen niemand in der Sakristei. Er langte gleich in eine Seitentasche seines kleinen Rucksacks. "Hier Ingeborg, deine Schlüssel. Ich hoffe, du hast auch an meine gedacht?"

"Ja, natürlich!" Sie nahm ihm die kleinen Schlüssel ab und gab ihm nun ihrerseits die Schlüssel zu seinem Keuschheitsgürtel und dem BH. "Da können wir uns ja auf heute Abend freuen, nicht wahr? Hoffentlich musst du nicht gleich nach der Messe nach Hause??" Sie hatte versucht, ihrer Stimme einen möglichst unschuldigen Ton zu geben.

Er sah sie an. Überlegte. "Nein, muss ich nicht. Ich habe Zeit. Was hast du denn vor?"

"Ich...."

Das laute Klacken der Tür unterbrach sie. Der Pastor war gekommen, ganz außer Atem, wie es schien. "Ah, Sie sind schon da und auch schon fast fertig für die Messe! Sehr schön. Ingeborg, wollen sie mir bitte helfen? Derweil kann Barbara sich selber umziehen!"

Ingeborg half dem Priester beim Anlegen seiner liturgischen Gewänder. Vielleicht war es besser so, dass sie für den Moment einer Antwort enthoben war. Sicherlich würde es Barbara leichter fallen, ihr bei ihrem Vorhaben zu helfen, wenn sie wusste, dass sie allein waren und die Kirche bereits abgeschlossen.

Die Liturgie machte ihr Spaß. Vielleicht weil es so ganz anders als ihr Dienst bei der Kriminalpolizei war. Der Ablauf einer Abendmesse war leider nicht so spannend wie das feierliche Hochamt zu ihrer Einführung am Ostersonntag, wo der Duft von Weihrauch die kleine Kirche erfüllte. Aber auch ohne Weihrauch war es jedes Mal noch andächtig genug; eine Stunde, in der sie seelisch abschalten konnte.
Verstohlen beobachtete sie Barbara. Wo habe ich sie? Wird sie mir helfen wollen? Ich muss einfach wissen, wie es ist! Sie hatte keine Ruhe gehabt, seit Barbara ihr die seltsame Vorrichtung gezeigt hatte. Strafe? Strafe wofür? Es gruselte sie leicht, wenn sie daran dachte.
Sie hatte lange überlegt, welche Verbindung es zwischen dieser Monika, der verunglückten Frau aus Köln und Klaus gab. Wer mit wem? Und wer mochte den dominanten Part gespielt haben. Dass es sich nicht um langweiligen Blümchensex gehandelt haben konnte, das schien außer Frage. Aber war Klaus der dominante Part gewesen? Wie aber passte dann Barbara in diese Dreierbeziehung? Je mehr sie darüber nachgedacht hatte, um so größer war ihre Verwirrung geworden. Wie aber würde sie Licht in das Dunkel dieser ménage à trois bringen? Daniela war tot. Monika irgendwo im fernen Australien. Und Klaus?
Sie hatte es aufgegeben, Klaus zu finden. Er war nicht wirklich da, physisch ja, aber selten mehr als das. Während ihrer Suche nach Pater Ruprecht hatte sie ihn stark gespürt, da war er präsent gewesen. Aber dies hatte seit Beginn des Jahres wieder stark nachgelassen. Er war wieder zu Barbara geworden. Bis... ja bis scheinbar auch Barbara nicht mehr helfen konnte. Eines schien ihr klar, es würde bald wichtiger denn je werden, dass Klaus - oder Barbara - anfing, sich alles von der Seele zu reden.


Nach der Messe, zu der, wie erwartet, nur einige wenige alte Leute gekommen waren, behielt Ingeborg ihre Messdienerkleidung an, während Klaus sich möglichst schnell wieder umgezogen hatte.
"So, Ingeborg, ich wär dann so weit. Was hast du vor? Wollen wir noch irgendwo hingehen? Auf einen Wein vielleicht?"

"Wart mal bitte noch einen Moment, Barbara. Ich muss erst hinten absperren. Da mag noch der eine oder andere in der Kirche sein. Dann können wir es machen!" Sie griff nach ihrer Handtasche und ging zurück in die Kirche.

Klaus sah, wie sie sorgfältig die Kerzen am Altar löschte und dann nach hinten in die dunkle Kirche verschwand. Leise Wortfetzen drangen an sein Ohr, dann vernahm er das Schließen der Kirchtür. Es war so still, deutlich konnte er sogar das Drehen des Schlüssels hören. Oder bilde ich es mir nur ein? Monika, die hinten abschließt?? "Verdammt," flüsterte er leise zu sich selbst. "Ingeborg, nicht Monika! Was ist denn bloß los mit mir?" Er wartete, dass Ingeborg zurück kam; aber sie kam nicht.

Ingeborg hatte sich von einer alten Frau verabschiedet, dann hatte sie abgeschlossen und war in die kleine Anbetungskapelle geeilt. Sie brauchte höchstens zwei Minuten, vorausgesetzt, der Akkuschrauber gab seinen Geist nicht auf. Sie wusste, die Schrauben waren lang, sonst aber gab es keine Probleme. Sie hatte es bereits einmal ausprobiert, dann aber alles wieder so hergerichtet, dass es niemandem auffallen würde.

Klaus wunderte sich über das Geräusch, das zu ihm drang. Es mochte ein leises Geräusch sein, aber die kahlen Wände der Kirche gaben es verstärkt weiter. Es klang wie.... eine Bohrmaschine?? Das Geräusch erstarb. Ingeborg kam aus dem Dunkel zurück. Hatte sie irgendetwas gemacht?
"Fertig, Ingeborg? Wollen wir gehen?" Er wandte sich zum Gehen, aber Ingeborg hielt ihn am Arm fest.

"Warte bitte, Barbara! Du musst mir helfen! Komm mit, hab keine Angst! Alleine kann ich das nicht...."

Bilder verschwommen vor seinem inneren Auge. Erst Daniela, dann Andrea. Dinge, die er getan hatte. Dinge, die mit ihm gemacht wurden.

Ingeborg zog an seinem Arm. "Komm, Barbara. Bitte! Ich muss es jetzt machen.... ich habe Strafe verdient!"

Er sah nach unten, sah seinen Rock, seine Füße, die sich mechanisch vorwärts bewegten. Was hat sie vor?? Plötzlich spürte er inneren Widerstand. Seine Füße schienen lahm geworden, auf seiner Brust lastete tonnenschwerer Druck. "Bitte, Ingeborg.... nicht..."

Sie griff fester zu. Ingeborg spürte den Widerstand, den sie überwinden musste. Sie schafften es bis in die Kapelle, sie ließ ihn stehen, beugte sich zu ihrer Tasche hinab, nahm etwas heraus, drückte es ihm in die Hand. Dann nahm sie in der Bank Platz, hielt einen kurzen Augenblick inne, kniete sich dann hin, wobei sie sorgfältig den Stoff ihres schwarzen Talars unter den Knien glatt strich. Mit etwas Mühe legte sie ihre Füße in den hölzernen Block unter der Bank, dessen Funktion sie wiederhergestellt hatte; ebenso verfuhr sie mit dem Brett vorne an der Bank, welches sie hochgeklappt hatte, und das ihre Handgelenke aufnahm.

"Schließ sie bitte ab, Barbara! Und dann klappe noch das Sitzbrett um!" Sie machte eine kleine Pause, blickte ihn an. "Bitte!!"

Klaus war wie tot. Er schaute in seine Hand, krampfhaft umklammerte er zwei kleine Messingschlösser. Er sah Ingeborg vor sich in der Bank knien....

"Nein!" Er atmete heftig. "Nein, nicht noch einmal!! Ich ... ich kann das nicht mehr. Es ist genug! Bitte..." Er ließ die Schlösser fallen; laut polternd fielen sie auf den Steinfußboden. Dann drehte er sich um und ging fort.

"Scheiße!", murmelte Ingeborg. Sie hatte es verspielt. Und sie war sauer und enttäuscht. "Und was ist mit dem Korsett??", brüllte sie ihm hinterher. Sie wusste nicht, warum sie sagte, und hatte es wenige Minuten später bereits wieder vergessen, als sie sich daran machte, die langen Schrauben wieder an Ort und Stelle zu bringen.


17. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von punk am 02.01.18 10:28

Hallo Daniela 20,

vielen Dank für die Mühen, die du dir mit dieser tollen Geschichte machst. Gut recherchierte Details und saubere gesellschaftliche Analysen gepaart mit einer mitreißenden Story ergeben über 5 Teile ein Sittenbild unserer Zeit.

Mir macht das Lesen immer wieder und immer noch viel Freude. Nochmals vielen Dank in Vorfreude auf die noch kommenden Teile und vielleicht irgendwann eine ganz neue Geschichte.
18. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von wmms am 02.01.18 13:55

Hallo Daniela
zuerst möchte ich Dir noch alle Gute zum Neuen Jahr wünschen und hoffe, dass Du noch viele tolle Geschichten schreiben wirst.
Zur Versöhnung aber auch zur ganzen Reihe möchte ich Dir an dieser Stelle danken und gratulieren. Eine sehr einfühlsam geschriebene Geschichte.
Danke und viele liebe Grüsse
wmms
19. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 05.01.18 18:32

Ja, Daniela, für Ingeborg schaut es wieder einmal triste aus. Ich habe aber großes Verständnis für Klaus und seine Reaktion. Welch innerer Schmerz muss da aufkommen! Die Kräfte der Erinnerungen können unheimlich und stark sein! Trotzdem muss er da durch damit er seinen inneren Frieden finden kann. Oder sollte doch "Verdrängung" das einzige Heilmittel sein?
20. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 07.01.18 22:00

Weiter im Text! Heute eine etwas kürzere Fortsetzung, dafür aber wird es am nächsten Sonntag...., ach, ich will lieber nichts verraten! Auf jeden Fall sollte man Zeit zum Lesen haben! Ein ganz herzlicher Dank den Lesern, die mir geschrieben haben. Habe mich wieder riesig gefreut!! Eure Daniela 20

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Er war hinausgelaufen in den lichten Abendhimmel. Wieder einmal!, dachte er. Immer laufe ich weg! Weg weg weg!! Wie lange soll das noch so weitergehen? Und WO laufe ich eigentlich hin?? Einen Vater, der irgendwo in einem fernen Erdteil auf ihn wartete, gab es nicht.
Er hatte sehr wohl gehört, was Ingeborg ihm noch hinterhergerufen hatte. 'Was ist mit dem Korsett??' Klaus verstand es nicht. Diese Kriminalbeamtin... wieso hatte sie überhaupt Danielas Keuschheitsgürtel, und auch den Keuschheits-BH? Und hatte sie das andere Teil vielleicht auch?? Er erinnerte sich dunkel an jene erste GeiDi-Gaudi. Hatte nicht alles auch hier, an dieser kleinen Kirche einmal angefangen? Als er Monika und Daniela aufgelauert hatte und ihnen zu dieser seltsamen Oktoberfest Variante gefolgt war? Und dort dann.... diese seltsame Fernbedienung? Er hatte damals wahllos auf Knöpfe gedrückt, ohne zu wissen, was er damit eigentlich aktivierte. Später hatte Daniela ihm davon berichtet...., er erinnerte sich noch gut an ihr Gesicht, wie sie es erzählte.

Das Korsett, von dem er Ingeborg so leichtfertig erzählt hatte..., er wusste, wo es sein musste. Vorausgesetzt, Monika hatte es nicht mitgenommen nach Australien. Und er wusste auch, wo ein Ersatzschlüssel zum Haus von Monikas Mutter lag. Damals hatte er diesen Schlüssel benötigt, als er.... als Barbara!.... mit Daniela zusammengekettet war und Monika beinahe das Leben verloren hätte.

Seine Schritte wurden langsamer. Ein Sumpf, ein bodenloser Sumpf musste es wohl sein, in den er hier geraten war. Alle hatten irgendwie Dreck am Stecken! Langsam kam er sich vor wie ein Spielball eines Spiels, das er immer noch nicht ganz durchschaut hatte. Vielleicht war es ganz einfach an der Zeit, mitzuspielen! Anderen einfach zu geben, was sie haben wollten!
Er begann leicht zu zittern, musste sich einige Momente auf eine Bank setzen und zur Ruhe kommen. Er versuchte sich die Konsequenzen vorzustellen, aber die Vorstellung führte unweigerlich in die Katastrophe. Oder war sie bereits eingetreten? Hatte er überhaupt noch eine andere Wahl als den eigenen Untergang?

Er überlegte, wen er fragen konnte. Kannte er jemanden, der es verstand, wie ihm zumute war? Wenn man mit dem Rücken an der Wand stand? Oh ja, er kannte jemanden! Er fand sein altes Handy, suchte die entsprechende Nummer und wartete auf eine Antwort. Es klingelte lange, dann aber wurde abgenommen. "Ja, bitte?"

"Ich bin es, Klaus. Ich... mir geht es nicht gut! Können wir uns treffen?"


% % %

Er hatte wieder einmal lange unschlüssig vor dem Spiegel gestanden und überlegt, was er anziehen sollte. Hose, oder Rock? Und wie jedes Mal war diese Frage keine simple Wahl, sondern die Entscheidung zwischen Klaus oder Barbara. Warum nur war es so schwierig, warum durfte er denn nicht einfach anziehen, was er wollte?
Die bereits sehr warme Nachmittagsluft machte ihm die Entscheidung nicht gerade leichter. Nur.... Er hatte lange versucht, gegen seine weibliche Seite anzukämpfen. Bisher war es ihm gelungen. Sehnsüchtig streichelte er den Stoff von Barbaras Dirndl; nein, das könnte er jetzt sowieso nicht anziehen. Und den weiten Petticoatrock mit den lustigen Punkten? Auch nicht. Der knielange Jeansrock würde eigentlich immer gehen....

Er parkte seinen Roller in der Nähe der Adresse, die sie ihm angegeben hatte. Kam mit dem Hosenbein an eine schmutzige Stelle. Mit Rock wäre das nicht passiert, du Feigling!, dachte er. Er hatte Barbaras Schrank zugeknallt, hatte sich nackt auf den Boden gesetzt, ein Häufchen Elend, das er in der Spiegeltür sehen konnte. Abschneiden, räsonierte er. Einfach abschneiden. Den langen Weg bis zum Ende gehen und dann.... Dann? Wie oft hatte er sich schon diese Frage gestellt. Was wäre, wenn? Wenn er sich operieren ließe?? Würde es ihn glücklich machen? Könnte er überhaupt damit leben? Gäbe es ihn denn dann überhaupt noch? Und was würde seine Schwester sagen, wenn er dann plötzlich nicht mehr käme? Würde sie jemals begreifen, dass es ihn immer noch gab? 'Laus helfen!', diese wenigen Worte, hervorgebracht mit ihrer ungebrochenen Kinderstimme, die für ihn aber jedes Mal so wichtig waren, weil sie für ihn die familiäre Zusammengehörigkeit bedeuteten? Könnte Barbara jemals ohne Klaus leben??

Wie ist es, wenn das Leben einem eine Entscheidung aufzwingen will, die man nicht treffen möchte? Er hatte lange überlegt, mit wem er über diese Dinge sprechen konnte. Und war am Ende auf eine Person gekommen, die über genug Lebenserfahrung verfügen musste, es zu wissen.

Er klingelte. Eine Stimme kan etwas quäkend aus dem Lautsprecher. "Ja?"

"Ich bin es, Klaus. Machst du auf?" Der Türsummer ertönte, er öffnete und betrat den düsteren Hausflur. Er war noch nie hier gewesen. Altbau. Nicht so schick wie das moderne Appartementhaus, in dem Ingeborg wohnte. Die Gegend hatte einen ordentlichen Eindruck auf ihn gemacht; Schmierereien, die so mancher als Kunst verstanden wissen wollte, obwohl es doch eigentlich nur Sachbeschädigung war, waren hier nirgends zu sehen. Und eine Hausbesetzerszene war eh nirgends zu finden. Dritter Stock! Einen Fahrstuhl gab es nicht. Quälte sie sich wirklich immer diese Treppen hoch? In ihrem Alter?

"Klaus! Schön, dich zu sehen! Komm rein." Seine Großtante umarmte ihn leicht. Er begrüßte sie, gab ihr den kleinen Strauß Blumen, an den er noch gedacht hatte, zog sich die Jacke aus, man konnte ja nie wissen, wie lange er blieb und ob es nicht abends wieder kühler wurde, dann folgte er Gertrud in ihr Wohnzimmer.
Er sah sich um. Was hatte er erwartet? Plakate von Che Guevara? Den süßen Duft von Haschisch?
Er bemerkte das Sofakissen mit Knick, wunderte sich über den 'Röhrenden Hirsch' an der Wand; alles Dinge, die er nur noch aus alten Heimatfilmen kannte. Er nahm Platz auf dem Sofa, versank fast in den weichen Sitzkissen. Gertrud verschwand wieder in der Küche, kam bald zurück mit Kaffee und Kuchen. Die Blumen hatte sie in eine Vase gestellt; sie brachten frische Farbe in das dumpfe Ambiente.

Gertrud lachte, als sie seinen Blick bemerkte. "Alles nur Tarnung, Klaus! Man muss ja nicht gleich die rote Fahne aus dem Fenster hängen, nicht wahr? Du weißt doch: 'Holzauge sei wachsam!' Besonders hier in München. 'Hauptstadt der Bewegung', vergiss das nicht!" Sie lachte wieder, schenkte beiden Kaffee ein. "Und wie geht es dir so? Hast du deine Schwester mal wieder besucht?"

Klaus nestelte an den langen Troddeln, die seitlich am Sofa herabhingen und sich gut anfühlten. "Ja. Ja, ich bin da gewesen."

"Gut. Ja, das sagte man mir! Komm, lang zu!"

Warum fragt sie mich, wenn sie es schon weiß? Und was weiß sie noch über mich? "Ich glaube, es geht ihr gut...."

"Es geht ihr gut, ja...," wiederholte Gertrud seine Worte. "Wenn wir davon ausgehen, dass ausreichend zu essen und ein Dach über dem Kopf für ein gutes Leben schon ausreichen."

"Sie kennt es ja wohl nicht anders?"

Gertrud straffte sich. "Glaube mir, ich habe genug Elend in der Welt gesehen. Und Leute getroffen, die eine tägliche Schüssel Reis mit etwas Gemüse hatten und in einer wackligen Wellblechhütte hausten und allen Ernstes behaupteten, es ginge ihnen gut!"

"Was...?" Er kaute auf seinem Kuchen herum.

"Verstehst du es nicht, Klaus? Die Leute denken allen Ernstes, es ginge ihnen gut! Und ist es denn hier nicht genauso? Die ganzen Leute, die von der Stütze leben, haben nichts zu tun, werden nicht gebraucht, aber sie haben zu fressen und wohnen in einer hübschen Sozialwohnung. Das Fernsehen füttert sie von morgens bis abends mit hohlem Mist, und diese Leute glauben alle, es ginge ihnen gut! Ist doch zum Kotzen!"

"Aber es geht ihnen doch gut!"

"Also, unter 'Gut-gehen' verstehe ich was anderes. Dass die Leute einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen können. Dass sie aufwachen und für etwas kämpfen. Dass sie frei sind vom Meinungsdikatat anderer."

"Genau, Tante Trudel. Du musst es ja wissen!" Er hatte ganz unbeabsichtigt diese Spitze von sich gegeben, merkte seinen kleinen Lapsus und beeilte sich, hinzuzufügen: "Bei deiner Lebenserfahrung wirst du mehr von all diesen Dingen verstehen, als so manch anderer."

"Allerdings! Ulrike Meinhoff hatte auch schon immer gesagt....."

Klaus achtete nicht darauf, was seine Großtante im Folgenden hervorbrachte. Hundertmal durchgekaute Phrasen, nicht unbedingt realitätsfern, aber eben auch nie nah an der Wirklichkeit. Eine sozialistische Traumwelt zum Kaffeetrinken.

".... verstehst du das, Klaus. Wir müssen weiterkämpfen. Wir dürfen keine Schwäche zeigen. Jetzt gilt es: 'Einer für alle und alle für einen!' Bis zum Sieg!"


Merkwürdig, dachte er. Wieso höre ich ganz andere Dinge, als sie sie gesagt hatte? Sagte sie nicht in Wahrheit: 'Ein Volk, ein Reich, ein Führer!'? Und sprach sie nicht eher vom 'Endsieg'?? Er entschuldigte sich, ging auf die Toilette, ihm war leicht übel geworden, kaltes Wasser in den Nacken, es half. 'Ick kann jar nischt so ville fressen, wie ick kotzen möchte!' Wer hatte diesen schönen Satz einmal gesagt?? Liebermann?

Gertrud hatte sich wieder entspannt. Man sah es ihr an, Körper und Geist gehörten längst nicht mehr zusammen. Klaus setzte sich wieder, überlegte, wie er das Gespräch in eine Richtung drehen konnte, die seine Fragen beantworten würde.

"Sag mal bitte, wie ist das, wenn man mit dem Rücken an der Wand steht? Also, wenn man nicht mehr ausweichen kann?"

Sie lachte kurz, sah ihn aber mit einem verstohlenen Seitenblick an. "Ich würde mal sagen, es kommt auf die Wand an. Wenn es so eine hölzerne Hinrichtungswand ist, dann ist es ziemlich beschissen!"

"Das glaub ich gern! Hoffentlich sprichst du da nicht aus eigener Erfahrung! Nein, ich meinte eher, wenn man im Leben in eine Situation gerät, wo man das Gefühl hat, egal, was ich jetzt mache, es wird verkehrt sein!"

Sie senkte die Brauen, überlegte, schwieg aber.

Sollte er etwas hinzufügen?

"Wie.... wie meinst du das? Wie soll denn etwas falsch sein, was du tun willst?" Unverständnis lag in ihrem Blick.

"Ich weiß ja nicht, ob ich es wirklich will!"

"Dann lass es halt bleiben!"

"Nein, Gertrud, ich glaube, du verstehst es nicht! Es ist aber auch schwierig. Stelle dir vor, du wärst Überlebende eines Schiffsunterganges. Du klammerst dich an ein Holzscheit und glaubst dich für den Moment gerettet. Dann aber kommt noch jemand angeschwommen und greift nach deinem Holzscheit. Aber für euch beide ist es zu klein. Darfst du diesen dann wegstoßen, obwohl es ihn sicherlich das Leben kosten wird?"

Sie wandte sich ihm zu. Ihre Züge wurden heller. "Seltsam, dass du mich das fragst. Weißt du, genau dieselbe Frage hatten wir uns damals in den Siebzigerjahren auch oft gestellt. Ulrike meinte damals immer..."

Er hob seine Hand. "Ich will nicht wissen, was Ulrike Meinhof meinte! Ich will wissen, was du meinst! Was sagt deine ganze Lebenserfahrung zu diesem Problem?"

Sie schüttelte den Kopf. Leise und bedächtig. Sah auf ihre Uhr. "Es ist spät geworden, Klaus. Ich, ich habe heute keinen Mittagsschlaf gemacht. Sei mir nicht bös, ja? Nächstes Mal können wir darüber reden, nicht wahr?" Eine alte Frau, der jegliche Energie wieder gewichen war. "Komm, vergiss deine Jacke nicht. Und danke für die Pralinen!"



Klaus schüttelte sich, sobald er außer Sichtweite war. Er hatte gehofft, von der Lebenserfahrung einer Älteren profitieren zu können. Eine konkrete Anwort hatte er nicht erwartet, wohl aber ein wenig Lebenshilfe. Jetzt aber war er komplett desillusioniert. Was er gefunden hatte, war ein alt gewordener Mensch, der sich selber und sein Handeln scheinbar nie hinterfragt hatte. Ein Mensch, aufgewachsen mit Nazilügen und im späteren Leben abgefüttert mit roten Parolen. Und er fragte sich, wievielen Menschen ihrer Generation es wohl ähnlich ergangen war. Nein, nicht jeder von ihnen neigte zum Extremismus, zum bewaffneten Kampf. Aber war der ausufernde Materialismus, der sich in den Jahren des Wiederaufbaus bei vielen breit gemacht hatte, nicht auch eine Form von Extremismus? 'Wohlstandsbürger', die alles doppelt und dreifach haben mussten, nur um die innere Leere zu übertünchen? Menschen, die gar nicht erpicht darauf waren, sich eine eigene Meinung zu bilden und für diese zu kämpfen?

Es schauderte ihn. Er bestieg seinen Roller, startete die kleine Maschine und fuhr zurück. Er konnte nur hoffen, dass seine Großtante nicht aus Versehen die schönen Blumen aufaß!


München, Mitte Mai

Seine Finger schmerzten bereits, aber er hatte den Bauch voller Wut und beschloss, noch ein wenig mehr zuzuziehen. Ihr Stöhnen verriet ihm, dass die Prozedur sicherlich schmerzhaft sein musste. Immerhin war es das erste Mal, dass Ingeborg geschnürt wurde.
Warum mischte sie sich ständig in seine Angelegenheiten ein? Und dann dieser ganze Unfug mit den Messdienern! Ja ja, es war von ihm selber ausgegangen, nein, er verbesserte sich; es war ja von Barbara ausgegangen, sie hatte wissen wollen, wie es wohl ist, da vorne am Altar herumzuturnen und heilig zu tun, aber er hatte es nicht gewagt, all dies zu hinterfragen, Barbaras verborgene Wünsche in Frage zu stellen, ihren Willen niederzukämpfen. Und so war er wiederum in sein weibliches alter ego geschlüpft, hatte seinen Widerstand unterdrückt - und auch von Ingeborg unterdrücken lassen.

"Eng genug, Ingeborg?" fragte er sie. Ihr Stöhnen hatte noch einmal zugenommen.

"Ja," hatte sie mit einiger Mühe hervorgepresst. "Hast du so etwas auch mit Monika oder Daniela gemacht?"

Er erstarrte. Was ging es sie an, was er mit Monika oder Daniela gemacht hatte? Oder diese mit ihm? Klaus betrachtete seine Hände, die Korsettschnüre hatten bereits tief eingeschnitten. Die Schnürung des Korsetts stand noch mehrere Zentimeter offen. Er musste sie enger schnüren, so eng, bis sie aufhörte, dumme Fragen zu stellen. Polizei, dachte er. Die werden nie aufhören, dumme Fragen zu stellen! Sorgfältig darauf achtend, dass die Schnüre sich nicht lockerten, wickelte er sie fester um seine Hände. Er stemmte ein Knie in ihren Rücken, so würde es ihm leichter fallen, sie ganz zuzuschnüren.

Ihr Stöhnen ging in ein schwaches Jammern über; sie bekam kaum noch Luft. "Enger!", hauchte sie.

Es war ganz einfach gewesen, an Monikas Korsett heranzukommen, und es passte wunderbar. Er war durch das Loch im Gartenzaun geschlüpft, dann in den Schuppen gegangen, der Schlüssel lag tatsächlich wieder dort, wo er schon gelegen hatte, als er hier, zusammen mit Daniela, danach gesucht hatte. Monikas Mutter? Nein, sie tauchte nicht auf. Das Korsett lag dort, wo er es erwartet hatte. Es sah anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Dann war er zurück in sein Haus geschlichen und hatte einen günstigen Moment abgewartet, Ingeborg Wimmer in das steife, sehr feste Korsett einzuschnüren.

Hatte sie 'enger' gesagt? Er sah auf die Schnüre, er hatte bestimmt noch einmal nachfassen müssen, aber der Spalt in der Rückenschnürung war nicht schmaler geworden. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er verdoppelte seine Anstrengung, zog fester als zuvor, gleich würde ihm das Blut aus den Händen spritzen, aber obwohl die Schnüre immer länger wurden, wurde der Spalt nicht enger.

"Was hast du mit den beiden Frauen gemacht? Sage es mir! Oder was sie mit dir gemacht haben! Ich will es wissen!!" Ihre Stimme war wieder fester geworden, hatte sie sich denn so schnell an die enge Einschnürung gewöhnen können? "Und schnür mich endlich fester!"

Er dachte noch einmal nach. Hatte er denn irgendetwas übersehen? Er spulte seine Erinnerung noch einmal zurück. War drüben im Haus noch jemand gewesen? Monika? Unsinn, Monika war in Südaustralien und war weit weg. Aber er hatte ihre Anwesenheit deutlich gespürt. Er blickte sich noch einmal um. Sah ihr Zimmer so aus, wie sonst? Das Plakat hier an der Wand... sie hatte etwas darauf geschrieben. Er musste sich konzentrieren....
Er versuchte, seinen Blick zu schärfen.... Wer einfach aufgibt, ist halbtot!, hatte sie dort mit dickem Filzstift geschrieben, und Alle Wege führen nach Rom! darunter gesetzt.

Monika....


Er erwachte mit einem heftigen Ruck. Sah sich um, Sonne schien in sein kleines Schlafzimmer, es musste schon später Nachmittag sein. Noch konnte er Traum und Wirklichkeit nicht voneinander trennen, noch schmerzten seine Hände, noch glaubte er, Ingeborgs angestrengtes Atmen zu hören. Warum hatte sie sich gewünscht, immer enger geschnürt zu werden?
Barbara wusste sehr gut, was Korsetts mit einem machten. Sie gaben Halt und Stütze, umfingen den geschnürten Körper in inniger Umarmung, aber sie erlaubten es nicht, sich frei zu bewegen oder bloß ungehindert atmen zu können. Auffressen werden sie dich, am Ende werden sie dich auffressen. Wie ein angeketteter Wachhund, dessen Besitzer gestorben und für den Hund zur letzten Mahlzeit geworden war. Gegen ein Korsett kannst du nicht gewinnen! Du glaubst, es macht dich stärker, aber in Wahrheit macht es dich nur immer schwächer!

Es schauderte ihn. Klaus stand auf, zählte die dumpfen Schläge der altmodischen Standuhr, die er immer noch aufzog, obwohl er sie nicht mochte. Warum schmeiße ich das alte Ding nicht einfach raus? Weil er sich nicht trennen konnte? Weil die Vergangenheit in ihm immer weiterlebte?

Er drehte die Wasserhähne auf bis er endlich die richtige Temperatur für die Dusche gefunden hatte. Nein, einen modernen Mischhebel hatte seine Oma hier nicht installiert. 'Es geht doch auch so!', hatte sie oft gesagt. Warum eine elektrische Kaffeemühle, wenn man doch Arme hatte? Warum elektrische Rollläden? 'Es geht doch auch so, Bub!' Er hörte es immer noch!
Halbtot, dachte er, ich bin halbtot. Ich habe aufgegeben...., während leise das Wasser über seinen Körper lief und er nicht merkte, ob es kalt oder warm war. Es war an der Zeit, Entscheidungen zu treffen.

Eine knappe Stunde später war er im Garten. Eine Stunde, die er hockend auf dem Fliesenfußboden des Badezimmers verbracht hatte. Abzutrocknen brauchte er sich danach nicht mehr. Er würde sich eine Lungenentzündung holen....
Seine Schritte wurden langsamer. Die Beine waren wie Gummi. Linker Hand der kleine Apfelbaum, in dessen Zweigen er sich versteckt hatte. Monika und Daniela im Garten auf der anderen Seite des Zaunes. Daniela auf dem Tisch, die Zwangsjacke, die roten Buchstaben auf ihrem nackten Gesäß: 18.15 St. PP. Ein Infernal, das seinen persönlichen Weltenbrand ausgelöst hatte. Er hätte damals weglaufen sollen, laut schreiend irgendwo hin, aber er war blindlings in die Falle gestolpert, die Monika ihm gestellt hatte. Und dann, jenes Video von ihm.....
Es würgte ihn. Der blühende Baum mit seinem betörenden Duft erreichte ihn nicht. Gleich würde er durch das Loch im Zaun steigen. Seine Großmutter hatte hier mit Danielas australischem Vater angebandelt. Ein Vater, der seine eigene Tochter missbrauchte. Jahre bevor ihm selber der Schwarze Mönch über den Weg gelaufen war und kaputt gemacht hatte, was in ihm noch heile geblieben war.

Klaus ging zum Zaun. Sah durch das Loch, spähte zum Haus gegenüber. Barbara, wie wäre es mit Barbara?, hatte Monika lachend gesagt, als sie ihn in der Hand hatte. Und hatte unwissend doch nur etwas zu Tage gefördert, was in seinem tiefsten Inneren seit Jahren verschüttet war. Seit er seine Schwester die Treppe hinunter gestoßen hatte. Du hattest dann ihre Sachen entdeckt. Nur, wenn du ihre Sachen trugst, wurdest du wieder ruhig und wolltest sprechen! Ohne Gertrud hätte er wohl nie erfahren, was damals alles passiert war!

Ob der Schlüssel wohl immer noch unter dem Farbeimer lag? Hatte Daniela ihn wieder dort deponiert, nachdem beide sich mit Mühe und Not hatten befreien können? Er versuchte herauszubekommen, ob Pia, Monikas Mutter, zu Hause war. Wenn sie ihn entdeckte? Was dann? Er fürchtete sich vor Pia. Die Heilige.... Selten war wohl ein Name so unpassend für einen Menschen gewesen. Sie hatte ihren Hass auf die Männerwelt an ihm ausgelassen, indem sie die eigene Tochter zu ihrem Werkzeug machte. Und sie wusste alles von Barbara. Barbara, die in diesem Haus unter Schmerzen geboren wurde.
Stand sie oben am Fenster und blickte zu ihm hinüber? Erwartete sie ihn bereits? Wusste sie, dass er dabei war, einer Kette von verhängnisvollen Fehlentscheidungen in seinem Leben eine weitere hinzuzufügen?

Er begann zu zittern. Konnte sich nicht auf den Beinen halten. Setzte sich ins Gras. Er hörte Monika lachen: "Wenn du aufgibst, bist du halbtot!!"
Wenn ich WAS aufgebe?? Was soll ich denn bloß tun? Was ist richtig, was falsch? Vielleicht werde ich es erst wissen, wenn ich ganz tot bin....



21. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 08.01.18 19:28

Brrr.... ENTWEDER - ODER! schrecklich! Schon Tante Gertraud scheint nur die Extreme zu kennen. In ihrer angehenden Demenz scheint das noch verständlich (oder ist das wieder einmal nur der Versuch einer Entschuldigung?). Aber für Barbara oder Klaus? Wie sehr wünschte ich, dass es einen Kompromiss geben möge!
22. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MarioImLooker am 09.01.18 13:34

Der Geschlechterkampf den Klaus durchlebt, kenne ich persönlich von einer mir liebgewonnenen Person, jedoch mit umgekehrten Geschlechtervorzeichen. Warum muss jeder Mensch genau einem Geschlecht zugewiesen werden? Warum gibt es dieses Schubladendenken... Ich wünsche der/dem fiktiven Barbara/Klaus einen guten Weg aus diesem Konflikt, wie ich das auch meiner Bekannten so sehr wünsche. Die Gesellschaft muss noch viel toleranter werden.
23. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 14.01.18 21:58

Endlich ist wieder eine Woche geschafft! Heute habe ich eine kleine Bitte an meine Leser: Nehmt Euch bitte etwas Zeit für die heutige und die kommende Fortsetzung! Diesen Stoff hier kann man nicht mal eben so weglesen.....

Eure Daniela 20

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München, Anfang Juni

Er hatte sich eingemauert. Aber er lebte noch. Vielleicht war seine Entscheidung doch die richtige gewesen? Er blickte auf sein Handy, es hatte ihn geweckt. Ah, Ingeborg! Aber nicht jetzt. Er drückte das Gespräch weg; erst einmal musste er ein wenig zu sich kommen.
Klaus ging in die Küche; ein Frühstück wäre nicht schlecht, egal, wie spät es schon war. Sein Fuß stieß gegen eine leere Flasche, wie ist sie dort hingekommen? Ich erinnere mich nicht mehr....
Er ließ Wasser in den elektrischen Kessel, tat einen Löffel voll Pulverkaffee in eine Tasse. Goss das Wasser auf, als es kochte, setzte sich an den Tisch. Brot und Käse. Langsam merkte er die Lebensgeister erwachen.
Klaus Behrend, Flasche leer! Was hast du aus dir gemacht?? Nein, diese Frage war falsch. Andere hatten etwas aus ihm gemacht. Hatten ihn geformt, hatten ihn manipuliert, ihn dominiert. Fehlt nur noch das Eliminieren, dachte er.Seine ganze Existenz.... eine Verkettung unglücklicher Zufälle.... Dein Vater hat sie geschüttelt, bis sie aufhörte zu schreien, und deine Mutter hat sie mit dem Kopf gegen die Wand geknallt! Lenchen! Seine kleine Schwester, die im Moment das einzige Licht war, das ihm noch leuchtete. Zufälle?? Seine Eltern hatten nicht zufällig so gehandelt.

Er musste den Stumpfsinn loswerden. Es tat ihm nicht gut, die Abende mit Saufen zu verbringen und die Tage mit Schlafen. Vielleicht sollte er endlich mal wieder eine Runde laufen? Er sah aus dem Fenster. Schwarze Wolken hingen am Sommerhimmel. Also heute nicht laufen! Das alte Thermometer, das außen angebracht war, zeigte schon 27° an; drückende Schwüle hatte sich auch im Haus ausgebreitet. Na, das konnte ja was werden!

Klaus blickte auf die Uhr. Halb fünf. Sollte er mal Ingeborg zurückrufen? Er hatte ein schlechtes Gewissen. Hatte sich einige Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet. Sie hatte sich aber auch nicht bei ihm gemeldet. Es war still geworden in letzter Zeit. Evelyn?? Sendepause.

Er fand Ingeborgs Anruf, wählte BEANTWORTEN. "Ingeborg? Hi, wie geht's denn so?"

"Na, du bist lustig! Ich mache mir Sorgen um dich. Hast dich ja total vergraben! Oder gibt es was Neues, was ich noch nicht weiß?" Sie klang eher erleichtert, als erzürnt.

"Nicht wirklich, Ingeborg. Brauchte einfach mal etwas Zeit für mich selbst. Mal neu einnorden, falls du verstehst..."

"Doch, klar verstehe ich das! Und hat es geklappt?"

Hatte es geklappt? War es ihm gelungen, seinem inneren Kompass eine neue Marschrichtung vorzugeben? Eine, die nicht früher oder später in den Untergang führte? Er räusperte sich. "Was gibt's denn so?"

Ingeborg Wimmer hatte sehr wohl gemerkt, dass er ihrer Frage ausgwichen war. Und dass sie, bitteschön, an seiner Frage noch ein dass-du-mich-jetzt-störst dranhängen konnte. "Es gibt Neuigkeiten...." Sie zögerte, wusste nicht, ob sie ein Klaus oder Barbara dranhängen durfte.

"Neuigkeiten?" Seine Stimme klang müde, fast schon desinteressiert. "Von unserem Freund? Hat man ihm die Eier abgeschnitten, Ingeborg?" Es gab kein ironisches Lachen.

"Schlimmer!" Sie überlegte fieberhaft, wie sie es schaffen konnte, endlich mehr Licht in das Dunkel zu bringen, das ihn umgab. "Kommst du heute Abend?"

"Heute Abend? Wohin?"

"Ich möchte, dass Barbara mal wieder mit mir zusammen Messe dient!" Jetzt hatte sie es gesagt. Wie blöde kann man sein, fragte sie sich. Einfach so direkt drauf zu...

"Heute Abend?"

"Ja. Wir könnten dann auch darüber sprechen, was wir mit Pater Ruprecht machen sollen. Eventuell eine neue Strategie entwerfen!"

Klaus brauchte lange, bevor er reagierte. Vielleicht wäre es besser, endlich Schluss zu machen? "..... Messe dienen....", antwortete er hohl.

"Bitte! Und anschließend machen wir es uns bei mir gemütlich, ja?" Ingeborg wusste sehr wohl, ihre Karten gut auszuspielen.

"Was ist mit Pater Ruprecht? Läuft der Prozess endlich?"

"Du, ich muss hier weitermachen. Erzähle ich dir dann alles heute Abend! Wenn du kommst, Barbara!" Sie hatte aufgelegt


Ingeborg atmete tief durch. D-day!, dachte sie. Wie lange hatte sie schon über all das Bizarre nachgedacht, das sie in den letzten Monaten an Klaus entdeckt hatte. Natürlich hatte er ihr von der Sache mit seiner behinderten Schwester erzählt, wie man ihn all die Jahre hindurch getäuscht und betrogen hatte. Im Grunde genommen hatte man mit dieser ganzen Vertuschungsgeschichte ein Verbrechen begangen, ein Verbrechen an einer kindlichen Seele. Es mochte sein, dass die Rechnung seiner Eltern und der Großmutter, die Schwester als tödlich verunglückt auszugeben, in gewisser Weise aufgegangen war. Immerhin hatte Klaus keine aktive Erinnerung mehr an die ganze Geschichte. Wohl aber hatte es jahrelang wie ein Fluch auf seiner Seele gelegen, war Auslöser all der bizarren Dinge gewesen, die er selber schließlich mit dieser Nachbarstochter und deren Kölner Freundin erlebt hatte. Aber welche Dinge?? Sie musste es wissen! Vielleicht war es ein Teil ihrer Persönlichkeit, Dinge aufklären zu wollen.
Sie hatte sich einen guten Plan gemacht, wie sie selber dachte. Der Abend würde lang werden. Wieder einmal hatte der Pastor der kleinen Kirche sie gebeten, für ihn einen Dienst zu übernehmen. Er könne leider nicht kommen, die Abendmesse würde ausfallen müssen. Sie möge doch bitte den wenigen Anwesenden, die zum Gottesdienst kommen, Bescheid sagen und dann um 18 Uhr abschließen. Ob sie das tun könnte?
Heute Abend also, in wenigen Stunden, dann wäre es endlich so weit! Ingeborg spürte eine seltsame Mischung aus Vorfreude und Angst vor dem Unbekannten in sich aufsteigen; sie musste dringend mal eine kleine Zigarettenpause halten, sonst hielte sie die Spannung nicht mehr aus!



Er hatte sich entschieden. Tue ihr den Gefallen, wenn sie es unbedingt so haben will! Und er hatte sofort gewusst, w a s sie haben wollte. Hatte es aus ihrer Stimme herausgehört, hatte kleinste Schwankungen aufgezeichnet wie ein Lügendetektor. Und war bestimmt nicht auf den Köder hereingefallen, den sie ihm vor die Nase gehalten hatte. Welche Neuigkeiten sollte es da schon geben, was Pater Ruprecht anging? Er würde ohne Zweifel seiner gerechten Strafe zugeführt. Vorausgesetzt, er hatte sich nicht vorher schon in seiner Zelle aufgehängt!
Ja, diesmal wirst du ihr den Gefallen tun, wenn sie wieder damit anfängt! Du wirst nicht davonlaufen! Und in die Isar springen kannst du anschließend immer noch! Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Sprung aber für sein eigenes Leben! Ein Sprung heraus aus all dem Bedrückenden. Die tonnenschweren Gewichte, die auf ihm lasteten, sie würde er oben auf der Brücke zurücklassen!

Er war ruhig, als er sich gekonnt in sein weibliches Ich verwandelte. Entschied sich für hübsche Unterwäsche und die schwarze Glanzleggins. Ein Top, welches luftig Barbaras Silhouette umspielte. Beim Rock zögerte sie etwas, wählte dann aber einen recht engen Jeansrock, der knapp über die Knie ging. Sie würde diesmal nicht weglaufen können, nicht in diesem Rock!
Die passenden Schuhe waren kein Problem, Barbara besaß gar keine flachen Schuhe. Wohl aber high heels in verschiedenen Absatzhöhen. Welche sollte sie anziehen? Sie würde nicht viel laufen müssen. Ein wenig in der Kirche, am Altar. Mehr nicht. Natürlich würde sie mit dem Roller zur Kirche fahren und anschließend dann.....

Barbara sah aus dem Fenster. Der Himmel war dunkler geworden; obwohl es erst halb sechs an einem Sommerabend war, waren einige Straßenlampen bereits eingeschaltet. Vereinzelte Regentropfen schlugen gegen die Scheibe.
Sie wählte eine dünne Regenjacke, stopfte wichtige Dinge in eine passende Handtasche, dann löschte sie alles Licht, ging aus dem Haus und schloss hinter sich ab. Heute also, dachte sie.


Ingeborg konnte ihre innere Anspannung kaum noch unterdrücken. Sie war eher gekommen, hatte keinen Grund mehr darin gesehen, erst nach Hause zu fahren. Bereits kurz nach fünf Uhr hatte sie in der Nähe der Kirche geparkt und war die wenigen Schritte zu Fuß gelaufen.
Sie hatte sich bereits umgezogen, hatte sich die mittlerweile so vertrauten Messdienergewänder angezogen und dann ihre Vorbereitungen in der kleinen Seitenkapelle getroffen.
Sie war allein. Noch war niemand zur Abendmesse gekommen. Niemand achtete auf das Geräusch des Akkuschraubers. Pedantisch hatte sie die langen Schrauben zur Seite gelegt, hatte sie die Mechanismen der Fesselbretter überprüft; auch das Stachel bewehrte Sitzbrett ließ sich problemlos drehen und arretieren. Aus ihrer Handtasche holte sie zwei kleine, messingfarbene Vorhängeschlösser; sie waren geöffnet; die dazugehörenden Schlüssel legte sie auf den kleinen Altar, vor dem sie knien würde.
Hier - und nur hier - würde sie es schaffen, ihn zu knacken. Hinter die Mauer zu blicken, mit der er sich bisher umgeben hatte. Und sie war entschlossen, dafür weit zu gehen, sehr weit.

Es war kurz vor sechs Uhr. Mehrmaliges Klacken der Tür zeigte ihr, dass die ersten Gläubigen zur Abendmesse gekommen waren. Sie ließ sie gewähren. Einige wenige wussten nicht, wohin mit nassen Regenschirmen, andere setzten sich gleich in die Bänke, wieder andere schafften unter sichtlicher Mühe noch eine Kniebeuge und mit zittriger Hand ein Kreuzzeichen, bevor sie Platz nahmen. Ein lautes Poltern zeugte von einem Stock, der umgefallen war. Hände griffen zu Gebetbüchern, suchten vergebens nach der Nummer eines Eingangsliedes; die Bücher wurden wieder beiseite gelegt.
Ingeborg blickte auf ihre Uhr. Es war kurz vor Sechs. Sie huschte durch einen Seitengang zurück in den Altarraum, machte eine Kniebeuge vor dem Allerheiligsten, dann ging sie in die Sakristei.

Barbara war da und hatte sich bereits umgezogen. Schatten fiel auf ihr Gesicht; Ingeborg konnte ihre Augen nicht sehen. "Barbara! Wie schön, dass du gekommen bist!!" Sie umarmte Barbara, spürte den leichen Widerstand; nein, es war nicht mehr so, wie es noch zu Anfang des Jahres gewesen war.

"Schon gut! Habe es wohl gerade noch geschafft, halbwegs trocken hierher zu kommen!" Sie sah sich um. "Ist der Pastor noch nicht da?"

"Nein, noch nicht gekommen. Aber vielleicht gehst du schon mal raus und zündest die Altarkerzen an?" Sie blickte ihr nach, die kurz die Schultern gezuckt, dann aber mit einer Schachtel Streichhölzern die Sakristei verlassen hatte. Jetzt galt es zu warten.


Barbara ging zum Altar. Sie beachtete nicht die kleine Schar älterer Leute, die sich in den ersten Bänken versammelt hatten. Gläubige, die ihr ganzes Leben lang hinten gesessen hatten, jetzt aber, im fortgeschrittenen Alter, angesichts eines wohl nicht mehr allzu fernen Todes nicht unbedingt die Ersten sein wollten. Mochten diejenigen, die immer noch in den letzten Bänken saßen, jetzt auch beim Sterben die Ersten sein; so mochten sie wohl denken.

Plötzlich gesellte sich Ingeborg dazu. Sie trat nach vorn in den Mittelgang, hielt demonstrativ ihr Handy in der Hand. "Liebe Gemeindemitglieder!" Barbara hielt inne, Köpfe drehten sich Ingeborg zu.

Sage, dass es dir leid tut! Außerordentlich leid! "Liebe Gemeindemitglieder! Es tut mir sehr leid.... unser Herr Pastor hat mich soeben telefonisch davon in Kenntnis gesetzt, dass der heutige Abendgottesdienst leider ausfallen muss. Es tut ihm außerordentlich leid, dass Sie heute den Weg umsonst auf sich genommen haben. Er wünscht Ihnen Gottes Segen und mögen Sie bei diesem Wetter noch rechtzeitig nach Hause kommen! Ich danke Ihnen! Kommen Sie gut heim!"
Ingeborg atmete erleichtert auf. Musste aber einige besorgte Seelen beruhigen. Nein, es ist nichts Schlimmes! Nein, Genaueres wüsste sie leider auch nicht! Vergessen Sie Ihren Stock nicht! Ja, es tut mir leid, ich muss abschließen! Nein, heute Abend nicht, aber wohl morgen wieder! Ja, kommen Sie morgen wieder! Vergelts Gott! Gute Nacht!

Barbara hatte mit wachsendem Erstaunen zugesehen, wie gekonnt die junge Kriminalbeamtin mit der Situation umging. Die Ruhe, die sie ausstrahlte. Aber auch die Autorität, mit der sie, ganz liebenswürdig, einige wenige zum Gehen aufforderte, die glaubten, sie müssten noch für das Seelenheil des Pastors - oder ihr eigenes - beten. Es dauerte nur wenige Minuten, dann hörte sie, wie Ingeborg auch den Letzten verabschiedete und hinten die Tür abschloss. Sie waren allein.

"Und jetzt, Ingeborg? Dann können wir ja gehen!" Sie wusste, es war alles gefaket, eine brilliante Schwindelnummer. Es hatte keinen Anruf vom Pastor gegeben, und wenn doch, dann schon vor Stunden. Eine verschlossene Kirche wäre genug gewesen.

"Jetzt musst du mir helfen! Komm, Barbara!" Ingeborg hatte sie am Arm ergriffen, sie spürte den kräftigen Griff, der keinen Widerstand zulassen wollte.

"Helfen? Womit, Ingeborg? Was soll das hier... diese ganze Nummer??" Sie versuchte, sich loszureißen, aber Ingeborg hielt sie fest.

"Weißt du es denn nicht? Ich habe alles vorbereitet! Was ist mit dem Korsett? Hast du es besorgt?"

Er riss sich los. "Scheiß auf das Korsett! Nein, ich habe es nicht besorgt! Und sage mir endlich, was es Neues zu Pater Ruprecht gibt!"

"Das sage ich dir, wenn du mich auf der Strafbank fest gemacht hast! Komm jetzt und hör auf, hier rumzuzicken!"

Klaus blieb stehen. Er war erregt und sauer. "Ich denke nicht im Traum daran, noch mal was mit dieser scheiß Strafbank....!!" Er biss sich auf die Zunge, hatte seinen Fehler bemerkt.

"Noch mal was??"

"Nichts! Was ist mit dem Pater?" Er wandte sich zum Gehen. "Wenn du es mir jetzt nicht sagst, dann bin ich hier weg!"

"Er ist nicht mehr in U-Haft!"

Klaus wandte sich ihr zu. Man sah ihm den Schrecken an. "Wie.... nicht mehr in U-Haft? Wo ist er denn?"

Sie ergriff seine Hand, zog ihn sachte mit sich fort. "Er ist draußen. Mehr als ein halbes Jahr in U-Haft geht nicht. Es sei denn, es gibt gewaltige Gründe für eine Verlängerung. Die Staatsanwaltschaft ist sich nicht einmal sicher, ob es zu einem Verfahren kommt. Die Beweislage ist mehr als dürftig. Man hat keine weiteren Opfer oder Zeugen ausfindig machen können...."

Sie hatten die kleine Seitenkapelle erreicht. Ingeborg hatte ihn bis hierher wie in Trance führen können. Sie musste jetzt handeln. Langte nach den beiden Schlössern, die sie bereits zurecht gelegt hatte, drückte sie ihm in die Hand, dann kniete sie sich in die alte Messdiener-Strafbank.
"Komm, Klaus, mach die Schlösser dran und dreh das Sitzbrett um....!" Sie sah weg, hatte Angst, ihr Blick könnte alles im letzten Moment verhindern.

Sie schloss die Augen und wartete. Spürte ein leises Rumpeln in der Bank hinter sich. Ihre Füße wurden in das solide Fesselbrett gelegt; es wurde zugeklappt, ein sehr leises Klicken folgte. Sie hörte ihn atmen, ein schweres, angestrengtes Atmen, jetzt direkt vor ihr. Ihre Hände wurden nach unten gezogen, auch hier gab es das altmodische Fesselbrett, auch dieses wurde verschlossen. Dann ein weiteres Rumpeln; er hatte das Sitzbrett hinter ihr gedreht, hatte die furchtbare Stachelseite nach oben gedreht; sie würde sich nicht mehr hinsetzen können....

"Zufrieden?" Er hatte sich auf die Stufen des kleinen Altars direkt vor ihr gesetzt, Kerzenschein beleuchtete sein Gesicht unter der hübschen Perücke. "Und wo ist er jetzt?" Seine Stimme klang müde.

Ein greller Blitz zuckte von draußen herein, gefolgt von einem lauten Donner. Schlagartig verlöschte alles Licht in der Kirche. Nur noch der Schein der Kerzen erleuchtete die Szene.

Ingeborg testete ihren Spielraum. Null, dachte sie. Ich kann nichts machen... "Wir wissen es nicht. Er war unter Auflagen freigekommen. Sollte sich einmal die Woche bei der für ihn zuständigen Wache melden. Hat sich aber gestern nicht mehr gemeldet. Und zu Hause scheint er auch nicht zu sein. Er ist zur Fahndung ausgeschrieben...."

Klaus hörte es wie durch einen dichten Nebel. "Unser Video?"

Ingeborg überlegte, wie lange sie es wohl aushalten würden, bis sie ihn bitten müsste, befreit zu werden. "Kann nicht verwendet werden. Man erkennt ihn ja leider nicht. Und das Foto von deiner Bekannten.... nun ja, gerichtsfest ist das alles nicht. Tut mir leid...."

Stille trat ein. Erneutes Donnern war zu hören.

"Was hast du hier gemacht, Klaus? Mit Monika... oder Daniela?", fragte sie leise.

"Dann war alles umsonst?" Klaus sackte in sich zusammen. "Das Schwein wird weitermachen, wenn er die Gelegenheit dazu bekommt!"

Ingeborg achtete nicht darauf. "Klaus, hast du hier gekniet? Oder... oder hast du hier mit Daniela - sie überlegte, wie sie es nennen sollte - gespielt?"

Er schüttelte den Kopf. "Es war kein Spiel. Ich habe.... " Er schwieg.

"Nein, es war kein Spiel, Klaus." Erzähle es mir!!

"Das Video....", flüsterte er.

"Es war nicht gut genug. Man konnte ihn ja nicht erkennen!"

"Mich... MICH konnte man aber gut erkennen. Was ich mit Daniela gemacht hatte!" Ein leises Schluchzen entrang sich seiner Brust.

Ingeborg Wimmer verstand es nicht. Sie schwankte ein wenig hin und her, versuchte eine etwas bequemere Haltung für ihre Knie zu finden. "Ein Video von dir und Daniela? Dem jungen Mädchen, dass dann in die Isar stürtzte? Wer hat es denn aufgenommen? Und was kann man sehen?"

Er hatte sich wieder gefasst. Sah sie an, richtete sich auf. Zog die Nase hoch. "Monika hat es gemacht. Sie hatte mir eine Falle gestellt, und ich bin geradewegs hineingelaufen!"

"Was für eine Falle denn? Und WAS hast du denn gemacht? Hat sie dich mit dem Video erpressen können?" Scheiße, ist das hier unbequem!! Er wird mich bald losmachen müssen!

"Monika hatte mit Daniela was am Laufen. So ein Sadomaso Zeug. Wobei Monika immer der dominante Part war. Weswegen Daniela ja auch diesen Keuschheitsgürtel und den Stahl-BH tragen musste. Und sie hatte Daniela hier in dieser Bank angeschlossen und sie mir quasi auf dem Tablett serviert...."

Ingeborg überlegte. "Aber was konntest du denn tun? Ich meine, so wie man hier kniet ist ja außer Beten kaum was möglich!!

Er schüttelte sich, wie um eine Last abzuwerfen. Aber es war mehr als nur eine Last; es war ein Fluch, der sich nicht abschütteln lassen wollte. "Ich...." Die Stimme blieb ihm im Hals stecken. Er ballte seine Hand zur Faust, eine hilflose Geste; es war niemand da, niemand der seine aufquellende Aggression absorbieren könnte.
"Ich habe sie..... in den Mund...." Weiter kam er nicht, aber er hatte unbewusst seine Hand auf sein Geschlecht gelegt.

Ingeborg schien erst jetzt ihre prekäre Lage zu bemerken. Sie war nicht mehr ganz Herr der Situation. "Klaus Behrend! Was hast du mit Daniela gemacht? Hast du sie vergewaltigt?" Kaum hatte sie es ausgesprochen, wurde ihr klar, dass es in dieser Situation eigentlich nur noch eine Möglichkeit gab, eine Frau zu.vergewaltigen. "Oh mein Gott! Hast du sie zum Oralsex gezwungen?" Ließ sich das überhaupt machen? Und welcher Mann war so blöde, sein bestes Stück...?? "Und dann? Dann ist irgendwas schief gelaufen?? Sie hat dich gebissen und aus Rache hast du sie später nicht....?" Sie verstummte. Es war wohl nicht so gut, ihn ausgerechnet jetzt zu reizen.

Er lachte kurz und hart. "Gebissen?? Nein, sie konnte mich nicht beißen! Sie war ja geknebelt! Monika hatte sie geknebelt...." Er schwieg, ein krampfhaftes Zittern lief durch seinen Körper. "Sie hatte keine Chance. Genauso wenig wie ich, als Andrea es dann mit mir gemacht hatte und ich hier knien musste! Messdienerin Barbara!" Er schluchzte laut auf, als er es sagte. "Monika hatte sicherlich ihren Spaß gehabt. Sie liebte ja diese perversen Spielchen. Aber ich...." Er ließ sich ins Dunkel zurückfallen.

Ingeborg merkte, dass sie weder ihre Gedanken, noch ihre Gefühle mehr im Griff hatte. Irgendetwas war genau hier, an dieser Stelle, an dieser Strafbank, an die sie jetzt auch gefesselt war, geschehen. Nur, wie? Klaus mochte Daniela zum Oralsex gezwungen haben, was von Monika wohl gefilmt wurde um ihn anschließend zu erpressen. Zu was?? Aber wie um alles in der Welt ließ sich eine geknebelte Frau zu Oralsex zwingen? Und wer war jetzt diese Andrea, die mit ihm dasselbe gemacht hatte? Waren einer Frau da nicht anatomische Grenzen gesetzt?? Vielleicht war sie auf einer ganz falschen Spur? Aber was um alles in der Welt hätte es sonst sein können??
Ihr Unterbewusstsein hatte die Kontrolle übernommen. Es gab nur noch einen Weg, es jetzt herauszufinden. Sie stemmte sich mit aller Kraft gegen das Brett, welches ihre Füße hielt, zog und zerrte vorne an dem soliden Brett, welches ihre Hände nicht freigeben wollte, dann ließ sich sich zurückfallen, spürte plötzlich die scharfen Stacheln, die ihre Kleidung durchdrangen. Sie schreckte wieder hoch, ihre Knie schmerzten, wiederum kämpfte sie gegen die Fesselung, wieder spürte sie, wie sie langsam zurücksank, sie richtete sich erneut auf, wieder die Knie. Sie stöhnte laut auf. "Mach mich sofort los! Hörst du, du altes Schwein? Es ist genug jetzt! Es ist genug! Ich kann nicht mehr!!" Klang es wie Daniela?? Nein, Quatsch. Daniela wird gar nichts gesagt haben, sie war doch geknebelt!
Ingeborg versuchte es erneut. Diesmal nur mit Stöhnen und Brummen. Machte Lärm mit den Fesselbrettern; lange würde sie diese Nummer nicht durchziehen können!

Er tauchte unvermittelt aus dem Schatten wieder auf. Ein junger Mann in Frauenkleidern. Verkehrte Welt! Er hatte seinen Rock angehoben, stand plötzlich dicht, sehr dicht vor Ingeborg. Mit einer Hand zog er gekonnt eine weiße Miederhose herunter, während die andere den Rock hoch hielt. Ließ die Miederhose an den Knien stecken, griff dann an sein schlapp herabhängendes Glied. Er begann, es rhythmisch zu massieren. Er atmete heftig, Weinkrämpfe durchschüttelten ihn.

Tot, dachte er. Es ist tot. Lange schon tot. Du kriegst keinen mehr hoch, gar nichts geht mehr! Das Sterben hat begonnen, Klaus Behrend. Er sah Ingeborg vor sich knien, alles war wie damals, die gespenstische Atmosphäre, nur der Ringknebel fehlte... und seine Erektion. Und er wusste, Ingeborg spielte ein Spiel mit ihm, sie war eine geborene Sub, sie wollte es hier und jetzt. Aber Daniela hatte es nicht gewollt, damals. Er hatte es auch nicht gewollt, aber getan. Einzig Monika hatte es gewollt, hatte sich an ihrer perversen Fantasie aufgegeilt; warum, mochten die Götter wissen; sie hatte es ihm nie wirklich mitgeteilt.

"Nein!!" Er hörte Ingeborgs gespielten Aufschrei; das alles hier war nur noch zum Kotzen. Es wird Zeit, Klaus Behrend, du musst es jetzt tun!

Ingeborg ächzte unter ihren Fesseln. Jetzt würde er...

Sie sah, wie er resolut seine Miederhose wieder hochzog, sein immer noch schlaffes Glied mit einiger Mühe unter den festen, elastischen Stoff quetschte, sich dann mit dem Ärmel über das Gesicht rieb.

"Ich kann es nicht! Hörst du!! Ich will es nicht! Ich will mit diesem ganzen Scheiß nichts mehr zu tun haben! Dieses Scheißleben kotzt mich nur noch an! Und du kotzt mich auch an! Lass mich in Ruhe! Ist doch alles schief gelaufen!!!" Er war zurückgewichen ins Dunkel der Kirche. Sie hörte ihn gegen eine Bank stoßen, er kam ins Straucheln, fiel hin, dann vernahm sie seine Schritte in Richtung der Sakristei, das Öffnen und Zuschlagen der Tür hörte sie nicht mehr, einzig das leise Stottern eines kleines Rollers, der draußen vorbeifuhr, dann herrschte Stille.

Sie war allein. Und sie wusste, diesmal würde ihn niemand aufhalten können.



24. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MarioImLooker am 15.01.18 15:51

Krasser Cliffhanger...
Stürzt sich Klaus/Barbara wirklich in die Isar, wird jemand Ingeborg rechtzeitig vor der totalen Erschöpfung aus der misslichen Lage befreien können? Hoffentlich ist bald wieder Sonntag.
25. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Sir Dennis am 15.01.18 19:43

Ich gebe Mario recht und ich hoffe das Barbara wieder zur vernunft kommt auch wenn ich spüre das er sie mit sich kämpft
26. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 17.01.18 20:52

Welcher Teufel hat diesmal Ingeborg Wimmer in der Seitenkapelle geritten! Als erfahrene Kriminalistin muss sie doch wissen, dass Klaus in einer solchen Streßsituation nicht verantwortungsvoll reagieren kann! Will sie denn ein extrem schmerzhaftes Outing als Masochistin erzwingen? Mit bloßem beruflichen Ehrgeiz kann es nicht mehr erklärt werden!
Nun kann uns Lesern wirklich nur noch Geduld helfen!
27. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 21.01.18 22:00

Endlich kann es weitergehen! Ich wünsche allen Lesern eine spannende Lektüre! Eure Daniela 20

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Ragnarök. Er war mitten drin und bemerkte es nicht. Klaus hatte sich bei seinem Sturz in der dunklen Kirche das Knie aufgestoßen; es schmerzte nicht. In aller Eile hatte er sich seine dünne Regenjacke übergezogen, aber vergessen, den Reißverschluss zu schließen. Sintflutartiger Regen durchnässte ihn bis auf die Haut; er nahm es kaum wahr. Er hörte nicht das Tosen des Sturms, der über München hinwegzog, vernahm nicht das Knacken und Krachen schwerer Äste, die um ihn herum zu Boden fielen.

Nein, Evelyn hatte falsch gelegen, als sie sagte, er müsse sich mit Barbara versöhnen! Aber das hatte er erst jetzt begriffen. Gerade noch rechtzeitig, wie er fand. Daniela war die Schlüsselperson in seinem Leben, mit ihr würde er sich versöhnen müssen! Bald wäre es so weit, nur wenige Minuten noch. Den Roller würde er oben an der Brücke stehen lassen, er bräuchte ihn nicht, bräuchte kein Gefährt, das ihn hinübertragen würde ins Reich der Toten, wenn es das überhaupt gäbe.
Der Gedanke an ein Weiterleben nach dem Tode erschreckte ihn; alles noch einmal von vorn, nein nein nein, er wollte einfach nur noch sterben, hinübergleiten ins sanfte Nichts, allem ein Ende setzen, nicht den Neuanfang. Erlösung finden in der Versöhnung mit Daniela, die er so feige hatte verrecken lassen.

Der Motor seines kleinen Rollers begann zu stottern. Immer wieder musste er sich durch tiefe Pfützen quälen, Wasser schlug gegen die kleine Maschine, Wasser, das gar nicht mehr wusste, wohin es noch abfließen sollte.
Wo war er? Er wusste es nicht. Die Stadt lag im Dunkel des Sturms, Straßenlampen warfen ein kümmerliches Licht gegen den wehenden Regen, Ampeln waren ausgefallen. Der Verkehr wurde chaotischer, Kreuzungen hatten sich in Irrgärten verwandelt, mühsam schlängelte er sich auf seinem Roller hindurch. Er wählte eine stillere Nebenstraße; er hätte es nicht tun sollen, alles lag voller niedergefallener Äste, leichte Gartengeräte flogen durch die Luft; Menschen sah er keine mehr.

Ganz unvermittelt ließ der Regen nach. Habe ich es überstanden? fragte er sich. Er wollte aufatmen, wieso musste ihm die letzte Lebensstunde noch so schwer gemacht werden, aber er erschrak, als er ein neues Geräusch hörte, das sich ihm näherte, das ihn zu vernichten drohte, noch bevor er selber den Ort der Versöhnung erreichte.
Er hielt an, blickte für einen kurzen Moment über die Schulter zurück, sah die dicken, weißen Körner wie eine eisige Wand vom Ende der Straße auf ihn zurollen. Er musste hier weg, augenblicklich, hier kam er nicht vorwärts; wenn es überhaupt gelänge, einem Hagelsturm auszuweichen, dann musste er jetzt fort von dieser zugemüllten Straße, hinüber auf die Hauptstraße, wo er noch einmal ordentlich Gas geben könnte.
Er schaffte es um Haaresbreite, bog nach rechts ab, sah zu seiner Erleichterung hinter einigen Bäumen den goldenen Friedensengel leuchten; er wusste endlich wieder, wo er war; wenige Minuten noch, dann wäre es vorbei.

Klaus achtete nicht auf den Bus, der ihn überholte und ihm an einer Haltestelle unvermittelt den Weg abschnitt. Er versuchte zu bremsen, rutschte auf nassem Laub aus, merkte, wie seine Maschine plötzlich unter ihm weggerissen wurde und er selber zu Fall kam. Benommen registrierte er die gelben Blinklichter des schon wieder abfahrenden Busses, er hatte keine Ahnung, ab jemand eingestiegen oder ausgestiegen war, dann setzte die Hölle um ihn herum ein, taubeneigroße Hagelkörner schlugen auf seinen kaum geschützten Körper, diesmal merkte er den Schmerz, er litt tausend Qualen, die Haltestelle war seine letzte Rettung, mühsam kroch er unter das rettende Dach. Er blickte sich um, sah nach seinem Roller, fand ihn wenige Meter zurück auf dem Trottoir; ein Wunder, sollte er den wieder ans Laufen kriegen. Egal, dachte er, die letzten Meter werde ich auch zu Fuß bis zur Brücke schaffen! Was hatte Monika zu ihm gesagt, als er sie im September wiedergetroffen hatte? 'Wer einfach aufgibt, ist doch schon halbtot!' Nein, dachte er, er würde nicht aufgeben, jetzt nicht, und halbtot war jetzt nicht mehr tot genug!

Ein greller Blitz blendete ihn, aber bevor er im Reflex die Augen schloss sah er ihn, den kleinen Aufkleber, den irgendjemand an die Wand der Haltestelle geklebt hatte. Ein Aufkleber, wie so viele andere, die irgendwo klebten. Kaum handgroß. Die bayrische Rautenfahne in weiß blau, in der Mitte, eingesetzt wie ein Medaillon, das Bild von Ludwig II., Bayerns angeblichem Märchenkönig, der sein eigenes Märchen nicht länger hatte ertragen können und sich im Starnberger See das Leben genommen hatte. Der grelle Blitz verlosch, aber das Licht, das er gebracht hatte, pflanzte sich in seinem Inneren fort. Dieser Aufkleber...., wo habe ich den schon einmal gesehen??
Ein gewaltiger Donner folgte, rumpelte durch seinen noch so jungen Körper, der plötzlich anders dachte als der geisteskranke König. Als die Erinnerung einsetzte brach er zusammen. OH MEIN GOTT!! Und was hatte Monika damals noch gesagt?? Dieses alte Sprichwort??


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Der Sturm hatte nachgelassen; es war wieder ruhig geworden. Ihre eigene Lage wurde ihr erst bewusst, als draußen wieder Ruhe einkehrte und sie sich erschöpft niederließ. Stechender Schmerz fuhr ihr durch das Gesäß, erschrocken stemmte sie sich wieder hoch, augenblicklich meldeten sich ihre gemarterten Knie. Auch die Muskulatur ihrer Oberschenkel begann leicht zu zittern.
Du hast ganz große Scheiße gemacht, Ingeborg!, dachte sie. Sie hatte das Spiel überreizt, nicht mit genau dieser Reaktion gerechnet, die sie doch hätte berücksichtigen sollen. Sie versuchte, nüchtern nachzudenken. Wann hatten sie ihr 'Spiel' begonnen? Es mochte kurz nach 18 Uhr gewesen sein. Und es hatte einige Zeit gedauert, bevor sie Barbara endlich dazu gebracht hatte, mitzuspielen. Nein, Klaus! Sie verbesserte sich. Barbara war doch längst schon gestorben! Und Klaus?
Sie sank erneut zusammen, kam wieder in Kontakt mit den Stacheln, als ihr die ganze Tragik des Abends bewusst wurde. Sie hatte alles falsch angegangen. Hatte sich von ihrem eigenen Wunsch, dominiert zu werden, leiten lassen. Und von ihrem krankhaften Ehrgeiz, Licht in diese dunkle Angelegenheit zu bringen. Junge Leute, die gemeinsame Fetischspiele miteinander spielen. Dominanz und Unterwerfung, gesteuert von der Sucht, es immer doller zu treiben. Wie ein Zug, der mit voller Fahrt auf ein Abstellgleis gerät! Bremsen allein hätte sie gerettet, hätte es wahrscheinlich verhindert, dass Daniela an jenem Abend allein in die Nacht hinausgerannt war. Und Bremsen hätte wohl auch Klaus gerettet, der jetzt auch davongelaufen war. Sie hätte bremsen müssen, hätte seine Qual längst erkennen müssen; stattdessen hatte sie alles nur auf die Spitze getrieben.
Und jetzt? Lebte er noch? Wieviel Uhr mochte es sein? Sie besaß zwar eine schicke Armbanduhr, die Bruno ihr einmal geschenkt hatte, weil sie wie eine Handschelle geformt war, was zu einer Polizistin seiner Meinung nach gut passte, aber diese lage zu Hause im Kasten, zusammen mit anderen Dingen, die immer noch schmerzlich an ihre Zeit mit Bruno erinnerten. Als moderne Frau war sie den schnellen Blick auf ihr Handy gewohnt, ihr Handy, das in ihrer Jackentasche steckte, die sie in der Sakristei liegengelassen hatte.

Ingeborg schloss die Augen. Sammelte all ihre Energie, wie sie es bei der Selbstverteidigung gelernt hatte, in einem einzigen, kräftigen Stoß zusammen, es würde klappen, sie zählte rückwärts, entlud bei null all ihre Energie, aber es klappte nicht. Sie war gefangen, gefangen in dieser mittelalterlichen Strafbank, die einst für unruhige Messdiener erfunden wurde, damit diese lernten, während des Gottesdienstes still und andächtig in sich zu ruhen.
Der Glockenschlag der Kirchturmuhr riss sie aus ihrer stillen und wenig andächtigen Kontemplation; sie zählte mit: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Acht Uhr abends! Jetzt wusste sie wenigstens, wie lange sie hier schon kniete. Was sie nicht wusste war, wie lange sie noch würde knien müssen, bis irgend jemand sie entdeckte und rettete!

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Er zog sich aus, schälte sich mit einiger Mühe aus den nassen Sachen, ließ sie achtlos zu Boden fallen. Kroch in das herrliche, weiß bezogene Bett. Es war zuviel gewesen für ihn. Viel zu viel! Sein Kopf konnte nicht mehr, wollte nicht mehr denken. Einzig sein Handy hatte er mit unter die Bettdecke genommen, es beruhigte ihn, es in der Hand halten zu können. Es war das einzige, was ihm noch geblieben war. Dann sackte er weg.

Wiederholtes kräftiges Summen seines Handys weckte ihn aus einem fast todesähnlichem Schlaf. So viele SMS auf einmal?? Ach ja, der Anbieter hatte gewechselt. Das leichte Ruckeln, das ihn in den Schlaf gewiegt hatte, hatte aufgehört; vor seinem Fenster gingen Leute vorbei und unterhielten sich angeregt.
Klaus sah nach der Uhrzeit, knapp zehn Uhr abends. Er zog die Bettdecke ganz über seinen Kopf, eine Höhle brauchte er, eine Höhle die ihm Sicherheit bot. Dann erschrak er. Ingeborg! Er hatte sie zurückgelassen, hatte sie, ohne zu denken, ihrem Schicksal überlassen. Wie lange mochte sie dort schon knien? Drei Stunden? Oder hatte sie sich befreien können??
Nein. Monika hatte sich nicht befreien können; er selber hatte sich nicht befreien können! Ohne Hilfe von außen.... Er mochte den Satz gar nicht zu Ende denken. Monika hatte wohl Glück gehabt, weil sie ihren Keuschheitsgürtel trug. Aber Ingeborg? Trug sie ihren heute Nacht? Er wusste es nicht. Wusste nur, dass er sie retten musste, bevor es zu spät war.
Er dachte fieberhaft nach. Stimmen drangen wieder an sein Ohr, diesmal kamen sie von der anderen Seite. Schritte, die vor seiner Tür entlang gingen. Was konnte er denn tun? Nichts....
Das leise Ruckeln und Schaukeln setzte wieder ein, nahm von ihm Besitz, sein Körper wollte schlafen schlafen schlafen...

Halte dich wach, Klaus Behrend!! Du musst jetzt Ingeborg retten!! Wer konnte helfen? Dann fiel ihm ein, jetzt konnte nur noch eine Person helfen. Er nahm sein Handy, das Display leuchtete zuversichtlich, alles wird gut!, dann schrieb er eine kurze SMS und schickte sie ab.

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Sie konnte nicht mehr. Ingeborg wusste, sie würden den Kampf gegen die Schwerkraft nicht gewinnen. Immer wieder sackte sie zusammen, immer wieder machte sie Kontakt mit den stechenden Stacheln. Ein, zwei Mal hatte sie versucht, ob sie nicht eventuell doch dort sitzen könnte, wenn sie sich nur ganz ganz langsam niederließe, wenn sie ihr Gesäß breit machte, den Druck verteilte; es mochte gehen, vielleicht für eine Minute, aber dann kannten die langen Stacheln doch kein Erbarmen mit ihr und ihrem Hinterteil und bohrten sich wieder durch ihre dünne Messdienerkleidung und ihre Jeans, die sie darunter trug.

Sie stemmte sich noch einmal mit letzter Kraft hoch, wie lange würde sie es noch aushalten, bis...? Sie hatte in den letzten Wochen lange genug Zeit gehabt, die Stacheln zu begutachten. Heftzwecken waren das nicht! Es waren lange, altmodische und sehr solide Eisennägel, angeordnet in mehreren Reihen und über das gesamte Sitzbrett verteilt. Grob mit einem kräftigen Hammer durch das mehr als fingerdicke Brett der Sitzbank hindurch getrieben. Und hatte da nicht jemand die Spitzen extra noch angefeilt? Zwei Zentimeter lange nadelspitze kleine Dolche, zweiundzwanzig an der Zahl, die nur noch darauf warteten, sie am Ende aufzuspießen. Könnte man davon sterben? Blutgefäße würden wohl eher nicht in Mitleidenschaft gezogen, überlegte sie. Aber ein stundenlanges Dahinsiechen war auch keine ermutigende Aussicht.
Noch einmal nahm sie ihre ganze Kraft zusammen, drückte mit den Armen und den Füßen gegen die altmodische Vorrichtung, die sie gefangen hielt, aber ihre Kräfte hatten längst schon nachgelassen; bald würde sie nicht einmal mehr die Kraft haben, sich hochzustemmen.

Sie zählte den Schlag der Turmuhr mit, diesmal kam sie auf zehn Schläge; es musste 22 Uhr sein. Klaus, komm zuück!! Siehst du nicht, dass ich hier bald vor die Hunde gehe?? Aber sie wusste, es würde kein Klaus mehr kommen. Sie würde ihn nie wiedersehen. Und wenn überhaupt, dann nur noch unterhalb der Luitpoldbrücke, genau dort, wo man vor anderthalb Jahren Daniela Krause gefunden hatte. Sie hatte den Fall aufklären können, wäre selber beinahe dabei draufgegangen, viel hatte da nicht gefehlt, als Klaus mit einem lauten Schrei von irgendwo her angeflogen kam und die Waffe weggekickt hatte. Ja, der Fall hatte aufgeklärt werden können, aber trotzdem war ihr fast alles im Unklaren geblieben. Das Beziehungsgeflecht zwischen Klaus, Daniela und Monika wollte sich nicht durchdringen lassen; für den Mord an Daniela Krause war es letztendlich auch nicht von Interesse gewesen.

Es tat höllisch weh. Ingeborg Wimmer hatte sich mit ihren Gedanken abgelenkt, aber darüber nicht mehr die Konzentration auf ihre Muskeln gehabt. Die ersten Stacheln, vorn an der Kante des mörderischen Sitzbrettes gelegen, hatten ihren Weg in ihr Fleisch gefunden, sie versuchte noch einmal, wieder hochzukommen, aber die Anspannung der Beinmuskulatur verstärkte nur den Schmerz. Sie gab auf.

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Höllischer Durst quälte ihn. Und die Sorge um Ingeborg hatte ihm den weiteren Schlaf verwehrt. Er blickte sich um. Neben seinem Bett stand eine Flasche Fachinger. Er langte hin, öffnete sie und trank gierig ein paar Schlucke.
Immer wieder sah er auf das Display seines Handys. Konnte er denn wirklich mit einer Antwort rechnen? Falls seine SMS überhaupt durchgekommen war. Wer weiß, was in München in dieser Sturmnacht alles kaputt gegangen war? Funktionierte das Handynetz denn überhaupt noch? Und musste er nicht damit rechnen, dass bei den Rettungskräften heute Abend Hochbetrieb herrschte??

Endlich!! Sein Handy gab das bekannte Piepsen von sich, er beeilte sich, die kurze Nachricht zu lesen: >Bin schon unterwegs!<

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Stille hatte sich über die Stadt gelegt. Die sprichwörtliche Stille nach dem Sturm. Es war das reinste Glück, dass sie die SMS bemerkt hatte. Gerade hatte sie einen verunglückten Radfahrer betreut, der es trotz des Sturms nicht hatte sein lassen können, draußen herumzufahren. Wahrscheinlich war auch wieder Alkohol im Spiel. Der Patient war stabilisiert und gerade in den Rettungswagen gebracht worden, sie selber hatte neben dem Fahrer Platz genommen und just in dem Moment das kurze Gedudel ihres Handys gehört.
Sie las die kurze SMS, überlegte einen kurzen Moment, wo genau sie sich befand, dann öffnete sie ihre Tür, schnappte sich ihre Rettungstasche und wies den Fahrer an, den Transport zur Klinik allein zu übernehmen.

Sie kannte sich gut aus; es war nicht weit bis zur kleinen Kirche. >DU MUSST SOFORT JEMANDEN RETTEN IN DER KLEINEN KIRCHE! GRUSS, KLAUS< Welche Kirche gemeint war, war nicht erwähnt, aber sie und Klaus hatte einige Male darüber gesprochen, es konnte wohl keinen Zweifel geben. Wohl aber an der ganzen Sache. Sie sollte j e t z t jemanden retten? Abends um zehn Uhr?? Und nicht etwa vor, sondern i n der Kirche??
Trotzdem rannte sie los. Sie wusste, Gedanken konnte man sich machen, wenn man das Opfer antraf. Jetzt galt es erst einmal, so schnell wie irgend möglich vorwärts zu kommen. Sicherlich würde sie Klaus dort treffen. Er würde ihr Näheres sagen können, wenn sie ihn sah.

Sie versuchte es gar nicht erst an der hintern Kirchentür. Ging gleich zur vorne gelegenen Sakristei; die Tür war nicht abgeschlossen, sie ließ sich öffnen. Gedämpftes Licht empfing sie, an einem Kleiderhaken hing eine längere Damenjacke; auf dem Fußboden lag ein Sturzhelm. Sie hob ihn auf, legte ihn auf den Tisch. Es war niemand da.
Die Tür zum dunklen Kirchraum stand offen. War jemand dort? Sie suchte vergeblich nach einem Lichtschalter, fand aber keinen. Kurzentschlossen nahm sie ihren Rucksack, eine Taschenlampe hatte sie immer dabei; es müsste halt auch so gehen.

"Hallo! Ist da wer!!?" Ihre Worte verhallten unbeantwortet im alten Gewölbe. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe glitt über den Altar; nichts. Konnte etwas von der Decke herabgefallen sein? Auch nichts.
"Klaus!!? Bist du hier?? KLAUS!!??" Nichts.

Schwaches Licht zuckte im hinteren Teil der Kirche über eine steinerne Säule. Vielleicht dort? Langsam tappte sie vorwärts, leuchtete der Sicherheit halber in jede Bank, mal links, mal rechts. Sie wollte niemanden übersehen, der dort eventuell lag und versorgt werden musste. Nichts.

Sie erreichte die Säule, blickte nach links in die kleine Anbetungskapelle hinein, die eher eine Nische, als eine echte Kapelle war. Einige wenige Bänke standen dort, vor ihnen ein kleiner Altar, Jesus am Kreuze, davor brennende Kerzen. In der vordersten Bank kniete eine Frau, eine wohl nicht mehr ganz junge Messdienerin, wie sie sie einschätzte. Auf jeden Fall kein Mädchen. Zusammengesunken war sie, der Kopf hing schlaff herunter.

Sie roch Blut. Kein Zweifel, es war Eile geboten. Blut ist nie gut. Aber warum kniete diese Frau dort, und warum stand sie nicht auf? Sie trat näher, sah die gefesselten Hände. Die junge Frau saß auf der Sitzbank. Im Schein ihrer Taschenlampe entdeckte sie Blut auf der Bank; auch ein Teil ihres weißen Messdienergewandes war bereits blutverschmiert. Was ging hier vor??

Eile war geboten! Sie fragte sich, ob die Frau bewusstlos war. Rüttelte sie vorsichtig am Arm. "Hören Sie mich? Hallo?"

Ingeborg gab ein schwaches Lebenszeichen von sich. Sie verzog ihr Gesicht, Tränen liefen ihr die Wangen herunter. Mühsam stemmte sie sich noch einmal hoch. Lange würde sie es nicht mehr halten können. "Helfen Sie mir! Schnell! Die Schlüssel...." Sie musste schlucken; ihr Mund war wie ausgetrocknet.

"Wo sind die Schlüssel?"

"Da vorn, neben den Kerzen auf dem Altar! Machen Sie schnell!"

Es dauerte wenige Momente, Ingeborg hielt sich mit letzter Kraft aufrecht; noch einmal wollte sie nicht in Kontakt mit dem teuflischen Sitzbrett kommen. Aber schon merkte sie, wie fleißige Hände zuerst ihre Füße, dann ihre Hände befreiten. Dann kippte sie zur Seite weg; es war überstanden. Sie war gerettet.
"Danke! Das war mehr als knapp! Mein Name ist Ingeborg, Ingeborg Wimmer. Und Sie sind...?"

"Frau Wimmer? Oh mein Gott! Herr im Himmel, wer hat Ihnen das hier angetan? Wir kennen uns übrigens schon! Wir haben miteinander telefoniert!"

"Frau Kasulke?" Ingeborg fasste einen Funken Hoffnung. "Wie kommen Sie denn hierher?" Dann erst bemerkte sie die Frage, die Evelyn ihr gestellt hatte. "Klaus hat es getan, Frau Kasulke. Aber nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken!"

"Was denke ich denn? Im Moment denke ich, sollte ich Sie wohl lieber verbinden. Und dann müssen wir mal sehen, wie wir Sie zur besseren Versorgung bekommen. Diese Dinger hier sind ja furchtbar!! Diese Stacheln dringen ja wirklich tief ein! Eine Tetanus-Impfung wäre nicht schlecht!"

"Habe ich! Keine Sorge. Ein Pflaster wäre nicht schlecht! Oder mehrere...." Sie stöhnte noch einmal laut auf; der Schmerz war kaum auszuhalten. "Wieso sind Sie hier, Frau Kasulke?"

Evelyn bemühte sich, im Schein ihrer Taschenlampe eine Erstversorgung der tiefen Wunden vorzunehmen. Kompliziert, denn sie musste dabei ihre Taschenlampe zwischen die Zähne nehmen, um beide Hände frei zu bekommen. "Warten Sie bitte... erst Ihre Wunden!" Viel konnte sie nicht machen, aber wenigstens dafür sorgen, dass die blutenden Wunden desinfiziert und verbunden wurden. "So, besser als gar nichts. Aber wir müssen Sie trotzdem noch richtig untersuchen lassen. Ich werde einen Rettungswagen anfordern."

"Nein, bitte warten Sie noch! Sagen Sie erst, hat Klaus Sie geschickt? Ich befürchte, er hat sich etwas angetan."

Evelyn Kasulke ließ ihr Handy wieder sinken. "Ich bekam eine SMS von ihm, das mag kurz nach 22 Uhr gewesen sein. Aber viel stand da nicht drin." Sie zeigte Ingeborg den kurzen Text.

"Dann lebt er also noch!" Ingeborg atmete erleichtert auf. "Wissen Sie, wo er steckt??"

"Nein, tut mir leid, ich habe keine Ahnung. Sie glauben, er wollte sich.....??" Sie sprach es nicht aus.

"Ja. Ich glaube, er wollte zur Luitpold Brücke. Sich dort das Leben nehmen. Eine Bekannte von ihm war dort zu Tode gekommen. Vielleicht erinnern Sie sich an den Fall der jungen Kölnerin, vorletztes Jahr."

"Hatte Klaus etwas damit zu tun? Oh mein Gott!" Evelyn hielt die Hand vor ihren Mund.

"Nein, aber er kannte die Frau. Wir müssen trotzdem hin zur Brücke, sehen, ob er es noch nach seiner SMS gemacht hat. Lassen Sie mich einen Wagen der Polizei rufen; die Kollegen werden uns hinfahren. Anschließend dann können Sie sich um meinen Hintern kümmern!"


% % %

Eine Initialzündung! Es war wie eine Initialzündung gewesen! Eine kleine Sprengkapsel, die in die Dynamitstange gesteckt wird. Erst durch sie wird der Sprengstoff gefährlich. Genauso hatte er es gefühlt, als er, am ganzen Körper zitternd und im Wartehäuschen vor dem Hagelsturm Schutz suchend, den kleinen weißblauen Aufkleber mit dem Bild König Ludwigs gesehen hatte.

Klaus war wieder aufgewacht. Wo mochte er sein? Er hatte keine Ahnung; letzten Endes war es auch egal. Nicht der Weg war das Ziel, sondern die Rache! Wie lange mochte der grelle Blitz ihn geblendet haben? Nebensächlich. Wichtiger war, er hatte ihm im Bruchteil einer Sekunde alles offengelegt, was ihm bisher verborgen war.

Genau solch einen Aufkleber hatte er schon einmal gesehen! Wahrscheinlich hatte er schon viele davon gesehen, diese oder ganz ähnliche klebten über das halbe Bayernland verstreut an Autos, Wartehäuschen, Reklameschildern, Fahrrädern, Kinderwagen. Er aber hatte ihn an einem knallig bunten Auto gesehen, und das mochte noch gar nicht so lange her sein.
Instinktiv hatte er Zusammenhänge begriffen, hatte sich einen Reim darauf machen können, wieso Pater Ruprecht seine Meldeauflagen nicht eingehalten hatte. Und verstanden, dass er jetzt handeln musste, hier und jetzt, es galt, keine Minute zu verlieren, er musste seinem früheren Lehrer zuvorkommen, wenn es nicht bereits zu spät war.
Klaus verließ für einen Moment seine schützende Höhle, schlug das Bett zur Seite, erleichterte sich, fand etwas Schokolade und einige Müsliriegel. Gott sei Dank! Er hob seine Sachen vom Boden auf, hängte sie über einen Kleiderhaken an der Tür, er konnte nur hoffen, dass sie bis zum Vormittag wieder trockneten; andere hatte er nicht dabei. Barbaras Sachen.

Er legte sich zurück in das warme Bett. Jetzt brauchte er Schlaf, morgen müsste er zum Kampf bereit sein, falls es dazu käme! Aber die Aufregung der letzten Stunden hatte ihn mit Adrenalin vollgepumpt, die Bilder der letzten Nacht ließen ihn nicht ruhen, waberten durch seinen müden Kopf, raubten ihm die dringend benötigte Erholung.

'Hast du schon einmal so einen Volkswagen gesehen?', hatte Ingeborg ihn gefragt. Und er hatte sich nicht erinnern können, weil an jenem Tag sein ganzes Denken auf eine einzige, furchteinflößende Handlung konzentriert war, die alle anderen Dinge ausschloss. Jetzt aber wusste er es! Der weißblaue Aufkleber auf einem eher ungewöhnlichem Auto in hellem Orange!! Er hatte den Wagen gesehen, und er wusste, wo!

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Nichts! Die beiden Frauen starrten über die Brüstung der Luitpoldbrücke in die gurgelnde Tiefe. Die Isar war wegen des Unwetters stark angeschwollen. Ingeborg hatte einen Einsatzwagen der Polizei herbeigerufen; man war sofort, trotz ihrer Verletzungen, zur Brücke gefahren, aber dort war nicht zu sehen. Die Streifenbeamten leuchteten mit starken Lampen hinab; der Fuß der Brücke, wo man Daniela gefunden hatte, war überspült; der reißende Fluss mochte ihn bereits weggespült haben.

"Glauben Sie, dass er es getan hat?" Evelyn wagte es kaum, ihre Frage auszusprechen.

Ingeborg zuckte die Schultern. Evelyn hatte ihr ein Schmerz stillendes Medikament gegeben, aber trotzdem war es kaum auszuhalten. Sie hatte sich im Streifenwagen halbwegs auf den Bauch gelegt, der Platz war eng, ihr Kopf lag auf Evelyns Schoß, es war suboptimal, aber man musste erst hier nachsehen.
"Ich weiß es nicht. Aber irgendwie glaube ich, oder hoffe es zumindest, dass er es sich noch anders überlegt hat. Was mich beruhigt, sein Roller ist hier nirgends zu sehen. Wir werden gleich noch einmal bei ihm zu Hause nachsehen, ich kann auch noch einmal nach Unfallopfern fragen; mehr können wir heute wohl nicht tun, Frau Kasulke!"

"Evelyn!", sagte die Sanitäterin. "Ja. Aber dann müssen wir mal sehen, dass wir Sie ordentlich verarzten lassen, Frau Wimmer!"

"Ingeborg!", gab die Kriminalbeamtin leise lächelnd zurück. "Kommen Sie, machen wir uns auf den Weg! Die Hoffnung stirbt zuletzt!"


Aber sie fanden Klaus nicht mehr in jener Nacht. Das Haus, wo er wohnte, war dunkel, auch hier stand kein Roller. Und auch eine Anfrage über Unfallopfer ergab nichts. Wo ist Klaus? Beide Frauen sahen sich an.

"Wir müssen abwarten, Ingeborg!"

"Ja. Er wird schon wieder auftauchen...." Ich muss nur fest daran glauben, dachte sie. Und hoffte, es würde nicht irgendwo weiter flussabwärts an der Isar sein.

28. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 27.01.18 22:03

Ups - das war Spannung pur!
Und dass sich die beiden Damen endlich näher gekommen sind, kann der Problemlösung auch einmal dienlich werden.
29. RE: Versöhnung (Fortsetzung von

geschrieben von Daniela 20 am 28.01.18 22:00

Die letzte Woche kam mir lang vor. Vielleicht auch, weil niemand geschrieben hatte. Bis mein alter Freund Maximilian mich gestern Abend noch rettete. Ich muss gestehen, Schreiben ist eine dumme Sache. Besonders wenn es keine Verkaufszahlen gibt, die einem Erfolg oder Misserfolg signalisieren. Eine jede, noch so kleine, Rückmeldung lässt mich also wieder aufleben. (Danke, Maximilian!)
Jetzt aber mal schnell weiter. Ist ja gerade ziemlich spannend, nicht wahr? Viel Spaß wünscht Eure Daniela 20

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Klaus hatte einige Stunden geschlafen, wachte jetzt aber wieder auf, weil das leise Geräusch des Rollens und das damit verbundene leichte Schwanken aufgehört hatte. Er sah auf sein Handy; es war mitten in der Nacht. Scheinwerferlicht strahlte durch sein Fenster, er versuchte, die dunkelbraunen Vorhänge besser zuzuziehen, aber irgendwo blieb immer eine Ritze frei, das Licht ließ sich nicht ganz ausblenden.
Er zog sich wieder die Bettdecke über den Kopf. Das Atmen wurde ihm schwer, er bohrte mit der Hand ein kleines Luftloch zur Seite, so war es besser. Wieder tauchten die Bilder des Abends vor ihm auf. Der Blitz, der Aufkleber!

Der Hagelschauer war nicht von Dauer gewesen, bald schon hatte er nach seinem Motorroller sehen können. Er lag immer noch einige Meter zurück auf dem Gehweg, sah arg mitgenommen aus. Er hatte ihn aufgerichtet, so besehen war der Schaden kleiner, als befürchtet. Drückte den Anlasser, der Motor hustete ein-, zweimal, sprang dann aber an, als sei nichts gewesen. Er schüttelte den Kopf, nein, damit hätte er nie gerechnet.

Er hatte sich auf die kleine Maschine gesetzt, fuhr los, gänzlich ziellos jetzt, die Brücke war nicht mehr wichtig, er fühlte sich leer und von der Welt verlassen. Ein Hinweisschild zum Hauptbahnhof gab ihm plötzlich eine neue Richtung vor, er konnte nicht sagen, was genau er dort wollte, aber er war hingefahren und unterwegs war ihm wieder eingefallen, was Monika zu ihm gesagt hatte, bei ihrem letzten Treffen. Das alte Sprichwort, jedes Kind kannte es, aber es bedurfte all dieser dramatischen Ereignisse, dass es ihm wieder einfiel: Alle Wege führen nach Rom!
Du bist verrückt,
dachte er, als er seinen Roller am Bahnhof abstellte. Du kannst doch nicht einfach.... Doch! Yes, I can!, murmelte er vor sich hin. Der Bahnhof war voller Menschen, aber das Reisezentrum war leer; sicherlich hatten viele hier nur Zuflucht gesucht.

Er sah, wie er eingetreten war, gänzlich durchnässt aus. Was willst du in diesem Reisezentrum??, hatte er sich gefragt.

"Ja bitte? Guten Abend!" Die Schalterbeamtin hatte ihn angesprochen und wartete auf seine Frage.

Er hatte sich umgesehen, wie in einem Film. Aber es gab niemand sonst, er war allein. Wonach sollte er fragen? "Guten Abend!" Er sah entschuldigend an sich herunter. "Tut mir leid... Sie wissen.... das Unwetter. Es hatte mich voll erwischt...."

Sie hatte zughört, ihm einen mitleidigen Blick geschenkt, blieb aber bei der Sache. "Womit kann ich ihnen helfen, junge Frau?"

Wieder sah er sich um. Bis ihm einfiel, dass er ja als Barbara zur Kirche gefahren war. Er schloss die Augen, einen Moment nur, aber er musste jetzt in dieses zweite Ich zurückfinden. "Rom", sagte er.

"Sie möchten nach Rom? Wann möchten Sie denn reisen?"

Klaus hatte mit den Schultern gezuckt. Hatte er überhaupt gesagt, dass er reisen wollte?? "Wann... wann geht es denn?"

Die Beamtin warf ihm einen seltsamen Blick zu. Sie beugte sich etwas vor. "Hör mal, Schätzchen, es geht jeden Abend ein Zug nach Rom, immer um 20.15 Uhr. Möchtest du morgen fahren? Oder vielleicht nächste Woche?"

Er überhörte die etwas schräge Anrede. Sein ramponiertes Äußeres mochte sie zulassen. Er blickte auf die Uhr, es war gerade 20 Uhr. "Wie wäre es mit jetzt gleich? Oder fährt heute kein Zug mehr??"

Die nicht mehr ganz junge Beamtin lehnte sich wieder zurück. "Na, sie sind ja lustig! Doch, heute Abend fährt auch einer. Aber da müssen wir uns beeilen! Also...??"

Er hatte in seine Tasche gegriffen, gut, alles war da. Ausweis, Geld und Kreditkarte. Und genug Geld auf dem Konto. Er legte die Karte auf den Tisch. "Also los!"

"Ich empfehle Ihnen eine Platzkarte. Oder wollen Sie lieber Liegewagen? Ist natürlich teurer."

"Liegewagen? Nein." Er schüttelte den Kopf. "Wie wäre es mit Schlafwagen?"

"Die Beamtin blickte verstohlen auf seine Kreditkarte. "Ist natürlich noch teurer...."

"Kein Problem! Machen Sie voran! Wir haben keine Zeit!"

Wenig später war die Fahrkarte schon ausgedruckt. Der Preis für die Reise leuchtete auf einem Display auf, er sah kaum hin, schob seine Karte in den Kartenleser, bestätigte mit seiner Geheimzahl, dann wollte er gehen, aber die Beamtin gab ihm seine Fahrkarte nicht.

"Was ist?" Er sah auf die Wanduhr, es war nicht mehr lange bis zur Abfahrt.

"Darf ich mal Ihre Kreditkarte sehen?"

Er reichte ihr die Karte.

"Klaus Behrend?? Von wem ist diese Karte, Schätzchen? Sie sind das ja wohl nicht?" Ein mehr als misstrauischer Blick traf ihn.

Er hatte die Augen geschlossen. Sich einen kurzen Moment gesammelt. Dann riss er sich mit einem schnellen Ruck die Perücke vom Kopf, fiel sprachlich wieder eine Oktave tiefer. "Doch, Schätzchen. Das bin ich! Was ist los? Noch nie 'ne Transe gesehen? Und jetzt geben Sie mir bitte meine Fahrkarte! Ich habe es verdammt eilig!"
Wenige Augenblicke später war er schon auf dem Weg zum Schlafwagen. Mochte nun kommen, was es wollte. Er war für alles bereit!

% % %

Stunden später. Wieder hielt der Zug an einem Bahnhof. Es war längst hell geworden; eine schrille Stimme kam etwas quäkend aus einem Lautsprecher. Er verstand kein Wort, aber es war Italienisch. Klaus hatte sich noch einmal in einen unruhigen Schlaf gequält; jetzt war er froh, wach zu sein.
Plötzlich musste er lachen. Du spinnst!, dachte er. Wann hatte er den seltsamen Volkswagen in Rom gesehen? Letzten Sommer? Wie konnte er nur so dumm sein, diese aberwitzige Fahrt zu unternehmen?
Warum hatte er nicht einfach Ingeborg davon erzählt? Ingeborg!! Großer Gott! Was hatte er getan? Er konnte nur hoffen, dass Evelyn noch rechtzeitig gekommen war, bevor Ingeborg wirklich Schlimmes zugestoßen war. Sollte er Evelyn anrufen? Besser nicht. Er hatte sein Handy ausgeschaltet, nachdem er die SMS an die befreundete Sanitäterin geschickt hatte. Er hatte kein Ladegerät dabei; möglicherweise bräuchte er sein Handy noch. Schlimmer war, er hatte Angst vor Fragen. Fragen, die er nicht beantworten konnte, oder wollte. Einzig der Erfolg könnte ihn jetzt noch retten.

Erfolg? Träum ruhig weiter, Klaus Behrend! Du hast keine Chance! Hättest dich doch besser in die Isar stürzen sollen! Er ließ sich mutlos zurückfallen. Hatte er keine Chance? Was hatte er sich denn überhaupt erhofft? Dass er den Wagen findet? Und irgendwie einen Zusammenhang mit Pater Ruprecht herstellen könnte? Und dann??
Erneut musste er lachen. Ein kurzes, bitteres Lachen. Vielleicht sollte er einmal ein Buch über sein verkorkses Leben schreiben? Die ganze Lügengeschichte mit seiner kleinen Schwester, die offenkundige Kindesmishandlung, die Vertuschung durch die Eltern. Dann all das Leid, welches er selber und seine Klassenkameraden durch Pater Ruprecht erfahren hatten. Und dann dieser ganze Mist, all das, was er selber mit Monika gemacht hatte?? Die Zeit bei Andrea in Rom?? Danielas Tod?? Einen Titel für solch ein Buch hatte er schon parat: "Nachtzug nach Rom." Er war sich sicher, es würde ein voller Erfolg werden!

Aber nur, wenn er selber Erfolg hatte! Wenn es ihm endich, irgendwie, und vielleicht auch mit etwas Hilfe von oben, gelänge, diesen widerlichen Kerl endlich unschädlich zu machen. Er musste ihm einfach zuvorkommen!
'Man hatte wohl keine Zeugen gegen ihn ausfindig machen können!' Wieder und wieder hatte er sich Ingeborgs Worte durch den Kopf gehen lassen. Mit einiger Leichtigkeit hätte er selber mindestens zwei oder drei ehemalige Mitschüler benennen können, die, genau wie er selber, Schlimmstes bei diesem 'Pater' durchgemacht hatten. Aber, wo waren diese jetzt? Vielleicht lebten sie im Ausland, vielleicht hatten sie die Erlebnisse verdrängt, wollten sie ganz einfach nicht mehr erinnert werden. Er wusste es nicht.
Ingeborg hatte sogar Zweifel geäußert, dass es noch zu einem Prozess käme. Das Video vom Chinesischen Turm? 'Jeder Verteidiger zerpflückt dir das!' Und dann stand es wohl Aussage gegen Aussage, und wem würde man eher glauben, dem unbescholtenen Lehrer, ein Mann der Kirche obendrein, oder ihm, dem ehemaligen Schüler, der doch wohl nur aus Rache diese schlimmen Behauptungen aufgestellt hatte? Und was sind Sie? Trans... was??

Seine Sachen waren getrocknet; er glättete sie etwas; perfekt war es nicht, aber es musste gehen. Diesmal hatte er nicht die geringste Lust auf Barbara, aber er hatte keine Wahl. Langsam zog er die Unterwäsche an, verstaute sein Gemächt wieder in der engen Miederhose. Der BH mit den Einlagen folgte, dann die Strumpfhose, die leider leicht eingerissen war. Der enge Jeansrock spannte etwas um seine Beine, Barbara mochte dieses Gefühl, aber im Moment erschien es ihm nur lästig.

Fertig angezogen warf er einen Blick in den kleinen Spiegel, den das Schlafwagenabteil bot; er sah wie ausgeschissen aus, fand er. Barbaras Handtasche hatte wie durch ein Wunder überlebt; er öffnete sie und fand, was er brauchte, sein ramponiertes Gesicht aufzufrischen. Gekonnt überarbeitete er die Kurzhaarperücke; so mochte es gehen.

Beim Schlafwagenschaffner bekam er Frühstück und einen Kaffee. Seine Stimmung besserte sich zusehens. Hinter Orvieto hatte er aufgegessen, Zeit für einen Besuch des historischen Doms oder des tiefen Brunnens hatte er nicht. Aber er setzte sich jetzt so ans Fenster, dass er in Fahrtrichtung schauen konnte. Es war wichtig, vorwärts zu blicken, er durfte sich hier und jetzt nicht mehr vom Blick zurück dominieren lassen. Bis Rom war es noch eine gute Stunde, kurz vor halb zehn sollte er eintreffen. Dann würde er weitersehen!


Rom, 6. Juni

Er hatte es sich einfacher vorgestellt. Wenn es nur das gewesen wäre! Aber eigentlich hatte er sich gar nichts vorgestellt. Und das war sein Problem. Klaus war pünktlich in Rom angekommen, hatte die Geborgenheit seines Schlafwagenabteils verlassen müssen und stand nun in der enormen Schalterhalle mit ihrer wellenförmigen Dachkonstruktion, ohne zu wissen, in welche Richtung er weitergehen sollte.
Armin Hary hätte hier locker seinen 100 Meter Lauf bewerkstelligen können; lang genug war die Halle auf jeden Fall. Aber der deutsche Sprinter, der 1960 in der italienischen Hauptstadt gefeierter Olympiasieger wurde, hatte es vergleichsweise einfach gehabt. Für ihn hatte es ein klar zu erkennendes Ziel gegeben, obendrein war seine Laufbahn mit weißen Kreidestreifen markiert gewesen. 10,2 Sekunden, dachte Klaus, der hatte es gut gehabt, selbst wenn man sämtliche Vorläufe mit berechnete, so kam man nicht einmal auf eine ganze Minute.
Aber so schnell würde er es nicht schaffen. Falls überhaupt. Seine Uhr schien stehengeblieben zu sein. Klaus sah sich um, die Schalterhalle war gut gefüllt, aber leider nicht so, dass er irgendwo in der Menge hätte verschwinden können. Die Menschen standen eher in kleinen Grüppchen beisammen, Begrüßungskommitees für andere Reisende, die mit ihm aus München oder Wien gekommen waren, von wo ein Teil des Zuges stammte, der nachts angekoppelt worden war. Ihn erwartete niemand; niemand wusste überhaupt, wo er sich befand.
Und doch, er konnte eine gewisse Furcht wieder nicht unterdrücken. Andrea lebte hier. Und waren Bahnhöfe nicht von jeher Orte, an denen die unmöglichsten Dinge passierten? Es galt, wachsam zu bleiben!

Kaum hatte er es gedacht, als er sich auch schon mit klopfendem Herzen hinter einer Säule verbarg! Andrea!! Kein Zweifel! Er sah ihn nur von hinten, er hielt eine Frau am Arm, die unsicher auf hohen Hacken über den Marmorfußboden stolperte. Wie hielt er sie? Wollte er bloß verhindern, dass sie strauchelte, oder hielt er sie richtig fest und wollte sie am weglaufen hindern? Und schon war es geschehen, die Frau war umgeknickt, hatte den einen Schuh verloren, sie bückte sich, ihn wieder anzuziehen, der Mann drehte sich um - doch nicht Andrea!!

Fahr wieder nach Hause, Klaus Behrend!! Er hielt sich an der Säule fest, sie gab ihm für den Moment das Gefühl einer Zugehörigkeit, der schwankende Mensch muss sich irgendwo festhalten können, eine Säule war da nicht das Schlechteste! Seine Augen suchten die große Anzeigetafel, aber ein München oder Monaco gab es dort nicht.
Seine Schritte lenkten ihn ins Reisezentrum. Er zog eine Nummer, musste lange warten, bis er endlich an die Reihe kam.

"Sie können 10.50 Uhr mit dem Eurostar nach Padova fahren. Dort steigen Sie um und sind dann abends um 20.26 Uhr in München!" Er hatte Glück, die Dame sprach recht gut deutsch. "Möchten Sie....??"

Er hörte nicht hin, was sie fragte. Beobachtete einen Pater im schwarzen Ordensgewand, eine Pater, der einen wohl zehnjährigen Jungen an der Hand hielt. Klaus griff sich ans Herz, schlug es noch? Er wich vom Schalter zurück, fand einen leeren Stuhl, er konnte nicht mehr stehen. Nein, es war nicht Pater Ruprecht, aber solange dieses Schwein frei herumlief, würde es nie aufhören, würde er ein Leben lang, notfalls um die ganze Weltkugel herum, davonlaufen und doch immer wieder nur an derselben Stelle ankommen!
Er bemerkte den besorgten Blick der netten Beamtin, schüttelte leicht den Kopf, sandte ihr ein beruhigendes Lächeln und er nickte ihr dankbar zu: Alles in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen.
Ein unter der Decke angebrachter Fernseher plapperte Nachrichten herunter, auf die niemand achtete; scheinbar brauchte unsere Welt die ewige Lärmkulisse, um überhaupt funktionieren zu können. Er sah hin, sah alte schwarz-weiß Aufnahmen von Sturmbooten, die sich einem Strand näherten, Soldaten die heraussprangen und Augenblicke später schon tot umfielen; gefallen für die Befreiung Europas vom faschistischen Übel. Richtig, es war D-day, wieder einmal und wie wohl in hundert Jahren noch, es waren Heldentaten, an die erinnert werden musste, auch wenn die Heldentat nicht darin bestanden hatte, deutsche Bunker zu erobern, sondern einen ersten Schritt auf den feindlichen Strand zu tun.

Er erinnerte sich an einen Film über einen gerade noch verhinderten Flugzeugabsturz, wo ein älterer englischer Passagier die Ruhe bewahrt hatte und anschließend der Stewardess, die ihn bewunderte, sagte, er sei während des Krieges Jägerpilot gewesen, ständig habe man dem Tod ins Gesicht geschaut und alles, was einem in der Not geblieben wäre, sei guter Stil gewesen.

Er war bereit. Nein, er wusste nicht, wozu, aber er war jetzt bereit, den Kampf aufzunehmen. In einem der vielen Cafés bestellte er sich einen Espresso, dann begab er sich zum nächsten Taxistand und nannte dem Fahrer das Ziel: Via Formosa.


Klaus erlebte die Fahrt durch Roms schon in der Vormittagsstunde verstopften Straßen wie in einem Traum.War es wirklich wahr? Saß er hier, in dieser Minute, in einem römischen Taxi und fuhr jetzt wieder hinaus zu diesem vermaledeiten Kloster, nur weil er glaubte, genau solch einen Wagen gesehen zu haben, der dem Modell entsprach, von dem man vor Jahren Lacksplitter in der Nähe von Thomas Unfallort gefunden hatte? Und wann hatte er hier solch einen Wagen gesehen? Letztes Jahr irgendwann? War das überhaupt so ein komischer Volkswagen gewesen? Nicht irgendein anderer Wagen? Irgendetwas italienisches vielleicht?
Er schloss die Augen. Ich bin wahnsinnig! An welch unsichtbaren Fäden hänge ich überhaupt? Die Nornen?? Hatten die Menschen nicht früher an die Schicksalsgöttinnen geglaubt, an deren Fäden der Mensch hing und von deren Lust und Laune er abhängig war? All dies war ihm nur gegenwärtig, weil er sich einmal über den seltsamen Brunnen gewundert hatte, der sich an Münchens Maximilianplatz befand, dem sogenannten Nornenbrunnen.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er dachte zurück. Ingeborgs verrückte Idee, etwas aus ihm herauslocken zu können, wenn sie sich auf der Strafbank fesseln ließe! Er hatte ihr Spiel sofort durchschaut, hatte schon bei ihrem Telefonanruf geahnt, auf was es hinauslaufen könnte und spätestens, als Ingeborg, ganz im Namen des Pastors, die Besucher der Abendmesse aufgefordert hatte, wieder zu gehen, gewusst, was kommen würde.
Und hätte Ingeborg nicht beinahe Erfolg gehabt. Hatte sie ihn nicht so weit gebracht, dass er die Kontrolle über sich verloren hatte? Nur, dass dann alles anders gekommen war, als von ihr geplant?
Er erinnerte sich an das Tohuwabohu der Nacht. Den Sturm, den Regen, den grellen Blitz. Seine kopflose Fahrt zum Hauptbahnhof. Schließlich, wie er totmüde in das weiße Bett gekrochen war. Wann war das alles geschehen?? Gestern Abend erst? Nein, das konnte gar nicht stimmen! Und jetzt saß er hier, in diesem ramponierten Taxi, fragte sich, ob er das wirklich alles erlebte, oder ob es nicht vielleicht doch eine Art Traum war....
Hatte nicht Shakepeare in seinem Sommernachtstraum schon postuliert, dass alles nur ein Traum sei? Wenn dies stimmte, bei ihm aber real war, dann müsste es bei mir wohl eher ein Sommernachtsalbtraum sein, sinnierte er. Und die Zukunft? Was mochte Skuld für ihn in der Zukunft bereit halten? Die Zukunft? Von welcher Zukunft redete er hier überhaupt?

Klaus schlug sich leicht gegen die Stirn. Deine Zukunft fängt gleich schon an! Nicht erst nächste Woche, oder eventuell nächstes Jahr! Gleich schon würde er hier auf der Straße stehen und dann....

"Prego, signora!" Das Taxi hatte angehalten, der Fahrer drückte einen Knopf seines Taxameters, ein kleiner Drucker spie eine lange Quittung aus, Klaus nahm sie entgegen, las den Betrag, rundete auf eine runde Summe auf und reichte dem Fahrer einen 20-Euro Schein. Mit einer kleinen Geste deutete er an, dass er kein Wechselgeld erwartete, dann schnappte er sich seine Handtasche, öffnete die Tür und stieg aus.
Er versuchte sich zu orientieren. Wo genau war er eigentlich? Die Via Formosa war eine schmale, nicht gerade kurze, leicht gebogene Seitengasse. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass fast alle Häuser verdammt gleich aussahen, wo genau er jenes Mutterhaus der 'Knaben Gottes' gefunden hatte, konnte er nicht mehr sagen. Statt dessen konzentrierte er sich auf die an einer Straßenseite geparkten Autos. War es hier gewesen? Oder in einer der anderen, kleinen Straßen, durch die er gekommen war? Und was, wenn ich den Wagen finde? Was dann??
Die Leere in seinem Kopf ließ ihn schwindeln. Er lehnte sich an eine Mauer, Klaus Behrend, du sitzt ganz schön in der Scheiße..., mach, dass du hier wegkommst...., geh zu deiner Mutter, flieg wieder nach Hause, vergiss endlich, was geschehen ist in deinem Leben...., nur, wenn du es vergisst, wirst du wieder richtig funktionieren können. Er lachte, er hatte einen Moment vergessen, dass seine Mutter wohl blöde schauen würde, wenn er so, als Barbara, bei ihr auftauchen würde. Vielleicht würde es ihm einen Moment der Genugtuung verschaffen? 'Übrigens trage ich immer noch Frauensachen! Und deine Tante Trudel hat mir alles erzählt, den ganzen Scheiß, den ihr damals verzapft habt....' Nein. Er hatte seit Monaten keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter gehabt und im Moment konnte er sich nur schwer vorstellen, wie das wieder in Ordnung gebracht werden sollte. Zu groß war die Schuld, die seine Mutter, und wohl auch sein Vater, mit sich herumtrug.

In Gedanken war er weitergegangen, stellte zu seinem Schreck fest, dass er fast schon das andere Ende der Straße erreicht hatte. War dies denn überhaupt die richtige Straße? Doch! Ein altes, leicht angerostetes Straßenschild trug, immer noch lesbar, die Aufschrift VIA FORMOSA. Aber ein leuchtend orangenes Auto war ihm nicht aufgefallen, ebensowenig wie der Hauseingang jener famosen Brüderschaft.
Der Umkehrpunkt! Sollte er es jetzt einfach von sich abschütteln, einfach weiterlaufen, der Erinnerung davonlaufen? Auch wenn er Gefahr liefe, dass sie ihn wieder und wieder einholen würde?
Er merkte, wie seine Füße gelenkt wurden. 'Der Mensch denkt, und Gott lenkt!, dachte er verwundert. Ist es wirklich so?? Also gut! Er ging denselben Weg zurück, den er gekommen war. Blieb auf der Seite mit den geparkten Autos, behielt jetzt aber auch die gegenüber liegende Straßenseite im Blick. Es war nur ein kleines Türschild gewesen, das wusste er noch; irgendo musste es hier sein.
Er erkannte den bronzenen Türhammer, fast im selben Moment wie die Tür geöffnet wurde. Ein Mann trat heraus, im schwarzen Mönchshabit, er drehte ihm den Rücken zu, redete einige Worte mit einem anderen im Inneren des Hauses. Klaus verbarg sich schnell hinter einem geparkten Auto, war aber zu weit entfernt, etwas zu verstehen. Alter Feigling!, dachte er. Barbara kennt hier niemand! Wer sollte sie schon erkennen? An einer heftigen Armbewegung ließ sich erkennen, es musste sich um einen Abschied handeln, dann drehte sich der Mann um, warf einen kurzen, prüfenden Blick in die Straße und begab sich dann zu einem größeren Tor, wahrscheinlich einer Hofausfahrt, wartete dort etwas, öffnete dann die beiden Flügel des Tores, sicherte sie gegen vorschnelles Zuschlagen und verschwand dann aus seinem Blickfeld.

Das wilde Hämmern seine Herzens und das gleichzeitige Gefühl, nicht mehr stehen zu können; die verheerende, unmittelbare Reaktion als Klaus Pater Ruprecht erkannt hatte. Diesmal gab es kein Vertun, diesmal wusste er genau, wen er hier vor sich hatte; diesmal wünschte er sich weit weg, am besten auf die Rückseite des Mondes, Hauptsache weg von hier.
Erinnerungsfetzen tauchten auf: das hämische Grinsen seines ehemaligen Lehrers, oben auf dem Chinesischen Turm. Wieder hörte er die schnarrende, spöttische Stimme: 'Mir hat es immer Spaß gemacht, jedes Mal. Abends, wenn wir mit dem Lateinlernen fertig waren!' Er begann, am ganzen Körper zu zittern, hatte keine Kontrolle mehr über seine Blase, er entleerte sich, eine Welle von Angst und Scham durchflutete ihn; schließlich landete er der Länge nach auf dem römischen Bürgersteig; das Ende seines verrückten Einfalls, hier auf römischem Pflaster. Dann hörte er den Motor eines Autos, das irgendwo in der Nähe gestartet wurde. Mit aller Kraft richtete er sich auf, spähte zwischen zwei Autos hindurch, sah drüben in der Einfahrt einen leuchtorangenen VW, so ein ganz seltsames Modell. Der Wagen fuhr langsam auf die Straße hinaus, hielt dann aber, setze wieder zurück und blieb in der Einfahrt stehen. Eine Tür wurde geöffnet, Pater Ruprecht stieg noch einmal aus, ging die wenigen Meter zur immer noch geöffneten Eingangstür. Hatte er etwas vergessen?
Klaus sah, noch im Laufen entledigte er sich seiner schwarzen Kutte, scheinbar hatte er vergessen, sie auszuziehen, vielleicht wollte er sie nicht mitnehmen, vielleicht würde er sie nicht mehr brauchen; wer konnte das sagen?

Er raffte sich auf. Wusste nicht, was er tat, aber er wusste plötzlich, dies hier war die Gegenwart, hier und jetzt, in dieser Sekunde, nicht nachher oder morgen. Jetzt! Er sprintete über die Straße, die Fahrertür stand offen, der Motor lief. Setzte sich auf den Fahrersitz, knallte die Tür zu, die Gangschaltung!! Wo ist die Gangschaltung? Dieser komische, lange Knüppel hier?? Über dem abschließbaren Handschuhfach befand sich ein Schaltschema, er beachtete es nicht. Er warf den ersten Gang ein, löste die Handbremse, alles geschah wie in derselben Sekunde, die Zeit schien stehen geblieben zu sein, Einstein hin oder her, dann trat er auf das Gaspedal, ließ die Kupplung kommen, Steinchen wurden von den durchdrehenden Rädern hochgewirbelt, er blickte nach rechts, nein, da war niemand zu sehen, dann bog er nach links ab und fuhr, viel zu schnell, die enge Straße hinauf.

Klaus querte einige Hauptstraßen, reihte sich in den fließenden Verkehr ein, hatte keine Ahnung, was nun, er musste erst einmal weg von hier, die Rückseite des Mondes musste es nicht unbedingt sein, aber weg von Rom wäre auch nicht schlecht; dann würde er weitersehen!
Beinahe kopflos fuhr er hin und her, durchquerte Rom und kam an Sehenswürdigkeiten vorbei, die jedem Touristenbus zur Ehre gereicht hätten; er sah sie nicht, vernahm kaum den um ihn brodelnden Verkehrslärm, merkte schließlich, dass es so nicht weitergehen konnte und zwang sich schließlich zu einer Ruhepause; irgendwo am Tiberfluss, Bäume spendeten Schatten, ganz in der Nähe entdeckte er ein Toilettenhäuschen, etwas Klopapier wäre jetzt nicht schlecht, Wäsche zum wechseln hatte er keine dabei.
Er stellte den Motor ab, lehnte sich zurück, begann unkontrolliert zu zittern. Etwas in den Magen zu bekommen wäre auch nicht schlecht, er sah sich um, öffnete das Handschuhfach. Ein Raider-Schokoriegel, immerhin, das Haltbarkeitsdatum, längst abgelaufen, er ignorierte es. In der Not frisst der Teufel Fliegen! Klaus öffnete die Fahrertür, römische Hitze und erstickender Mief schlug ihm entgegen, egal. Er bemerkte eine altersschwache Bank, raffte sich auf, dort luftete es etwas, dort würde es besser sein.
Er fühlte sich schmutzig unter seinem engen Jeansrock. Er würde die vollgepisste Strumpfhose ausziehen, falls es Toilettenpapier gab, sich etwas sauber machen. Und dann....

Er knallte die Tür zu. Schloss sie ab. Hatte Glück mit der Toilette. Aqua potabile stand auf einem kleinen Schildchen, gierig trank er mehrere Schlucke, dann klatschte er sich mehrere Handvoll Wasser ins Gesicht. Langsam ging es besser.
Klaus setzte sich zurück auf die Bank. Tausend Gedanken flogen durch sein Hirn, er versuchte, einen davon zu greifen, aber sie wollten sich immer noch nicht greifen lassen. Und jetzt?? Fahr die Karre in den Bach, nachher, wenn es dunkel wird, und dann nimmst du den Nachtzug zurück nach München! Ein guter Plan! Er beruhigte sich, ja, das war ein guter Plan, niemand würde ihn mit dem Diebstahl in Verbindung bringen können, niemand hatte ihn gesehen, und wenn überhaupt, dann hatten sie ja Barbara gesehen, und Barbara gab es gar nicht!
Das Knurren seines Magens ließ sich auch ohne großes Überlegen verstehen; er hatte seit Stunden nichts mehr gegessen, und ohne Essen geht es nun mal gar nicht. Plötzlich musste er laut lachen, wie hatten die dänischen Urlauber immer gesagt, die er damals in Ettal getroffen hatte? 'Uden mad og drikke duer helten ikke!' Wie war das? 'Ohne Essen und Trinken taugt der Held nichts!'? Er hatte es lernen müssen, von den Urlaubern, die sich darüber amüsierten, dass er es nicht richtig sagen konnte, denen er seinerseits aber auch nicht sagen konnte, in was für einem Höllental sie hier Ferien machten. Der Schwarze Mönch, von dem man nicht sprechen durfte, denn es war Sünde, über diese Dinge zu sprechen.

Klaus hatte Glück. In einer kleinen Nebenstraße fand er eine simpel ausgestattete Pizzeria. Die Bedienung am Tresen sah ihn mit wissendem Blick an, er hätte besser auf sein Äußeres achten sollen, Barbara mochte schlimm aussehen; sicherlich nahm sie an, dass hier ein hungriger Strichjunge Appetit auf etwas anderes als die übliche Kost hatte.
Er bestellte eine Pizza Margaritha, wählte ein Bier dazu, eines würde er schon noch verkraften, er brauchte jetzt etwas zur Beruhigung. Setzte sich an einen dunklen Tisch in der Ecke des Lokals, zog sein Handy hervor und schaltete es ein. Ein Glück, es funktionierte noch! Klaus wunderte sich, als er sah, dass es schon später Nachmittag war. Nun gut, war er wirklich so lange herumgefahren?? Er eichte seine innere Uhr mit dem Display seines Handys, ab jetzt würde sie wieder gehen, die Zeit stand nicht mehr still, jetzt gab es wieder ein vorhin, jetzt und nachher.
Er musste Ingeborg anrufen! Ihr sagen, dass es ihm leid täte! Dass er nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen war, als er sie allein auf der Messdienerstrafbank zurückgelassen hatte. Und dann? Sie würde es aus ihm herausquetschen, wo er war. Sie würde nicht locker lassen bis sie wusste, was er getan hatte. Und sie würde ihn fragen, was er nun zu tun gedachte.
Er wusste es selber nicht. Die Karre irgendwo in den Bach fahren? Hier in Rom? Das war wohl nicht möglich. Es müsste irgendwo außerhalb sein. Er würde einfach, dem Lauf des Flusses folgen, bis er eine geeignete Stelle fand.
Pizza und Bier belebten seine Sinne. Sein Handy empfing mehrere SMS, Ingeborg und Evelyn hatten sie abgeschickt; er öffnete sie nicht. Er hatte Angst, seine mühsam wiederhergestellte äußere Ruhe würde kollabieren, würde er sie jetzt lesen. Aber vielleicht sollte er selber wenigstens ein kurzes Lebenszeichen von sich geben?


München, 6. Juni

Die Stadt atmete nach dem furchtbaren Sommergewitter wieder auf. Ingeborg Wimmer war in ihrer Wohnung und dämmerte vor sich hin. Sie hatte es wohl zu weit getrieben, hatte nicht mit Klaus panischer Reaktion gerechnet; sie hätte ihn nie so in die Enge treiben dürfen.
Hatte sie Glück gehabt? Was nun, wenn Klaus Evelyn nicht um Hilfe gebeten hätte? Oder wenn sein kurzer Notruf gar nicht durchgekommen wäre? Wäre sie jämmerlich verblutet??
Nein, wohl eher nicht. Auch wenn die Wunden an ihrem Gesäß sehr schmerzhaft waren, vitale Adern hatten die spitzen Nägel nicht verletzt. Kritisch wäre es dennoch gewesen, denn niemand hätte sagen können, wann genau am nächsten Tag jemand die Kirche wieder geöffnet hätte.
Evelyn Kasulke hatte sie notdürftig verarztet, dann hatten sie einen Funkwagen der Polizei herbeibestellt und sich auf die Suche nach Klaus gemacht. Gefunden hatten sie ihn nicht. Weder unter der Brücke noch bei sich daheim. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Hatte bisher auch nicht auf die SMS reagiert, die sie und Evelyn ihm noch in der Nacht geschickt hatten.

Die Lage auf dem Bauch war auf Dauer unbequem, sie drehte sich ein wenig zur Seite, ging es?, ja, es ging, aber weh tat es trotzdem. Im Hospital hatte man sie bestens versorgt, hatte die tiefen Fleischwunden gesäubert und verbunden und ihr dann ein starkes Schmerzmittel gegeben, und, für zu Hause dann, Tabletten, die sie bei Bedarf einnehmen sollte.
Sie sah auf die Uhr. Schon 17 Uhr! Sie musste einen großen Teil des Tages verschlafen haben. Sie erinnerte sich, dass Evelyn sie noch nach Hause begleitet und ihr ins Bett geholfen hatte, dann war sie gegangen, denn es gab weitere Noteinsätze und sie wurde gebraucht.
Ingeborg legte ihr Handy weg. Nichts. Keine Neuigkeiten! Was nicht schlecht war. Hätte Klaus sich irgendwo das Leben genommen, man hätte ihn gefunden und sie benachrichtigt.
Sie stand auf, schleppte sich auf die Toilette. Erleichterte sich, wusch sich das Gesicht und hörte dann das Tuten ihres Handys: irgendjemand hatte eine SMS geschickt! Augenblicklich verkrampfte sich alles in ihr.... Hatte man ihn gefunden? Lebte er noch? Gleich würde sie es wissen!

Ungläubig las sie den Absender: Barbaras Handy. Sie öffnete die SMS, zitterte am ganzen Körper, konnte kaum das kleine Gerät festhalten, dann las sie etwas, was sie überhaupt nicht verstand. >Nasenbär gefunden. Melde mich bei dir sobald es geht! K.<

Was soll das?? Du blödes Arschloch, was soll der Scheiß?? Ingeborg war gleichzeitig erleichtert und wütend. Erleichtert, weil Klaus sich gemeldet hatte, wütend, weil er so einen Unsinn schrieb. Nasenbär?? Was für ein Nasenbär denn?
Ruhig bleiben!, dachte sie. Erst einmal nachdenken. Mal dieses komische Tier googeln. Sie öffnete ihren Browser, sah unzählige Bilder von Nasenbären, und verstand immer weniger. Südamerika?? Konnte er jetzt schon in Südamerika sein? Warum aber sandte er ihr eine so seltsame SMS?? Sie versuchte, ihn anzurufen, aber bekam nur den Bescheid, dass der Teilnehmer im Moment nicht zu erreichen sei.

Vielleicht wusste Evelyn etwas? Die Sanitäterin hatte ihre private Handynummer da gelassen, auch für den Fall, dass sie neues über Klaus erführe. Sie stand auf, fand den Zettel auf ihrem Küchentisch, setzte sich, ohne groß nachzudenken, auf einen Stuhl, fuhr aber wie von der Tarantel gestochen wieder hoch; nein, Sitzen war keine gute Idee!
Sie rettete sich zurück in ihr Bett, legte sich wieder auf den Bauch, so war es auszuhalten. Ingeborg wählte ihre Nummer.

Evelyn meldete sich sofort. "Ingeborg? Gibt es Neues? Und wie geht es Ihnen?"

Ingeborg freute sich, scheinbar hatte Evelyn ihre Nummer bereits abgespeichert. In kurzen Worten erzählte sie ihr von der seltsamen Nachricht, die sie erhalten hatte.

"Nasenbär?? Nein, das sagt mir gar nichts. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er in Südamerika ist. Wenn schon, dann eher im Zoo bei den Affen..."

"Wo er sicherlich auch hingehört!" Ingeborg konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. "Also, Sie haben auch keine Ahnung?"

"Nicht die geringste. Leider. Und wenn Sie ihn anrufen? Irgendwo muss er ja wohl stecken, und scheinbar hat er etwas gefunden, etwas sehr wichtiges, so wichtig, dass er es Ihnen mitteilen wollte. Könnte es ein Code sein, Ingeborg?"

"Ein Code, Evelyn? Das klingt gut. Könnte ich mir bei ihm auch gut vorstellen. Leider aber hat er wohl vergessen, mir vorher das Codebuch auszuhändigen. Und anrufen klappt leider nicht; er hat ganz abgeschaltet. Nun gut, wir müssen abwarten. Ich melde mich, sobald ich wieder von ihm höre!" Sie beendete ihr Gespräch, dann raffte sie sich noch einmal auf, ging zurück in die Küche, nestelte eine Tablette aus der Packung und schluckte sie mit etwas Wasser hinunter.


30. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von AlfvM am 29.01.18 12:11

Hallo Daniela
ich finde es ist eine spannende Geschichte. Ich bin neugierig ie es weiter geht.
Lg ALF
31. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MarioImLooker am 29.01.18 15:56

Auch die gestrige Fortsetzung hat mich wieder gefesselt. Welche Wendungen in der Geschichte erwarten uns Stammleser wohl nächstes Wochenende? Wird Barbara noch weiter in Rom weilen und wird es zu noch mehr Kontakten mit Ruprecht kommen, oder nimmt er irgendwie Lackproben vom Auto mit und übergibt sie Ingeborg zur Abklärung?
Mag kaum die nächste Folge erwarten.
32. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Toree am 31.01.18 21:18

So,dann will ich auch mal meinen Senf zu dieser tollen Geschichte abgeben.
Erst einmal herzlichen Dank dafür.
Nun kommt der BER, der Aber!
Zitat
…. Endlich saßen sie beisammen. Sie hatte eine Flasche 'Echt Stonsdorfer' gefunden; nun gut, ein ordentlicher Whisky wäre ihr lieber gewesen, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. ...

Echt Stonsdorfer, das ist ja schon Körperverletzung!!!
Also meine Oma hatte keinen Stoni im Haus,bei ihr gab es als 'Medizin' Selbst gemachte Schwarze Johanna!!!

Und dann ist mir noch ein Kleiner Fehler aufgefallen.
[quote]
"Es geht ihr gut, ja...," wiederholte Gertrud seine Worte. "Wenn wir davon ausgehen, dass ausreichend zu essen und ein Dach über dem Kopf für ein gutes Leben schon ausreichen."

"Sie kennt es ja wohl nicht anders?"

Ingeborg straffte sich. "Glaube mir, ich habe genug Elend in der Welt gesehen. Und Leute getroffen, die eine tägliche Schüssel Reis mit etwas Gemüse hatten und in einer wackligen Wellblechhütte hausten und allen Ernstes behaupteten, es ginge ihnen gut!"
[quote]

Da hat doch jemand die Beteiligten Personen verwechselt!
Er sitzt bei seiner Großtante und kurze Zeit später strafft sich Ingeborg


33. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 04.02.18 22:00

Diesmal habe ich mich sehr gefreut, von einem lange vermissten Leser wieder zu hören. Und mein Dank geht auch gleich an Toree, der einen dummen Fehler in meiner Geschichte melden konnte.
Allerdings gibt es noch so manch anderen Leser meiner früheren Teile, den ich vermisse. Haben diese den Absprung geschafft? Oder ist ihnen meine Geschichte zu langweilig geworden? Ich weiß selber, dass ich die Gewichtung jetzt anders, nicht mehr so BDSM-mäßig, lege.
Und was ist mit den neuen Lesern? Haben sie sich die Mühe gemacht, die ersten vier - langen - Teile aufmerksam zu lesen, um jetzt den Hintergrund besser zu verstehen?
Sicherlich sehr viele Leser werden gar keine Mitglieder sein. Also, meldet Euch einmal an und schreibt einen kleinen Gruß; ich würde mich sehr freuen! Oder helft dem Forum mit einer kleinen Spende!

Jetzt aber weiter im Text...

PS: Oh, ich vergaß! Die nächsten Sonntage kann es wegen einer Reise zu Unregelmäßigkeiten kommen. Wahrscheinlich werde ich es eher nicht schaffen, immer am Sonntagabend einen neuen Teil hochzuladen. Also schaut auch mal während der Woche nach!!

Es grüßt ganz herzlich Eure Daniela 20

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Rom, 6. Juni, abends

Klaus schlenderte langsam zum Auto zurück. Es war spät geworden, er hatte längere Zeit in der Pizzeria verbracht, als er gewollt hatte. Er hatte sich zum Nachdenken zwingen müssen, sein Hirn wollte nicht, es war müde und ausgepowert, am liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen, in irgendeinem Loch das groß genug war, ihn nie wieder freizugeben.
Wie schnell sich doch das Leben ändern konnte! Vor gerade einmal 24 Stunden war er sich sicher gewesen, seinen Endpunkt erreicht zu haben, alles, was fehlte, war der Sprung von der Brücke, hinab in die ewige Ruhe, die doch irgendwo dort im Dunkel auf ihn wartete. Und jetzt? Jetzt steckte er schon wieder mitten drin, hatte er schon wieder ein Problem am Hals, das er sich so nicht gewünscht hatte. Es war alles viel zu schnell gegangen, er hatte viel zu unüberlegt gehandelt, jetzt saß er wieder mal voll in der Scheiße; egal, was er machte, es führte zu nichts.

Die Sonne hatte ihre letzten Strahlen über der italienischen Hauptstadt verschossen, kaltes Abendlicht löste den Sonnenuntergang ab, die Luft wurde leichter. Was willst du machen, Klaus Behrend?, fragte er sich.
Was wollte eigentlich Pater Ruprecht hier machen? Warum hatte er, trotz seiner Meldepflicht, Deutschland verlassen und war, wahrscheinlich genau wie er selber, Hals über Kopf nach Rom gereist? Wegen des Autos? Was mochte er denn vorgehabt haben? Und wieso befand sich der Wagen überhaupt hier in Rom, bei diesen beschissenen Knaben Gottes? Er konnte nur raten. Klaus betrachtete den Wagen etwas genauer, was das schnell abnehmende Licht gerade noch zuließ. Der Wagen hatte einige Roststellen, aber insgesamt schien der Lack noch halbwegs in Ordnung zu sein. Auch die Reifen waren noch nicht total runter. Erst jetzt bemerkte er, dass der Wagen immer noch deutsche Nummernschilder besaß; zugelassen war er demzufolge in Regensburg. Ihm fiel auf, dass allerdings das amtliche Siegel durchgekratzt und die TÜV-Plakette bereits vor Jahren abgelaufen war. Zufall? Sicherlich nicht.
Es schien offensichtlich, dass Pater Ruprecht seinen Wagen bereits vor Jahren der Bruderschaft zur Verfügung gestellt hatte. Für kaputte Siegel würde sich kein römischer Polizist interessieren! Er beschloss, den Wagen noch einmal etwas genauer zu untersuchen. Gab es Dinge, die auf eine Verwendung durch die Bruderschaft schließen ließen? Er fand nichts. Auch im Kofferraum, nichts. Keine Kisten, kein Reisegepäck, gar nichts. Nur im Handschuhfach, ein kleiner Zettel, ein Computerausdruck mochte es sein: PARCO ROTTAMI. Eine Adresse stand dabei, nebst einer kleinen Skizze für den Anfahrweg.

Ein Park?? Er wollte zu einem Park! Jemanden treffen? Wo lag dieser Park? Er stieg wieder aus, es war gerade noch hell genug, den Zettel lesen zu können. Er musste jemanden fragen! Klaus blickte sich um, viel Verkehr war hier nicht, in dieser Straße, aber er hatte Glück, sah von weitem ein funzeliges Licht auf sich zukommen, ein Radfahrer. Er stellte sich so, dass er schon von weitem erkannt werden würde, hob die Hand, der Radfahrer bremste.
Er stellte fest, dass er all sein Italienisch vergessen hatte, mühsam radebrechte er einige Worte hervor. "Scusi signore, il parco rottami??"
Der Radfahrer zuckte mit den Schultern, murmelte etwas Unverständliches, und war schon wieder weg, bevor Klaus hätte nachfragen können. Nun gut, lass dich nicht unterkriegen!, also einfach ein neuer Versuch. Aber niemand kam. Es war erstaunlich, wie einsam manche Nebenstraßen in großen Städten werden konnten, wenn es Abend wurde! Sollte er jetzt hier, wo es schon fast dunkel war, einen Wagen anhalten? Als Barbara?? Nie im Leben! Autofahrer, die jetzt hielten, würden ihn höchstens nach dem Preis fragen! Er musste sich etwas anderes einfallen lassen!


München, 6. Juni, abends

Ingeborg hatte das Klingeln ihres Handys gehört, hatte sich aber nur schwer aus ihrem Traum verabschieden können. Sie hatte mit gefesselten Händen an einem Balken gehangen, die Hände weit auseinander, und Barbara hatte hinter ihr gestanden und war dabei gewesen, sie in ein enges Korsett einzuschnüren. Sie hatte an den Fesseln gezerrt, hatte gespürt, wie die soliden Ledermanschetten in ihre Haut schnitten, aber sie hatte sich nicht befreien können. Und als sie angefangen hatte, lautstark zu protestieren, da hatte sie nur einen dicken Knebel in den Mund bekommen.

"Ja?" Sie war zu müde, auf dem Display nachzusehen, wer angerufen hatte. Es war Evelyn.

"Ingeborg? Habe ich Sie geweckt? Tut mir leid."

"Schon gut, Evelyn. Konnten Sie ja nicht wissen. Was gibt es denn? Was Neues von Barba...., äh, Klaus?"

"Ja, das kann man wohl sagen. Ich bekam jetzt auch eine SMS von ihm. Er hat nach einem Park gefragt." Ein seltsamer Unterton schwang in ihrer Stimme mit.

"Ein Park? Was für ein Park denn? Hier in München? Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen?"

"Nein, da können wir wohl ganz beruhigt sein. Nein, er fragte nach einem 'Parco rottami'...."

"Kenne ich nicht", unterbrach Ingeborg sie, "nie gehört. Klingt auch nicht so, als läge der irgendwo hier in der Gegend. Eher spanisch oder so?"

"Es ist italienisch! Ich habe es herausgefunden!"

"Italienisch?? Und glauben Sie jetzt, dass er in diesem komischen Park seinen blöden Nasenbären gefunden hat??" Ingeborg konnte kaum die Augen offen halten. Eine Welle aus Müdigkeit und Schlaf schwappte wieder heran, sie hatte einfach nicht die Energie, sich mit wilden Spekulationen zu beschäftigen. "Evelyn, ich kann Ihnen da leider auch nicht weiterhelfen, tut mir leid..."

"Ingeborg!! Es ist kein Park! Es bedeutet Schrottplatz! Ich glaube, Klaus ist in Italien und sucht nach einem Schrottplatz!"


7. Juni, unterwegs

Ein Schrottplatz?? Klaus starrte ungläubig auf das schwach leuchtende Display seines Handys. Evelyn hatte ihm nur wenig später geantwortet. War Pater Ruprecht auf dem Weg zu einem Schrottplatz gewesen? Oder lag der kleine Zettel zufällig im Wagen? Hatte eventuell einer der Brüder einmal ein nicht mehr gängiges Ersatzteil auf einem Schrottplatz gesucht?
Ein VW Ersatzteil auf einem römischen Schrottplatz? Wohl eher nicht. Hier mochte es durchgerostete Fiats geben, Alfa Romeo, möglicherweise auch Maserati und Ferrari, aber doch keine deutschen Volkswagen!

Er hatte es sich, so gut es ging, im Wagen bequem gemacht. Hätte er doch bloß andere Klamotten dabei! Seine enge Miederhose war längst wieder trocken, aber sie blieb immer noch unangenehm eng. Er überlegte, sie auszuziehen, aber der Gedanke, unten rum, unter seinem engen Jeansrock, nichts mehr anzuhaben, war noch unangenehmer. Was sollte er tun?
Während es um ihn herum immer dunkler wurde, hatte er Mühe, gegen seine aufkommende Müdigkeit anzukämpfen. Er hatte neben der Pizzeria in einem kleinen Laden diverse Knabbersachen und Wasser gekauft, Dinge, die ihm für den Moment etwas Kraft gaben, aber was er brauchte, war ein paar Stunden Schlaf. Vorher aber musste er nachdenken.
Erste Frage: Wurde bereits nach ihm gefahndet? Immerhin hatte er einen Wagen geklaut. Zweite Frage: Warum wollte Pater Ruprecht den Wagen verschrotten lassen? Jetzt, nachdem er sicherlich viele Jahre hier bei seiner Bruderschaft in einer Garage gestanden hatte. Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die schwer zu kontrollieren waren. Pater Ruprecht, Thomas, das Internat in Ettal, Regensburg, die Domspatzen, Bamberg, Fahrerflucht, Lacksplitter... Und es gab immer nur ein Szenarium, bei dem alle Teile zusammenpassten.
Pater Ruprecht musste der flüchtige Unfallfahrer sein! Bamberg und Regensburg lagen nicht so weit auseinander. Irgendwie musste Thomas Kontakt zu seinem ehemaligen Lehrer bekommen haben. Und sie müssen sich getroffen, oder zumindest wohl ein Treffen verabredet haben. Aber warum? Klaus wusste es nicht. Aber so wie er Thomas kannte, konnte er sich alles vorstellen.
Höchstwahrscheinlich hatte Pater Ruprecht dann den Wagen verschwinden lassen. Er mochte ihn als gestohlen oder sogar ganz legal abgemeldet und ihn dann seinen Mitbrüdern zur Verfügung gestellt haben. Kein Mensch in Rom scherte sich doch um ein deutsches Kfz-Kennzeichen. Aber jetzt? Warum war er, trotz seiner Meldepflicht, jetzt nach Rom gereist um die Karre endgültig loszuwerden? Hatte er irgendwie Wind davon bekommen, dass Ingeborg sich erkundigt hatte, wie Thomas ums Leben gekommen war? Oder hatte er sich einfach nur an zwei Fingern abzählen können, dass man ihn früher oder später mit Thomas Tod in Zusammenhang bringen würde?

Es mochten immer noch Spuren am Wagen zu finden sein, die nie ausgebessert wurden. Er selber hatte bei seinem Rundgang um den Wagen nichts Verdächtiges bemerkt, aber ein Kriminaltechniker würde mit Sicherheit etwas finden.
Klaus erschrak, als er sich der Tragweite seiner Gedanken bewusst wurde. Ein Kriminaltechniker würde etwas finden, ja, kein Zweifel, es musste etwas sein, weswegen Pater Ruprecht das Risiko eingegangen war, sich einmal nicht auf der Wache zu melden. Er würde sich herausreden, irgendwie, er hatte sich immer herausreden können. Klaus wusste, wie manipulativ sein ehemaliger Lehrer sein konnte.Er würde irgendetwas faseln von ziellosem Herumirren, von Suche nach innerer Einkehr, wahrscheinlich sogar, dass er irgendwo, in irgendeiner Kirche im tiefen Gebet versunken sei, im Gebet für den verirrten Menschen, der ihn der Pädophilie bezichtigte. Ja, das würde er tun, und man würde ihm wieder einmal aus der Hand fressen. Und der Prozess gegen ihn würde im Sande verlaufen...

Er überlegte, was er tun könnte. Und als ihm klar wurde, was er tun müsse, da hörte sein Herz für einen Moment auf zu schlagen. Nein, niemals! Das kannst du nicht machen, Klaus Behrend! Man wird dich finden....
Die Polizei müsste den Wagen untersuchen, das war der einzig richtige Weg! Die italienische Polizei?? Nein, die ganz bestimmt nicht. Aber.... es geht nur so, Klaus! Es ist der einzige Weg!! Wenn die Polizei nicht zum Wagen kommen konnte, dann musste halt der Wagen zur Polizei kommen - zur bayrischen Polizei!!
Er setzte sich auf, suchte und fand eine Zigarette in Barbaras Handtasche. Sie rauchte, er aber nicht. Auch so eine komische Sache. Aber Barbara hatte oft genug stressige Situationen erlebt, wo eine Zigarette die flatternden Nerven beruhigte. Er zündete die Zigarette an, inhalierte tief und wartete auf die Wirkung des Nikotins. Nein, niemand würde nach dem Wagen suchen, Pater Pius oder seine vermaledeite Brüderschaft würde den Teufel tun, den Wagen als gestohlen zu melden. Da konnte er ganz sicher sein. Wie aber - dritte Frage! - wie sollte er den Wagen nach München bringen?? Er grübelte und grübelte - per Schiffstransport, oder gab es Autoreisezüge? - doch als ihm die Antwort einfiel fand er sie so durchgeknallt, dass er laut lachen musste und sich am Rauch seiner Zigarette verschluckte! Gott, bin ich aber doof! Es ist doch ein Auto!!
Diesmal setzte sein Herzschlag nicht aus, wohl aber schlug es schneller als erlaubt. Beruhige dich, Klaus! Es ist nur eine lange Autofahrt, mehr nicht. Eine lange Nachtfahrt....
Er überlegte, wie weit es sein mochte. Neunhundert Kilometer? Oder mehr? Auf jeden Fall wäre er sehr lange unterwegs. Zehn Stunden mindestens. Oder mehr. Sollte er jetzt einfach losfahren? Nein, er war hundemüde. So wie es jetzt war, würde er kaum heil aus Rom herauskommen. Also etwas schlafen. Zwei Stunden. Um ein Uhr nachts würde er losfahren.


Klaus wachte auf; er hatte sich vorsorglich den Wecker an seinem Handy gestellt. Besorgt checkte er den Batteriemodus; viel Power war nicht mehr auf dem Akku. Er schaltete es aus, für seine lange Nachtfahrt würde er es eh nicht brauchen.
Richtig wach war er immer noch nicht. Er öffnete die Wagentür, ließ frische Luft hineinströmen, stieg dann aus, machte einige Kniebeugen und erleichterte sich an einem dürren Baum. Die Wasser des Tibers glitzerten im hellen Mondlicht, Grillen zirpten irgendwo; eine Italienkulisse fast wie aus einem der kitschigen Bella-Italia-Filme der 50er Jahre, die ab und zu im Fernsehen gezeigt wurden.
Er schnappte sich eine Zigarette, nachts rauchen war eigentlich nicht so sein Ding, aber er musste sich jetzt zur Ruhe zwingen. Schade, dass ich jetzt nicht meinen geilen Petticoatrock an habe! Er stutzte, als er merkte, dass er ich gedacht hatte und nicht, wie so häufig, von Barbara sprach. ICH mag es so, ICH trage gern diese Sachen!! Löste sich hier in Italien ein Knoten, der ihn lange bedrückt hatte?
Klaus tat einen letzten Atemzug, trat die Kippe mit dem Schuh aus, strich sich mit den Händen über den engen Rock. Er war bereit.

Der Tiber gab ihm eine ungefähre Richtung vor. Er erkannte Anzeichen dafür, dass er sich zumindest in der richtigen Gegend befand, behielte er diese Richtung vor, müsste er irgendwann einmal auf Hinweisschilder zur Autobahn stoßen.
Er hatte das Glück des Tüchtigen, da, ein Hinweisschild: E35 Firenze Bologna. Das klang schon mal recht gut. Besorgt betrachtete er die Tankanzeige des Wagens; viel Benzin war da nicht mehr. Und er hatte wieder Glück, fand eine Tankstelle, die am Automaten Banknoten annahm, es lief wie geschmiert; hoffentlich hielt der Wagen die lange Fahrt aus. Der Ölstand?? Er hatte keine Ahnung, ebenso wenig vom Reifendruck. Wird dieser Wagen so lange halten, bis ich wieder in München bin?? Keine Sorge, Klaus. Es ist doch ein Volkswagen, kein Fiat! Er musste lachen. Etwas Zuspruch war immer wichtig, notfalls musste man ihn sich selber geben.
Es war noch dunkel, als er nach drei Stunden Florenz umfuhr. Anderthalb Stunden später wurde es hell in Bologna. Wie weiter? Er wechselte zur E45, sie würde ihn direkt nach München führen. Wenn er nicht einschliefe! Sonst würde er wohl erst oben im Norden Dänemarks wieder aufwachen!
Er brauchte diese kleinen Witzchen, um wach zu bleiben. Die Fahrt war langweilig genug. Ab und zu gab es Mautstellen, ein Glück, dass er genug Geld dabei hatte. Hinter Verona ging es langsam in die Alpen; den Gardasee und Bozen ließ er links liegen; es tat gut, hier nun wieder deutschsprachige Schilder zu sehen. Am späten Vormittag hatte er es bis zum Brennerpass geschafft; er machte eine lange Pause. Besorgte sich einige belegte Brote und zu trinken; auch an die in Österreich geltende Maut dachte er; bloß nicht auffallen! Das Mautpickerl klebte er ordnungsgemäß hinter die Windschutzscheibe, er würde daran denken müssen, es in München wieder zu entfernen, also nicht zu doll andrücken!
Eine knappe Stunde später war er in Innsbruck, tankte noch einmal nach, bis München müsste es jetzt reichen, er aß eines der Brötchen, die er gekauft hatte, dann ging es weiter. Er hatte die Nase voll von der langen Autobahnfahrt, brauchte Abwechslung, sonst würde er es nicht mehr schaffen. Er hatte in der Tankstelle eine Straßenkarte gesehen; jetzt wählte er die Strecke über Mittenwald und Garmisch. Sie forderte ein anderes Fahren von ihm, sie hielt ihn wach.
Irgendwo hinter Garmisch fuhr er von der B2 ab in einen Feldweg. Er schaltete sein Handy ein, gut, es war noch Akku drauf, Ingeborg hatte ihm noch einmal eine SMS geschickt, er las sie, ja, er solle sich melden. Immer noch haderte er mit sich selber, was er sagen, was er schreiben sollte, raffte sich dann aber wenigstens zu einem kurzen Gruß auf. Dann schaltete er wieder ab.

Er konnte sich Zeit lassen. Es wäre unklug, jetzt bereits nach München hinein zu fahren und den Wagen der Polizei zu übergeben. Wie hatte er sich das überhaupt gedacht? Er legte sich neben dem Wagen ins Gras. Kuhglocken bimmelten ihm zu; er war wieder dahoam. Und doch, er konnte die Erinnerung nicht verdrängen, die schlimmen Monate in Ettal, wenn er nachmittags mit Thomas und den anderen Jungs auch irgendwo auf einer Wiese gelegen hatten, die Kuhglocken damals, und wenn sie schon den Plan gesehen hatten, Pater Ruprecht wieder.... Und sie hatten sich schweigend angesehen und sich gefragt, wen er wohl diese Nacht zu sich holen würde....
Müdigkeit übermannte ihn, überfiel ihn wie eine Welle am Strand, die man nicht hatte kommen sehen. Er streckte sich aus, blickte in den Himmel, der jetzt, nur zwei Tage nach dem schlimmen Unwetter, so ganz anders aussah: friedlich zogen weiße Kumuluswolken über den blauen Himmel. Das Paradies? Gab es das wirklich? Wenn ja, dann musste es wohl hier in Bayern liegen. Du spinnst, dachte er noch, bevor ihm die Augen zufielen.
Er schlief lange, träumte von einem Mann, der, nur mit einem Unterhemd und einer Hose bekleidet, barfuß durch ein wahres Meer von Glasscherben lief, eine blutige Spur hinter sich herziehend und ständig denk, denk, denk! zu sich selber sagte.
Als er aufwachte hörte er eine nahe Kirchturmuhr schlagen, er rappelte sich auf, besah seine Füße, nein, es war nur ein Traum gewesen, bemerkte nicht die Frau, die sich ihm langsam näherte.

"Grüß Gott! Geht es Ihnen nicht gut? Bis Regensburg haben sie noch einen weiten Weg vor sich..."

Er erschrak zu Tode, griff sich ans Herz, ein Glück, es schlug noch!, räusperte sich, vergaß alle Vorsicht. "Herr im Himmel, haben Sie mich erschreckt! Ich hatte.... ich muss eingeschlafen sein, dann hörte ich das Glockenläuten...." Klaus sah, die Frau wich einen Schritt zurück, erst jetzt bemerkte er, dass er mit seiner natürlichen Stimme gesprochen hatte. "Keine Angst...." Er hob, in hilfloser Geste, seine Hand.

"Ja, das Angelus-Läuten. Es ist 18 Uhr."

"Wie bitte?" Er war immer noch nicht ganz bei sich. Wahrscheinlich ist es nur ein weiterer Traum! Du schläfst noch, Klaus Behrend!

"'Der Engel des Herrn'. Kennen Sie es nicht?" Sie faltete die Hände, begann leise zu murmeln: "Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder...." Sie hörte auf zu beten, ließ die Hände sinken und lächelte ihn an. "Ist wohl nicht so ihr Ding?"

"Nicht wirklich," gab Klaus zurück. Es musste ein Traum sein! So einen Blödsinn erlebt man nur im Traum!

"Männer im Rock sieht man hier nicht so häufig... leider." Die Frau hatte ein offenes Gesicht.

"Was? Ich...."

Sie hob ihre Hand. "Schon gut, schon gut. Mich stört es nicht. Ich erinnere mich an die schlimmen Kämpfe, als ich noch jung war, Hosen durften wir da nie tragen. Und wenn wir es dann manchmal doch taten, dann war immer gleich der Teufel los. Ehrlich! Die Zeiten haben sich ja nun Gott sei Dank geändert!"

"Ja, das haben sie wohl. Ich wollte, es wäre für uns Männer genauso leicht, Röcke oder Kleider zu tragen."

"Leicht? Es war nie leicht. Und es war ein ewiger Kampf, ein Kampf, der hier unten immer noch weitergeführt werden muss." Sie blickte ihn interessiert an. "Sie sehen ja nicht schlecht aus, aber etwas herrichten sollten Sie sich schon!"

"Ja, das sollte ich wohl. Ich habe alles im Auto."

"Soll ich für sie beten?"

Klaus erschrak. "Sie wollen für mich beten? Also...."

"Schon gut, schon gut. Lassen Sie, ich habe es schon getan. Ich glaube, Sie werden noch eine ganze Menge Hilfe von oben benötigen. Jetzt aber machen Sie, dass Sie sich etwas auffrischen. Und dann machen Sie sich auf den Weg, damit Sie nicht zu spät ankommen, bevor Sie den Wagen abstellen."

Klaus war aufgestanden, hatte die Wagentür geöffnet und fand seine Handtasche im Fußraum vor dem Beifahrersitz. Er musste hinabtauchen, um sie greifen zu können; hätte er die rechte Tür öffnen können, wäre es einfacher gewesen. Aber der Wagen stand mit der rechten Seite an einer Böschung, die Tür dort ließ sich nicht öffnen.
"Und Sie meinen also, dass ich den Wagen irgendwo abstellen will?? Wie kommen Sie zu der Annahme?"

Er lauschte, wartete auf eine Antwort, aber es kam keine. Hatte sie ihn nicht gehört? "Wie kommen Sie zu der Annahme, dass ich den Wagen wo abstellen will?" Er fragte lauter dieses Mal, zog den Kopf zurück und schlug sich am Türrahmen. Er blickte sich um. Sie musste weitergegangen sein. Er blickte in alle Richtungen, aber da war niemand zu sehen. Seltsam...

Du musst den Wagen abstellen, Klaus!
Und mit einem mal wusste er ganz genau, wo er den Wagen abstellen musste und was er dann zu tun hatte!


München, 7. Juni

Nasenbär?? Was für ein Nasenbär denn bloß?? Ingeborg Wimmer wälzte sich unruhig im Bett. Sie hatte sich, verständlicherweise, krankschreiben lassen, niemand konnte von ihr erwarten, dass sie mit den erlittenen Verletzungen ernsthaft ihrer Arbeit nachgehen konnte, obwohl gehen nicht das große Problem war, eher sitzen. Seit Stunden hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, was genau Klaus mit seiner geheimnisvollen Botschaft wohl bezweckt haben mochte, und war schlussendlich zu einer für sie befriedigenden Antwort gekommen: Nichts! Er hatte wahrscheinlich gar nichts bezweckt und ihr nur einen Bären aufbinden wollten, wahrscheinlich einen Nasenbären.
Wo steckte er denn bloß??

Sie hörte leise das Klingeln ihres Handys, eine SMS, hurrah, gleich würde sie es wissen, leider war diese in der Küche angekommen, wo sie ihr Handy hatte liegenlassen. Mit etwas Mühe wälzte sie sich aus dem Bett, was gar nicht so einfach war, denn sie durfte sich keinesfalls erst einmal aufsetzen; es galt, jeden Kontakt mit ihrem Allerwertesten zu vermeiden.
Sie holte ihr Handy, ließ sich wieder in ihr Bett fallen und las die kurze Nachricht. >Geht mir gut. Bin bald wieder in München. Melde mich morgen. Tut mir leid mit Kirche... K.< Immerhin. Besser als gar nichts. Eine feste Zusage, dass er sich am nächsten Tag wieder melden wollte.

'Tut mir leid mit Kirche...' Ein kurzer Satz, der vieles ausdrücken mochte. Sie schloss die Augen, ließ sich von der Erinnerung mitreißen; erst jetzt wurden die Stunden wieder erlebbar, die Stunden der Angst, der schwindenden Kräfte, dann des Schmerzes.
Sie hätte sich einen Spiegel gewünscht, oder wenigstens eine Videoaufnahme ihrer Qual. Geblieben war ihr einzig das Bild in der Erinnerung. Wie Barbara plötzlich davon gelaufen war. Wie ihr langsam bewusst wurde, dass es kein geiles Spiel mehr war. Wie mit zunehmender Stunde Emotionen in ihr aufstiegen, die sie nie zuvor gekannt hatte. Das Alleinsein in einem großen, dunklen Raum. Das Tosen des Sturms draußen. Ihre schmerzenden Handgelenke. Wie sie immer wieder versucht hatte, sich zu befreien. Wie sie merkte, dass es keine Befreiung geben würde. Schließlich das immer heftiger werdende Zittern ihrer Beine. Die Schwerkraft, die unerbittlich an ihr zog...

Längst hatte sie ihre Hand zwischen ihren Beinen. Ingeborg lag auf der Seite, hatte sich in fast embryonaler Stellung zusammengerollt. Sie spürte die Feuchte ihrer Scheide, ließ ihre Finger etwas tiefer gleiten, mehr Feuchtigkeit aufnehmen, umkreiste sanft ihre Klitoris.
Sie war hilflos gewesen, hätte sich nie allein von dieser furchtbaren Strafbank befreien können. Und es hatte sie erregt. Eine nie zuvor gekannte Mischung aus Schmerz und sexueller Erregung, mächtig, besitzergreifend, böse. Eine Messdienerin, die die Kontrolle verloren hatte. Eine Messdienerin, die nur noch aus einer äußerst brisanten Mischung aus Angst, Schmerz und Erregung bestand.
Ihr Atem wurde schneller. Sie erkannte die untrüglichen Anzeichen eines bevorstehenden Höhepunktes. Ingeborg zog ihre Hand zurück, wischte ihre Finger an der Bettdecke ab. Will ich das hier??

Sie hatte es auf jeden Fall nicht gewollt. Nicht so!, verbesserte sie sich. Aber es war geschehen. Weil es geschehen musste?? Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Antworten, die sie nicht finden konnte, nicht hier und jetzt. Vielleicht einmal, wenn sie in Ruhe mit Klaus - oder lieber noch mit Barbara - über diese Dinge reden konnte. Es musste niemandem leid tun, was geschehen war. Ist es nicht eher so wie eine vorher verborgene Höhle, die durch einen Felssturz freigelegt wurde? Ingeborg wunderte sich über sich selbst. Eine Höhle? Sollte diese nur Sinnbild für ihre Sexualität sein? Lag unter der spielerischen Oberfläche, die sie mit Bruno erkundet hatte, noch etwas ganz anderes? Lichtlose Finsternis? Bodenlose Tiefe?? Ein Abgrund, der sie verschlingen würde?

Sie quälte sich noch einmal hoch. Ging an den Kühlschrank, trank etwas Apfelsaft direkt aus der Flasche. Suchte nach Schokolade im Küchenschrank, fand sie, steckte sich ein Stück in den Mund.
Im Badezimmer klatschte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht. Betrachtete sich im Spiegel. Du spinnst, Ingeborg Wimmer! Du bist eine gut ausgebildete, erfolgreiche Kriminalkommissarin bei der Münchner Polizei.
Sie schlug den Klodeckel hoch, musste sich erleichtern, wünschte sich ein Mann zu sein, der doch so bequem im Stehen schiffen konnte. Ihr Gesäß brannte immer noch wie Feuer, sie ließ ihr Urin laufen. Trocknete sich ab. Aber nicht alles ließ sich abtrocknen.

Mit aller Macht hinderte sie ihre Hand daran, wieder ihr betörendes Spiel zu beginnen. Wo ist mein Keuschheitsgürtel? Sie fand ihn unten in ihrem Schrank; er war gereinigt, die Schlösser standen offen, die Schlüssel aber fehlten. Lange hatte sie ihn und ihren stählernen BH nicht mehr getragen. Hatte Klaus die Schlüssel? Sie erinnerte sich nicht.
Sie zog sich nackt aus. Betrachtete den unförmigen Verband auf ihrem Gesäß. Ein Verband, der zum Glück ihre Poritze freigelassen hatte. Ingeborg stieg in ihren Keuschheitsgürtel, bog das steife Taillenband auseinander, griff zwischen ihre Beine, fand das Schrittteil, hakte es vorn mit dem Taillenband zusammen. Der Gürtel drückte auf einige der Wunden, es war kaum auszuhalten, aber der Schmerz tat gut, sie verstand es nicht, sie spürte das zunehmende Verlangen ihrer Scham, nach Berührung, nach einem Höhepunkt. Ihre Hand zitterte, als sie das kleine Schloss einsetzte, sie schloss es nicht ab, es musste auch so gehen.
Ohne ihren BH wäre es gemogelt; sie war gut darin, Stimulanz über ihre Brustwarzen zu erlangen. Ihre Nippel richteten sich steil auf, als sie gegen die kalten Metallschalen stießen; auf die stacheligen Einlagen wollte sie diesmal verzichten. Die Dinger waren einfach zu unbequem....

Ingeborg flüchtete zurück in ihr Bett. Du mogelst, Ingeborg Wimmer! Du hast beide Schlösser nicht zugedrückt! Sie konnte sie nicht zudrücken, sie wusste nicht, wo die Schlüssel waren! Hatte Barbara sie? Oder hatte sie selber sie beim letzten Reinigen verlegt?
Sie steckte ihre Finger im Rücken unter den Taillenreifen; sicher ist sicher. Rollte sich wieder zusammen.

Nein, Klaus, du brauchst dich nicht zu entschuldigen!! Sie wusste, dass sie mogelte. Und dass sie mehr wollte...., Angst, Schmerz, Hilflosigkeit....


München, 8. Juni

Klaus hatte den Schlaf der Gerechten geschlafen. Jetzt kriegen sie das miese Schwein dran!, war sein erster Gedanke, als er aufgewachte. Er hatte seinen Teil der Arbeit erledigt, jetzt musste die Polizei ihren Teil tun. Vorausgesetzt, sie würden seinem Hinweis folgen und dann nicht allzu viele Fragen stellen. Ingeborg, verbesserte er sich, Ingeborg musste jetzt ihren Job tun, und Ingeborg sollte besser nicht zu viele Fragen stellen!

Er stand auf, ging in die Küche, bediente sich aus dem Kühlschrank, ja, die Sachen sind noch gut, war ja nur zwei Tage weg! Er machte sich einen Kaffee, einen starken Kaffee, denn er musste langsam wieder klar werden im Kopf, denn auch gestern Abend hatte er sich noch aus dem Kühlschrank bedient, Hopfen und Malz, Gott erhalt's!, und hatte sich dann, jetzt mit der nötigen Bettschwere, hingelegt.
Klaus rieb sich die Augen, wurde die Schreckensbilder des Traums nicht los, die ihn verfolgt hatten. Der Schwarze Mönch, der wieder hinter ihm her rannte, wild fuchtelnd und gestikulierend, er hatte ihn laut schreien gehört: 'Mir hat es immer Spaß gemacht!!'. Anders nur in diesem Traum, er rannte nicht mehr die Stufen der Spanischen Treppe empor, die ihm sonst wie die Stufen einer Rolltreppe entgegen kamen, die man umgekehrt hochlief, sondern er saß diesmal in einem etwas antiquiert anmutenden VW, einem leuchtorangenen Auto, und er gab ordentlich Gas und fuhr dem Mönch einfach davon.

Diese Frau, dachte er, wer mochte diese Frau gewesen sein? Der Engel des Herrn.... Hatte sie ihn nicht irgendwie auf den Gedanken gebracht, den Wagen dort abzustellen, wo es am wahrscheinlichsten war? In der Nähe der Wohnung von Pater Ruprecht? Vielleicht nicht direkt am Funtenseeweg, aber halt in einer der kleinen Nebenstraßen?
Er hatte lange warten müssen, bis die Dämmerung an diesem Sommerabend einsetzte. Zeit, die er nutzte, sich über vieles klar zu werden. Er musste jetzt nicht nur einen geeigneten Platz für den Wagen finden, er musste auch wieder Kontakt zu Ingeborg aufnehmen. Ohne Ingeborg ging jetzt gar nichts. Und er hatte sogleich gespürt, dass hier für ihn das größte Hindernis lag. Hatte er sie nicht im Stich gelassen? Sie der Gefahr ausgesetzt??

Die Fahrt nach München hinein war kurz und ereignislos. Der Wagen schnurrte, wie er schnurren sollte, das Benzin reichte, die Reifen hielten. Er machte sich Sorgen wegen der Nummernschilder, aber da er nicht vorhatte, irgendwo noch anzuhalten, würde es schon gehen. Etwas schwieriger war es, sich mit dem Wagen in der Stadt zurecht zu finden; er wusste nur grob die Richtung, vertraute aber auf seinen guten Stern. Anhalten und jemanden fragen war keine Option; niemand sollte ihn mit diesem so auffälligen Fahrzeug in Verbindung bringen.
Trotzdem war es bereits gegen Mitternacht, als er endlich die kleine Straße fand. Langsam und möglichst leise fuhr er am Haus von Pater Ruprecht vorbei; es war dunkel und verlassen. Aber wie lange noch? Wenn er recht behielt, dann würde sein ehemaliger Lehrer so schnell wie möglich die Heimreise antreten; wahrscheinlich mit der Bahn. Wenn er ebenfalls mit dem Nachtzug unterwegs war, dann mochte er bereits am kommenden Morgen wieder in München sein.
Klaus kurvte einige Male durch das Viertel, niemand sah ihn, niemand ging so spät mit dem Zamperl Gassi. Endlich glaubte er, eine passende Parkmöglichkeit gefunden zu haben, eine Sackgasse; eher eine kurze Zufahrt zu einem abgesperrten Gelände; wenn er sich nicht täuschte befand dieses sich hinter dem Garten von Pater Ruprechts Haus. Wäre es da nicht naheliegend, dass dieser auch dort manchmal parkte?

Sorgfältig beseitigte er Spuren seiner langen Fahrt. Räumte Plastikverpackungen weg, stopfte sich auch den Zettel mit der Anfahrt zum römischen Schrottplatz in die Tasche, kratzte die österreichische Autobahnvignette von der Windschutzscheibe. Gründlich untersuchte er noch einmal den Fußraum, fand eine leere Flasche, Cola, die er unterwegs getrunken hatte, dann drückte er leise die Tür zu und schloss sie ab.
Erst jetzt bemerkte er, dass sein Plan einen kleinen Fehler hatte! Der Schlüssel! Was sollte er mit dem Schlüssel machen? Ihn einfach in die Büsche werfen? Nein. Aber er konnte den Schlüssel auch nicht behalten. Ihn einfach bei seinem Peiniger in den Briefkasten werfen? Noch blöder geht's ja wohl nicht, oder??

Er betrachtete die Gärten. Gehörte einer davon Pater Ruprecht? Einige dieser Gärten hatten kleine, hölzerne Schuppen. Er musste es herausfinden. Hätte er doch bloß seine eigenen Kleider an! Dieser blöde, enge Rock! Außerdem war ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, hier mitten in der Nacht als Frau allein herumzulaufen. Auch seine Schuhe machten mit ihren spitzen Absätzen mehr Lärm, als eigentlich nach 22 Uhr erlaubt war. Bestimmt gab es Leute, die aus den Fenstern schauten, wer denn da so unverschämt war, mitten in der Nacht mit seinen Schuhen solch einen Lärm zu machen!
Egal. Das Leben konnte so wunderbar einfach sein, wenn man keine Wahlmöglichkeiten hatte! Ausziehen mochte er seine high heels auch nicht, eine zerborstene Flasche hatte ihn noch rechtzeitig gewarnt; scheinbar gab es auch in diesem friedlichen Viertel Idioten, denen es Spaß machte, Flaschen auf Gehwegen zu zerdeppern! Deppen halt!, hatte er gedacht.

Verstohlen öffnete er die kleine Gartenpforte, schlich links am Haus vorbei in den hinter dem Gebäude liegenden Garten. Ja, es gab eine kleine Gartenlaube, er drückte die Klinke herunter, die Tür war nicht verschlossen.
Er konnte kaum etwas sehen. Sollte er Licht machen? Besser nicht. Nachbarn würden es sehen können. Sein altes Handy vielleicht? Das schwache Glimmen des Displays konnte nicht so verräterisch sein, ihm aber schon genug helfen. Schnell orientierte er sich. Links eine Werkbank, rechts rostige, zusammengeklappte Gartenstühle. Ein Schrank mit vielen kleinen Schubläden, er öffnete eine, lauter zusammengesammeltes Zeug. Er bemerkte, der Schrank hatte kleine Rollen, sicherlich ideal für eine größere Werkstatt, hier aber völlig sinnlos. Hinter der hölzernen Laubentür bemerkte er einen rostigen Nagel, ginge es hier? Er nahm den Wagenschlüssel, ein Schlüssel noch ganz ohne Plastikdings, ohne Fernbedienung, nur mit dem großen alten VW-Logo, ausgesägt oder gestanzt. Die Polizei würde ihn hier finden.... hoffentlich.

Es hatte lange gedauert, bis er endlich wieder zu Hause in seinem eigenen Haus angekommen war. Er hatte ein gutes Stück bis zur nächsten S-Bahn Station zurücklegen müssen, er kannte den Weg von seinen früheren Observationen im letzten Spätherbst, ein Glück, aber damals hatte er bequemere Schuhe an den Füßen gehabt. Und ihm war wieder bewusst geworden, was es hieß, so spät noch allein in der Stadt unterwegs zu sein als Frau; es war schlichtweg scheiße.


Genug gegrübelt, dachte er, als er zum Telefon griff und Ingeborgs Nummer wählte. Er hörte das Rufzeichen, es dauerte etwas, aber dann kam Ingeborgs Stimme: "Klaus!? Klaus, bist du es?"
Er drückte das Gespräch weg, ohne zu antworten. Schaltete das Handy aus. Sein Puls begann zu rasen, viel schlimmer noch, als vor wenigen Stunden in Rom in der Via Formosa, der Schönen Straße, einer öden römischen Straße, die spätestens mit der Ansiedelung dieser Bruderschaft ihre Schönheit verloren hatte, ganz so wie andere Orte in der Welt, an denen Schlimmes geschehen war. War dort überhaupt Schlimmes geschehen? 'Ordo pueri dei'...., was verbarg sich wirklich hinter diesem seltsamen Namen? Gab es gar ein ganzes Netzwerk, auch hier in Deutschland??

Es gibt Situationen im Leben, wo man nicht mehr davonlaufen kann. Wo es auf das eigene Können, den eigenen Mut ankommt. "Siegen oder untergehen!", hatte der betrunkene Marineoffizier gerufen, als er mit seiner Waffe Löcher in ein großformatiges Plakatgesicht schoss.[
Ich habe keine Wahl,
dachte er. Er musste hin zu ihr, durfte es nicht auf die lange Bank schieben. Was, wenn Pater Ruprecht schon heute oder morgen wieder zu Hause wäre? Das knallige Auto, konnte man es eventuell sogar von seinem Haus aus sehen? Wundern würde er sich, der Pater, wundern über Gottes Fügung, die ihm das gestohlene Auto wieder in die Hände gegeben hatte, und diesmal würde er es mit Sicherheit irgendwo verschwinden lassen.
Er musste zu Ingeborg, sie informieren, und sie müsste dann umgehend eine Sicherstellung des Fahrzeugs veranlassen. Ich muss, ja, aber ich kann nicht!! Mutlos hatte er sich auf den Boden fallen lassen, ein Häufchen Elend bloß. Ketten klirrten leise, sein Gesäß protestierte, warum liegt der nervige Stahl-BH eigentlich hier, was soll ich denn noch damit?, er hatte keine Wahl mehr, konnte dem bevorstehenden Weltuntergang nicht mehr aus dem Wege gehen.

Barbara! Klaus zog die Nase hoch. Könnte Barbara helfen? Ingeborg würde sich freuen, sie zu sehen. Hatte er nicht längst gespürt, wieviel mehr ihr Barbara als Klaus bedeutete?
Er zog sich aus, nahm eine kurze Dusche, rasierte sich ordentlich. Sah auf das Thermometer, ein altes Ding, das seine Großmutter vor Jahrzehnten außen an einem Fenster angebracht hatte. Er erinnerte sich, er und Thomas hatten oft darauf nachgesehen, ob es kalt genug war zum Schlittschuhlaufen, oder warm genug für das Freibad. Seltsam. Eine ganze Welt ist zusammengebrochen, aber das Ding hängt immer noch da!
Sein Penis ließ sich ohne Probleme in der engen Röhre des Keuschheitsgürtels verstauen. Nicht immer war das so einfach gewesen. Er legte sich das Taillenband um, achtete darauf, sich nicht einzuklemmen, schob die verschiedenen Teile zusammen, verschloss alles mit dem kleinen Schloss. Der BH war wie immer etwas tricky, eine Kette musste er sich über den Kopf ziehen, jedes Mal hatte er Angst, sich mit den Haaren zu verheddern, von hinten legte er sich die stählernen Cups um den schmalen Oberkörper, wie ist das, wenn man Brüste hat und diese dahinter eingesperrt werden??, dann schloss er auch hier mit dem Schloss ab, steckte die dazugehörenden Schlüssel in seine Handtasche, die seltsamerweise die lange Reise nach Rom und zurück überlebt hatte.
Was soll ich denn bloß anziehen, ich habe ja nichts!! Er lachte, als er merkte, wie leicht es schien, sich in Barbara zu verwandeln. Der enge Jeansrock, den er fast drei Tage lang ununterbrochen getragen hatte, lag immer noch, achtlos hingeworfen, auf einem Stuhl. Nein danke! Heute will ich meine Beine bewegen können! Es dauerte nicht lange, dann hatte er sich entschieden! Zog alles an, suchte eine dezente Perücke dazu, einen hübschen Haarreifen aus hellblauem Satin, dann war er bereit.

% % %

Ingeborg Wimmer warf genervt ihr Handy auf die Bettdecke. So ein geiler Traum!!, dachte sie. Sie hatte mit verbundenen Augen mitten in einem Zimmer gestanden, die Arme hoch über dem Kopf an eine Stange gefesselt. Und sie war nackt, bis auf Schuhe mit sehr sehr hohen Hacken und einem wunderhübschem Korsett aus glänzendem Brokatstoff, Stoff, der bloß dazu diente, den darunterliegenden festen Stoff mit den vielen Korsettstäben zu kachieren. Allein hatte sie dort gestanden, unsicher auf ihren hohen Absätzen hin und her trippelnd, das Korsett lag nur lose an ihrem Oberkörper, hinten in ihrem Rücken war die Schnürung weit geöffnet, auf beiden Seiten hingen nur kurze Stücke der festen Schnur herab, wie lange noch, gleich wird jemand kommen und mich in dieses furchtbare Ding schnüren, ich kann nichts dagegen tun... Und dann hatte sie gehört, wie jemand den Raum betrat, hinter sie trat und die Schnüre in die Hand nahm und dann....

Dann hatte ihr Handy geklingelt. Barbara!! - Hatte Barbara hinter mir gestanden, um mich zu schnüren?? "Klaus? Klaus, bist du es?" Nichts. Abgebrochen. Sie beeilte sich, suchte die Rückrufoption, verdammter Touchscreen!!, aber als sie bei ihm anrief kam nur noch die Ansage, die sie in den letzten Tagen bis zum Geht-nicht-mehr gehört hatte: "Der Teilnehmer bla bla bla...."
Sie glitt problemlos zurück in ihren Traum, ja, das musste Barbara sein, die hinter ihr stand und die jetzt langsam aber kräftig an den Schnüren zog! Und sie war hilflos, konnte nichts dagegen machen, hing mit gefesselten Armen in der Mitte des Raums....
Ihre Hand glitt zwischen ihre Beine - nur im Traum hing sie noch gefesselt! - wollte Erleichterung in einem ordentlichen Orgasmus finden, aber ihre Finger trafen nur auf den dünnen Stahl ihres Keuschheitsgürtels. Nichts! Komisch, dachte sie, nur so ein dünnes Stück Stahlblech, und ich kann nicht zu einem Höhepunkt kommen! Völlig verrückt! Ihre Finger glitten weiter hoch, ertasteten das kleine Schloss, oh ja, nicht abgeschlossen; weiß ja nicht, wo die Schlüssel sind! Auch ihre Brüste, verschlossen, verwehrt, versperrt...

Es war still im Haus; diesmal hörte sie das leise Tuckern des Motorrollers sofort. Oder bildete sie es sich nur ein? Das Geräusch erstarb. War er weitergefahren? Vielleicht war es gar nicht Klaus gewesen. Nein, es war nicht Klaus! Sie entspannte sich, ließ sich zurück in die Kissen fallen, wieder durchzuckte sie diese gemeine Mischung aus phyischem Schmerz und verschlossener Begierde. Was will ich eigentlich? Endlich aufwachen, oder tiefer in diesen Traum hinabgleiten?
Das Läuten ihrer Türklingel ließ sie zusammenfahren. Ihr Hirn schlug einen wahren Purzelbaum - der Leutnant von Leuthen befahl seinen Leuten nicht eher zu läuten, als bis der Leutnant von Leuthen seinen Leuten das Läuten befahl! - dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle, raffte sich eiligst auf und nahm an der Wohnungstür das Türtelefon. "Ja bitte?"

"Klaus." Seine Stimme klang müde, verzagt. Quatsch, Ingeborg Wimmer! Das kannst du bei einem Wort gar nicht heraushören! Sie drückte auf den Türöffner; sie musste sich anziehen, so wollte sie ihm nicht gegenübertreten, ihr Bademantel, wo war ihr Bademantel? Ingeborg ließ die Wohnungstür angelehnt, suchte in ihrem Schlafzimmer, nichts, in der Küche, nichts, fand ihn schließlich zusammengeknüllt hinter ihrem Wäschekorb.

Barbara öffnete die Haustür. Sie war sich nicht sicher, ob sie jetzt das richtige tat. Aber jetzt war es zu spät. Du hast immer eine Wahl, hatte Evelyn einmal zu Klaus gesagt. Aber jetzt hatte sie ihre Wahl getroffen! Es gab kein Zurück mehr, nur noch Vorwärts.
Das Schild am Aufzug passte zu seiner Stimmung. 'Wartungsarbeiten!' Gab es irgendwie Wartungsarbeiten? Vielleicht bräuchte sie ja selber einmal 'Wartungsarbeiten'? Einfach mal zu einem Mechaniker hingehen können und sagen: 'Hallo, ich bin kaputt. Ich funktioniere nicht mehr richtig?' Du spinnst, dachte er, so etwas gibt es doch gar nicht!!
Sie musste den Treppenaufgang nehmen! In den zweiten Stock, in diesem Aufzug! Diese Killerabsätze, und auch die verhassten Schenkelbänder! Er hatte sie nicht gewollt, aber Barbara musste sie tragen, auch wenn sie es nicht wollte.
Es ist ein Canossagang, überlegte er. Er spürte jede verdammte Treppenstufe, er hörte das klirrende Geräusch der kurzen Verbindungskette - hier im Treppenhaus war es deutlich zu hören. Die Aufzugsmonteure, wenn mir jetzt einer entgegen kommt! Ein Blinder würde hier den Transvestiten erkennen. Und man konnte sich nie sicher sein, wie andere damit umgingen.
Wie war das? König Heinrich IV. war von Papst Gregor VII. mit einem Bann belegt worden, was für ihn auch den Verlust seiner weltlichen Macht bedeutete. Schließlich war er bis nach Oberitalien zur Burg Canossa gewandert, wo er sich dem dort anwesenden Papst unterwarf, und dieser ihn somit vom Bann befreite. Es schauderte ihn. Er hatte über diese Reise gelesen, hatte davon erfahren, dass der König damals mehrere Tage, nur spärlich bekleidet, auf Einlass warten musste. Und Ingeborg? Wird sie ihn überhaupt hereinlassen? Müsste Barbara sich ihr auch unterwerfen??
Barbara holte tief Luft. Das blöde an der Zukunft war, dass man sie nicht vorhersagen konnte! Auch wenn es sich nur noch um ganz wenige Minuten handelte!
Die Wohnungstür war offen, aber angelehnt. Ingeborg stand nicht, wie üblich, in der offenen Tür, um ihn zu empfangen. War dies ein schlechtes Zeichen?

Ingeborg zog ihren Bademantel hervor, sie musste etwas anziehen, wollte Klaus nicht so gegenübertreten. Oder sollte sie BH und Keuschheitsgürtel schnell noch abnehmen? Abgeschlossen hatte sie die Schlösser nicht! Nein, es würde zu lange dauern! Sie haderte mit einem auf links gedrehtem Ärmel, fluchte leise über so viel Unordnung, ging zurück zur Wohnungstür, just in dem Moment, als Barbara in ihre Wohnung trat.
"Barbara!!" Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht mehr mit Barbara. Ingeborg blieb stehen, so als wäre sie gegen eine unsichtbare Glasscheibe gerannt. Sie holte tief Luft, fummelte immer noch mit dem Ärmel herum, schaffte es endlich ihren Arm hineinzustecken, dann suchte sie nach dem Gürtel, der irgendwo hinten am Bademantel leblos von einer einzigen Schlaufe herabhing.

"Hallo Ingeborg?" Es war mehr wie eine Frage betont. Fast hätte er gefragt, ob er hereinkommen dürfe. Barbara merkte sofort, welche überraschende Wirkung sie auf Ingeborg hatte. Die acht Jahre ältere Kommissarin, eine gute Freundin, vielleicht eine Geliebte, stand vor ihr und rührte sich nicht. Ihr Gesicht drückte Überraschung aus; Ärger konnte er nicht erkennen.
Sie trat auf sie zu, legte ihre Hände auf Ingeborgs Schultern, bemerkte nun, dass diese wieder anfing, nach dem Gürtel zu fummeln. Barbara zog sie flüchtig an sich, schob sie dann aber wieder auf Armeslänge von sich und betrachtete mit einigem Gefallen die stählerne Unterwäsche, in der ihre Freundin steckte. Ein leichtes Stirnrunzeln legte sich auf ihre Stirn, nanu, Keuschheitsgürtel und BH und beide nicht abgeschlossen??, dann holte sie das scheinbar Versäumte nach, drückte die kleinen Schlösser zusammen und ihre Mine entspannte sich wieder. "Schon besser!"

Ingeborg hörte das Klicken der Schlösser erst, als es zu spät war. Komisch, überlegte sie, warum lässt man immer wieder Dinge so weit kommen, bis man es nicht mehr verhindern kann? Egal, ob es sich darum handelt, den Bombenschacht der Enola Gay zu öffnen und eine einzige Bombe auszuklinken, die die Welt veränderte, oder um das Abschließen zweier kleiner Schlösser, zu denen sie keine Schlüssel hatte.
"Hast du die Schlüssel?" hauchte sie. Natürlich hat er meine Schlüssel! Wer sonst sollte sie haben?


34. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von master1104 am 05.02.18 07:27

Tolle Geschichte weiter so, ich freu mich schon immer auf Montag morgen
35. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MarioImLooker am 05.02.18 10:23

Immer diese Cliffhanger... Ich hasse Cliffhanger...
36. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 06.02.18 19:29

Liebe Daniela 20!
Die aktuelle Fortsetzung hatte ich unter Zeitdruck noch in der Sonntagnacht „gefressen“ weil die Spannung in der Handlung einfach zu groß war. Dabei hattest Du doch empfohlen, die aktuellen Teile sorgfältig zu lesen!
Und beim zweiten Lesen sind mir daher dann heute die literarischen Feinheiten so richtig bewusst geworden! Die innerliche Aufregung von Barbara und ihre hilflosen Zweifel in Rom, die Mühe einer Nachtfahrt, oder wie zart und gleichzeitig vieldeutig ist doch die Schilderung des Korsetts im Traum von Ingeborg! Oder der Wachtraum auf der Wiese in der Nähe von Ettal mitsamt dem Glockengeläut! Die Liste liesse sich lange fortsetzen. Daher ein besonderer Dank für diese Feinheiten verbunden mit der Empfehlung an die anderen Leser, sich diese Schilderungen langsam auf der Zunge zergehen zu lassen!
Euer Maximilian
37. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MartinII am 11.02.18 13:03

Einfach wunderschon geschrieben - großartig!
38. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 12.02.18 09:25

Guten Morgen! So, jetzt schnell mal den Text hochladen, den ich Samstag bereits vorbereitet hatte. Habe gerade etwas Zeit. Ich wünsche allen Lesern einen schönen Tag und den Jecken unter Euch Alaaf und Helau und einen tollen Tag! Eure Daniela 20

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Barbara antwortete nicht. Sie hatte den Verband wahrgenommen, augenblicklich hatte sie die physischen Schmerzen an ihrem eigenen Körper vernommen. Tränen traten ihr in die Augen. "Es tut mir leid, Ingeborg. Ich....ich wollte das nicht. Ich war ja wie von Sinnen...."

"Sch....! Schon gut. Ja, ich weiß, dass du es nicht wolltest. Vielleicht hatte ich es ja selber so gewollt.... Komm, Barbara. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Komm mit ins Schlafzimmer, ich muss mich wieder hinlegen!"

Barbara folgte ihr ins Schlafzimmer. Setzte sich ans Fußende des Bettes, während Ingeborg sich wieder hinlegte. Sie zögerte. "Ich...."

"Nein, Barbara, nicht du, sondern ich. Es war meine Schuld. Ich wusste, dass du keine Lust hattest zu dieser ganzen Strafbanksache. Ich musste dich irgendwie aus der Reserve locken. I c h wollte ja wissen, wie das so ist, wenn man da kniet!"

"Ja. Ja, vielleicht war es so. Aber wolltest du nicht eigentlich viel mehr? Wissen, was ich dort einmal erlebt hatte? Zuerst mit Daniela und Monika, später dann mit Andrea, diesem blöden Itaker!"

Ingeborg horchte auf. Klaus hatte den Namen Andrea einmal erwähnt, hatte aber nie Näheres dazu erklärt. Dass diese Andrea in Wahrheit ein Mann war, ein Italiener, das war vollkommen neu für sie. "Ja, du hast recht. Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht so aushorchen dürfen! Ich wollte halt einfach nur wissen...."

"Manchmal ist es vielleicht besser, wenn man nicht immer alles weiß, Ingeborg. Wie kann man anderen Menschen denn noch gegenüber treten, wenn diese immer alles von einem wissen? So wie diese Sache mit Pater Ruprecht. In deinen Augen bin ich doch für alle Zeiten das Missbrauchsopfer, der arme kleine Junge, dem sexuelle Gewalt angetan wurde. Vielleicht magst du mich ja gar nicht? Vielleicht ist es schon so eine Art Florence-Nightingale-Syndrom? Pures Mitleid??" Sie hob ihre Arme und ließ sie in hilfloser Geste auf ihren Rock fallen.

Ingeborg horchte auf. Betrachtete jetzt Barbara in einem ganz neuen Licht. Diese wunderschöne Frau, die da auf der Bettkante saß? Der weite Petticoatrock, der sich widerstrebend aufbauschte, als Barbara ihre Hände wieder zurückzog. Sie hörte das leise Klirren der Verbindungskette der Schenkelbänder; den stählernen BH hatte sie bereits gespürt, als Barbara sie umarmt hatte. Stahl auf Stahl, das lässt sich nicht verbergen.
"Ja, Barbara. So wie du es jetzt darstellst, so kann ich es besser verstehen. Es ist nur...."

"Es ist nur...", nahm Barbara ihren Gesprächsfaden wieder auf, "dass du es nicht akzeptieren kannst, dass andere Geheimnisse haben, die sie gehütet wissen wollen. Ingeborg, das Recht auf Geheimnis ist das Grundwesen unserer Demokratie! Ich weiß, vom polizeilichen Standpunkt aus gesehen wäre es vielleicht einfacher, ihr könntet allen Leuten regelmäßig ein Wahrheitserum einspritzen, aber glaube mir, es würde unsere Gesellschaft nicht sicherer, unser Leben nicht besser machen! Kontrolle, oder Vertrauen!"

"Vertrauen, worauf?"

"Dass die Leute keinen großen Scheiß machen! Kleiner Scheiß ist in Ordnung, das machen ja alle; Du und ich auch, Ingeborg. Und Vertrauen darauf, dass die Leute halbwegs gebildet sind und Durchblick haben und keinen Idioten wählen, wenn sie mal wieder um ihre Meinung gefragt werden! Eine Berlinerin schrieb 1945, in den letzten Monaten des Krieges, einmal in ihr Tagebuch, dass keiner mehr Vertrauen in andere hatte; sie bezeichnete es als Zusammenbruch der Zivilisation!"

Ingeborg schüttelte über ihren jungen Freund ungläubig den Kopf. Stille Wasser sind tief, dachte sie.

"Vielleicht werde ich dir eines Tages einmal alles erzählen, oder ich schreibe ein Buch darüber, was in meinem Leben bis jetzt alles passiert ist. Aber nicht jetzt, nicht heute! Ich bin noch nicht so weit, Ingeborg. Ich weiß ja nicht einmal, wer von diesen beiden hier - Klaus oder Barbara, am Ende überleben wird. Alles ist so scheiß verdammt komplizert geworden, das lässt sich nicht einfach mal so eben wegdiskutieren oder -therapieren. Verstehst du?"

Ingeborg griff nach ihrer Hand. "Doch, doch das verstehe ich gut. Danke, dass du es mir so offen gesagt hast! Lass dir Zeit! Auf jeden Fall bin ich froh, dass es dich überhaupt noch gibt. Egal, ob als Klaus, oder Barbara! Ich hatte eine Scheiß Angst, dass du dir was antun könntest in jener Nacht. Und Evelyn ging es ganz genauso. Hast du dich schon bei ihr gemeldet?"

Barbara schüttelte den Kopf.

"Soll ich es für dich tun? Ja? Dann hol mir doch bitte mal mein Handy aus der Küche. Ich lasse es ständig dort liegen. Und vielleicht machst du uns einen Tee und siehst mal nach, was der Kühlschrank so hergibt? Wenn ich auf einem weichen Kissen sitze, dann könnte es vielleicht gehen.
Barbara holte Ingeborg ihr Handy, dann bereitete sie eine kleine Mahlzeit vor. Wenig später kam Ingeborg zurück. Diesmal hatte sie den Bademantel zugebunden. Sie brachte ein Kissen mit, das sie auf den Stuhl legte. Ja, so würde es gehen, wenn auch nicht für lange!

Sie aßen schweigend, wussten nicht recht, was sie wie sagen sollten. Ingeborg biss die Zähne zusammen, was schwierig ist, wenn man gleichzeitig essen wollte. Bald würde sie wieder eine Tablette nehmen müssen!
"Sag mal, was war das mit diesem 'Nasenbär'? Warst du im Zoo, oder was?"

Barbara schreckte hoch. Das hätte ich fast vergessen!! Sie schüttelte heftig den Kopf. "Nein," antwortete sie und schluckte ihr Brot herunter, "nein, ich war nicht im Zoo! Ich war in...." Sie zögerte. Muss sie das alles wissen?? Sie trank einen Schluck Tee, versuchte, ihre Irritation zu überspielen. "'Nasenbär' ist in diesen Kreisen der Kosename für ein Auto. Für ein ganz bestimmtes Auto." Sie sah Ingeborg an, wartete auf eine Reaktion, die aber nicht kam. "Ein Volkswagen, Ingeborg. Ein VW 411."

Jetzt verengte die Kommissarin ihre Augen. Barbara hatte dies bemerkt; es genügte ihr. "Ein VW 411 in leuchtorange. Ich habe ihn gefunden!"

"Barbara! Was heißt hier: 'ich habe i h n gefunden'? Du hast so einen gefunden. Prima. Und was soll ich jetzt damit?"

"Erinnerst du dich nicht an den Unfalltod von meinem früheren Mitschüler Thomas? Da oben in Bamberg und dann die Fahrerflucht?"

"Barbara, doch, jetzt wo du es sagst, ich erinnere mich. Aber das ist zehn Jahre her und ich verstehe nicht ganz.... wo hast du denn diesen Wagen gefunden? Und wem gehört er denn??" Ingeborg merkte pötzlich, irgendetwas hatte sich gerade verändert. Ein unbestimmtes Gefühl, eine Wahrnehmung. Etwas, das sie durchaus aus ihrem beruflichen Alltag kannte. Und plötzlich erkennst du den Zusammenhang und du weißt, jetzt wird sich alles auflösen!

Barbara hatte ihr Brot, von dem sie gerade abbeißen wollte, wieder auf den Teller gelegt. "Am Funtenseeweg, Ingeborg. Nicht direkt an diesem Weg, aber in einer Sackgasse hinter dem Weg. So eine eher unbenutzte Stichstraße, eine Zufahrt zu irgendeinem abgesperrten Gelände, und für die Gartenbesitzer auf dieser Seite des Funtenseewegs. Du weißt wer dort wohnt!"

"Ach du Scheiße!!" Ingeborg setzte ihre Tasse so heftig ab, dass es fast Scherben gegeben hätte. "Du meinst....??"

"Ja, Ingeborg. Ich bin mir sehr sicher, dass Pater Ruprecht derjenige war, der damals Thomas überfahren hat und dann geflüchtet ist. Frage mich bitte nicht, warum und wieso. Aber ich denke, eine genaue Untersuchung des Wagens dürfte noch Beweise ergeben."

"Das ist zehn Jahre her! Du glaubst doch nicht im Ernst....?"

"Doch, Ingeborg. Ich habe den Wagen gesehen. Er scheint noch den originalen Lack zu haben. Und sieht aber trotzdem noch recht gut aus. Wahrscheinlich hat er lange in irgendeiner Garage gestanden; angemeldet ist er nicht, der TÜV ist vor Jahren abgelaufen. Ich glaube, Pater Ruprecht hat den Wagen aus der Versenkung geholt um ihn jetzt endgültig verschwinden zu lassen, auf irgendeinem Schrottplatz!"

Beinahe hätte Ingeborg 'in Italien?' gefragt, aber sie konnte es sich gerade noch verkneifen. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie nicht alles wusste.

Barbara sah sie drängend, herausfordernd an. "Ingeborg, der Wagen muss sofort sichergestellt werden! Heute noch. Bevor Pater Ruprecht wieder zurückkommt!"

"Von wo?"

Barbara sah auf ihre Tasse. "Weiß ich nicht! Aber du sagtest ja selber, er hätte sich zuletzt nicht mehr auf der Wache gemeldet. Wahrscheinlich hat er seinen Wagen irgendwo abgeholt. Und wahrscheinlich wird er sich irgendwie herausreden können, warum er sich nicht gemeldet hat. Ich kenne diesen Typen, wenn du ihm begegnest wirst selbst du glauben, der kann übers Wasser laufen! Bitte, Ingeborg, rufe deine Kollegen an und lass den Wagen sicherstellen. Jetzt!!"
Sie war aufgesprungen, wäre wegen der engen Schenkelbänder fast gestolpert, stöckelte unsicher auf ihren turmhohen Absätzen in Ingeborgs Schlafzimmer und kam mit deren Handy zurück. "Jetzt, Ingeborg. Du musst anrufen! Es ist unsere letzte Chance!"

Ingeborg versuchte, sich die ganze Angelegenheit durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn sie etwas überhaupt nicht mochte, dann war es der Übereifer von anderen Personen. Stress entstand in solchen Situationen, man fühlte sich schnell zu der einen oder anderen Handlung genötigt, übersah Details, machte Fehler. Und Fehler bei der Poizeiarbeit konnten verhängsnisvoll sein. Prozesse konnten platzen, weil während der Untersuchung eines Falls geschludert wurde, oder Kollegen konnten in einem Einsatz zu Schaden kommen, weil man nicht alle Eventualitäten bedacht hatte.
Unbewusst schüttelte sie leicht den Kopf. Das hier war doch der komplette Wahnsinn! Klaus hatte sich da in einen Gedanken verrannt, der momentan durch nichts zu beweisen war. Gut, Pater Ruprecht und Thomas hatten einander gekannt, und Bamberg lag nicht gar so weit von Regensburg entfernt, aber warum wieso weshalb hätten die beiden Kontakt aufnehmen sollen? Und dann dieses Treffen? Und der Unfall mit Fahrerflucht. Selbst wenn die Kriminaltechniker einen Zusammenhang zwischen den damals sichergestellten Lackspuren - an einem Laternenmast sichergestellten Lacksplittern, nicht etwa am Unfallopfer! - selbst wenn sich dieser Zusammenhang herstellen ließe, vor Gericht war man damit auf dünnem Eis. Sie wusste aus Erfahrung, einem Richter, der ja gezwungenermaßen an der Unschuldsvermutung festhalten musste, was den Angeklagten betraf, so einem Richter wäre es am liebsten, auf der Kühlerhaube des Unfallwagens einen Gesichtsabdruck des Opfers feststellen zu können. Dann hatte man eine gute Chance!

"Bitte, Ingeborg!"

Sie blickte in Barbaras Gesicht. Was konnte sie in diesen Augen lesen? Rache? Nein, Rache war es nicht. Eher Verzweiflung und tiefe Erschöpfung. Weiß der Himmel, was Klaus - oder Barbara - in den letzten Tagen erlebt hatte; schlimm musste es auf jeden Fall gewesen sein.
"Ich kann doch nicht auf deinen puren Verdacht hin die ganze Polizeiarmada aufbieten! Wie stellst du dir das vor? Erstens: der Fall ist nicht in unserer Hand. Sondern der liegt bei den Kollegen in Bamberg auf dem Tisch. Besser gesagt: im Keller. Zweitens: Ohne die Staatsanwaltschaft geht da gar nichts. Wir als Polizei sind nur das ausführende Organ der Staatsanwaltschaft. Wir können nicht so mir nichts dir nichts Untersuchungen vornehmen oder gar Leute verhaften. Genauso verhält es sich mit der Beschlagnahme von Gegenständen. Das kann nur ein Richter anordnen. Und drittens bin ich krank geschrieben. Also so einfach geht das nun wirklich nicht!"

Barbara ließ deutlich den Kopf hängen. Hätte sie die olle Karre doch besser gleich im Tiber versenkt und sich dann selber um den verhassten Pater gekümmert! Ein Messer zwischen die Rippen, niemand würde das je aufklären können. Tränen liefen ihr übers Gesicht; sie suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch, griff hinein, zog wahllos etwas hervor, warf es auf den Tisch. Sie fand ein zusammengedrücktes Taschentuch, okay, besser als nichts. Schneuzte sich und räumte ihre Tasche wieder ein. Zurück auf dem Tisch blieb ein kleiner Schlüsselring mit drei daran befestigten Schlüsseln.

Meine Schlüssel!, durchzuckte es Ingeborg. Barbara hat meine Schlüssel!!

Niemand vermochte später zu sagen, wer den Gedanken zuerst gehabt hatte: Ingeborg oder Barbara. Barbara legte ihre Hand auf das kleine Schlüsselbund und bemerkte augenblicklich Ingeborgs unterdrückte Reaktion, das kurze Zucken ihrer Hand, ihren auf die Schlüssel fixieren Blick. Ihre Hand wanderte mit den Schlüsseln in die Mitte des Tisches, wo sie sie ruhen ließ.
"Ingeborg, du musst etwas unternehmen! Ich weiß, dass ich recht habe! Aber beweisen kann ich es nur, wenn wir den Wagen untersuchen lassen!"

Sie beugte sich vor. Das malträtierte Gesäß schmerzte furchtbar, ohne eine Tablette war es kaum noch auszuhalten. Sie streckte sich, bemüht, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Und sie legte ihre Hand auf Barbaras Hand. "Es geht nicht, Barbara. Hast du eben nicht zugehört? Mir sind die Hände gebunden!" Barbara versuchte, ihre Hand zurückzuziehen. Sie hielt sie fest.

"Aber das kann doch gar nicht wahr sein! Willst du wirklich so ein gottverdammtes Arschloch laufen lassen? Und ich dachte immer, ihr kämpft für Recht und Gesetz!" Es war seine Stimme, die geantwortet hatte. Klaus saß wieder mit am Tisch.

Er hat recht, dachte sie. Ich sehe gleich wieder das Missbrauchsopfer in ihm! Ich kann mich davon nicht freisprechen! "Doch Klaus, genau das tun wir ja! Aber wir müssen uns an die Spielregeln halten. Tun wir das nicht, dann haben wir die absolut schlechteren Karten."

"Und die Justiz? Hält die sich auch immer an die Spielregeln? Ich sage nur Sofie Scholl!" Er zog seine Hand ganz zurück.

Ingeborg stöhnte auf. Der seelische Schmerz war schlimmer als der physische am Gesäß. "Klaus, lass uns jetzt nicht streiten! Wir leben nicht mehr in der NS-Diktatur. Ja, damals hielten sich die Richter auch an die Spielregeln, an das Gesetz. Aber dieses war ein Werkzeug des Bösen, der nationalsozialistischen Machthaber. Damals wurde das Gesetz zur Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt, das tun wir heute nicht mehr. Heute dient es dem Schutz der Bevölkerung. Das ist ein gewaltiger Unterschied."

"Dann unternimm bitte etwas!" Barbara war zurück. Sie entspannte sich, schob ihre Hand langsam wieder in die Mitte des Tisches zurück. Sollte es ein Angebot sein?, überlegte die Kommissarin. So wie im letzten Herbst, als ich das Angebot machte, bei ihrem ersten Treffen in jenem Café?
"Es ist nicht leicht. Mal sehen, ob ich eventuell..."

Sie beendete den Satz nicht. Sah die Hand, die sich langsam von der Tischmitte zurückzog. Ohne Schlüssel. Ingeborg stemmte sich mühsam hoch. Holte sich ein Glas Wasser, drückte eine Tablette aus der Packung und schluckte sie mit mehreren Schluck Wasser hinunter. "Warte bitte auf mich!" Sie nahm ihr Handy, schlich zurück in ihr Schlafzimmer, eine Tür wurde geschlossen, dann war es still.

Barbara musste lange warten. Endlich kam Ingeborg zurück. Sie lächelte. Die Tablette hatte geholfen und Bruno würde helfen! Sie setzte sich wieder hin. Es tat nicht mehr weh. "Ich kann dir nichts versprechen, Barbara. Aber ich habe wirklich alles getan, was ich tun konnte. Das gleiche gilt jetzt auch für andere. Glaube mir, im Moment laufen die Telefone heiß, zwischen München, Passau und Bamberg. Wir müssen abwarten." Ihre Schlüssel lagen immer noch auf dem Tisch. Barbara legte ihre Hände in den Schoß.

"Danke!", hauchte sie. "Und jetzt?"

"Jetzt wirst du wieder nach Hause fahren und ich lege mich in mein Bett und werde versuchen, ein wenig zu schlafen. Diese Tabletten sind zwar prima, aber ich werde davon furchtbar dösig und kann mich kaum noch wach halten. Ja? Bist mir nicht böse? Ich rufe dich an, wenn ich etwas erfahre. Dann kannst du wieder kommen. Und dann geht es mir bestimmt auch besser." Sie stand auf. Ging Barbara voraus in den Flur, wo diese ihre Jacke abgelegt hatte.
Sie umarmten sich. Ingeborg blickte in Barbaras Augen. Was konnte sie dort sehen? Dieser Blick... Sieg oder Niederlage?? Sie konnte ihn nicht deuten.


Ingeborg ging zu ihrem Wohnzimmerfenster, zog die Gardine etwas zur Seite, blickte hinunter und wartete, bis sie Barbara davonfahren sah. Sie ging zurück in die Küche und atmete tief durch, als sie das kleine Schlüsselbund noch auf dem Tisch sah. Sie lächelte, als sie es nahm, ohne den ganzen Metallkram würde sie wesentlich besser schlafen können.... und das andere!, dachte sie.
Ermattet legte sie sich vorsichtig in ihr Bett. Ihr Handy lag bereit, es konnte sein, dass Bruno heute noch anrief. Sie hatte ihn enttäuschen müssen, als er wieder von ihr verlangte, sich selber in Keuschheitsgürtel und -BH einzuschließen. Doppelt einschließen ging nun mal nicht! Sie steckte einen der Schlüssel in das kleine Schloss zwischen ihren Brüsten, welches die stählernen Cups zusammen hielt; es war der falsche Schlüssel. Auch der zweite Schlüssel passte nicht.

Alle guten Dinge sind drei! dachte sie müde. Steckte den letzten Schlüssel in das kleine, solide Schloss. Aber auch er öffnete nichts. Sie wiederholte dieselbe Prozedur mit dem Schloss an ihrem Taillenreifen, mit demselben Ergebnis. Es waren nicht ihre Schlüssel! Frustriert und verärgert warf sie die Schlüssel an die Wand, griff zu ihrem Handy, na, der kann was erwarten!!, dann aber, als sie sich gewahr wurde, was passiert war, ließ sie ihre Hand mit dem Handy wieder sinken.

Es sind i h r e Schlüssel!! Barbaras Schlüssel! Sie hat sich mir ausgeliefert! Oh mein Gott...

39. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 13.02.18 20:04

Schlüssel? und wo sind die Schlüssel zu Ingeborg?
Und dann noch ein eher zum heutigen Faschingdienstag passender Gedanke:
Wenn jetzt das alte Auto gestohlen wurde und nicht zum Schrottplatz gefahren wurde, wie groß ist dann der Schaden? Hätte Pater Ruprecht für den alten Kübel beim Schrottplatz vielleicht sogar Entsorgungskosten bezahlen müssen die ihm somit eine junge Frau erspart hat?
Ich wünsche alles Lesern heute viel Spaß, aber auch sonst nachdenkliche Momente.
Euer Maximilian
40. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Sir Dennis am 19.02.18 12:48

ich finde das was Daniela schreibt *hüst* sau real.. also sie schreibt das man auch das miterlebt also das man mit fiebert ..

Und ja lese deine Geschichte sehr gerne!!!
41. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 21.02.18 16:14

Und weiter im Text! Habe leider wenig Zeit im Moment. Freue mich aber nach wie vor über den einen oder anderen Gruß!
Viel Spaß beim Lesen wünscht Eure Daniela 20

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München, Mitte Juni

Es hatte einige Tage gedauert, Tage, an denen Klaus, jetzt immer noch als Barbara, kaum aus dem Haus gegangen war. Er hatte einen einzigen, großen Einkauf erledigt, hatte seine Vorratskammer, den Kühlschrank und die Gefriertruhe bis oben hin gefüllt. Und hatte sich dann im Wohnzimmer, vor dem Fernseher, ein Nest gebaut, welches ihm Sicherheit und Zuflucht bot.
Schwimme ich wirklich in der Mitte des Beckens herum, anstatt zum Rand zu schwimmen und mich einem der Rettungshunde anzuvertrauen? Er seufzte leise; dieses Bild, das Evelyn vor Monaten beschrieben hatte, um die Situation von Missbrauchsopfern deutlich zu machen, wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Aber hatte er denn nicht mit anderen über die Zeit gesprochen? Diese Wochen und Monate am Internat in Ettal, als der schwarze Mönch angefangen hatte, sein Leben zu zerstören?? Vielleicht war es doch nicht genug?

Er schaltete das Fernsehen aus. Kochsendungen, Ratesendungen, Zoosendungen! Gab es denn wirklich nichts Besseres im Fernsehen? Er schnappte sich sein Notebook, sah sich die üblichen Bilder an, die Klaus normalerweise erregten, aber Klaus war weggesperrt, da konnte er noch so viel versuchen, da ging gar nichts. Und Ingeborg hatte die Schlüssel!
Was mochte sie mit ihrem Anruf erlangt haben? Hatte die Polizei den Fall wieder aufgegriffen? Hatte man den Wagen sichergestellt? Und Pater Ruprecht? Saß der wieder hinter Gittern??

Das elektronische Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Überlegungen. "Hi Ingeborg! Schön, dass du anrufst! Wie geht es dir? Besser??"

"Ja, danke. Doch, es geht so langsam bergauf. Klo klappt schon wieder ganz gut, darf halt nur nicht zu feste drücken. Kommst du zu mir?"

"Klar doch! Bin schon unterwegs! Soll ich was mitbringen? Kuchen oder so?"

"Kannst du gern machen. Aber vergiss diesmal die Schlüssel nicht!"

Klaus stutzte. Hatte er richtig gehört? ""Welche Schlüssel, Ingeborg?"

Ihre Antwort kam etwas zögerlich. "Haha, sehr lustig! Die Schlüssel zu meinem BH und dem Keuschheitsgürtel natülich. Ich muss morgen zum Arzt. Da würde ich gern ohne den ganzen Metallkram hingehen!"

Ihm blieb fast das Herz stehen. "Ich habe sie nicht, Ingeborg." Er wartete auf eine Antwort, aber es kam keine. Nur ein leises Klicken war zu hören, danach tutete das Freizeichen. Sie hatte aufgelegt.


Er wollte sich beeilen, aber die Tatsache, dass auch er immer noch in BH, Keuschheitsgürtel und Schenkelbändern steckte, machte das Leben komplizierter. Was sollte Barbara anziehen? Eine Hose ging gar nicht; er hatte da keine Wahl, er musste einen Rock oder ein Kleid anziehen. Er überlegte hin und her, den Jeansrock, oder doch besser den knielangen, schwarzen Faltenrock? Seinen gepunkteten Rock mit dem steifen Petticoat drunter? Am Ende entschied er sich für Barbaras Dirndl. Er mochte es, sich so im Spiegel zu sehen. Im Dirndl war er ganz Frau. Das Wetter passte auch, es war angenehm warm, nicht die Münchner Sommerschwüle, wie sie später im Sommer kommen würde. Nur für den Abend war mit kühlerer Luft zu rechnen, weswegen er eine Jacke in seinen kleinen Rucksack packte.
Fehlt eigentlich nur noch das Oktoberfest!, dachte er, als er seinen kleinen Roller startete. Außerhalb der Oktoberfestzeit sah man selten Frauen im Dirndl, was er schade fand. Umso mehr erregte es ihn, als Barbara selber eines tragen zu können. Barbara mochte es, wenn Männer hinter ihr her pfiffen. Seltsam war, noch mehr mochte sie es, wenn sie Blicke junger Frauen auffing, Frauen, die meist Jeans trugen. Da gab es, und mochte es noch so kurz sein, für den Augenblick eine Art von Kommunikation; hier prallten Meinungen über Mode aufeinander, ähnlich Protonen in einem Teilchenbeschleuniger. Er signalisierte: tragt Dirndl! Wohingegen diese signalisierten: bloß nicht!! Wir haben Jeans! Wenn es nach ihm ginge, er würde alle Mädchen in Dirndl stecken!
Er bremste scharf ab; beinahe hätte er einen Fußgänger angefahren, der die Grünphase der Ampel etwas großzügig auslegte; gerade noch konnte er einen Zusammenstoß vermeiden!
Er fuhr weiter, schüttelte den Kopf. Nein, besser nicht Dirndl für alle! Neunzig Prozent aller Dirndl waren Schrott; leider trugen viel zu viele Frauen hässliche Billigdinger.

Klaus bog in Ingeborgs Straße ein, wie immer glitt sein Blick zu ihrem Fenster hinauf: ja, sie stand da und wartete auf ihn. Er parkte wieder auf dem Gehweg, stellte sein kleines Gefährt direkt an der Hauswand ab. Er schloss ab, sicher ist sicher, auch durch das Hinterrad wurde eine dicke Kette gezogen. Dann ging er zur Tür und klingelte.


Ingeborg hatte lange ihr Telefon angestarrt. Nein, nein, das konnte einfach nicht wahr sein. Er verarscht dich bloß, Ingeborg! Sie hatte einfach das Gespräch beendet, wollte ein Zeichen setzen, nein, so leicht lasse ich mich nicht aufs Glatteis führen! Was aber.... wenn.....? Sie schleppte sich zurück in ihr Bett, legte sich hin, Sitzen war immer noch recht schmerzhaft, obwohl es langsam besser wurde.
Es fühlt sich schwerer an, dachte sie. Sie unterdrückte den Impuls, wild an ihrem BH herumzuzerren, oder den Keuschheitsgürtel irgendwie doch über ihre Hüftknochen zu bekommen; mach dich nicht zum Affen!, nein, gegen den abgeschlossenen Stahl würde sie nicht ankommen. Nicht ohne Werkzeug. Und passendes Werkzeug hatte sie nicht.
Er wird gleich kommen und dich aufschließen! Und lass dir bloß nichts anmerken! Das will er doch bloß! Dich ein wenig auf die Folter spannen; sehen, wie du reagierst! Aber du bist taugh, du wirst lieb sein und warten, bis er von selber die Schlüssel heraus rückt und dich aufschließt!!
Sie lag ruhig da, die Linke in ihrem Schritt, die Rechte auf der Brust. Du hast dich selber verschlossen, Ingeborg? Warum machst du das? Was willst du denn noch? Seltsame Gedanken gingen ihr durch den Kopf, vermengten und vermischten sich mit Bildern ihres Traums. Ihre an eine solide Stange gefesselten Hände, das hübsche Korsett, welches ihr von hinten um die Taille gelegt wurde, schließlich den ersten, festen Zug an den Schnürbändern. Wer steht dort hinter dir und schnürt dich?, fragte sie sich. Sie war zu früh aufgewacht, um es sehen zu können. Aber gab es denn eine andere Möglichkeit, als Barbara?

Sie rollte sich ein wenig zur Seite und achtete beim Aufstehen darauf, Druck auf ihr Gesäß zu vermeiden. Ingeborg ging an ihr Fenster, lugte vorsichtig hinaus, Nachbarn würden ihren metallenen BH sehen können, wenn sie nicht aufpasste.
Sie sah Barbara kommen, sobald diese hinten um die Ecke bog. Barbara! Sie wurde ganz wuschig als sie sah, dass Barbara wieder ihr Dirndl angezogen hatte. Sie ist viel hübscher, als ich! Sie versuchte, tief durchzuatmen, ein kleines Beben ging durch ihren Körper, sie konnte nichts dagegen tun, ein Tropfen lief langsam an ihrem Bein herab. Was ist mir dir los, Ingeborg? Hast du dich nicht unter Kontrolle?
Sie drückte auf den elektrischen Türöffner, sobald es klingelte. Machte sich gar nicht erst die Mühe, das Telefon zu benutzen. Sie riss die Wohnungstür auf, hörte noch von unten das Zuschlagen der Haustür, dann brummte der Aufzug.

Ich bin ja total durch den Wind!! Meine Schlüssel! Mit wem hatte sie vorhin telefoniert? Mit Klaus, oder mit Barbara? Das war schon ein Unterschied, wenn Barbara sagte, sie habe keine Schlüssel, dann konnte es sein, dass Klaus sie hatte! Oder umgekehrt! Du spinnst!, dachte sie.
Sie zog sich in ihre Wohnung zurück, als der Aufzug oben ankam. Sie schloss die Augen, mochte nicht hinsehen, wann hatte sie Barbara zuletzt in ihrem Dirndl gesehen? Sie wusste es nicht mehr.
Ingeborg wartete, bis Barbara die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann stürzte sie vorwärts, packte diese bei den Schultern, schüttelte sie, heftig, krampfhaft. "Wo sind meine Schlüssel, Barbara!! Schließ mich auf! Lass mich bitte aus diesem verdammten BH und dem scheiß Keuschheitsgürtel raus!! Ich will jetzt Sex mit dir! Bitte...." Dann sackte sie zusammen und vergrub ihr Gesicht unter Barbaras Dirndlschürze.

"Wa...s?" Barbara wich einen Schritt zurück, spürte die Garderobe im Rücken, weiter zurück ging es wohl nicht mehr. "Ist ja gut!" Sie überlegte, ob es nicht besser war, wieder zu gehen. Andererseits aber hatte sie ihrerseits Grund, zu bleiben. Ihr tat es leid, was sie mit der Freundin angestellt hatte, und sie wollte auch ganz gern selber mal wieder aus ihrer stählernen Unterwäsche heraus.

"Hast du sie mit?" Ingeborg fasste Hoffnung.

"Ich habe sie nicht, Ingeborg."

"Wieso hast du sie nicht mit? Ich muss morgen zum Arzt. Und vorher möchte ich ganz gern aus diesen Dingern hier raus!"

Klaus trug immer noch seinen kleinen Rucksack; erst jetzt nahm er ihn ab, ging ins Wohnzimmer und legte ihn neben den niedrigen Tisch. Vorsichtig ließ er sich in das weiche Sofa fallen, der Keuschheitsgürtel zwang ihn zu einer geraden Haltung. "Ingeborg, ich habe deine blöden Schlüssel nicht! Weiß der Himmel, wo du sie hingelegt hast? Vielleicht sind sie im Präsidium, in deinem Schreibtisch? Hast du hier alles abgesucht?" Er zögerte etwas, wagte es nicht, seinerseits nach den Schlüsseln für seinen Gürtel und BH zu fragen. Sollte er es als eine Frage formulieren? Oder besser als eine Bitte? Oder wäre harter Kommandoton jetzt besser?

Sie sah ihn an. Versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Was schwierig war, denn Barbara hatte sich, wie immer, gut geschminkt. Schwierig, aber nicht unmöglich. Lag da nicht ein leicht spöttisches Lächeln auf seinem Mund? Machte er ihr nur etwas vor? Wollte er sich daran aufgeilen, ihre Angst mit zu erleben? Quatsch, dachte sie. Außerdem war Aufgeilen im Moment für ihn ja wohl auch nicht drin. Wenn er letztes Mal so blöde gewesen war, ihr seine Schlüssel anzuvertrauen? Sie atmete tief durch, so tief, wie es der stählerne Gürtel um ihren Brustkorb erlaubte, dann beschloss sie, abzuwarten. Resolut band sie den Bademantel wieder zu, wenigstens wollte sie ihm nicht den Spaß machen, Metall auf ihrer Haut sehen zu können.

"Gibt es Neues, Ingeborg?" Er brauchte nicht zu sagen, an was genau er dabei dachte.

Sie setzte sich neben ihn. Die Kommissarin musste sich überwinden, Klaus nicht an die Gurgel zu gehen, freiwillig würde er ihre Schlüssel nicht herausrücken, so viel war allemal klar. "Ja...."

"Ja...WAS? Hat man das Arschloch verhaftet? Hoffentlich sitzt er schon in Stadelheim?"

"Nein." Sie schüttelte den Kopf. "Nein, Klaus, man hat ihn nicht verhaftet. Wir wissen, ehrlich gesagt, nicht, wo er sich aufhält. Besser gesagt, die Kollegen wissen es nicht. Vergiss bitte nicht, ich bin krank geschrieben. Morgen muss ich zum Arzt...." Sie machte eine aufgebende Geste, langte mit der Rechten an ihre Brust; es war klar, was sie vom bevorstehenden Arztbesuch hielt. So würde sie nicht hingehen. "Aber man hat mir gesagt, dass der Wagen gefunden wurde..."

"Gefunden ist gut," unterbrach Klaus sie. " Viel zu finden gab es da ja wohl nicht, nachdem ich dir genau sagen konnte, wo er steht. Hat man ihn dann wenigstens beschlagnahmt?" Der Ton seiner Frage ließ erkennen, dass er sich etwas anderes als die Beschlagnahme gar nicht vorstellen konnte.

"Das kann ich dir nicht sagen." Sie zog den Bademantel etwas enger um ihren Körper. "Kannst du vielleicht mal einen Tee für uns machen?"

Spielte sie auf Zeit? "Lenk jetzt nicht ab, Ingeborg. Ich muss das wissen. Und wenn ihr nicht wisst, wo das Schwein sich aufhält, ich..." Gerade noch rechtzeitig bemerkte er, dass er drauf und dran war, sich um Kopf und Kragen zu reden. Er stand abrupt auf, griff nach Ingeborgs leerer Tasse. "Okay, Tee machen! Aber sage mir dann bitte mehr!"

Barbara ging in die Küche. Ingeborg entspannte sich etwas. Was war das? Was hatte er sagen wollen? Wusste er vielleicht selber mehr, als er ihr sagte? Und was war mit diesem 'Parco rottami' gewesen? Italien?? Sie wusste, dass Klaus Mutter in Rom lebte.... aber doch wohl kaum auf einem Schrottplatz? Sie schloss die Augen, versuchte ihre Gedanken zu kontrollieren. Klaus klapperte mit Geschirr in der Küche. Sie sah ihn... nein, sie sah Barbara, wie sie dort den Tee zubereitete. Barbara.... Wusste sie eigentlich, wie schön sie war? Und dann fiel ihr siedend heiß ein, dass sie einen ganz dämlichen Fehler gemacht hatte! Hätte sie ihn doch bloß nie in die Küche geschickt!


% % %

Klaus räkelte sich im Bett. Immerhin, dachte er, immerhin sichergestellt. Viel mehr hatte Ingeborg ihm nicht erzählen können oder auch erzählen wollen; er wusste es nicht. Ingeborg hatte sich zugeknöpft gezeigt, kein Wunder, nach all dem, was sie hatte durchmachen müssen. Durch meine Schuld, erinnerte er sich. Sie hatte noch etwas bei ihm gut, das wusste er, und sie würde nicht zögern, es bei ihm einzufordern.
Er legte seine Hand auf sein erschlafftes Glied. Er hatte die Schlüssel zu seinem Keuschheitsgürtel und BH bei Ingeborg auf dem Küchentisch gefunden und sofort wieder an sich genommen. Es gibt Gelegenheiten im Leben, wo man zupacken muss, sagte er sich. Jetzt packte er wieder zu, bearbeitete sein befreites Glied mit der Hand, aber es reagierte nicht auf die Bilder, die das überlastete Hirn ihm bot: hübsche Frauen in Dirndlkleidern, geile Messdienerinnen, Frauen, die irgendwo festgebunden waren und irgendwie ausgepeitscht wurden, Bondage und spanking nannte man es wohl, was die Sache aber nicht änderte, es war Gewalt an Frauen. Und so brachen die Bilder seines Kopfkinos jedes Mal schon zusammen, bevor sein Glied sich recken und strecken konnte. Es ging einfach nicht mehr.

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Die Haustür fiel hinter Ingeborg ins Schloss; sie hatte es hinter sich gebracht. Sie nahm den Aufzug in ihr Stockwerk, schloss die Wohnungstür auf, zog Jacke und Schuhe aus und setzte sich erst einmal auf die Toilette.
Der Briefträger hatte sie vormittags aus unruhigem Schlaf geweckt, es konnte wichtig sein, wer weiß so etwas schon, also hatte sie sich einen Morgenrock übergeworfen und den Aufzug nach unten genommen. Es war nicht wichtig gewesen, vielleicht gar nur Reklame, oder man hatte bei ihr geklingelt, weil niemand sonst im Haus geöffnet hatte. Aber ein weißes Kuvert hatte in ihrem Briefkasten gelegen, ein weißes Kuvert mit ihrem Namen, Ingeborg Wimmer, nur ihr Name, sonst nichts. Ein weißes Kuvert, nur mit ihrem Namen; es enthielt nichts, bis auf die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel und -BH! Klaus, du altes Aas!!, hatte sie gadacht und sich beeilt, ihre stählerne Unterwäsche abzulegen, bevor sie sich auf den Weg zur ärztlichen Untersuchung machte.

Die Wunden hatten sich nicht entzündet, der Heilungsprozess hatte eingesetzt. Sie blieb noch für den Rest der Woche krank geschrieben, Montag würde sie wieder arbeiten können! Und die Dinge endlich selber in die Hand nehmen, dachte sie, wobei sie weniger an verstaubte Archivakten dachte als an den Fall mit Pater Ruprecht. Was hat Klaus damit zu tun? Wieso tauchte der Wagen so plötzlich auf?

Ingeborg machte sich einen frischen Tee, überlegte lange, welchen sie aus ihrer großen Sammlung an schwarzen, grünen und neuerdings sogar weißen Tees nehmen sollte und entschied sich schließlich für einen Tee mit Brombeergeschmack.
Sie kroch zurück in ihr Bett, stellte den heißen Tee in Reichweite auf einen kleinen Hocker, wo sie ihn vergaß. Sie schloss die Augen, driftete in einen Tagtraum, ließ ihre Hand dort arbeiten, wo endlich wieder freier Zugang war, dann aber griff sie nach ihrem Laptop, der noch neben ihr auf dem Bett lag. Diese verrückte Geschichte, die sie gefunden hatte.... 'Das Korsett-Tagebuch'..... Sie begann zu lesen, sog die Sätze in sich auf. Sah Barbara hinter sich stehen, spürte das Knie, das diese ihr in den Rücken gestemmt hatte....

Sie würde etwas liefern müssen. Eine Hand wäscht die andere, ist es nicht so? Du bist mir etwas schuldig, Klaus Behrend!



München, Ende Juni

Sie hatten sich wieder in einem Café getroffen. Und sie hatte ihm einen Zettel mit der Adresse in die Hand gedrückt.
"Versuche es wenigstens einmal! Es kostet nichts. Du verpflichtest dich zu nichts. Du hast eigentlich keine Wahl...."

"Hat man nicht immer eine Wahl?" hatte er etwas schnippisch geantwortet.

"Nimm das nicht auf die leichte Schulter, Klaus! Natürlich hat man immer eine Wahl. Aber glaube mir, ich weiß genug über diese Sachen, um zu wissen, dass du nur die Wahl hast zwischen untergehen oder davon zu fliegen!"

"Davon fliegen, Lyn? Soll ich irgendwo hinfliegen? Nach Thailand und Frauen aufreißen?"

"Ach, red keinen Scheiß!! Ich meinte, alles hinter sich zu lassen. Und allein schaffst du es nicht!", reagierte Evelyn gereizt.

"Und ich soll jetzt, deiner Meinung nach, jahrelang zu irgendso einem Psycho-Freak rennen und mir die Seele aus dem Leib quasseln? Ohne mich, Lyn!"

Sie hatte ihn angesehen, nur mit den Schultern gezuckt. "Es ist deine Wahl. Du musst wissen, womit du leben kannst!"


Sie waren wortlos auseinander gegangen, aber er hatte den Zettel eingesteckt; eine Seitenstraße vom Stachus, Hinterhof irgendwo. Und er hatte suchen müssen, es nicht gleich auf Anhieb gefunden. Jetzt aber las er das Klingelschild BERATUNGSSTELLE und drückte auf den Klingelknopf.
Ein Lautsprecher knackte. "Ja bitte?"

Er räusperte sich. "Guten Tag! Mein Name ist...." Soll ich meinen Namen nennen?? Ist das hier nicht anonym?? "Ich möchte gern zur Beratungsstelle!"

Nichts. Er wartete einige Sekunden. "Hallo??"

"Wohin möchten Sie?"

Er holte tief Luft. Bemühte sich, das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken. "Ich möchte zur Beratungsstelle...."

Ein elektrischer Türöffner ertönte. "Kommen Sie rein. Zweiter Stock!"


Oben angekommen; die Tür war angelehnt, er klopfte an, trat sofort ein. Kein Weg mehr zurück!, dachte er.
Eine ältere Dame begrüßte ihn am Empfang. "Sie möchten sicherlich zur Beratung. Nennen Sie mir bitte ihren Vornamen und um welche Art von Problem es sich handelt. Damit wir den Richtigen für Sie finden!"

Er nickte, sah sie aber etwas ratlos an.

"Drogen, sexuelle Probleme, Missbrauch, Gewalt, Eheprobleme, Probleme mit Eltern oder Arbeitsplatz.... Sie verstehen schon?"

"Äh, ja. Sexuelle Probleme." Er merkte, wie er rot anlief. Konnte er ihre Gedanken lesen?? Kriegt keinen mehr hoch.... Er schwitzte. Schweiß tropfte ihm aus dem Achselhöhlen.

Sie deutete ihm, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. "Es kann etwas dauern. Haben Sie Geduld. Ohne Geduld geht hier gar nichts."

Er wartete. Studierte die Zeiger eine simplen Wanduhr. Wie kann eine Minute so lang sein? Und warum verharrte der tickende Sekundenzeiger jedes Mal so verdammt lange? Läuft die Zeit nicht kontinuierlich ab?
Man reichte ihm ein Glas Wasser, gerade, als er überlegte, ob er überhaupt etwas würde sagen können. Seine Nervosität legte sich etwas. Eine Tür wurde geöffnet, eine Dame mittleren Alters kam heraus, die Augen verheult, das Maskara verlaufen. Eine sanfte Männerstimme war zu hören... ".... Sie haben eine Chance. Jeder Mensch hat eine Chance!"

Erst jetzt bemerkte er das rote Licht, das über der Tür gebrannt hatte und jetzt ausgegangen war. Die Sekretärin sprach ihn an: "Bitte, Klaus. Sie können jetzt zu Herrn Pfeiffer gehen. Er hat jetzt für Sie Zeit!"
Klaus bedankte sich mit einem kurzen Nicken, dann betrat er das kleine, spärlich möblierte Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

"Kommen Sie herein und machen Sie es sich bequem, junger Mann! Was kann ich denn für Sie tun?

Er sah sich um. Sein Gegenüber hatte schütteres Haar, er mochte Mitte 50 sein, das Gesicht war offen und ehrlich. Mit einer Geste deutete er auf einen bequemen Sessel; der Mann selber saß in einem zweiten Sessel.
"Sie haben Glück, dass man Sie herein gelassen hat. Nicht jeder schafft es bis hier oben!" Er nickte ihm vertrauensvoll zu. "Wir haben gar nicht die Kapazität, uns um jeden zu kümmern!"

"Wie bitte? Und wieso ich....? Wieso habe ich Glück gehabt?"

"Sie haben keine Namen genannt, als Sie klingelten. Sie wollten anonym bleiben. Und sie haben zweimal laut und deutlich gesagt, dass Sie zur Beratung möchten. Es muss sich also schon um etwas Ernsthaftes handeln. Dann legen Sie mal los! Ich habe Zeit für Sie, aber wir haben nicht den ganzen Nachmittag. Sie haben ein Sexualproblem?"

Habe ich ein Sexualproblem?? Klaus sank etwas tiefer im Sessel, betrachtete seine Hände, die nach etwas Unsichtbarem greifen wollten. "Ich.... ich habe schlimme Dinge getan...." Daniela! Ich habe sie im Stich gelassen... sie könnte noch leben, wäre ich nicht feige davon gelaufen....

"Warten Sie!!" Herr Pfeiffer hob die Hand. "Ich möchte nicht wissen, was Sie getan haben! Dafür haben wir gar keine Zeit; nicht hier und nicht jetzt. Wenn Sie jemanden umgebracht haben, gehen Sie zur Polizei. Wenn sie gesündigt haben, gehen Sie zu ihrem Pfarrer und beten dreißig Rosenkränze. Ich möchte wissen, was man Ihnen angetan hat, nur das zählt jetzt. Das muss unsere Ausgangslage sein. Dann sehen wir weiter!"

"Sie sind mir ja ein schöner Psychiater!", rutschte es Klaus heraus.

Er lachte kurz auf. "Nein, weit gefehlt. Ich bin kein Psychiater! Oder sehen Sie hier irgendwo eine Couch und Pillenschachteln?"

"Dann also Psychologe!"

"Auch daneben!" Herr Pfeiffer schmunzelte ihn an.

Klaus gewann etwas Selbstvertrauen. "Was wird das hier? Munteres Beruferaten? Was sind Sie denn, wenn ich mal fragen darf? Immerhin sollte ich doch wenigstens mal wissen, mit wem ich es zu tun habe... wenn ich Ihnen hier gleich mein Herz ausschütten soll!"

"Da ist was dran, Klaus. Ein Punkt für Sie. Ich bin Pädagoge!"

"Lehrer??" Klaus setzte sich auf, rutschte auf die Sesselkante vor. "Da bin ich wohl bei der falschen Beratungsstelle gelandet. Ich dachte, es wäre für Erwachsene..."

"Bleiben Sie sitzen, junger Mann!" Der Mann fixierte ihn mit freundlichem Blick. "Sagen wir lieber 'Erziehungswissenschaftler, wenn Ihnen das lieber ist. Mit Diplom!! Sehen Sie, Menschen, die zu mir kommen schleppen ihre Probleme meist seit Kindertagen mit sich herum. Egal, wie alt sie sind. Eben hatte ich eine Frau hier sitzen, die ist nie darüber hinweg gekommen, zu sehen, wie ihr Vater ihre Mutter vergewaltigt hatte. Glauben Sie mir, lebenslänglich im Knast ist gar nichts dagegen! Da kommen sie nach dreizehn Jahren raus... in so einem Fall aber...." Er schwieg.

Klaus ließ sich zurückfallen. "Es ist eine lange, sehr lange Geschichte..."

"Legen Sie los. Lassen Sie nichts aus! Ich werde Sie, wenn möglich, nicht unterbrechen!"


42. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 23.02.18 19:02

"weißes Kuvert"? Sind das die Notschlüssel die Barbara vorbei gebracht hat? Und wo sind die Originale?
43. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 25.02.18 18:39

Heute kommt meine Geschichte zur Abwechslung mal etwas früher, weil ich gerade Zeit habe. Die toll gelaufenen Olympischen Spiele sind vorbei; mir haben sie diesmal gut gefallen, obwohl ich gerade in der zweiten Wochen wenig Gelegenheit hatte, am Fernsehen zuzuschauen. Jetzt also weiter hier im Text! Ich wünsche allen Lesern ein schönes und spannendes Lesevergnügen. Langsam bewegen wir uns auf die Ziellinie zu....

Herzliche Grüße, Eure Daniela 20

PS: Nächsten Sonntag dann wohl wieder zur gewohnten Stunde!

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Angst! Sie hatte sie gespürt, hatte gespürt, wie sie ihr langsam, wie ein gefräßiger Wurm, durch den Körper gekrochen war. Ingeborg gab sich ihrer Phantasie hin. Die dunkle Nacht in der Kirche, als sie immer wieder mit aller Kraft versucht hatte, sich von der Messdienerstrafbank zu befreien. Das Heulen des Sturms draußen, das Knacken der Äste der großen Bäume, die draußen vor der Kirche standen. Es war ein Spiel gewesen, dass sie selber begonnen hatte, um Barbara zu einer Aussage zu bewegen. Ein Spiel, dass sie beinahe verloren hätte.
Sie erinnerte sich an das zunehmende Zittern ihrer Knie, an ihre verzweifelten Versuche, den spitzen Stacheln des Sitzbrettes nicht zu nahe zu kommen. Und an den Moment, als sie das Unvermeidbare hinnehmen musste, als sie nachgab, als die scharfen Spikes durch den dünnen Stoff ihrer Messdienerkleidung drangen und an den höllischen Schmerz, der unmittelbar folgte.
Und sie erinnerte sich an den Rausch der Sinne, den sie in jener Nacht erlebt hatte, an nicht aufhörende Orgasmen, ausgelöst durch eine perfide Mischung aus Hilflosigkeit, Angst und Schmerz.

Sie wolte es noch einmal erleben. Vielleicht nicht unbedingt wieder so, dass sie tagelang nicht sitzen konnte, aber dieselbe Hilflsoigkeit, die Angst, das Hinabgleiten in eine Welt, die nur dem Zutritt gewährte, der sich hingeben konnte. Opfere dich, nur so kommst du wieder dort hin, Ingeborg! Barbara - oder Klaus - würde mitmachen, daran gab es keinen Zweifel. Hatte er nicht erst vor wenigen Tagen seinen Spaß daran gehabt, so zu tun, als hätte er ihre Schlüssel nicht gehabt?

Sie hatte lange überlegt, bis ihr wieder die Stelle aus jenem Korsett-Tagebuch in den Sinn kam, die praktisches Handeln erforderte. Klaus müsste das Korsett beschaffen, von dem er einmal gesprochen hatte. Und sie selber müsste einige Einkäufe machen....
Was genau bräuchte sie? Einen kräftigen Haken unter der Decke. Ein langes Seil. Lederriemen mit Schnallen. Eine kräftige Stange. Schrauben. Und sie wusste schon, wo sie alles bekäme!

"Eine Stange, sagten Sie?" Der Angestellte des Baumarktes betrachtete sie durch seine dicke Brille. "Was für eine Stange soll es denn sein? Eine Eisenstange?"

Ingeborg bekreuzigte sich innerlich, als sie sah, an welchen Verkäufer sie geraten war. "Nein, eine Holzstange. Eine kräftige Holzstange suche ich."

"Aha! Wofür soll sie denn sein?" Er ging ihr voraus und sah somit Ingeborgs gestenreich vorgetragene Erklärung. Falls er überhaupt eine Antwort auf seine Frage erwartete. "Sehen Sie, hier haben wir alles, was das Herz eines Tischlers erfreut.... oder eines Zimmermanns! Wie wäre es mit einer Dachlatte? Nicht? Balken vielleicht? Möchten Sie Ihr Loft renovieren?" Er war stehen geblieben, drehte sich um und sah sie fragend an.

"Äh, nein. Ich brauche eine kräftige, solide Stange für.... - DAS wirst du ihm jetzt nicht auf die Nase binden, Ingeborg!! - für gymnastische Übungen! Ja, für solche Übungen.... Sie wissen schon." Um ihre Worte zu untermauern griff sie nach einer imaginären Stange über ihrem Kopf und deutete einige Klimmzüge an. "Muss etwas für meine Kondi tun, meinte der Arzt."

"Ach so!" Klang er etwas enttäuscht? "Ja, dann kann ich mir ein genaues Bild machen...." Er stutzte; zu gern hätte Ingeborg jetzt in seinen Kopf schauen wollen, sich dieses genaue Bild einmal ansehen zu können. "Schauen Sie, hier haben wir ein schönes Rundholz; 3 cm Durchmesser, das ist stabil, lässt sich aber auch gut greifen. Die genaue Länge schneide ich Ihnen ab. Ein Meter?? Oder vielleicht besser 80 cm, das reicht bestimmt auch für Ihren Zweck. Und dann brauchen sie noch diverse Haken und ein kräftiges Seil....

"... und zwei Lederriemen mit Schnallen!" Verdammt! Es war ihr so rausgerutscht.

"Lederriemen mit....?? Wofür....??"

Der ist nicht auf den Kopf gefallen!! "Ich brauche sie für etwas anderes," log sie und bemühte sich, ihrem zweifelnden Gegenüber direkt in die Augen zu schauen. Hoffentlich stimmt es nicht, dachte sie, dass die Augen der Spiegel der Seele sind. Denn dann würde er etwas ganz anderes als gymnastische Übungen sehen können!
Sie atmete auf, als sie ihre Einkäufe in ihrem kleinen Mini verstaute und sich auf den Heimweg machte. So schnell würde sie hier wohl nicht wieder einkaufen!


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Er hatte ihn nicht unterbrochen. Hatte lange und geduldig zugehört, war dann am Ende seiner langen Geschichte aufgestanden und zu einem kleinen Kühlschrank gegangen, den Klaus erst jetzt bemerkte. "Möchten Sie?"
Klaus nahm die Coladose gern an, öffnete sie und trank einen tiefen Schluck, der ihm gut tat. Dann hatte er eine Frage: "Sie haben sich gar keine Notizen gemacht?"

"Ja, das ist richtig. Sehen Sie, Klaus, Sie sind kein Patient, auch kein Klient, wenn ich es mal so sagen darf. Hier werden keine Dossiers angelegt. Wenn Sie hier sind, sind Sie hier und wir können uns unterhalten, mehr ist es nicht.

"Und was halten Sie nun von meiner Geschichte? Schlimm, nicht wahr?"

Pfeiffer schüttelte leicht den Kopf. Was man deuten konnte, wie man wollte. "Darf ich Ihnen selber erst einmal eine Frage stellen? Macht es keinen Spaß mehr?"

"Wie bitte? Was... was soll keinen Spaß mehr machen?"

"Das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel. Mal als Klaus aufzutreten, dann wieder als Barbara." Er wiederholte seine Frage. "Ich gehe einfach mal davon aus, dass es Ihnen irgendwie auch etwas gegeben hat; was, sei erst einmal dahingestellt. Tatsache ist, man hätte Sie nicht gegen Ihren Willen zwingen können. Sie haben mitgespielt, nicht wahr?

Klaus nickte. "Ja, das habe ich wohl. Aber jetzt ist es mir zur Belastung geworden. Verstehen Sie, ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin: Klaus, oder doch Barbara. War es mir zu Anfang wohl ein kindliches Bedürfnis, meine tot geglaubte Schwester irgendwie weiterleben zu lassen - und vergessen Sie nicht, ich sollte doch für ihren Tod verantwortlich sein! - so hat sich in den letzten Monaten alles dahingehend geändert, dass ich mehrmals mit dem Gedanken gespielt habe, sie umzubringen!"

"Sie umzubringen??"

"Barbara, Herr Pfeiffer. Natürlich nicht meine kleine Schwester!"

Der ältere Herr, der sich kurzzeitig etwas aufgerichtet hatte, fiel wieder zurück in seinen Sessel. Er berührte seinen Nacken mit der rechten Hand. "Sehen Sie, Ihr Vorgehen war nicht verkehrt. Es war keine Sünde. Sie brauchen weder zur Polizei noch zum Pfarrer zu gehen. Es war nur eine kindliche Reaktion auf Dinge, die in Ihrer Familie nicht besprochen wurden."

"Ja, aber jetzt...."

"Klaus! Ich bin kein Zahnarzt! Ich kann Ihnen weder einen Zahn ziehen, der tief in Ihnen nagt, noch kann ich Ihnen Ihr Seelenheil garantieren. Im Grunde genommen wäre es einfacher, Sie würden den verlorenen Spaß wiederentdecken. Ich könnte mir vorstellen, dass sie als Frau toll aussehen. Vielleicht nennen Sie es einfach nicht mehr Transvestismus, das klingt immer so freak-mäßig, sondern einfach Travestie? Ein Künstler, der sich verkleidet! So einfach kann es sein. Glauben Sie mir, alles andere ist ein sehr sehr schwerer Weg. Falls Sie ihn gehen wollen..." Er seufzte leise, leerte seine Coladose und stellte sie auf den kleinen Tisch.

Auch Klaus leerte seine Dose, behielt sie aber in der Hand. "Eine gute Bekannte von mir - sie hatte mir Ihre Beratungsstelle so sehr empfohlen -, sie hatte mir auch schon einen ganz ähnlichen Rat gegeben. Sie meinte, ich solle mich mit Barbara versöhnen. Sie endlich voll und ganz als Teil von mir akzeptieren und nicht mehr als ein fremdes, gar bedrohliches Wesen auffassen."

Herr Pfeiffer stand auf. "Ja, das sehe ich im Moment auch so. Aber ich werde über ihre Sache nachdenken! Kommen Sie ruhig wieder, bei mir finden Sie immer ein offenes Gehör! Also, alles Gute, Klaus, und ich drücke Ihnen die Daumen, dass dieser famose Pater hinter Schloss und Riegel kommt. Ihnen wird es nicht so viel helfen, aber den Kindern, an denen er sich sonst noch vergreifen könnte!

Klaus war auch aufgestanden, hielt seine Coladose aber immer noch umklammert. "Ich danke Ihnen, Herr Pfeiffer! Nur...." Er zögerte.

"Nur...? Sagen Sie es ruhig. Mir ist nichts fremd."

"Warum habe ich da mitgemacht? Hinterher, bei diesen Sado-Maso-Sachen? Und ich meine, nicht nur passiv....??"

"... sondern auch aktiv?" Herr Pfeiffer hatte den Faden aufgenommen, rieb sich wieder den Nacken. Überlegte etwas, dann begann er, eine Melodie zu summen. "Erkennen Sie das Lied?" Klaus nickte. "Kennen Sie auch den Text? Der ist nämlich interessant!" Leise summte er noch einmal vor sich hin, versuchte, selber den Text zu singen, gab es aber schnell wieder auf. "Na, damit würde ich wohl keinen Blumentopf gewinnen! Es ist ein Lied von Emily Browning: 'Sweet Dreams'. Sie singt: 'Some of them want to abuse you, some of them want to be abused!'. Verstehen Sie das? Diese beiden Dinge liegen eng beieinander. Sie lassen sich nicht wirklich trennen. Aber wenn Sie eine tieferschürfende Erklärung wollen, bitteschön, gehen Sie zu einem Psychiater! Der wird Ihnen etwas von Dopamin erzählen, wie süchtig unser kleines Hirn danach ist, und so. Aber der wird Sie, als sehr interessanten Fall, wahrscheinlich gleich da behalten! Ich würde es nicht riskieren!" Er lachte still in sich hinein. "Wissen Sie, ich würde mich eher an den Rat von Emily Browning halten, die sagt: 'Travel the world and the seven seas!' Man kann nicht vor sich selber weglaufen, aber man kommt auf andere Gedanken, wenn einem irgendwo in Afrika das Klopapier ausgeht!" Er lachte, laut und ansteckend diesmal, dann gab er Klaus die Hand und begleitete ihn zur Tür.


München, Anfang Juli

Bindfäden, dachte Klaus, wieso sagt man, es regenet Bindfäden? Aber irgendwie war der Vergleich auch treffend; Schnürlregen nannte man es wohl in Österreich. Auch nicht schlecht.
Er war schlecht gelaunt, die Nässe zog ins Haus, obendrein war es recht kühl, sollte er denn wirklich jetzt, mitten im Sommer, die Heizung anwerfen? Gut, dass wenigstens der Backofen etwas von seiner Hitze an die Küche abgab. Die Eieruhr rappelte, er sah durch das vergilbte Sichtfenster des Herdes, hm ja, die Pizza war goldbraun an der Kante, länger sollte es sie besser nicht im Ofen lassen.

Er goss sich ein Bier ein, bugsierte die Pizza auf einen Teller, der mal wieder viel zu klein war, holte Messer und Gabel aus der Besteckschublade und setzte sich an den Tisch. Mühselig schnitt er eine Stück vom Rand ab - doch wieder etwas zu hart geworden! - öffnete seinen Mund und schob das noch heiße Stück Pizza hinein. Just in dem Moment klingelte sein Handy, er sah, dass es Ingeborg war und meldete sich sofort. "Inge..org! ... ie ge.s ..ir??" Scheiß Pizza!!

"Wir haben ihn!!" Triumpf schwang in ihrer Stimme mit. "Klaus??"

Er beeilte sich, das Stück Pizza zu zerbeißen und mit einem Schluck Bier runter zu spülen. "Ja, bin da. Hatte gerade Pizza im Mund! Was ist??"

"Wir haben ihn, Klaus!"

"Wen haben wir?"

"Ruprecht Huber. Alias Pater Ruprecht. Er wurde gestern im Zug an der Grenze festgenommen! Du weißt, es gibt wieder Kontrollen in den Zügen! Hat der gute Mann sich wohl nicht überlegt, dass er da ein Risiko läuft."

Bei Klaus ging die Sonne auf. Zumindest symbolisch. "Im Zug? In was für einem Zug denn?"

"Er war unterwegs in einem Zug, der aus Rom kam! Stell dir mal vor, der muss in Italien gewesen sein...." Schwang da etwas in ihrer Stimme mit? Neugierde?

"Vielleicht war er bei seinem Verein, dieser komischen Bruderschaft? Was weiß ich...." Eigentlich alles, dachte er mit klopfendem Herzen.

"Ja, das ist die Frage...."

"Aber echt eine tolle Nachricht, Ingeborg. Du, entschuldige bitte, meine Pizza....."

"Aus Italien??"

"Hä?? Vom Penny!! Hahaha!" Er bemühte sich, ein Lachen hören zu lassen. "Und was jetzt? Ist er also wieder in Haft? Hoffentlich bleibt er diesmal dort!"

"Nun ja, es ist ja nicht mein Fall. Im Grunde genommen sind es ja zwei unterschiedliche Vorwürfe. Einerseits der wohl langjährige Missbrauch von Schutzbefohlenen, andererseits diese Fahrerflucht mit Todefolge, falls - FALLS - er das überhaupt gewesen ist. Es gibt noch keinen Untersuchungsbericht der KTU."

"Mord, wolltest du wohl sagen! Es liegt doch auf der Hand, dass er Thomas vorsätzlich angefahren hat. Wenn das kein Mord war, dann gute Nacht!"

Ingeborg schwieg. "Klaus, verrenn dich da nicht in etwas! Eine Mordanklage ist eine verdammt ernste Sache. Und wird wohl mehr als schwierig zu untermauern sein. Immerhin, ich tue, was in meiner Macht steht. Bin ja wieder im Dienst!" Wie um ihre Worte zu unterstreichen ließ sie ein hohles Husten hören. "Zumindest wieder im Archiv. Das hat sich während meiner Abwesenheit ja nicht von allein digitalisiert!"

Er hatte ein leckeres Stück geschafft, während Ingeborg redete. "Ja, danke, Ingeborg. Danke, dass du dich darum kümmerst. Ich weiß, du tust es für mich...."

Sie ließ ihm Zeit. Atmete etwas heftiger. "Klaus, ich habe eine kleine Bitte. Es... es ist mir wichtig. Ich möchte wissen...."

"Was möchtest du wissen?"

"Das Korsett, Klaus. Ich möchte wissen, wie das ist. Wie sich das anfühlt. Du hattest einmal gesagt, Monika hatte ein Korsett, das mir passen könnte?"

Augenblicklich klatschte der Regen wieder an das Küchenfenster. "Ja, das hatte ich gesagt. Aber..."

"Besorge es mir! Ich möchte, dass du mich in dieses Korsett schnürst! Bitte..."

Was ist mit dieser Frau los?? "Und wie stellst du dir das vor? Monika ist in Australien. Weit weg. Soll ich einfach zu ihrer Mutter gehen, klingeln und sagen, kann ich bitte mal Monikas Korsett ausleihen? Die Polizei möchte gern geschnürt werden??"

Ingeborg lachte. "Ja, das klingt wie eine gute Idee!" Sie schnaufte leicht. "Lass dir was einfallen, Klaus. Bitte. Dafür liefere ich dir auch deinen verdammten Pater ans Messer! Ruf mich an, wenn du so weit bist!!"

Klaus sah sein Handy an und überlegte, ob er es an die nächste Wand schmeißen sollte. Nein, besser nicht. Diese ganze Scheiße.... 'Es wäre einfacher, Sie würden den verlorenen Spaß wiederentdecken!' Stimmte das so? Würde es ihm Spaß machen, Ingeborg in dieses rotschwarze Lackkorsett einzuschnüren und dann die kleinen Schlösser daran zu befestigen? Seine Hand glitt wie von selbst zwischen seine Beine. Ja, es gab Anzeichen dafür, dass es ihm Spaß machen würde!

% % %

Ingeborg beendete das Gespräch und war gut mit sich zufrieden. Sie hatte ganz bewusst davon gesprochen, dass sie ihm den Pater ans Messer liefern würde, obwohl sie wusste, wie gering ihre Aussicht auf Erfolg war. Was hatten denn die Ermittlungen bis jetzt gebracht? Die Anklage wegen Pädophilie würde nicht viel bringen, hier stand ganz einfach Aussage gegen Aussage. Und Klaus Aussage war, bei aller Symphatie für das Leiden des jungen Mannes, wohl nicht viel wert. Man hatte nach weiteren Zeugen gesucht, aber wenn es überhaupt welche gab, wollten sie nicht aus ihrer Anonymität heraus oder sie hatten schlichtweg Angst vor einem langen Prozess, ausgefochten in aller Öffentlichkeit. Es war klar, welche Printmedien sich auf jeden Prozessteilnehmer stürzen würden.
Sie lachte etwas und schüttelte den Kopf, als ihr ein alter Spruch in den Kopf kam: 'BILD sprach zuerst mit der Leiche!' Es sah also nicht gut aus. Und das heimlich gedrehte Video, oben im Chinesischen Turm? Was genau hatte Huber da eigentlich gesagt? Hatte er hier jemals zugegeben, sexuellen Umgang gehabt zu haben? Mal ganz abgesehen davon, dass er auf dem Video nicht eindeutig zu identifizieren gewesen war, diese nur in Verbindung mit dem heimlich aufgenommennen Foto dieser Sanitäterin stattgefunden hatte. War das wirklich gerichtsfest?

Sie stand auf, räumte eine Akte weg, legte sie auf einen Rollwagen. Was konnte sie tun? Nichts, wenn sie ehrlich war. Einem Polizeibeamten sind so ziemlich die Hänge gebunden, wenn er nicht offiziell ermittelte. Mord, hatte Klaus gesagt. Es war ihre einzige Chance. Mord verjährt nicht. Aber gab es überhaupt Spuren, oder Indizien, die nach so langer Zeit noch aufgegriffen werden konnten? Sie musste die KTU anrufen, egal, ob sie nun an der Sache offiziell dran war, oder nicht.

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Und jetzt? Klaus war mehr als ratlos. Es war klar, was Ingeborg von ihm erwartete. Und es war klar, dass es nur einen Weg gab, das verdammte Korsett überhaupt zu bekommen!
Was auch immer du tust, es darf nicht in die Hose gehen, Klaus Behrend!! Seine innere Stimme war nicht zu überhören. Wenn, überlegte er, wenn Monikas Mutter mich erwischt.... Falscher Gedanke!! Sie darf dich nicht erwischen!!
Welche realistischen Optionen hatte er? Was steht immer am Anfang eines Verbrechens?? Quatsch, das ist ja kein Verbrechen. Höchstens ein kleiner Diebstahl. Sollte er wirklich auffliegen; Monika würde ihm bestimmt nachträglich aus der Patsche helfen. Auch wenn es schwer ist; wegen Australien und so. Aber Monikas Spruch 'Alle Wege führen nach Rom' war ja wohl in erster Linie sinnbildlich zu verstehen. Und sein Weg führte in dieser Sache über Ingeborg zu Pater Ruprecht. Ohne ihre Mithilfe hätte er von vornherein keine Aussicht auf Erfolg.

Er beschloss, das Nachbarhaus zu observieren. Wurden Fenster geöffnet? Konnte man Stimmen im Garten hören? Blieb das Haus dunkel, oder wurde abends Licht angemacht? Bloß nichts überstürzen!! Außerdem hatte er keine Ahnung, ob dort, im Schuppen unter einem Farbeimer, immer noch der Hausschlüssel lag. Wenn nicht, würde es ihm wohl kaum gelingen, das Haus zu betreten, ohne Spuren zu hinterlassen.
Wenn er überhaupt rein käme! Und dann? Wo sollte er denn suchen? Mit einer Taschenlampe durch die dunklen Flure und Zimmer laufen, ein Taschentuch über Mund und Nase gezogen, à la Dick Turpin? Oder warum nicht gleich mit so einer lächerlichen schwarzen Augenmaske, wie die Panzerknacker bei Onkel Dagobert??

Wie auch immer, es war nicht ganz unmöglich. Mit etwas Glück würde es klappen. Aber mit etwas Pech säße er ganz schön tief in der Scheiße!

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Ja, war die kurze Antwort gewesen, ja, es gebe Spuren. Spuren, die sich mit einiger Phantasie dem Unfallort in der Nähe von Bamberg zuordnen ließen. Die KTU hatte schlecht ausgebesserte Karosserieschäden entdeckt, eine kleine Delle, die notdürftig und sicherlich ohne großen Sachverstand ausgebeult worden war. Ein Lackschaden war überpinselt worden, nicht mit dem Originallack von Volkswagen in Leuchtorange, sondern mit einem ähnlich saturierten Nagellack. Was man leider nicht gefunden habe war der berühmte Gesichtsabdruck auf der Motorhaube... Ohne Geständnis, Frau Kollegin....

Ingeborg Wimmer hatte früher Feierabend gemacht. Ein Geständnis? Das ließe sich schon machen! Es war klar, dass die Sache schnellstens an die Staatsanwaltschaft übergeben werden müsste! Jetzt aber musste sie erst einmal sehen, dass sie mit ihrem eigenen Plan vorwärts kam.

Also, wie war das jetzt? Sie hatte sich ihren nur spärlich ausgerüsteten Werkzeugkasten geholt, entsprechendes Werkzeug gefunden und an die Arbeit gemacht. Womit sollte sie anfangen? Mit den leichten Dingen? Oder dem verdammten Deckenhaken? Für einen Moment wünschte sie sich, sie würde in einem schicken Loft mit hölzernen Deckenbalken wohnen, statt ihrer Betondecke. Aber wenigstens gab es in ihrer Wohnung eine wünschenswerte Deckenhöhe; wenn sie sich streckte waren es immer noch ein guter Meter bis zur Decke. Allemal ausreichend.
Eine Leiter hatte sie nicht. Also bugsierte sie mit einiger Mühe ihren Küchentisch in ihr Schlafzimmer, schob ihn zu einer geeigneten Stelle vor ihrem großen Spiegelschrank und kletterte hinauf, nachdem sie sich mit einer kräfigen Schlagbohmaschine bewaffnet hatte. Einer Maschine, die sie zuvor bei einem netten Nachbarn ausgeliehen hatte. Der kräftige Deckenhaken, den sie gekauft hatte, hatte eine Gewindelänge von 2 cm. Sie setzte den Bohrer an, nachdem sie zuvor mit einem Nagel eine minimale Delle in die Decke geschlagen hatte, dann schaltete sie den Bohrer ein, drückte, was das Zeug hielt, ein Erdbeeben konnte kaum schlimmer sein, Bohrstaub geriet ihr in die Augen, sie konnte kaum etwas sehen, drückte fester, hatte das Gefühl, vorwärts zu kommen, dann stellte sie den Bohrer aus.
Pfui Teufel! Ingeborg rief sich den Dreck aus den Augen, ja, immerhin ein Loch, wie tief mochte es sein? Sie steckte einen Bleistift hinein, nur ein Zentimeter, nicht gerade üppig. Doch der Haken passte., er ließ sich mit einiger Mühe in das Loch schrauben, optimal war es nicht, aber es musste ganz einfach halten. Sie zog das Seil, das sie gekauft hatte, durch die Öse des Hakens, zog daran, erst vorsichtig, dann immer kräftiger - es hielt.
Wesentlich einfacher war es, die beiden Lederriemen an den Enden der Holzstange anzubringen. Mit einer Aale bohrte sie Löcher in das kräftige Leder, zwei Schrauben ließen sich mit leichtem Kraftaufwand in das Holz bohren; fertig. Ebenfalls kein Problem machte der zweite Haken, den sie genau in der Mitte der Stange einschraubte und an dem sie nun das eine Ende des Seils anknotete. Fertig!
Ingeborg stellte den Tisch zurück in die Küche, dann testete sie die Apparatur, so gut es eben ging. Sie schnallte den einen Lederriemen fest um ihr linkes Handgelenk, dann zog sie mit der Rechten so am frei herab hängenden Seil, dass ihre Hand nach oben gezogen wurde. Gut, das funktioniert ja prima! Sie bemerkte ein leises Kribbeln an strategischer Stelle. Wenn Barbara jetzt hier wäre, sie würde ihre rechte Hand auch festschnallen und sie dann hochziehen und... und...
Und wo soll sie das Seil befestigen?? Ingeborg sah sich um. Es blieb eigentlich nur ihr Bett. Genau, Barbara müsste das Seil an ihrem Bett befestigen, eine andere Möglichkeit gab es leider nicht. Und dann wird sie mich in das Korsett einschnüren, bis mir die Luft weg bleibt, und ich kann nichts dagegen tun, weil ich da hilflos aufgehängt bin!! Der Gedanke an die bevorstehende Aktion ließ sie schaudern. Es schnürte ihr den Magen zu, sie begann heftig zu atmen. Beruhige dich, Ingeborg, sagte sie zu sich selbst. Vielleicht macht Barbara doch noch einen Rückzieher, oder sie springt diesmal wirklich in die Isar. Sie würde warten müssen.

44. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 04.03.18 23:03

Ach, jetzt habe ich es doch verpasst! Tut mir leid. War gerade sehr beschäftigt gewesen!

Heute werde ich mit meinem Text wohl keinen Blumentopf gewinnen! Eingeklemmt zwischen SPD-Mitgliederentscheid und OSCAR Vergabe. Aber, liebe Leser, nur Geduld, die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Und vielleicht gibt es ja doch den einen oder anderen, der sich heute über meinen Text freut.... und über das Ende eines eisigen Spätwinters!

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München, Mitte Juli

Er hatte sich nicht getraut! Nein, Klaus hatte sich nicht getraut, einfach hinzugehen und zu fragen, ob er mal das schwarz rote Lackkorsett haben könnte? Sie wisse schon, welches er meine? Das Korsett, das man so schön abschließen konnte? Es wäre vielleicht für ihn die einfachere Lösung gewesen. Vielleicht sogar die bessere Lösung. Denn er konnte davon ausgehen, dass es nicht geklappt hätte. Keine Chance, hätte er Ingeborg sagen können, und diese ganze Sache wäre ins Wasser gefallen. Denn, dass Ingeborg, mit ihrem schmalen Kommissarsgehalt, sich irgendwo für mindestens 400 Euro ein Korsett maßschneidern lassen würde, das konnte er sich nicht vorstellen.
Aber er hatte nicht so gehandelt. Je mehr er darüber nachgedacht hatte, umso mehr begann der Gedanke, ihn zu erregen. Er versuchte, sich zu erinnern. Daniela hatte es getragen! Aber wann?
Die Erinnerung kam nicht sofort. Ja, Daniela hatte das rote Lackkorsett damals getragen. Er erinnerte sich, sie war mit Barbara zusammengefesselt gewesen. Monika hatte es so eingerichtet. Monika, die damals mit ihm - als Barbara - scheinbar tun und lassen konnte, was sie wollte. Und auch mit Daniela. Wann mochte das gewesen sein? Sicherlich nicht in den ersten Herbstferien, als er Daniela kennen gelernt hatte? Wann war sie das zweite Mal in München? In den darauf folgenden Osterferien vielleicht? Frust hatte sich damals bei allen breit gemacht. Frust besonders bei ihm, weil Monika ihn gezwungen hatte, diesen Keuschheitsgürtel zu tragen. Sie hatte ihn in der Hand.... dieses Video, nachdem er mit Daniela....

Die Erinnerung sträubte sich. Daniela war bei ihm gewesen, hatte ihn gebeten, das Korsett aufzumachen. Er hatte es tun wollen, aber es ließ sich nicht aufschnüren und schon gar nicht abnehmen, Daniela kämpfte mit der Atemlosigkeit, am Ende war sie ohnmächtig geworden, dort im Schuppen... Und Monika? Er und Daniela hatten gesehen, wie der Blechsarg aus der Kirche herausgetragen wurde.
Er wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Der Sommer war mit hohen Temperaturen nach München zurückgekehrt. Schwitzte er deshalb, oder weil er sich erinnerte?

Klaus hatte tagelang keine Gelegenheit versäumt, das Nachbarhaus zu observieren. Er hatte es vom Garten aus getan, auf Geräusche geachtet, die hätten kommen müssen; hatte lange auch oben im kleinen Kabuff, das Monikas aus Australien stammender Vater sich dort oben im Haus seiner Großmutter eingerichtet hatte, aus dem schmutzigen Giebelfenster gespäht. Nichts. Licht wurde nicht angemacht, Fenster nicht geöffnet, Rollläden nicht hochgezogen.

Es war niemand da! Es hatte lange gedauert, bis diese Einsicht zu ihm durchgesickert war. Es gab wirklich nur zwei Möglichkeiten: entweder Monikas Mutter war nicht zu Hause, oder sie lag tot in ihrem Bett und niemand hatte es bisher bemerkt. Sollte er es wagen?
Und wenn man ihn doch erwischte? Würde man ihm glauben, dass er eigentlich nur auf Wunsch einer Kriminalbeamtin hier eingebrochen war??

Klaus wusste, dass zuviel Nachdenken in diesem Fall auch nicht gesund war. Manchmal musste man ein Risikon eingehen. Zufälligerweise fielen ihm wieder die alten Filmaufnahmen ein, der er am 6. Juni auf einem Bildschirm in Rom gesehen hatte. Die amerikanischen Soldaten damals, die aus ihren Landungsbooten heraus auf den unter starkem Beschuss liegenden Strandabschnitt von Omaha Beach stürmten, hatten die nicht auch ein unkalkulierbares Risiko eingegangen? Wäre Europa jemals vom verdammten Nationalsozialismus befreit worden, wenn diese Männer damals gesagt hätten, no, das Risiko ist mir zu hoch??

Er atmete tief durch. Hör endlich auf zu denken, Klaus Behrend. Du machst dich ja total verrückt. Geh jetzt da rüber, kriech durch den kaputten Gartenzaun, hol den Schlüssel aus dem Schuppen und besorge dir dann das blöde Korsett! Am Ende verliert Ingeborg noch die Lust an dem ganzen Fall mit dem scheiß Pater.... Er schloss die Augen; seine innere Stimme war laut und deutlich gewesen. Also los!

Klaus wartete bis neun Uhr abends. Es war noch hell, als er durch das Loch im Zaun schlüpfte. Mittlerweile war er sich ziemlich sicher, dass Monikas Mutter verreist war. Und so spät würde sie wohl nicht aus dem Urlaub nach Hause kommen.
Vorsorglich hatte er sich dunkle Sachen angezogen; man konnte ja nie wissen, wer gerade heute Abend aus einem Fenster blickte oder mit seinem Hund Gassi ging. Der Schuppen war unverschlossen. Das spärliche Licht, das durch die verdreckten Fenster fiel, reichte ihm aus, sich schnell zu orientieren. Niemand schien in den vergangenen Jahren Farbe gebraucht zu haben, immer noch standen mehrere bekleckerte Dosen im Schuppen. Klaus musste unter mehreren Dosen nachsehen, bis er Glück hatte und den Schlüssel fand.

Die Haustür lag zur Straßenseite hin. Aber auf der Straße war es ruhig, niemand kam vorbei, niemand würde ihn beobachten. Er musste ein leichtes Zittern seiner Hand unterdrücken, als er aufschloss, die Tür öffnete und eintrat. Es war dämmrig, die Straßenseite lag im Schatten. Die Luft roch abgestanden.
Er würde in Monikas Zimmer suchen müssen. Fand er das Korsett dort nicht, könnte es schwierig werden. Er huschte die Treppe hoch, fand das Zimmer und trat ein. Schnell sah er sich um.
Das Zimmer war aufgeräumt. Das Bett war verstaut. Nichts war außergewöhnlich, bis auf den Bilderrahmen, der umgedreht auf einem Regal lag. Klaus hob ihn hoch, er zeigte ein Kinderbild von Monika mit ihrer Mutter. Wer mochte es aufgenommen haben? Vielleicht der Vater? Hatte er damals bereits ein Auge auf seine kleine Tochter geworfen? Hatten die schlimmen Ereignisse damals bereits ihren Anfang genommen?

Klaus öffnete eine Schranktür, es roch noch ein wenig nach Monika, stellte er fest. Scheinbar hatte niemand mehr diesen Schrank lange Zeit geöffnet. Etwas fiel polternd zu Boden. Klaus nahm es auf und erkannte sofort die Zwangsjacke, die Daniela damals getragen hatte, als Monika ihm ihre Falle gestellt hatte. Er legte sie zurück in den Schrank, durchsuchte einige Fächer und mehrere Schubladen, bis er endlich fand, wonach er gesucht hatte. So ein Blödsinn, überlegte er, würde es Ingeborg überhaupt passen? Aber passte ihr nicht auch Danielas Keuschheitsgürtel? Ihm war längst klar geworden, woher Ingeborg ihren stählernen Gürtel und BH überhaupt hatte.
Er bemühte sich, keine Spuren seiner Anwesenheit zu hinterlassen, dachte sogar daran, das Bild wieder so hinzulegen, wie es gelegen hatte. Dann nahm er das steife Korsett, rollte es zusammen und steckte es unter seinen dünnen Pullover. Wenig später verschloss er die Haustür, legte den Schlüssel zurück unter den Farbeimer, wo er ihn gefunden hatte, dann kroch er zurück durch das Loch im Zaun. Es war geschafft!

% % %

"Wir haben es!!" Ingeborg Wimmer war für den Moment im Unklaren, wer was hatte. Es kam selten vor, dass sie auf ihrem Dienstapparat angerufen wurde, die direkte Durchwahlnummer war nur wenigen bekannt, und diese meldeten sich normalerweise mit ihrem Namen und/oder der diesbezüglichen Dienststelle.

"Wie bitte? Wer hat was?" stotterte sie in den Apparat.

"Ingeborg? Wir haben das Korsett!" Sie erkannte Klaus Stimme; die Worte brauchten etwas länger, in ihr Bewusstsein zu sickern.

"Korsett...??"

"Ja. Ich habe es ge..., äh, geborgt. Das ab...., äh, das Korsett von Monika. Du wolltest es einmal ausprobieren, wie es ist, geschnürt zu werden!"

Diese Worte überspülten sie wie eine Riesenwoge. Oder wie ein Tsunami? fragte sie sich. Sie hatte, nachdem sie die Vorrichtung in ihrem Zimmer eingebaut hatte - eigentlich war es ja nicht mehr als der eiserne Haken, den sie halbwegs in ihre Betondecke bekommen hatte! - alles wieder hübsch weggepackt und - vergessen! Das kommt vor, kein Fetisch ist ständig aktiv, alles kommt in Wellen, jetzt aber war er gerade mit einer Riesenwelle wieder zurückgekommen! Für einen Moment verkrampfte sich ihre Hand um den Telefonhörer, Bilder einer hilflosen Frau traten vor ihre Augen, sie musste tief Luft holen, musste die plötzliche Erregung irgendwie zurückdrängen, aber es war ihr, als hinge sie jetzt schon unter ihrer Fessekonstruktion und....

"Ingeborg?? Bist du noch da?"

Sie versuchte, sich zu sammeln. "Ja, bin noch da! Warum rufst du mich nicht auf meinem Handy an??"

"Hab ich versucht, Ingeborg. Gleich mehrmals heute Vormittag. Bist aber nicht dran gegangen!"

Ach, Mist, jetzt fiel es ihr wieder ein. "Scheiße, hab vergessen, es nach dem Laden in die Tasche zu stecken! Aber hier...."

Er unterbrach sie. "Wieso? Wird dein Diensttelefon abgehört? Glaubst du, dass jemand was dagegen haben könnte, dass du während der Arbeit ein Korsett trägst? Du sitzt doch eh nur da unten rum und blätterst in deinen Akten!"

Ihr Mund war trocken. "Nichts." Sie überlegte, was jetzt als Nächstes kommen sollte. "Und jetzt? Was machen wir jetzt?"

Ein leises Lachen war die Antwort. "Jetzt treffen wir uns und ich helfe dir dabei, das steife Ding anzuziehen! Ich habe schließlich so einiges riskiert, um es für dich zu besorgen. Mitgegangen, mitgehangen, Ingeborg!"

"Jetzt? Ich muss arbeiten!" Blöde Antwort, Ingeborg!

"Natürlich nicht jetzt! Aber Samstag, oder Sonntag. Wie es dir am besten passt!"

Irre Bilder tanzten vor ihren Augen. Wieder begann ihr Herz heftiger zu schlagen. Sie sah Handgelenke, die an eine solide Stange geschnallt wurden. Hände, die einen festen Griff an der Stange suchten, die nun hochgezogen wurde. Füße, die unsicher in turmhohen Ballettstiefeln schwankten..... Die Schuhe brachten sie wieder zur Vernunft. Solche Schuhe hatte sie gar nicht. Sie hatte nur mal Bilder davon gesehen, junge Frauen, die man zwang, mit solchen Dingern an den Füßen auf einem Laufband zu laufen.
Sie schüttelte den Kopf. Dummes Zeug, Ingeborg! Dreh hier mal nicht durch! Aber es war verdammt schwierig, nicht durchzudrehen!

"Ingeborg??"

"Ja, ich... äh...." Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Im Grunde genommen wusste sie nicht einmal, was sie denken sollte.

"Samstag? Oder Sonntag? Du kannst es natürlich auch allein machen, wenn dir das lieber ist." Seine Stimme verriet ihn. Es wäre keine Option für ihn.

"Nein nein!! Da werde ich ganz bestimmt deine Hilfe brauchen!" Sie hatte es hastig hervorgestoßen. Es ging nicht ohne Hilfe. Diese Hilflosigkeit.... "Samstag! Ja? Wäre Samstag denn passend? Glaubst du....?" Ingeborg ließ die Frage im Raum hängen. Sie konnte es nicht aussprechen.

"Glaube ich.... was??" Ist er schon genervt? Wie weit kann ich gehen?

"Glaubst du, dass Barbara am Samstag Nachmittag für mich Zeit hat? Wird sie mir helfen können....., also mit dem Korsett?" Sie hielt die Luft an.

Er antwortete nicht. Ingeborg presste den Hörer an ihr Ohr, war da etwas zu hören, etwas anderes außer dem Knistern der Leitung? Nein, nichts.Wenn er jetzt auflegt, dann ist alles vorbei! ALLES! Perdu! Er darf einfach nicht auflegen!!!"

Klaus räusperte sich, es klang angestrengt, wirkte alles andere als natürlich. "Ich werde sie fragen", antwortete er nach langem Zögern. "Also gut. Will dich dann nicht länger von der Arbeit abhalten! Bis in drei Tagen also!" Er legte auf.

Auch Ingeborg legte mit zitternder Hand den Hörer zurück auf ihr Telefon. Arbeit? Sie würde vor Samstag kaum noch etwas Vernünftiges zustande bringen!


% % %

Barbara!! Immer wieder Barbara! Es tat seinem männlichen Ego nicht sehr gut, dass alle Frauen immer nur mit Barbara zu tun haben wollten. Erst Monika, jetzt Ingeborg. Evelyn auch irgendwie. Nur Daniela war die Ausnahme gewesen. Daniela!! Ich bin schuld.... Er konnte es nicht abstreifen. Hätte er anders gehandelt, sie würde wohl noch leben. Aber an jenem Zeitpunkt, als sie von der Brücke hinab in die eisigen Fluten der Isar stürzte, war es bereits zu spät gewesen. Ja, er hatte falsch gehandelt, aber schon viel früher! Als es zu der Auseinandersetzung bei der GeiDiGaudi gekommen war?? Er überlegte. Nein, viel früher. Als Daniela ihn in seiner kleinen Dachwohnung aufgesucht und gebeten hatte, mir ihr zusammen hinzugehen, aber als Klaus, nicht als Barbara. Hätte er doch bloß auf sie gehört!! Und Stunden später war sie tot.....

Und jetzt? Hatte er etwas aus dieser schrecklichen Erfahrung gelernt? War er dabei, wieder einen Fehler zu machen? Er würde den verlorenen Spaß wiederfinden, koste es, was es wolle.
Klaus ging in sein Schlafzimmer. Er hatte das Korsett ziemlich achtlos in eine Ecke geworfen, so, als ließe sich sein Diebstahl ungeschehen machen, wenn er alles einfach ignorierte. Er hob es auf, nahm es mit ins Wohnzimmer, wo er es unter einer altmodischen Stehlampfe genauer untersuchte. Auffallend war, es hatte nicht die übliche Planchette, sondern einen sehr kräftigen Reißverschluss. Er probierte ihn aus, er ließ sich mühelos schließen und wieder öffnen. Neben dem Reißverschluss war auf der rechten Seite eine verstärkte Leiste angebracht, die sich über den Reißverschluss klappen ließ und diesen verdeckte; wenn man dies getan hatte konnte man oben den Griff des Reißverschlusses über einen angebrachten Dorn legen, welcher ein kleines Loch hatte; hier ließ sich ein kleines Vorhängeschloss einhaken. Verschloss man es, konnte man die Leiste, die den Reißverschluss verdeckte, nicht mehr zurückklappen, und auch der Schieber selber ließ sich nicht mehr bewegen.
Er drehte das Korsett um und betrachtete die sonderbare Rückenschnürung. Diese war ganz normal, konnte aber mit zwei stark versteiften Patten so abgedeckt werden, dass es unmöglich wäre, die Schnürung irgendwie zu lockern oder gar zu öffnen.
Er wollte sich die Kontruktion genauer ansehen. Aus dem Sofa holte er ein furchtbares, mit Fransen verziertes Kissen, das gewiss schon bessere Tage gesehen hatte. Er öffnete wieder den Reißverschluss, breitete das Korsett auseinander und legte es so auf das Kissen. Dann vershloss er wieder den Reißverschluss, jetzt guckte das Kissen mit seinen lächerlichen Fransen oben und unten aus dem Korsett hervor. Klaus drehte die Konstruktion herum, ordnete die Schnüre der Rückenschnürung, die etwas durcheinander geraten waren, und begann, die Schnürung zu schließen. Einige Male musste er die Schnur nachziehen, sie glitt ohne große Mühe durch die metallenen Ösen, die dicht an dicht angebracht waren.
Als das Korsett bis auf einen kleinen Spalt geschlossen war, machte er eine Schleife, zog die Bänder zu einer passenden Länge, wickelte sie sich um eine Hand und verstaute sie dann in einer kleinen Stofftasche, die innen an der rechten Patte angenäht war.
Die cirka zwei Zentimeter breite Patte endete in einen etwa dreißig Zentimeter langen Gurt, der ebenfalls stark versteift war. Klaus untersuchte das Material, konnte aber nicht sagen, ob es sich um kräftiges Plastik oder sogar eine dünne Metalleinlage handelte, da alles vom schwarzen Lackleder verdeckt war.
An der Basis der linken Patte war ein schmales Loch. Durch dieses schob er den Gurt; jetzt legte sich die rechte Patte fest über die Schnürung. Nun ließ sich auch die linke Patte über das Ganze legen, beide Gurte trafen sich auf der Vorderseite des Korsetts, wo über einem weiteren, mit einem Loch versehenen, Stift zusammen kamen, der nun ebenfalls mit einem kleinen Schloss abgeschlossen werden konnte. Auch dieser Stift befand sich auf der vorderen Leiste, die den Reißverschluss abdeckte. So verschlossen war dieses Korsett absolut ausbruchsicher!

Seine Oma musste ein Maßband haben! Er suchte in einem der Schränke, fand schließlich ein zusammenklappbares Nähschränkchen und darin auch ein Maßband. Er legte es um die Taille, weil er wissen wollte, wie eng man dieses Korsett schnüren konnte. 55 cm! Das war verdammt eng! Er wusste nicht mehr, hatte Daniela es damals ganz zugeschnürt gehabt, als sie es an jenem Tag trug, als sie an ihn gefesselt war und Monika in der Osternacht beinahe verreckt wäre? Sie hatte ihn gebeten, das Korsett zu lockern, aber da hatte es nichts zu lockern gegeben. Es war bei diesem Korsett schlichtweg unmöglich, an die Schnürung zu kommen, sobald es einmal mit den kleinen Schlössern abgeschlossen war. Er wusste nur noch, dass Daniela kaum Luft bekam und am Ende, in genau jenem Schuppen, wo der Schlüssel unter dem Farbeimer lag, wohl ohnmächtig geworden war.
Würde es denn Ingeborg passen? War die durchtrainierte und ältere Polizeibeamtin nicht kräftiger gebaut als Daniela? Und der Keuschheitsgürtel? Der ließ sich verstellen, das hatte er vergessen.
Klaus lachte leise vor sich hin. So eine blöde Frage! Natürlich würde es passen! Es war ja ein Korsett, und er war wohl kräftig genug, sie ordentlich einzuschnüren! Ja, das würde ihm bestimmt Spaß machen!!


% % %

Samstag. Samstag! SAMSTAG!! Ingeborg litt schon jetzt an Atemnot, wenn sie bloß an Samstag dachte. Und konnte irgendwie an gar nichts anderes mehr denken. Samstag Nachmittag würde Barbara ihr das steife Korsett um die Taille legen, hinter sie treten und dann....
Sie zitterte. Jedes Mal, wenn sie sich den Moment bildlich vorstellte, kam sie nicht weiter. Jedes Mal begann sie, unkontrolliert zu zittern. Was ist los, Ingeborg Wimmer?, fragte sie sich. Ist es nicht genau das, was du willst?

Sie kam nicht weiter. Der Donnerstag ließ sie, dank eines Haufens Arbeit, noch halbwegs zur Ruhe kommen, aber bereits der Freitag war schlimm. Sie war nur noch ein Nervenbündel, konnte sich überhaupt nicht mehr konzentrieren; schließlich beschloss sie, eine Stunde eher Feierabend zu machen. Der falsche Entschluss, wie sich alsbald zeigte. Kaum, dass sie zu Hause war, schienen die Zeiger ihrer Uhr fest zu stehen. Es wäre besser gewesen, sie hätte die ganze Nacht im Präsidium durchgearbeitet.
Sie hatte Hunger, bekam aber von dem, was sie gekocht hatte, kaum einen Bissen herunter. Vielleicht besser so, dachte sie, Barbara könnte mich nicht fest genug schnüren, wenn ich jetzt noch viel äße....

Hatte sie diese 'Replik' nicht schon einmal gehört? 'Du kannst mich nicht fest genug schnüren, wenn ich jetzt esse. Stell dein Tablett ab und komm lieber her und schnüre mich fester. Nachher will ich versuchen, etwas zu essen!' Wie oft hatte sie den Film 'Vom Winde verweht' schon gesehen? Unzählige Male. Aber immer noch erinnerte sie sich an das erste Mal, ein junger Teenager war sie gewesen, ein Mädchen, das von großen Reifröcken und engen Korsetts träumte und sich wunderte, wie man sich in solchen Kleidern wohl fühlt.
Fest genug? Barbara sollte sie morgen fest genug schnüren können? Wofür eigentlich? Sie hatte kein Kleid, das in der Taille so eng war, dass es nur über einem fest geschnürten Korsett getragen werden konnte. Was erwartete sie denn eigentlich? Sie würde Barbara sagen, wann es fest genug war, dann würde diese eine Schleife machen, die Bänder vermutlich oben unter den Rand des Korsetts stopfen und dann... hm?
Hatte sie irgendetwas übersehen? Vielleicht ließ sich dieses Korsett gar nicht fest genug schnüren? Wenn es so ein billiges Ding von der Stange war? Bloß nicht! Ingeborg biss sich nervös auf die Unterlippe. Das wäre Mist. Ganz großer Mist! Ich will schon fühlen, wie das ist, wenn man in so einem richtigen Korsett drin steckt!

Irgendwie hatte sie es bis zu den Tagesthemen geschafft. Sie hatte ihre Vorrichtung im Schlafzimmer zig Mal überprüft, es wäre ja blöde, wenn alles zusammenbrach, wenn sie darunter stand.
Sie sah nicht hin, wer wieder einmal irgendwo in der Welt Schlimmes getan hatte. Ändern ließ es sich sowieso nicht. Die Menschen waren und blieben schlecht, als Polizistin wusste sie ein Lied davon zu singen. Einfach nur schlecht, nicht einmal böse. Viele Straftäter hatte sie vernehmen müssen, die Böses bis hin zu Kindesmisshandlung, Gewalt in der Ehe und sogar Mord begangen hatten, sich dessen aber nicht wirklich bewusst werden wollten. Und hatte ihre Religion nicht bereits zweitausend Jahre lang versucht, das Böse zu besiegen? Sie musste lachen. Es würde bestimmt noch einmal zweitausend Jahre dauern, bis in der Hölle das Feuer ausging!

Morgen! Morgen wird Barbara kommen und das Korsett mitbringen! Sie wird mich am Schnürbalken festschnallen, mir dann das Korsett umlegen und es dann schnüren, bis es eng genug ist!
Und dann? Hätten sie dann Sex miteinander? Vielleicht trägt Barbara auch mal wieder ihr Korsett? Sie hatte sie lange nicht mehr damit gesehen. Überhaupt hatte sie Barbara lange nicht mehr gesehen! Wie das wohl wäre? Zwei eng geschnürte Leiber... aufeinander... Wenn Barbara keinen Keuschheitsgürtel trägt, sie könnte....
Ingeborg schüttelte den Kopf. Sie ging an ihren Schrank, fand einen anständigen Whisky, goss sich davon etwas in ein Glas, das musste reichen. Nur, um besser schlafen zu können! Sie merkte, dass sie feucht wurde. Sollte sie ihren Keuschheitsgürtel anlegen? Ihre Hand war schneller. Heute eher nicht! Und sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf.

Samstag, Mitte Juli

Klaus wachte mit einem ordentlichen Brummschädel auf. Auch er hatte abends, um die Nerven zu beruhigen, etwas trinken müssen, aber in den Vorräten seiner verstorbenen Großmutter nur süße Liköre gefunden. Sie schmeckten ihm, und so hatte er wohl ein wenig zu viel von dem Zeug getrunken.

Heute also! Seine Hand tastete unter die Bettdecke; ja, es lag noch da, genauso wie er es gestern Abend hingelegt hatte. Genauso, wie ich mich gestern Abend daraufgelegt habe!, korrigierte er sich. Er hatte lange überlegt, ob er das Korsett einmal selber anprobieren sollte - immerhin war Barbara enge Korsetts durchaus gewöhnt, aber etwas war an dem Gedanken nicht richtig, passte nicht ins Bild, wollte ihn nicht zusätzlich stimulieren. Dieses furchtbare Korsett sollte Ingeborg vorbehalten bleiben; außerdem wollte er nicht die Erinnerung an seinen Abend mit Daniela kaputt machen, und Barbara hatte ihre eigenen Sachen.

Trotzdem hatte er den Wunsch, es an seinem Körper zu spüren. Und hatte es schließlich auf seinem Bett ausgebreitet und sich nackt, wie er war, darauf gelegt. Hatte er deswegen unruhig geschlafen und verrücktes Zeug geträumt?

Er stand auf, sein Kreislauf würde einen starken Kaffee benötigen. Heute also! Es störte ihn etwas, dass Ingeborg ihn gefragt hatte, ob Barbara Zeit für ihn hätte. Er bemühte sich, zu verstehen, warum die Frauen, die er kannte, immer so sehr auf sein weibliches Alter Ego abfuhren, konnte sich aber nur oberflächliche Erklärungen geben. Bestand da eine Art weiblicher Dominanz, wenn er als Mann in die Rolle einer Frau schlüpfen musste? Er hatte nie viel darüber nachgedacht. Damals, als kleines Kind, da waren die Kleider seiner Schwester wohl die Rettung für ihn gewesen; Böses war ihm fremd in dem Alter. Erst später dann, als Monika eine Barbara aus ihm gemacht hatte, hatte er bei ihr die Lust ihres dominanten Verhaltens spüren können. Und Ingeborg?? Es war klar, sie akzeptierte Klaus, aber sie liebte Barbara. Es war schlichtweg zum Verrücktwerden!

Eine heiße Dusche und ein ordentlicher Kaffee später ging es ihm körperlich besser. Seelisch nicht. Immer noch grübelte er, war es richtig, was er vorhatte? Tat er denn nicht bloß etwas, was Ingeborg sich lange gewünscht hatte? Etwas Hilfestellung? Ein Freundschaftsdienst? Tat er es denn nicht bloß für sie?
Klaus fischte zwei Toastscheiben aus dem Toaster, den er gekauft hatte, schmierte Butter und Marmelade darauf. Nachdenklich begann er zu essen.

Wie ist das, wenn man etwas tut? Ist es überhaupt möglich, die eigenen Person ganz in den Hintergrund zu stellen? Dieses: Ich tue es für dich!, gibt es das überhaupt? Oder war da nicht doch etwas an dem alten Spruch, dass einem das Hemd näher ist als der Rock??

Rock! Er musste sich anziehen. Konnte nicht den ganzen Tag nur so in Unterwäsche herumlaufen. Und was sollte er anziehen? Klaus seufzte laut. Am liebsten hätte er ein brennendes Streichholz an Barbaras Sachen gehalten. Weg, nur weg mit dem ganzen Scheiß!! Aber er wusste, es würde nicht gehen. Nicht, solange Barbara immer noch da war.

Er hatte noch Zeit. Konnte noch darüber nachdenken, was er anziehen sollte. Klaus, oder Barbara? Wem von beiden würde es nachher mehr Spaß machen, Ingeborg in das enge Korsett einzuschnüren, enger, immer enger, auch wenn sie vielleicht schon um Erlösung bat? Barbara war sinnlicher, aber Klaus war der Stärkere. Auch wenn es verrückt klang. Hätte Barbara überhaupt die Kraft zum Schnüren? Klaus ja, da gab es keinen Zweifel. Aber er musste an etwas anderem zweifeln. Klaus konnte er nicht mehr hundertprozentig trauen. Nicht, seitdem er in jener schlimmen Sturmnacht Ingeborg sich selber überlassen hatte und bereit gewesen war, sich in die Isar zu stürzen. Klaus wäre ein Risiko. Und Barbara? Da war immer dieser Wunsch, sich zu unterwerfen. Barbara war eine geborene Sub. Am Ende würde sie Ingeborg bitten, sie in das Strafkorsett einzuschnüren und die Schlüssel wegzuwerfen!
Strafkorsett?? Ja, das war es wohl. Ist es nicht immer im Leben eine Frage von Schuld, Strafe und Versöhnung? Er wusste es nicht. Er wusste eigentlich gar nichts mehr. Nur, dass es jetzt wohl kein zurück mehr gab. Ingeborg wartete auf ihn. Aber auch das wusste er nicht ganz genau.

45. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 11.03.18 22:56

Könnte bitte mal jemand warme Frühlingsluft in meine Richtung pusten?? Na, wenigstens der Schnee ist jetzt mal weggetaut!! Im Moment habe ich leider die Lust an meiner Geschichte etwas verloren; der März ist immer so ein Monat, wo es ans Eingemachte geht. Und es ist ein halbes Jahr her, dass ich all dies hier geschrieben habe. Jetzt wird ja nur noch veröffentlicht. Aber bald ist dann auch mit dieser Geschichte Schluss!

Dir, lieber Maximilian, wünsche ich gute Besserung! Danke, dass du dich gemeldet hast!

Jetzt wünsche ich allen eine hoffentlich spannende Lektüre!

Eure Daniela 20

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Schon Mittag?? Ingeborg sah ungläubig auf ihren Wecker. Wann war sie endlich eingeschlafen? Sie wusste es nicht mehr. War es 2 Uhr gewesen? 3 Uhr? Sie erinnerte sich nur noch, dass bereits helles Tageslicht durch den dünnen Stoff ihrer Vorhänge drang, ebenso hatte bereits ein lärmender Vogelchor eingesetzt. Erstaunlich, denn wo kommen bloß die ganzen Vögel her? Tagsüber sieht man sie kaum; noch weniger hört man sie.

Heute!! GLEICH!! Die Erkenntnis brach wie ein Steinbruch über sie hinein. NEIN!!! Ihre Hand griff zum Telefon, sie suchte Klaus Nummer. Ich muss es stoppen! Bevor er von zu Hause abfährt! Sie blickte auf das Display, die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Herrgott! Was ist denn bloß los? Sie quälte sich hoch, ihr Körper war wie Gelee, jetzt wusste sie es, sie hatte zu viel getrunken, hatte es nicht steuern können.
Konnte sie denn überhaupt noch etwas steuern? Ihre eigenen Gefühle hatte sie längst schon nicht mehr im Griff. Sie merkte, dass sie anfing, zu hyperventilieren! Beruhige dich, Ingeborg! Es ist doch nur ein blödes Korsett! Und das mit der Fesselung am Schnürbalken, du musst es nicht tun! Niemand weiß davon. Du kannst es wieder abbauen, niemand wird jemals davon erfahren, was du vorhattest!

Sie blieb lange unter der Dusche. Beobachtete ihre Haut, ließ das warme Wasser über ihre Brustwarzen fließen. Es tat soo gut! Ingeborg trocknete sich ab, hüllte sich in ihren weißen Bademantel. Weiß, die Farbe der Unschuld! Aber weiß war der alte Bademantel schon lange nicht mehr. Es war komisch, je öfter sie ihn wusch, umso grauer wurde er!! Da stimmt doch was nicht!
Ingeborg hatte Hunger. Kein Wunder, denn seit Mittwoch hatte sie nicht mehr richtig gegessen. Ein Fehler? Sie musste essen, wollte sie nicht zusammenklappen, bevor der Spaß überhaupt begonnen hatte! Sie kochte sich einen Tee, legte ein Brötchen auf ihren Toaster. Wurst und Käse holte sie aus dem Kühlschrank, dazu die übliche Packung Kärgarden.

Sie würde ihn anrufen. Sich entschuldigen. Von einem dummen, unüberlegten Plan sprechen. Von ihrem Wunsch, einmal solch ein regides Korsett am eigenen Leib zu spüren, ein Kindertraum, mehr nicht. Und sie würde Barbara zum Essen einladen.
Langsam beruhigte sie sich. Nach dem sehr späten Frühstück ging sie zurück in ihr Schlafzimmer. Griff nach der hölzernen Stange, wollte das Seil aus dem Haken in der Decke ziehen. Sie betrachtete die ledernen Riemen, die sie an den Enden der Stange angebracht hatte. Legte den einen um ihr linkes Handgelenk, schnallte ihn mit der anderen Hand fest. Hielt dann auch das andere Handgelenk an den rechten Riemen. Bitte, hätte sie gesagt, bitte schnall mich fest! Und dann zieh am Seil und binde es am Bettgestell fest!

Sie befreite sich wieder. Atmete tief ein und aus. Sie müsste sich anziehen. Konnte nicht den ganzen Tag so bleiben. Zieh dich an, Ingeborg. Zieh dir eine Hose an und ein Top und geh nach draußen! Nimm deine Badesachen mit! Geh schwimmen!!
Ingeborg öffnete ihren Schrank. Bückte sich nach Schuhen, die sie ganz unten aufbewahrte und bekam eine Tüte in die Hand, die sie längst vergessen hatte. Sie nahm den Inhalt heraus, legte beide Teile auf den Tisch und betrachtete sie. Zwei Teile, die alles ändern sollten.

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Klaus starrte das Display mit Evelyns Nummer an. Ein kleines Wischen mit dem Finger, und dann.... Er betrachtete seine Hand, sah seinen Daumen, der reglos auf dem Display verharrte. Ruf sie an!, schrie es in ihm. Ruf jetzt Evelyn an! Sie wird Zeit für dich haben! Sie versteht dich! Sie wird herkommen und dich von dieser Sache befreien, die längst keinen Spaß mehr machte!
Er dachte nach. Überlegte, wieso es keinen Spaß mehr machte. Warum Barbara keinen Spaß mehr machte. Brauche ich sie noch?? Was ist denn bloß los mit mir?
Klaus sah die vielen Kleider und Röcke, die sich in seinem Schrank, dessen Türen offen standen, angehäuft hatten. Es gibt keine Barbara, überlegte er, und all diee Sachen gehören nicht zu meiner Biografie. Sie ist eine Chimäre, ein Fabelwesen, das mich jahrelang wie einen Zirkusbären an der Nase herumgeführt hat!

Das schrille Läuten seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Ingeborg! Er drückte das Gespräch weg. Sie wartet auf dich, du hast es ihr versprochen! Sie wartet auf Barbara, und Barbara soll sie in das Korsett einschnüren! Sein Herz schlug schneller. Du kannst nicht einfach vor dir selber weglaufen, Klaus Behrend! Und wieder hörte er die Stimme des netten Mannes in der Beratungsstelle.... es wäre einfacher, Sie würden den Spaß wieder entdecken!
Klaus griff nach seinem Kissen, warf sich darauf, konnte einen Weinkrampf nicht unterdrücken. Egal, wie ich mich jetzt entscheide, es ist so oder so das Ende von allem....

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Zu sagen, Ingeborg sei nervös, wäre eine schlichte Untertreibung gewesen. Wann hatte sie versucht, Klaus anzurufen? Vor einer Stunde? Vor zwei Stunden? Sie hatte sich die Worte zurecht gelegt, hatte genau überlegt, was sie sagen wollte, damit es nicht zu sehr nach einer dummen Ausrede klang. Auf einen Nagel getreten? Magen verdorben? Unerwarteter Besuch aus Übersee? Nein, alles Quatsch. Und die Wahrheit? Hätte sie ihm einfach die Wahrheit sagen können? Dass sie kalte Füße bekommen hatte? ER hatte für sie alles riskiert, dieses blöde Korsett zu beschaffen, hatte im Grunde genommen sogar eine Straftat begangen, zu der sie ihn mehr oder weniger angestiftet hatte! Und SIE bekam jetzt kalte Füße??
Sie hatte ihn nicht erreicht. Und dann hatte sie wieder Angst bekommen, er könnte sich erneut etwas angetan haben. Die Luipold Brücke stand noch da, die Isar lockte immer noch mit ihren Fluten. Einmal lebensmüde, immer lebensmüde, dachte sie.

Du kannst es nicht ändern, Ingeborg. Du kannst ihm nicht helfen, und du kannst nicht einmal dir selber helfen! Pack das Ding wieder weg und zieh dich an! Geh schwimmen! Geh Rad fahren! Geh joggen! Geh irgendwo hin und friss ein riesiges Eis....

Dann hörte sie es, ein leises, tuckerndes Geräusch. Ein Geräusch, das langsam näher kam und schließlich vor ihrer Haustür erstarb. Ingeborg erstarrte in der Bewegung. Sie hielt den Atem an. Es wird jemand anders sein! Sie überlegte, zum Fenster hinauszuschauen, aber das elektronische Läuten an ihrer Wohnungstür war schneller. Mechanisch ging sie zur Tür, nahm den Hörer ab. "Ja, bitte?"

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Klaus wusste nicht, warum er sich für den knielangen, engen Jeansrock entschieden hatte. Er hätte auch nicht sagen können, wieso er sich überhaupt für einen Rock entschieden hatte. Oder, warum er hier war. Sie will es so! Ingeborg wollte, dass Barbara kommt! Er fluchte etwas, als er sah, dass der Fahrstuhl wieder einmal kaputt zu sein schien. Und er fluchte über seine hochhackigen Schuhe - andere hatte Barbara nicht. Mühsam kämpfte er sich jetzt, Stufe für Stufe, bis in Ingeborgs Stock empor. Die Wohnungstür war angelehnt; von Ingeborg war nichts zu sehen. Er klopfte, kam sich ein wenig dumm vor, überlegte ein letztes Mal, zu gehen, so lange noch Zeit war. Aber seine Zeit war abgelaufen.

"Barbara!" Ingeborg war aus ihrem Schlafzimmer gekommen. Sie wirkte erhitzt, so als habe sie sich beeilen müssen. Ingeborg trug einen schwarzen Gymnastikanzug, sie zog und schob noch im Schritt und am engen, weiß abgesetzten Halsausschnitt, auch die langen Ärmel mussten noch ganz heruntergezogen werden. Noch einmal griff sie sich in den Schritt, dann blickte sie wieder auf und sah ihn mit großen Augen an. "Schön, dass du gekommen bist, Barbara!!"

Er reagierte nicht. Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich, sein Blick verriet Unsicherheit. "Du hast es dir so gewünscht."

"Und...., hast du es mit?" Ihre Stimme schwankte, als sie auf seine Tasche deutete. Vielleicht hoffte sie noch, dass er das Korsett nicht dabei hatte.Sie würde zurück ins Schlafzimmer gehen, sich den engen Anzug, den sie erst vor wenigen Wochen auf Ebay ersteigert hatte, wieder ausziehen, das 'Ding' enfernen, sich in ihren flauschigen Bademantel hüllen und für sie beide einen Tee kochen.
"Lass mal sehen!" Es war ihr so über die Lippen gekommen. Eigentlich wollte sie es lieber nicht sehen.

Er umklammerte seine Tasche fester. "Nein!"

"Du hast es nicht dabei?" Sie schöpfte Hoffnung, gab ihrer Stimme aber den Ton leichter Enttäuschung. "Ach, weißt du, nicht so schlimm...."

"Ich habe es dabei. Aber du sollst es nicht vorher sehen. Ich werde dich mit verbundenen Augen schnüren!" Wenn sie es nicht sieht... Er erinnerte sich nur zu gut an das erste Mal, als Monika ihm Barbaras Sachen angezogen hatte. Auch ihm waren die Augen verbunden, er hatte nur raten können, was mit ihm gemacht wurde. Es hatte einerseits das Gefühl intensiviert, andererseits ihm aber das Gefühl gegeben, dass es gar nicht passiert war.
"Willst du so bleiben?" Er deutete auf ihren Gymnastikanzug. "Ist der neu?"

"Ebay. Hab den neulich ersteigert. Ich weiß, dass du...." Sie schwieg. "Ja. Ich dachte, das wäre gut so. Dass das Korsett nicht direkt auf der Haut zu liegen kommt. Warum soll ich es nicht sehen??"

Klaus überhörte ihre Frage. "Hast du etwas, womit ich dir die Augen verbinden kann?"

Ingeborg versuchte, nachzudenken, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber alles in ihr war nur noch wie eine drückende Stille, die wusste, sie würde dem herannahenden Sturm nicht mehr ausweichen können. Sie drehte sich um, ging ihm voran ihr Schlafzimmer. "Eine schwarze Strumpfhose vielleicht? Wenn du sie ein par Mal zusammenlegst, dann müsste es gehen. Sie fand eine, gab sie ihm.

"Und das da?" Er nahm die Strumpfhose, deutete mit der Hand auf ihr Zusammengewerkeltes. "Was ist das?" Seine Stimme zitterte etwas. Frag nicht so blöd, Klaus Behrend! Du weißt genau, was es ist, und du weißt was sie gleich sagen wird!

"Es ist... ich möchte..." Sie kam nicht weiter. Irgendetwas stimmte nicht. Was ist los, Ingeborg? Traust du dich nicht mehr? Ist es nicht das, was du dir lange gewünscht hast? Dass Barbara dich fest einschnürt und du nichts dagegen machen kannst? Sollte sie auf ihre innere Stimme hören? Oder alles zurückdrängen, sich der Versuchung widersetzen? 'Ich widersage dem Bösen...', in der Osternacht, hatte sie es nicht vor wenigen Wochen erst in der Osternacht laut und deutlich gebetet?
"Dann gib mal deine Hände her!" Barbara hatte ihre Antwort nicht mehr abgewartet. Wozu auch? Es war viel zu offensichtlich, was sie mit dem selbstgebastelten Schnürbalken vorhatte. Ingeborg schloss die Augen, ihre Glieder waren wie Gummi. Würde sie überhaupt stehen können? Sie spürte, wie sich der erste Riemen fest um ihr linkes Handgelenk legte und dort festgeschnallt wurde. Ihre rechte Hand wurde sanft, aber fest, zur Seite gezogen. Wieder spürte sie den Riemen am Handgelenk. Er wurde enger, legte sich fest um ihren Arm.

Klaus ließ von ihr ab. Ingeborg stand vor ihm, hatte ihm den Rücken zugewandt. Ist es wirklich so einfach?, überlegte er. Warum mache ich es bloß? Er nahm die Strumpfhose, die ihm zuvor zu Boden gefallen war, wickelte sie drei- viermal so zusammen, dass sie ein dichtes, aber weiches Polster bildete, dann legte er sie Ingeborg von hinten vor die Augen, zog die beiderseits herabhängenden Strumpfbeine hinter ihrem Kopf zusammen, sie waren lang und wurden durch den Zug noch länger, führte sie noch einmal um ihre Augen herum, sorgfältig darauf achtend, dass sie wirklich nichts sehen konnte, dann knotete er sie hinter ihrem Kopf zusammen.

Sie atmete heftig. Testete den ihr verbliebenen Spielraum; sie hatte keinen. Ihre Finger, die versuchten, irgendwie an die festgeschnallten Riemen zu kommen, griffen ins Leere. Es war zu spät. Sie merkte, wie ihre Arme plötzlich hochgezogen wurden, sie wollte sich dem widersetzen, aber ihre Muskeln gehorchten nicht, zu stark war der Zug am Seil, zu schwach ihr Wille, es noch zu beenden. "Nicht!!" Es war unkontrolliert aus ihr herausgebrochen. Aber der Zug an ihren Händen nahm weiter zu, schon waren ihre Hände in Höhe ihres Kopfes, sie versuchte, wenigstens noch die Strumpfhose von ihrem Kopf zu bekommen, es ging nicht, ihre Finger kamen nicht mehr an den Stoff, sie musste ihre Arme ausstrecken, sie begann, zurückzuziehen, es half alles nichts, er war stärker als sie; sie hatte ihre Apparatur zu gut gebaut.
Er?Wieso er? Erst jetzt fiel es ihr auf. Ist das noch Barbara, die mich schnüren wird? Spricht Barbara nicht mit einer viel weicheren, leiseren Stimme? Aber das hier..... Klaus?

Klaus sah, dass es kaum weiter ging. Ingeborg stand kerzengerade vor ihm, schon tänzelte sie etwas auf den Fußspitzen. Und wenn er noch weiter zog? Er zog noch etwas stärker am Seil, sah, wie sich ihre Füße auf die Zehen stellten; es musste sehr unbequem sein. Er sah sich um, knotete das Seil an ihrem Bett fest, der einzigen Stelle, wo es ging.
Er trat hinter sie, umarmte sie von hinten, streichelte ihre Brüste durch den dünnen Stoff des Gymnastikanzuges. Ließ seine Hände die Taille entlang abwärts wandern, suchte ihren Schritt, entdeckte dort etwas, was dort vor seinen Blicken verborgen geblieben war. Er erfühlte eine leichte Erhebung... Oh, kein Keuschheitsgürtel heute? Nun ja, sie soll ja auch ihren Spaß haben!
Ihm fielen die beiden kleinen Schlüssel ein, die man brauchte, um das Korsett wieder öffnen zu können. Wo sollte er sie verstecken? Im Wohnzimmer? Er ging hinüber, es gab keine Blumentöpfe, es gab keinen Teppich, wie konnte man nur so wohnen? In einer Ecke des Raumes befand sich ein hoher, eiserner CD-Ständer. Mindestens vierzig oder fünzig CDs mochte er beinhalten, er nahm eine hervor, legte einen der Schlüssel hinein, wiederholte es dann, mit einer anderen CD, mit dem zweiten Schlüssel. Das musste gehen. Welche CDs er genommen hatte, merkte er sich nicht.

Zurück im Schlafzimmer erwartete ihn leises Wimmern. War es echt? Oder gehörte es bereits zu ihrem Kopfkino? Die Füße! Sie konnte nicht mehr mit dem ganzen Fuß auftreten. Klaus sah in ihren Schrank, doch, sie hatte high heels, auch wenn diese nicht so hoch waren, wie die Dinger, die Barbara manchmal trug. Er nahm das Paar hervor, welches die höchsten Absätze hatte, zehn Zentimeter war auch nicht schlecht, die Schuhe hatten sogar kleine Riemchen, besser ging es gar nicht.
Er kniete sich hin, tippte wortlos gegen ihren Fuß, und, als dies nicht half, hob ihren Fuß ein wenig an, bis er ihr den ersten Schuh anziehen konnte; mit dem anderen ging es etwas leichter. Er sicherte die Schuhe gegen ungewolltes Ausziehen mit den kleinen Riemchen. Abzuschließen waren sie nicht, aber es würde sie, in dem steifen Korsett, auch so einige Mühe kosten, die Dinger von den Füßen zu bekommen.

Ingeborg hätte nie gedacht, dass diese Schuhe, die Bruno ihr einmal geschenkt hatte, noch einmal von Nutzen sein würden. Getragen hatte sie sie ein einziges Mal, sie hatten einen kurzen Spaziergang zusammen gemacht, aber nach nicht einmal zwei Stunden, unterbrochen von vielen Pausen auf diversen Parkbänken, hatte er ein Taxi rufen müssen, um sie nach Hause zu bekommen. Jetzt konnte sie wieder stehen, wenn auch recht wackelig auf den ungewohnt hohen Absätzen.

"Besser?", fragte er sie. Sie nickte. Wollte ihre Spannung auf das Unvermeidliche jetzt nicht mit Worten zerstören. Ingeborg hörte ihn kurz in den Flur gehen, das metallene Klappern verriet, er holte seine Tasche. Das Öffnen einen Reißverschlusses war zu hören, die Tasche fiel zu Boden, Papier raschelte einen kurzen Augenblick. Es war so weit.

"Bist du parat?" Er wartete die Antwort nicht mehr ab, es sollte ihm jetzt egal sein, ob sie parat war, oder nicht. Er fragte sich, ob Monikas Korsett Ingeborg überhaupt passte. Er würde es gleich wissen. Er hatte bereits bei sich zu Hause die Schnürung weitest möglich geöffnet, anlegen würde er es ihr auf jeden Fall können! Und dann, Klaus??
Vorsichtig legte er es ihr von hinten um die Taille, hielt die beiden Hälften irgendwie zusammen, wechselte nach vorn um besser sehen zu können, hakte unten den stabilen Reißverschluss zusammen, es machte nichts, dass das Korsett jetzt oben wieder auseinanderfiel, langsam schloss er den Verschluss jetzt, musste etwas kräftiger ziehen, denn das Material schien wenig benutzt gewesen sein. Die Länge passte! Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als er es sah.


Bin ich zu weit gegangen? Ingeborg spürte, wie sich der feste Stoff um ihre Taille legte. Sie achtete auf jedes Geräusch, einige Male hörte sie ein hässliches Quietschen, sie hatte Ähnliches schon einmal gehört, wenn sie die Schuhe, die sie jetzt trug, mit den Oberflächen aneinander schlug. Lackleder??
Dass dieses Korsett keine gewöhnliche Planchette als Schließe hatte, wunderte sie. Ein Reißverschluss? Der würde wohl nicht lange halten? Sie sah nicht, was Barbara - nein, Ingeborg, das ist nicht Barbara! - tat, als das Korsett vorn geschlossen war. Irgendetwas musste dort sein. Aber was?

Diesmal trat Klaus nicht hinter sie, sondern drehte sie der Einfachheit halber zur Seite, sodass er mit dem Schnüren beginnen konnte. Zuerst zog er vorsichtig an den 'Eselsohren', den kleinen Schlaufen, die in der Mitte an beiden Seiten knapp hervorugten; verknotet war das Korsett ganz unten. Er zog die überflüssige Schnur durch die Ösen, die Schlaufen wurden länger, dann war die Schnürung so weit angezogen, dass sie, ohne irgendwo herunterzuhängen, glatt auf dem untergeschobenen Schnürschutz lag. Es war so weit.

Sie hatte die Augen längst geschlossen; unter der engen Binde machte es keinen Sinn, sie geöffnet zu halten. Ingeborg atmete tief ein, schon spürte sie den Druck des festen Stoffs auf ihren Oberkörper. Jetzt also, jetzt würde Barbara anfangen, sie in dieses Ding einzuschnüren. Sie griff fester mit den Händen zu, es gab keine Chance, den ledernen Fesseln zu entkommen. Ihr Körper schien bis zur Schmerzgrenze gestreckt. Die hohen Absätze waren keine wirkliche Hilfe, immer noch lag ihr Hauptgewicht auf den Zehen; verlagerte sie es auf die Ferse, begann sie sich zu drehen.
Sie merkte, wie es langsam enger wurde. Sie konnte plötzlich nicht mehr Luft holen, wie sie es gewohnt war, bis tief in den Bauch hinein. Der Druck in der Taille verstärkte sich.

Klaus ging ganz mechanisch vor. Hatte er jemals einen anderen Menschen geschnürt? Eher nicht. Er kannte es eigentlich nur aus der eigenen Erfahrung, wenn er sein weibliches Ich geschnürt hatte. Zuerst hatte er alle Schnüre von oben bis unten angezogen, dann die Taille geschnürt. Jetzt machte er sich im Lendenbereich zu schaffen. Das Korsett lag ein gutes Stück über Ingeborgs Hüften und stand noch weit auseinander. Er griff in die Schnüre und sah, wie die steife Lacklederhülle sich eng auf Ingeborgs Hüften legte. Er zog fest zu, hielt die Schnürung mit der einen Hand fest und zog dann die überschüssige Schnur an den Eselsohren wieder heraus. Schließlich wiederholte er die Prozedur mit dem oberen Teil des Korsetts, der ihren Brustkorb umschloss.

Ingeborg konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Das Gefühl, als das Korsett unten enger wurde, war kaum zu beschreiben; irgendwie verpflanzte sich der Druck auf ihre Scham, erregte sie jetzt umso mehr, da sie sich dieses Teil eingeführt hatte. Sie versuchte, sich an die Geschichte zu erinnern, die sie in letzter Zeit immer wieder gelesen hatte. Sie hatte sie im Internet gefunden und war sicher der Grund dafür, dass sie jetzt so hilflos an diesem Balken hing: >Mutter hatte vom Personal in meinem Zimmer auch eine Haltestange installieren lassen, die nun immer an zwei Seilen von der Decke hängt. Erst muss ich meine Hände durch zwei Lederschlaufen an den Enden der Haltestange stecken, die Mutter dann fest um meine Handgelenke schnallt. Dann zieht Mutter an den Seilen die Haltestange so nach oben, bis ich nur noch auf den Zehenspitzen stehen kann. Wenn sie mir dann das Korsett zuschnürt, geht es viel leichter und schneller!
Ich fühle mich dann schon sehr hilflos und ausgeliefert, denn ich kann nichts dagegen tun, wenn Mutter das Korsett so eng schnürt, wie sie es für richtig hält! Aber irgendwie empfinde ich die strenge Behandlung und das schnelle Schnüren auch als sehr aufregend! Ich kann es nicht mit Worten beschreiben ....Ich musste schon mühsam nach Luft ringen und war doch fast enttäuscht, als Mutter die Schnürprozedur beendete.
< Angeblich stammte der Text aus dem Tagebuch eines jungen Mädchens aus dem Jahr 1897, aber Ingeborg war realistisch genug, es für pure Phantasie zu halten.
Warum schnürt er mich bloß so langsam?? Ist es ihm unangenehm? Hat er vielleicht gar keine Lust? Hört er etwa schon auf? Das Korsett geht nicht enger?? Die Fragen schossen durch ihren Kopf, ließen sich nicht steuern, ließen sich nicht unterdrücken. Aber die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Klaus wunderte sich, wie anstrengend es war, Ingeborg zu schnüren. Er hatte eine kleine Pause eingelegt, hatte die Schnüre aber nicht losgelassen, aus lauter Angst, das Korsett könnte von selbst wieder auseinander gehen. Wie viel hielt dieses Material überhaupt aus? Sollte er nicht besser darauf verzichten, es noch enger zu schnüren? Was, wenn das Korsett kaputt ginge? Wie sollte er es dann jemals wieder zurückbringen? Zurückbringen? Hattest du zurückbringen gedacht, Klaus Behrend? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du da noch einmal hinüber gehst! Niemand wird dieses Teil vermissen! Und wenn überhaupt, Monikas Mutter wird glauben, diese hätte es nach Australien mitgenommen!
Er überlegte. Wägte ab. Wie weit stand die Schnürung noch auseinander? Er hatte nicht ordentlich geschnürt; im Brust- und Lendenbereich waren es wohl noch vier Zentimeter, aber in der Taille war der Spalt größer, dort mochten es noch gut sechs Zentimeter sein. War es nicht wirklich schon eng genug, für ein erstes Mal??

Sie klammerte sich erneut fest an der Haltestange, die immer noch hoch über ihrem Kopf an einem kräftigen Seil hing und an die ihre Hände fest angeschnallt waren. Sollte sie irgendwie aktiv werden? Sie rüttelte kräftig an der Stange, sie wand sich mal nach links, mal nach rechts zur Seite, sie spürte, dass seine Hand mitging, dass er die Schüre noch fest in der Hand hielt. Sie warf den Kopf in einer leicht theatralischen Geste zurück, stöhnte noch einmal auf. "Nicht so fest, Barbara! Ich bekomme ja kaum noch Luft!"

Barbara! Immer wieder Barbara!! Und ich, Klaus, interessiere ich denn gar nicht? Er verstärkte seinen Griff, spannte die Muskeln an, begann zu ziehen, heftiger als zuvor, die Schnur schnitt in seine Hände, er durfte sie nicht loslassen, sie würde zurückrutschen, sich seiner Gewalt entziehen, alles wieder zunichte machen. Er zog so heftig, dass Ingeborg für einen Moment in der Luft schwebte, sie hielt sich krampfhaft an der soliden Stange fest; etwas anderes wäre ihr auch gar nicht möglich gewesen. Jetzt war das Korsett oben und unten geschlossen, nur in der Taille fehlten noch einige wenige Zentimeter. Noch einmal verdoppelte er seine Anstrengung, sah, wie der Spalt sich langsam vollends schloss, dann machte er mit einiger Mühe eine Schleife, der Spalt öffnete sich ein wenig, er konnte es nicht vermeiden, zur Sicherheit verknotete er die Schleife noch. Es war geschafft.

Ihr drohte schwarz vor Augen zu werden! Beruhige dich, Ingeborg! Du hast es so gewollt! Du wirst jetzt nicht hier vor Barbaras Augen ohnmächtig werden!! Ingeborg versuchte, Luft zu holen, stellte fest, dass es nicht ging... doch, es ging, aber nur mit Mühe konnte ihr zusammengeschnürter Brustkorb gegen das unerbittliche Korsett ankommen. Es war tierisch eng.
Ihre Beine waren wie aus Gummi, sie hatte sie kaum mehr unter Kontrolle. Sie musste sich setzen, sie spürte ein seltsames Gefühl von Leichtigkeit, das von ihr Besitz ergreifen wollte... Lass gut sein... ich will nicht sterben....
"Alles in Ordnung?", hörte sie seine Frage, gepämpft, wie durch Watte. Sie nickte schwach. Ich habe es so gewollt!! Mein Gott, wie hielten die das früher nur aus?? Sie überlegte, dass ihr die langjährige Übung und Anpassung fehlte. Wahrscheinlich war sie weit weniger eng geschnürt, als sie dachte. Es fühlte sich nur so verdammt eng an. Und wenn sie sich nicht bald hinlegen konnte, würde ihr doch noch schwarz vor Augen!

Klaus sammelte die lang herunterhängenden Schnüre, wickelte sie um seine Hand, verstaute sie dann sorgfältig in jener kleinen Tasche, die auf der Innenseite der rechten Patte angebracht war. Er nahm den daran befestigten, verstärkten Gurt, führte ihn durch den Spalt an der Basis der linken Patte, dann führte er beide Gurte um ihre Taille, nestelte sie auf der Vorderseite über den Dorn, der an der vorderen Leiste angebracht war, welche den Reißverschluss abdeckte und unzugängig machte. Schließlich fand er die kleinen Schlösschen, hakte sie oben und in der Mitte am Korsett ein, er drückte sie zusammen, es gab kein Zögern, kein Überlegen mehr, es musste getan werden, sie hatte es so gewollt.
Er hielt einen Augenblick inne, unsicher, was nun geschehen sollte. So weit war er in seinen Überlegungen nie gekommen. Und jetzt, Klaus Behrend? Macht es Spaß, die Freundin so eng geschnürt vor dir zu sehen? Er umfasste ihre unglaublich schmale Taille, ja, es fühlte sich geil an, aber irgendwie auch nicht. Es fehlte etwas, war es der Keuschheitsgürtel, war es etwas anderes? Oder einfach nur ihre natürliche, zarte Haut, die er so liebte? Auf jeden Fall würde er sie losmachen müssen; ewig konnte sie nicht so stehen, die Hände hoch über dem Kopf.

Ingeborg wusste im Moment nicht, wie sie richtig Luft holen sollte. Brust- und Bauchatmung waren sehr eingeschränkt, und mit den Füßen konnte sie nun mal beim besten Willen nicht atmen. Gut, ersticken würde sie nicht, etwas Luft bekam sie schon, aber sie merkte eine zunehmende Leichtigkeit des Seins, wahrscheinlich werde ich gleich abheben, oder halt bewusstlos werden, überlegte sie.
Sie hang mehr als dass sie stand, ihre Handgelenke schmerzten von den ledernen Riemen, aber auch ihre Füße protestierten bereits heftig gegen die hohen Absätze. Ist es das, was du wolltest? So eng eingeschnürt zu sein? Sie merkte, wie sie den Kopf schüttelte, vielleicht auch schüttelte er sich ganz von selbst, wie auch immer, etwas stimmte nicht, etwas fehlte. Sie erschrak, als sie merkte, was es war. Es erregte sie nicht, überhaupt nicht. Ingeborg klemmte die Beine zusammen, hoffte auf wenigstens etwas Stimulus, aber das sonst so aktive Kopfkino blieb aus, wollte ihr keinen Spaß gönnen.
Sie spürte, wie Klaus den Knoten in der Strumpfhose löste und ihr die dichte Augenbinde abnahm. Das Licht blendete sie, sie musste dagegen anblinzeln, es half, ihr Blick wurde klar und fiel in den großen Spiegel vor ihr. Schlösser? Was sind das für Schlösser? Sie hatte Probleme, sich selber zu erkennen. Ja, so sollte es aussehen, so hatte sie es sich vorgestellt, bis auf diese seltsamen kleinen Schlösser. Das Spiegelbild regte ihre Phantasie wieder etwas an, aber Phantasie und Wirklichkeit wollten nicht zusammenpassen, stießen sich voneinander ab, wie gleiche Pole zweier Magnete; hier das kaum wahrnehmbare Kopfkino ihrer Phantasie, dort Hilflosigkeit und zunehmender Schmerz.
Erst jetzt wurde sie der beiden Hände gewahr, die sich von hinten um ihre Taille gelegt hatten und langsam über das Lackleder ihres Korsetts wanderten. Finger verharrten an den kleinen Schlössern, zogen daran, schienen deren Sicherheit zu prüfen. Schlüssel? Hat er die Schlüssel? Ich muss hier bald wieder raus, Klaus Behrend!! Warum hast du mir das angetan?
Seine Hände wanderten an ihrem rechten Arm entlang, lösten die Fesselung; ihr Arm fiel herab wie ein toter Ast bei einem Sturm. Er macht mich schon los? Ich habe.... ich brauche.... Sie erinnerte sich an das enorme Teil, das sie sich eingeführt hatte. Es durfte noch nicht vorbei sein, nicht bevor es richtig angefangen hatte!
Mit etwas Mühe hob sie den rechten Arm, befühlte die beiden Schlösser, zog daran; sie gaben nicht nach. "Abgeschlossen!" stöhnte sie leise.

"Ja. Ich habe beide Schlüssel im Wohnzimmer versteckt." Klaus wollte optimistisch klingen; es gelang ihm nicht richtig. "Sonst...." Er sprach nicht weiter, machte sich daran, auch ihren linken Arm zu befreien.

Sie reagierte schnell, drehte ihren immer noch festgeschnallten Arm von ihm weg. "Klaus!" Sieh unterm Kopfkissen nach... Sie brachte es nicht heraus, ihr fehlte die Luft, Atmen war schwierig, Sprechen fast unmöglich.

"Was?" Er ließ von ihr ab, befreite ihren linken Arm nicht, beugte sich zu ihrem Kopf vor. "Was ist Ingeborg? Bin ich zu weit gegangen?"

Nein. Nein, Klaus, du bist nicht zu weit gegangen. Du bist noch nicht weit genug gegangen!
"Das Kopfkissen... Sieh unterm Kopfkissen nach..." Die Fernbedienung! Er würde wissen, wie man sie bedient!

Klaus zögerte. Warum sollte er unterm Kopfkissen nachsehen? Hatte er die Situation überhaupt noch unter Kontrolle? Er ließ von ihr ab, ging um das Bett, verhedderte sich beinahe im dort festgebundenen Seil. Klaus hob das Kopfkissen an, rückte es zur Seite...
Er schloss die Augen, als er sah, was dort lag. Er streckte seine Hand danach aus, sie zitterte, wollte nicht zugreifen. Das Display blinkte, wartete auf eine Eingabe. Die Knöpfe! V1, V2 und RANDOM. Sie waren noch da, genau wie vor wenigen Jahren, als er, damals auf der ersten GeiDi-Gaudi....
Plötzlich wusste er, was er eben zwischen Ingeborgs Beinen ertastet hatte! Er wich einen Schritt zurück, totenbleich im Gesicht. Nein! Nein, das würde er nicht noch einmal machen! Für nichts in der Welt!
"Nein, Ingeborg! Nein nein nein! Da mache ich nicht mehr mit! Hörst du! Das ist krankhaft, egal, was du dir davon versprichst! Ohne mich! Kapiert! Du kannst deinen Scheiß allein machen, aber lass mich dabei raus." Er redete hastig, erregt, stieß die Worte hervor. "Mit diesem Drecksding hat alles mal angefangen. Aber jetzt ist Schluss!! Hörst du? Ich kann nicht mehr, will nicht mehr!" Seine Worte gingen in einem Tränenausbruch unter, Ingeborg konnte sie kaum verstehen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, das Kopfkissen wieder an seinen Platz zu legen, ließ sie stehen, bzw. hängen, wo sie war, stürmte zum Schlafzimmer hinaus. Ingeborg hörte, wie er einen Bügel auf den Boden fallen ließ, dann wurde ihre Wohnungstür geöffnet, sie fiel sofort darauf mit einem Krachen ins Schloss; es war vorbei. Das leise Tuckern seines Motorrollers hörte sie nicht mehr, ihr Schlafzimmer ging nach hinten raus, und sie fragte sich, ob er jemals wiederkommen würde.



46. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MarioImLooker am 12.03.18 11:43

Eine sehr interessante Folge!
Mir ist der schleichende Übergang in der Wahrnehmung von Ingeborg aufgefallen. Wie sie mit der Zeit der Schnürung Barbara je länger je mehr als Klaus wahrnimmt, bis es nur noch Klaus ist.
Wie lange wird es wohl dauern bis Ingeborg die Schlüssel findet und wird die Geschichte mit der Fernbedienung zu lösenden Gesprächen mit den beiden führen?

Ich hoffe, Daniela, dass mit dem baldigen Ende der Geschichte Du dann hoffentlich auch wieder Versöhnung mit der Geschichte finden wirst. Ich denke kaum, dass Dir im Moment nach einer Fortsetzung ist. Dennoch hoffe ich, dass Dich die Schreibmuse wieder finden wird. Ich denke mit Monika in Australien könnte problemlos auch noch die Geschichte weitergeführt werden.

Ein grosser Fan Deiner Schreibkunst
Mario
47. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 13.03.18 19:56

Das war wieder eine tolle Fortsetzung, die wieder mit einem Höhepunkt beendet wurde. Jedem, der jetzt nicht ungeduldig auf die nächste Fortsetzung warten will, kann ich nur empfehlen, die aktuelle Fortsetzung nochmals zu lesen. Jedenfalls mir ist es so ergangen: Zuerst war ich am Plot (am Fortgang der Handlung) interessiert. Und beim zweiten Lesen war ich dann beeindruckt vom fortschreitenden Aufbau der Gefühle und Hintergründe zu den Handlungen. Diese Schilderungen sind wieder einmal so facettenreich herüber gekommen. Und schliesslich endete meine "zweite Lesung" mit einem sentimentalen Kopfkino. Nachdem sich Ingeborg wohl von der Fesselstange befreien konnte, wird sich auch ihre Atmung wieder stabilisieren. Vielleicht schafft sie eine Ruhepause in der sie erkennt, dass sie das Verhältnis zwischen Klaus und Barbara übermässig strapaziert hat. Und wann wird sie sich daran erinnern, dass die Schlüssel in ihrer Wohnung versteckt sind?
Ich freue mich schon auf die Fortsetzung.
48. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 18.03.18 22:00

Endlich etwas Frühlingssonne!! Nur die Temperatur muss noch nachlegen!! Unsere Geschichte geht langsam zu Ende. Wie geht es Ingeborg, wie Klaus, nach den jüngsten Ereignissen? Geht jetzt alles den Bach runter??
Ich wünsche meinen treuen Lesern spannendes Lesen! Und heute endlich mal wieder zur gewohnten Zeit! Eure Daniela 20

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Samstagabend, Mitte Juli

Er wachte mir dröhnenden Kopfschmerzen auf, brauchte lange, sich zu erinnern, was vorgefallen war. Er war nach Hause gekommen, hat sich ausgezogen, Barbaras Sachen abgelegt, hatte sie von sich geschleudert, ohne zu achten, wo sie hinfielen. Was er brauchte fand sich in einem Schrank im Wohnzimmer, der Vorrat an alkoholischen Getränken war nicht gerade überwältigend, aber für den Augenblick mehr als ausreichend. Er kippte mehrere Gläser hinunter, trank das scharfe Zeug, als sei es Wasser, nur so ließ sich der Kopf halbwegs abschalten, nur so die Scham vor seinem Tun verbergen.
Er wusste, er hatte eine Grenze überschritten, die er nicht hatte überschreiten wollen. Hatte er es ihr zuliebe getan? Oder doch eher, weil er versucht hatte, den verlorenen Spaß irgendwo wiederzufinden?
Er saß lange da, saß und grübelte im alten Ohrensessel seiner Großmutter, dachte über sein eigenes Elend nach und vergaß darüber das Elend anderer. Seine Großmutter mit ihrem perversen Hass auf die Menschheit? Wie mochte es angefangen haben? Hatte auch sie immer nur ihren Spaß, ihr Vergnügen, im Sinn gehabt, und war schließlich der Versuchung erlegen, alles nur diesem einzigen Zweck unterzuordnen? Wie können Menschen Spaß daran haben, anderen Schmerzen zuzufügen? Sie zu erniedrigen? Zu demütigen und umzubringen?
Er hatte seine Hand noch unter Kontrolle gehabt, so gerade eben. Er hatte das Verlangen gespürt, zuzugreifen, die verdammte Fernbedienung in die Hand zu nehmen, auf V1 oder besser noch V2 zu drücken, ihrer Bitte zu entsprechen, seinem eigenen Verlangen nachzugeben. Was genau ihn davon abgehalten hatte, es nicht zu tun? Er wusste es nicht.
Er wollte es auch gar nicht wissen. Wollte sich nur noch wegsaufen, weg aus diesem Leben, von diesem Planeten. Er hatte noch ein weiteres Glas getrunken, hatte befriedigt die herannahende Leichtigkeit des Seins gespürt, überlegt, ein weiteres Glas zu trinken, dann aber resolut die Flasche geschlossen. Er hatte es nicht getan, hatte die Fernbedienung nicht angefasst.. Er hatte standgehalten. Er hatte widersagt. Das war der Unterschied.

Klaus schleppte sich aus dem Bett. Nahm eine Brausetablette gegen die Kopfschmerzen. Stellte sich unter die Dusche, um alles von sich abwaschen zu können. Und machte sich anschließend einen starken Kaffee und aß einige Chips..
Erst als er am Tisch saß kam ihm Ingeborg wieder in den Sinn. Sie würde sich selbst befreit haben! Ihr rechter Arm war schon frei gewesen, sie hätte leicht auch den linken Arm befreien können. Und das Korsett? Er erinnerte sich, ihr gesagt zu haben, dass er die Schlüssel im Wohnzimmer versteckt hatte. In zwei verschiedenen CD-Hüllen. Sie würde sie finden. Und wenn nicht?

Er griff zu seinem Handy. Suchte Ingeborgs Nummer im Telefonverzeichnis, ließ es lange klingeln; sie meldete sich nicht.

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Der Schock, als er so plötzlich, so unvermittelt gegangen war, hatte sie nur kurz ergriffen. Ingeborg war ein viel zu rational denkender Mensch, um in Panik zu verfallen. Sie hatte die rechte Hand frei gehabt, hatte mühelos ihren linken Arm befreien können. Nur richtig atmen konnte sie immer noch nicht. Schnell hatte sie gemerkt, es bedurfte einiger Übung, mit weniger Luft auszukommen; vor allen Dingen musste sie die Oberhand bewahren, durfte sie sich nicht echauffieren, wie man wohl gesagt hätte, als enge Korsetts noch zur täglichen Kleidung gehörten.
Sie war in die Küche gegangen, steif wie ein Besenstiel und unsicher auf ihren hohen Hacken, hatte einige Schluck Wasser getrunken, sich an den Tisch gesetzt. Es begann, weh zu tun. Sitzen war in diesem Falle nicht das, was sie sonst unter Sitzen verstand. Die untere Kante des Korsetts drückte nun gegen ihre Oberschenkel, die obere Kante gegen ihre Brüste.
Sie wollte ihre high heels ausziehen, hatte aber keine Ahnung, wie sie in ihrem steifen Panzer sich so weit bücken sollte, um an ihre Füße zu kommen und die schmalen Riemen zu lösen. Der bloße Versuch war sehr anstrengend, Atmen dann gleich noch schwieriger.
Ihre Hände umfassten ihre Taille, besser gesagt, was von ihrer Taille noch übrig geblieben war. Sie merkte eine Welle der Erregung aufkommen, als ihre Hände auf der Rückseite nicht die erwartete Schnürung ertasteten, sondern das steife, solide Lackleder der beiden Patten, die die Schnürung verdeckten. Mit einiger Mühe stand sie auf, ging zurück ins Schlafzimmer, richtete ihre Lampe so, dass sie im vollen Licht stand, und betrachtete ihr Korsett von allen Seiten. Ein Gefängnis, dachte sie. Es ist ein gottverdammtes Gefängnis! Und wie komme ich jetzt hier wieder raus?
Sie verstand sehr schnell, wie gut alles verschlossen war. Sie musste wenigstens das eine Schloss öffnen können, welches die Patten vor ihrem Bauch miteinander verschloss. Die vordere Klappe, die den darunterliegenden Reißverschluss unzugänglich machte, war weniger entscheidend. Hatte Klaus nicht gesagt, er habe die Schlüssel im Wohnzimmer versteckt? So groß war ihr Wohnzimmer nicht! Und notfalls würde sie es mit Gewalt versuchen! Probeweise nahm sie das hervorstehende Stück des einen Gurtes zu Hand, befühlte es, musste aber feststellen, dass es sich irgendwie kaum biegen beziehungsweise bewegen ließ; es schien im Inneren irgendwomit verstärkt zu sein; mit einer simplen Schere war dem Ding wohl nicht beizukommen. Es war sowieso fraglich, wie es gelingen sollte, eine Schere oder ein Messer unter den eng anliegenden Gurt zu bekommen.

Sie war in ihr Wohnzimmer gestöckelt, leise über die hohen Absätze fluchend. Wenn sie die erst einmal von den Füßen hätte! In der Tür war sie stehen geblieben, das Zimmer war unordentlich wie immer, wie lange war es her, dass sie Staub gewischt hatte? Vergeblich hatte sie unter den wenigen Blumentöpfen nachgesehen, die sie hatte; nein, Schlüssel hatte sie nicht gefunden.
Es war anstrengend, ganz verdammt anstrengend. Ihr Kopf hatte sich komisch angefühlt. Ihre Beine wirkten, wie abgeschraubt. Sie brauchte eine Pause, legte sich auf ihre Sofa. Sitzen war nicht recht möglich.

Ingeborg wachte Stunden später auf. Es war dunkel, es mochte bereits später Abend sein. Ihr Handy? Wo hatte sie ihr Handy liegen? In der Küche? Alles tat ihr weh. Mühselig kam sie zum Sitzen, das verdammte Korsett schnitt ihr die Luft ab und drückte gegen ihre Oberschenkel. Mit beiden Händen griff sie nach den kleinen Schlössern, die an der Vorderseite baumelten. Zog daran - nichts. Obwohl sie wusste, wie blöde der Versuch war, ihre Hände griffen nach hinten, untersuchten mit hilflosen Fingern die steifen Patten - no way! Sie überlegte fieberhaft, mit welchem Gegenstand sie versuchen sollte, die verstärkten Gurte in ihrer Taille aufzuschneiden - es fiel ihr nichts ein. Außer einer wackligen kleinen Schere aus einem China-Laden hatte sie nichts, und wie hätte sie mit einem Messer unter einen der Gurte kommen sollen?
Ihr wurde schlecht, als ihr langsam dämmerte, wie aussichtslos ihre Bemühungen waren, aus diesem Korsett herauszukommen, ohne die Schlösser öffnen zu können. Wieviel Uhr mochte es sein? Sie stand auf und hätte sich beinahe wieder hingelegt, die beschissenen heels an ihren Füßen hatte sie glattweg vergessen! Wenn sie die Mordsdinger wenigstens von ihren Füßen bekäme!
Ihr Handy meldete einen entgangenen Anruf. Klaus hatte versucht, sie anzurufen, vor Stunden schon. Sie sah, es war bereits nach Mitternacht. Ihre Blase meldete sich, könnte sie wenigstens die dicken Dinger loswerden? Es ging, der Stoff ihres Gymnastikanzugs war elastisch und ließ sich mit etwas Mühe beiseite ziehen. Auf der Toilette begann sie, zu grübeln. Warum hast du so panisch reagiert, Klaus Behrend? Hattest du vergessen, dass es nur ein Spiel ist? Warum wolltest du mir nicht das geben, was ich haben wollte, als ich da hilflos an der Stange hing? Was ist los mit dir? Und was war gestern eigentlich mit Barbara geschehen? Und sie fragte sich, ob jetzt alles aus wäre. Ich muss ihm den verdammten Pater ans Messer liefern! Dieses alte Drecksschwein! Klaus wird nie mit sich selber ins Reine kommen, solange der nicht im Knast war und sich nicht mehr an kleinen Jungen vergehen konnte!

Ingeborg überlegte, ob sie ins Bett gehen sollte, oder besser einen schnellen Kaffee kochen und dann mit der Suche beginnen? Sie entschied sich für Letzteres. Es war eine Frage, wie lange sie es noch aushalten könnte. Bereits jetzt hatte sie immer wieder das Gefühl, mit einer heraufziehenden Ohnmacht zu kämpfen. Riechsalz?? Was war das eigentlich für ein komisches Zeug? Konnte man immer noch Riechsalz in der Apotheke bekommen? '.... ja ja, mein Mann schnürt mich immer viel zu fest...' Man würde sie wohl nicht mehr gehen lassen!
Ihre Suche begann von vorn. Denk nach, Ingeborg Wimmer! Du bist ein Bulle! Du hast schon ganz andere Wohnungen durchsucht! Sie überlegte, wie sie es machen sollte. Das Wohnzimmer gedanklich in mehrere Blöcke aufteilen? Systematisch vorgehen? Ihr fiel ein, wie Sherlock Holmes es gemacht hätte. Er hätte die Dicke der Staubschicht betrachtet. Licht! Ich brauche Licht! Sie nahm ihr Handy, wählte die Taschenlampen-app, auch wenn sie wusste, dass jetzt weltweit wieder diverse Rechner alles registrieren würden - die Kamera! Sollte sie die Kamera abdecken? Wer konnte jetzt eigentlich mitgucken?? Sie hielt einen Finger vor das winzige Objektiv, vielleicht war es besser so, vielleicht war es übertrieben, was weiß man denn schon über diesen ganzen Scheiß??
Der Staub schien es gut mir ihr zu meinen. Ihre Regale wirkten unberührt. Sie versuchte es mit Überlegen. Was war Klaus für ein Mensch? Was wusste sie überhaupt über ihn? Sehr wenig, wie sie sich eingestehen musste. Er mochte Technik... und Frauenkleider. Half ihr das weiter? Technik? Gibt es hier Technik? Ihre Augen glitten über ihren Flachbild-Fernseher, wo sollte man hier etwas verstecken? Der CD-Player? Sie schaltete das nicht mehr ganz neue Gerät ein, drückte auf die OPEN-Taste, die CD-Lade fuhr heraus - nein, keine Schlüssel!
Ihre Füße begannen zu schmerzen: fucking heels!! Sie würde bald eine Pause einlegen müssen. Und wenn das Versteck gar nicht so kompliziert war? Vielleicht lagen die Schlüssel einfach ganz hinten unterm Sofa! Ingeborg versuchte, sich zu bücken, es ging ums Verrecken nicht, sie kam nicht hinunter, musste sich umständlich auf das Sofa fallen lassen und von dort auf den Fußboden gleiten. Sie musste noch tiefer, musste mit dem Kopf auf die Erde, totale Erniedrigung, und wer weiß, wieviele Kerle sich daran jetzt aufgeilen, diese Frau, die da so eng geschnürt in ihrem Korsett herumturnt..., vielleicht sollte sie die App doch besser ausschalten, aber dann könnte sie auch nicht sehen, was unter ihrem Sofa lag. Sie fand einen Zettel, Brunos Handschrift, scheiß Bruno, einfach so nach Passau abgehauen...., sie las ihn nicht, knüllte ihn zusammen und warf ihn wieder unters Sofa. Einen Schlüssel fand sie nicht.
Ingeborg knipste die Taschenlampe aus, schleppte sich zurück in ihr Sofa, zog eine Decke über sich. Wo hast du meine Schlüssel versteckt, du alter Dreckskerl??

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Er konnte nicht schlafen. Der späte Kaffee rumorte in seinem Inneren; schlimmer noch waren die vielen Gedanken, die ihn ebenfalls nicht zu Ruhe kommen ließen. Immer wieder haderte er mit dem Spaß, den wiederzufinden er gehofft hatte. Es hatte nicht geklappt.
Das leise elektronische Tuten seines Handys riss ihn aus seinen Überlegungen. Eine SMS von Ingeborg? >WO SIND DIE FUCKING SCHLÜSSEL?? ICH HALTE ES NICHT MEHR LANGE AUS!!<
Klaus antwortete nicht. Legte sein Handy weg. Nein! No way!! Du hast es so gewollt! Nun such mal schön!! Nein, ich werde dir nicht antworten! Außerdem so eng war das Korsett doch gar nicht. Ich hätte es noch mindestens fünf Zentimeter enger schnüren können! Stell dich nicht so an, Ingeborg! Wirst schon nicht abkratzen!! So viele Gedanken! Aber er schrieb nichts. Steckte die Hand unter die Bettdecke, befühlte sein Glied. Es hatte sich aufgerichtet, lag plötzlich wieder, wie in alten Zeiten, prall und steif in seiner Hand und wartete auf seine Reaktion, auf die Bewegung seiner Hand, eine Bewegung, die ihn immer noch an jene schrecklichen Wochen erinnerte, damals im Internat. Nur dass es damals nicht seine eigene Hand gewesen war.
Er tat, was er tun musste. Entlud sich in einem gewaltigen Ausbruch, sackte zusammen, schlief ein. Spaß hatte es trotzdem nicht gemacht.


% % %

Sie wachte auf, weil ihr kalt war; ihre Kuscheldecke war zu Boden gefallen, obendrauf lag ihr Handy. Das Display war erloschen, die Aktion mit der Taschenlampen-App hatte zuviel Saft gekostet; sie hatte vergessen, es zum Aufladen in die Steckdose zu stecken. Müde erinnerte sie sich an ihre letztes SMS - ob er wohl geantwortet hatte?
Es ging ihr nicht gut. Ihr Mund war knochentrocken, das enge Korsett hatte sie gezwungen, wie ein ausgepowerter Hund zu hecheln. Normales Atmen war absolut unmöglich. Ihr Körper war arg verschwitzt, der enge Gymnastikanzug klebte an ihr, aus dem Ding würde sie so schnell auch nicht herauskommen. Ihre Hände glitten wieder über ihre eingeschnürte Taille, wie kann ich so dünn sein?? Die Frage, wie lange sie noch so dünn bleiben müsse, wollte sie sich lieber nicht stellen. Vielleicht hatte Klaus schon geantwortet? Sie rappelte sich hoch, machte einen Umweg über die Küche, die high heels nervten mehr als zuvor, - wenn Bruno mich so sehen könnte!! - trank ein halbes Glas Wasser, aber selbst Wasser schien nicht mehr den Weg in ihren Magen finden zu wollen; was, wenn sie dann etwas essen musste? Kein Mensch kann in so einem Korsett etwas essen!
Im Schlafzimmer fand sie ihr Ladekabel, stöpselte es ein, wobei sie einem weiteren Schwächeanfall nahe war, dann kontrollierte sie ihren Status: nein, nichts. Keine neuen SMS! Scheißkerl!! Sie schloss ihr Fenster, zog den dunklen Vorhang zu, sperrten den anbrechenden Tag aus, ein Tag, vor dem sie Angst hatte, der noch nicht anbrechen sollte. Wie lange muss ich es noch aushalten?? Und sie merkte zum ersten Mal, dass sie heftiger an beiden Schlösschen zog, dass sie mit ihren Fingernägeln über die verstärkten Patten in ihrem Rücken kratzte. Und wenn ich hier wahnsinnig werde? Was dann?
Ingeborg wühlte sich in ihr Bett. Wusste nicht, wie sie auf der weichen Matratze liegen sollte, drehte und wendete sich, bis sie endlich Ruhe fand.


Stunden später - das sonntägliche Gebimmel einer nahen Kirche hatte sie geweckt, da halfen weder Doppelverglasung noch dicke Vorhänge - stand sie im Bad und bemühte sich, mit abwechselnd heißem und kaltem Wasser ihren Kreislauf in Gang zu bekommen. Duschen ging leider nicht - sie befürchtete, das Korsett könne Schaden nehmen, oder sie selber - aber manchmal tat es auch ein Waschlappen.
Ihre bleistiftdünnen Absätze kratzten über ihre hellen Fliesen, hoffentlich hinterließen sie keine Schäden. Noch einmal hatte sie vorhin versucht, mit den Händen an ihre Füße zu kommen; jedes Mal fehlten nur ganz wenige Zentimeter, jedes Mal verstärkte sich bei dieser Turnübung der Druck des Strafkorsetts so sehr auf ihren Oberkörper und ihre geschundene Taille, dass es nicht auszuhalten war.
Strafkorsett?? Habe ich 'Strafkorsett' gedacht? Hatte es denn so etwas früher auch schon gegeben? Abschließbare Korsetts, in die Mädchen aufs Engste eingschnürt wurden, wenn sie sich auflehnten? Auflehnten, rebellierten gegen die einengende Kleiderordnung, gegen ihre untergeordnete Stellung in Familie und Gesellschaft? Und, so überlegte sie weiter, hätte es die Umbrüche des 20. Jahrhunderts nicht gegeben, müssten Frauen diese schrecklichen Dinger vielleicht immer noch tragen, rechtlos ihren Männern ausgeliefert, die sie jeden Morgen einschnürten, egal, wie sehr sie dagegen protestierten? Wie sähe dann mein Leben aus? Vielleicht die Frau von Bruno? Bruno, der über sie bestimmte, der...

Sie hätte das Piepsen ihres Handys beinahe überhört. Ingeborg eilte zurück in ihr Schlafzimmer, griff nach dem Handy, ließ das Display aufleuchten, ja, eine SMS von Klaus, oh ja, von Klaus!! Sie las: >MORGEN! ALLES OK?<
Oh, verdammt verdammt! Was soll ich antworten? Dass ich kurz vor dem Sterben stehe? Weil ich die blöden Schlüssel nicht gefunden habe? Aber will ich ihm seinen Triumph gönnen? Welch ein Triumph denn? Du hast es selber so gewollt, Ingeborg!! Gib ihm nicht die Schuld für deine Sucht!! Sucht? Was für eine Sucht denn??
Sie sah auf die Uhr. Gerade 10 Uhr. Wie lange hatte sie es bis jetzt ausgehalten?? Noch keine 24 Stunden. Vielleicht sollte sie ihn jetzt zappeln lassen. Gar nicht anworten. Mal sehen, wie es ist, wenn ich gar nicht anworte! Wie lange es dann dauert, bis er angetuckert kommt! Wird sich doch bestimmt Sorgen machen, ob ich noch lebe! Oder??


Donnerstag, Ende Juli

"Ganz schön heftig!" Evelyn schüttelte den Kopf. Sie hatte sich nach Dienstschluss mit Klaus in einer Tapas Bar getroffen und versuchte nun, sich einen Reim auf das zu machen, was Klaus ihr erzählt hatte.
"Also, lass mich noch einmal rekapitulieren! Du bist bei deiner Nachbarin eingebrochen. Hast dort dieses Korsett geklaut..."

"Geliehen!" unterbrach Klaus sie.

Lyn warf ihm einen etwas ungehaltenen Blick zu und fuhr unbeirrt fort. ".... geklaut. Und hast dann deine Kripo-Freundin an den Armen gefesselt, sie bis fast zur Bewusstlosigkeit eingeschnürt, hast das Ding abgeschlossen und bist dann nach Hause gefahren? So mir-nichts-dir-nichts??"

"Ja, so in etwa stimmt es. Ich werde das Korsett zurückbringen...."

"Das ist doch wohl nebensächlich! Was hast du dir bloß dabei gedacht, sie einfach so zurückzulassen? Bist wohl von allen guten Geistern verlassen??"

Der Vorwurf stand im Raum. Er war nicht neu, er hatte ihn sich selber oft genug gemacht. Neu war indes diese seltsame, etwas antiquierte Formulierung: 'von allen guten Geistern verlassen'.

"Sie hat es selber so gewollt. Und diese Idee mit der Fesselstange, .... ich wusste nichts davon. Sie hat das Ding selber zusammengebastelt. Vorher hatte sie immer nur gesagt, sie wollte mal wissen, wie es sich anfühlt, in einem Korsett zu stecken. Ich hatte mir wenig Böses dabei gedacht." Trotzdem bohrte er seinen Blick jetzt in die Taschplatte; Evelyns inquisitorischem Blick wollte er lieber entgehen.

"Ja, klar. Sie hat es selber so gewollt! Habe ich das nicht irgendwo schon einmal gehört? Ehrlich gesagt, du bist ganz schön tief gesunken, Klaus. Nur, was ich nicht verstehe, warum bist du dann so plötzlich abgehauen?? War noch mehr passiert?"

Für einen kurzen Moment überlegte er, wieder davon zu laufen. Aber er wusste, Evelyn stand auf seiner Seite, egal, welchen Bockmist er gemacht hatte. "Sie wollte mehr..."

"Ja...?"

Er spürte wie sein Magen sich zusammenzog. Suchte nach passenden Worten. Fand keine. "Ich sollte sie...., sie wollte...., ohne mich...."

Evelyn schüttelte den Kopf. "So wird das nichts, Klaus. Daraus wird ja kein Mensch schlau. Also, du solltest sie.... hm, was, Kitzeln wird es ja wohl nicht gewesen sein?"

Er musste lachen, verschluckte sich beinahe an seinem Getränk. Aber es half. Plötzlich konnte er von der Fernbedienung erzählen, und welchen Zweck sie hatte.

"Du kanntest das Ding schon?"

Er erzählte ihr von Daniela, von ihrem ersten Zusammentreffen, abends in der Kirche, als er nach seiner Oma geschaut hatte. Und was an jenem Abend bei der GeiDi-Gaudi passiert war.

"Herbstferien, sagtest du? Ging sie noch zur Schule?"

"Ja, sie ging in die Abiturklasse. Sie war hier, um ihre Tante zu besuchen. Meine Oma wohnte ganz in der Nähe. Sie freundete sich mit Monika an, der Tochter von Omas Nachbarin. Und kam im Jahr darauf dann wieder nach München. Nach dem Abi und einer USA-Reise. Später erzählte Daniela mir davon, was die beiden so getrieben hatten." Was Monika mit ihm, bzw. Barbara getrieben hatte, behielt er lieber für sich. Evelyn musste nicht alles wissen.

"Also gut, ja. Ich will lieber gar nicht wissen, was man mit dieser Fernbedienung anstellen kann. Du solltest also das Dings da nehmen und sie... hm... stimulieren, sage ich einmal. Hast dann Panik bekommen und bist abgehauen."

Er nickte. Wollte sie nicht unterbrechen.

Konnte sie sich denn selber befreien, und ist sie aus diesem blöden Korsett herausgekommen? Oder steckt sie immer noch drin und ich muss mal besser nach ihr sehen?

"Sie schickte mir noch in der Nacht eine SMS und wollte wissen, wo ich die Schlüssel für das Korsett versteckt hatte."

"Und hast du es ihr geschrieben?" Evelyn sah ihn scharf an.

Klaus schüttelte den Kopf. Ich las es erst am nächsten Morgen.

"Dann hast du ihr also am nächsten Morgen geschrieben, wo du sie versteckt hattest?"

Er sah weg. Schwieg. Schüttelte wieder den Kopf, kaum dass man es sehen konnte.

"Du hast es ihr nicht gesagt??"

"Sie wusste doch, dass sie im Wohnzimmer suchen sollte!"

"Im Wohnzimmer? Bist du bescheuert? Da gibt es doch hundert Versteckmöglichkeiten!!" Evelyn rückte ein wenig von ihm ab. "Und dann?"

"Ich schrieb ihr eine SMS und fragte, ob alles okay wäre! Sie hatte nicht geantwortet. Erst jedenfalls nicht. Später dann - ich hatte schon überlegt, zu ihr hin zu fahren - bat sie mich noch einmal, ihr das Versteck zu nennen. Ich glaube, da war sie schon ziemlich fertig."

"Dann hast du es ihr also gesagt? Die arme Frau!"

Klaus schwieg. Drehte seinen Kopf jetzt ganz weg.

"Immer noch nicht? Mein Gott, Klaus! Was zum Teufel ist denn da in dich gefahren?"

Seine Schultern begannen zu zucken, er versuchte, seinen aufkommenden Weinkrampf, hier in aller Öffentlichkeit, zu unterdrücken. Ihre Worte hatten ihm zugesetzt.

"Wann hast du es ihr gesagt? Und wo hattest du die Schlüssel versteckt?"

Er beruhigte sich etwas. "Am späten Nachmittag. Ja, ich dachte, soll sie mal ruhig 24 Stunden in dem Ding stecken, wenn sie so gern wissen möchte, wie es ist. Versteckt hatte ich sie in einer CD-Hülle."

"Hoffentlich kein Schlager!" rutschte es Evelyn heraus.

Klaus fasste es als Frage auf. "Nein, ich weiß nicht. Schlager hört sie nicht. Ich hatte irgendeine CD genommen. Welche, weiß ich nicht mehr."

"Kann man nur hoffen, dass sie nicht allzu viele CDs hat!" Evelyn trank einen Schluck. "Ehrlich gesagt, du bist auf dem besten Wege, dich zu einem notgeilen Schwein zu entwickeln. Hätte nicht von dir gedacht, dass du so weit gehen würdest. Die Nummer da neulich abends in der Kirche, das war schon heftig. Aber das hier ist doch auch unterste Sohle. Sei bloß vorsichtig!! Du weißt doch, was man vom Teufel sagt: Gibt man ihm den kleinen Finger, nimmt er die ganze Hand!"

"Ja, ich weiß. War scheiße von mir!" Er kramte ein Taschentuch hervor, schneuzte sich.

"Bist du mal bei dieser Beratungsstelle gewesen?"

Klaus berichtete von seinem Besuch.

"Gut, Klaus. Gut. Geh ruhig noch einmal hin! Ich weiß, diese Besuche sind nicht ganz einfach. Einmal ist kein Mal. Man sollte nicht glauben, dass ein einziges Gespräch alles ändern wird. Man sollte aber auch nicht glauben, dass einige Dutzend Gespräche etwas helfen. Man muss auch dementsprechend handeln!" Sie suchte nach ihrer Geldbörse. "Ich hatte einen langen Tag. Aber sag mal, um mal noch das Thema zu wechseln: wie geht es mit unserem Pater weiter? Läuft es mit der Anklage? Ich hoffe mal, es wird bald zum Prozess kommen! Belastungsmaterial haben wir auf jeden Fall geliefert! Brrr! - sie schüttelte sich - weißt du noch, dieser eklige Wintertag im Englischen Garten? Ein Glück, dass ich den Kerl dann so gut vor die Linse bekommen habe!"

"Klar weiß ich das noch! Ingeborg erzählte mir, der Fall liege schon lange bei der Staatsanwaltschaft. Eigentlich müsste es bald zu einer Anklage kommen. Jetzt wird auch noch wegen Fahrerflucht mit Todesfolge gegen ihn ermittelt! Wir müssen uns wohl weiterhin in Geduld üben!"

Sie bezahlten ihre Rechnungen, dann verabschiedeten sie sich voneinander. Es schauderte ihn, als er ihre Worte noch einmal überdachte.


49. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 19.03.18 19:22

Liebe DAniela!
Wenn das kein "strenges" Forum wäre, würde ich Dich jetzt doch einmal scharf kritisieren. Du spannst uns sowas auf die Folter, wie sonst niemand! Aber hier ist es gerade das sprichwörtliche Salz in der Suppe. Somit ist für die neue Woche wieder "alles drin" vom Happyend bis zum totalen Crash! Ich als fast regelmäßiger Leser, ich weiß somit wieder nichts, aber diesmal eben auf einem higher level.
50. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 25.03.18 22:00

Es geht in die Schlusskurve....

Ich will nicht viele Worte machen, der Text mag für sich selber sprechen. Nächsten Sonntag dann ist Schluss. Dann habt Ihr, meine lieben Leser, am Sonntagabend wieder Ruhe!! Eure Daniela 20

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München, Mitte August

"Ach ja, Klaus, nicht wahr? Kommen Sie herein in die gute Stube!" Der nette Herr begrüßte ihn freundlich und bat ihn zu sich in sein Besprechungszimmer. "Ich hatte, ehrlich gesagt, gehofft, Sie so schnell nicht wiederzusehen. Was ist geschehen?"

Klaus hatte seine anfängliche Unsicherheit schnell wieder abgelegt. Er schüttelte die Hand, nahm dann auf demselben Stuhl Platz, wo er schon vor einigen Wochen gesessen hatte. "Es tut mir leid. Aber Ihre Gebete scheinen nicht geholfen zu haben!" Er blickte etwas linkisch zur Seite.

"Haben sie nicht? Wie können Sie das wissen?"

"Nun ja...." Klaus machte eine unbeholfene Geste mit der Hand in den Raum.

"Sie meinen, weil Sie wieder hier sind? Was haben Sie denn erwartet? Dass Ihnen die Ketten abfallen wie einst Petrus im Kerker? Gottes Wege sind unergründlich! Haben Sie das immer noch nicht begriffen?" Der Therapeut machte es sich in seinem Stuhl gemütlich; den Eindruck von Inquisition machte er nicht auf Klaus.

"Soll ich erzählen?"

"Ja. Bitte erzählen Sie. Schweigen bringt uns hier nicht wirklich weiter. Stimmt's, oder habe ich Recht?" Er lächelte ihn an. "Aber heute machen wir es mal anders. Heute möchte ich Sie bitten, zu berichten, was in den letzten Wochen in ihrem Leben geschehen ist. Also nicht wieder wie letztes Mal, als es mir wichtiger war, zu erfahren, was man Ihnen angetan hatte. Also, berichten Sie und haben Sie keine Angst! Hier in diesem Raum ist schon so Vieles erzählt und berichtet worden; nichts kann mich mehr schockieren!"

Klaus nahm dankend die ihm angebotene Tasse Kaffee und die Aufforderung, zu berichten, an. Eine Tasse, an der man sich festhalten kann, ist immer eine gute Sache. Etwas unsicher und stockend begann er, von dem zu berichten, was er mit Ingeborg erlebt hatte. Der nette Herr unterbrach ihn nicht, hörte ihm mit großer Aufmerksamkeit zu. Klaus beendete seine Schilderung mit dem Moment, als er Ingeborg verlassen hatte.

"Ja, das ist ja wirklich eine krasse Geschichte. Aber haben Sie keine Angst, das sage ich jedem, der hier sitzt. Sehen Sie, es gibt keine Abstufungen zwischen richtig und falsch. Entweder man handelt richtig, oder man handelt falsch. Sie sind also davon gelaufen? Aha! Jetzt wird es richtig interessant!"

Klaus merkte leichte Irritation in sich hochsteigen. "Interessant, sagen Sie? Wollen Sie wissen, was mit meiner Bekannten passierte? Ob sie die Schlüssel fand? Wie lange sie in diesem Korsett stecken musste?"

Der Mann blieb ruhig und wehrte mit entschiedener Geste ab. "Gott bewahre! Nein, ich meine, interessant, wie Sie sich weiterhin verhalten haben. Was Sie gedacht und gemacht haben. Ihre Reaktion auf die ganze Sache.... Ihre Suche nach dem verlorenen Spaß. Haben Sie ihn gefunden?"

Klaus schüttelte schwach den Kopf. "Das machte keinen Spaß mehr...." Er blickte zu Boden, wollte sich nicht ins Gesicht blicken lassen. Seine Hände umklammerten die Kaffeetasse.

"DAS nicht? Aber....." Er ließ seinen Therapeutenblick auf ihm ruhen. Geduldig, abwartend.

"Sie schickte mir schon nach wenigen Stunden eine SMS und fragte, wo ich die Schlüssel versteckt hatte. Bis zum Nachmittag des folgenden Tages kamen mehrere SMS...."

"Sie haben gar nicht an sie gedacht!" Es war keine Frage.

Klaus blickte ihn an. Sein Blick war schwer auszuhalten. Er biss die Lippen zusammen, es fiel ihm schwer, seine Gesichtsmuskeln zu kontrollieren.

"Stimmt's? Ihre Bekannte war Ihnen in dem Moment völlig egal. Sie haben sich daran ergötzt, in diesem Moment Macht über sie zu haben. Sie musste für Sie leiden! Und - korrigieren Sie mich, wenn ich daneben liege - DAS hat Ihnen dann Spaß gemacht!"

Klaus nickte, kaum wahrnehmbar.

"Und Sie behaupten immer noch, meine Gebete für Sie hätten nichts gebracht?" Er lächelte wieder.

"Ich.... ich verstehe nicht. Ich habe ganz großen Mist gemacht, und Sie sagen....?"

Der Therapeut unterbrach ihn. "Sehen Sie, jetzt wollen wir mal den Lieben Gott außen vor lassen. Nähern wir uns der Sache von einem psychologischen Standpunkt. Ihr, ich nenne es mal: Spiel, hat Sie an eine Entscheidungsgrenze gebracht. Wären Sie ein Teenager würde ich eventuell von einem 'Level' sprechen. Aber so jungen Leuten ist es schwer verständlich zu machen, in wieweit das Leben ein Spiel ist, und in wieweit nicht. Sie wissen aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrungen schon lange, dass es kein Spiel ist. Obwohl sich sprachlich dieser unsägliche Begriff etabliert hat, dass einem übel mitgespielt wurde. Jetzt aber frage ich Sie: richtig oder falsch? War Ihre Reaktion, Ihr Verhalten, richtig, oder falsch? Spaß hin oder her."

"Sie war falsch."

"Gut. Ich habe auch nichts anderes erwartet. Sonst wären Sie wohl gar nicht erst ein zweites Mal gekommen. Dumm ist nur, Sie erwarten Maßnahmen von mir, Maßnahmen, die ich Ihnen schuldig bleiben muss. Sie sind kein Kind mehr, dem man die Ohren lang zieht - was ja einerseites körperliche Gewalt darstellt und andererseits auch nie wirklich geholfen hat. Klar ist nur, wenn Sie es nicht schaffen, auf Umkehrschub zu stellen, werden Sie es auf gar keinen Fall schaffen!"

"Umkehrschub? Ich verstehe nicht ganz...."

"Entschudligen Sie! Ich hatte mal einen Klienten, der war Pilot. Ein landendes Flugzeug stellt nach dem Aufsetzen die Triebwerke auf Umkehrschub, dann wird der Schub nach vorn ausgestoßen und bremst das Flugzeug ab. Erst, wenn es langsamer geworden ist, werden auch die Bremsen betätigt. Andernfalls ließe sich solch ein schweres Flugzeug nicht richtig abbremsen." Er lachte leise. "Bei Ihnen sollte ich vielleicht lieber von einem alten Auto reden?"
Er wartete Klaus rätselnde Reaktion gar nicht erst ab und hob die Hand. "Sehen Sie, ich habe es schon einmal gesagt: ich bin kein Zahnarzt. Es gibt da im Gehirn nichts, was man mit einer Zange herausziehen könnte. Uns bleibt allein die Sprache. Und hier sind Bilder ein gutes Mittel. Wenn ich Ihnen einfach sage: 'Lassen Sie den Scheiß sein!', dann geht das zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder heraus. Wenn ich Ihnen aber ein gutes Bild liefere, dann haben Sie etwas, mit dem Sie sich beschäftigen können."

"Ja." Klaus nickte ihm beipflichtend zu. "Das macht durchaus Sinn. Aber was hat es nun mit einem Auto zu tun??"

"Stellen Sie sich ein Auto vor. Ihr Auto. Es hat Ihnen jahrelang treu gedient. Hat sie von Ort zu Ort gebracht, es Ihnen ermöglicht, viel zu erleben und von der Welt zu sehen. Aber irgendwann will es nicht mehr richtig. Der Motor stottert. Die Bremsen funktionieren nicht mehr zuverlässig. Das Chassis beginnt zu rosten. Sie stellen fest, da lässt sich nichts mehr reparieren. Wenn unser Auto kaputt geht, muss man es nicht ewig weiter vor sich herschieben, sondern man kann es einfach stehen lassen. An einem geeigneten Platz, damit die Seele Ruhe findet. Und Sie fassen den einzig richtigen Entschluss: Sie bringen es zum nächsten Autofriedhof, einem Schrottplatz...."

"Parco rottami", murmelte Klaus leise.

"...einem Schrottplatz, wo Sie sich von ihrer alten Karre verabschieden. Was mit dem Wagen geschieht? Sie werden es wahrscheinlich nie sehen. Lange noch werden Sie wissen, dass er dort steht, bis er irgendwann verschrottet wird. Am Ende ist es nur noch eine Erinnerung, mehr nicht. Und genauso können Sie es mit ihrem Problem machen! Trennen Sie sich von ihrer alten 'Karre'. Beginnen Sie etwas Neues. Suchen Sie eine berufliche Herausforderung! Machen Sie am besten etwas Technisches, da kommt man auf keine dummen Gedanken. Machen Sie sich einen festen Plan, damit Sie nicht herumirren!

"Und Barbara?" Es war ihm so herausgerutscht. "Meine Bekannte, die mich hier hergeschickt hatte, meinte ja, ich müsse mich mit Barbara, mit meinem alter ego, versöhnen."

Der Therapeut legte die Hände in den Schoß, sank nach vorn, bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Er antwortete nicht sogleich, begann, stattdessen, eine Melodie zu summen. "Kennen Sie dieses Lied? 'Sweet Dreams', von Emily Browning." Leise begann er, den Text zu singen: "'Some of them want to abuse you, some of them want to be abused!' Ja, Barbara ist sicherlich etwas kompliziert. Aber Barbara ist eigentlich nicht das große Problem. Ich glaube, Ihre Bekannte hat nur das halbe Problem gesehen, wenn sie sagt, Sie sollen sich mit Barbara versöhnen. Barbara - Ihr alter ego, wie Sie sagen, ist nicht zu mir gekommen. Solch ein alter ego ist doch eigentlich eine schöne Sache. Viele haben so etwas. Gehen zu Kostümfesten, Fasching, jetzt dieser neue Quatsch da Ende Oktober - wie heißt das doch gleich...."

"Halloween!"

"... richtig, Halloween. Oder man geht zum Reenactment und spielt SS- Soldat - was auch immer gerade daran so toll sein soll? Alle tun das. Und Sie haben halt Barbara. Aber nicht Barbara ist zu mir gekommen, sondern Klaus. Sie müssen sich mit Klaus versöhnen. Klaus, der lange geglaubt hat, er habe seine Schwester umgebracht. Klaus, der im Internat böse Dinge tat, so böse, dass er sie nicht einmal beichten konnte und diese 'Sünde' nicht vergeben werden konnte, bis zum heutigen Tag. Bei Klaus liegen all ihre Probleme, mit ihm müssen Sie sich versöhnen!!

Es wurde an die Tür geklopft. Die Sekretärin öffnete, entschuldigte sich für die Störung, erinnerte ihn an einen wichtigen Termin.

Er stand auf, nahm Klaus die Kaffeetasse ab, die dieser immer noch in der Hand hielt. "Werfen Sie die Flinte nicht ins Korn, Klaus. Das wird schon. Diese Dinge brauchen viel Zeit. Unser Unterbewusstsein sträubt sich gegen Veränderungen. Ich werden weiter für sie beten.... oder tun Sie es am besten selbst. Dann hilft es schneller." Er gab Klaus die Hand, begann wieder, leise zu singen: ".... travel the world and the seven seas...."

"Nur eines noch!" Klaus war in der Tür stehen geblieben. "Warum habe ich das gemacht? Nur, um den Spaß wiederzufinden? Ich wusste doch, dass meine Bekannte leiden würde. Aber...."

".... es hat Ihnen gar nichts ausgemacht, nicht wahr? Im Grunde genommen haben Sie es sogar genossen."

"Ja, so ist es wohl. Doch sagen Sie, gibt es eine Antwort auf meine Frage? Bin ich - er zögerte - bin ich verrückt? Nicht ganz richtig im Kopf?"

"Nein. Nein, das sind sie ganz bestimmt nicht. Mit Ihrem Kopf ist alles in Ordnung, Klaus. Aber Ihre Seele hat ihren Halt verloren. Sie wechselt zwischen gut und böse hin und her."

"Gut und böse?? Gibt es das überhaupt? Ist das nicht nur eine semantische Frage?"

Noch einmal gab es kurz den Therapeutenblick. "Sie werden es herausfinden, wenn Sie sich entschieden haben. Ich wünsche Ihnen viel Glück! Aber jetzt muss ich wirklich los! Wenn ich es mal so sagen darf: Bleiben Sie nicht stehen. Aber fliegen sie nie schneller, als dass Ihr Schutzengel noch mitfliegen kann!!"

Klaus bedankte sich, grüßte im Vorbeigehen die Sekretärin und wandte sich zur Tür.

"Klaus!??"

Er blieb stehen, drehte sich um und sah den netten Leiter der Beratungsstelle, der ihn noch einmal gerufen hatte. "Ja?"

"Ich hatte Ihnen letztes Mal gesagt, es sei leichter, den Spaß wiederzufinden. Sie haben mich nie gefragt: leichter als was?"

Klaus wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er nickte nur leicht mit dem Kopf.

"Leichter, als sich selbst zu finden. Versuchen Sie es! Es ist schwierig, aber nicht unmöglich! Viel Glück!!"


München, Ende August

Sprachlosigkeit hätte man ihr vorwerfen können. Aber Ingeborg hatte sich hinter einem Schutzwall aus Arbeit verbarrikadiert. Man hatte sie von ihrer Arbeit, der Digitalisierung alter Akten, abgezogen; Wichtigeres musste erledigt werden, so hatte man ihr gesagt. Letzten Endes aber doch nur einen weiteren Schreibtischjob angeboten. Es war nicht das, was sie wollte, aber bis jetzt war so viel zu erledigen gewesen, dass sie diese andere Sache fast aus den Augen verloren hätte.

Jetzt aber hatte sie es schwarz auf weiß vor sich liegen, das Schreiben der Staatsanwaltschaft München 2. Es war ihr nicht auf dem üblichen Dienstwege zugestellt worden, allein aufgrund der Tatsache, dass sie den Fall Huber nicht bearbeitet hatte. Für die Pädophilie Anklage war ein anderes Dezernat zuständig, die Anklage wegen Fahrerflucht mit Todesfolge wurde von der Staatsanwaltschaft Bamberg bearbeitet; dort war der junge Thomas Wagner zu Tode gekommen.

Klaus? Er hätte mich ja auch mal anrufen können! Diesen Gedanken hatte sie lange vor sich hin gehalten; nach jenem mehr oder weniger missglückten Abend im Juli hatte sie erst einmal keine Lust, sich mit ihm auseinander zu setzen.
Auch jetzt nicht. Sie hatte nicht vor, ihr letztes gemeinsames Abenteuer irgendwie zu evaluieren. Das fehlte noch! Nein, um Gottes Willen, bloß nicht noch darüber reden, was an jenem Tag falsch gelaufen war. Fragen, warum er so ausgerastet war, nachdem er die Fernbedienung unter ihrem Kopfkissen gefunden hatte. Ich werde sachlich bleiben! Nur das Wichtigste über diesen ehemaligen Pater Ruprecht berichten, und dann.... Und dann? Ingeborg hatte keine Ahnung, wie es mit Klaus, bzw. Barbara, und ihr weitergehen sollte. Falls überhaupt. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es vorbei war....

Sie ließ das Telefon mehrere Male klingeln, bevor Klaus sich meldete. "Hi!" Oder doch eher "hi?"??

"Hi Klaus! Lange nichts mehr gehört..."

"Nun ja... Iss halt so. Musste mal auf andere Gedanken kommen. Sommer genießen und so."

"Weg gewesen?"

"Nicht wirklich. Und du, was machst du so? Wie geht es dir?"

"Viel Arbeit. Geht so. Hatte leider noch keinen Urlaub nehmen können." Sie sprach es nicht aus.

"Ja..."

Sie hatte sachlich bleiben wollen, nur über das Schreiben der Staatsanwaltschaft sprechen. Aber jetzt merkte sie, dass solch ein Gespräch gar nicht möglich war, solange über anderes nur geschwiegen wurde. Also gut, würde sie halt den ersten Schritt tun müssen. "Soll ich dir das Korsett wiederbringen?"

"Das Korsett?" Er zögerte, seine Antwort kam irgendwie seltsam einstudiert. "Ach so! Das Korsett! Mir egal. Kannst es gern behalten, falls du es noch einmal anziehen willst." Und etwas hastig fügte er hinzu: "Aber glaube ja nicht, dass ich...."

"Nein nein! Schon gut, Klaus. Brauchst du nicht. Kann das Ding ja auch selber schnüren. Obwohl das schon irre geil war, wie du mich da geschnürt hattest und ich so hilflos an dem Balken hing."

"Ja." Seine Antwort wirkte seltsam leer. "Gibt es sonst was, Ingeborg?"

Sie konnte zum Hauptthema übergehen, was gut war. Der Anruf lag ihr eh schon schwer genug im Magen; sie wollte ihn gern hinter sich bringen. "Wir haben Post von der Staatsanwaltschaft bekommen!"

"Endlich!! Wurde ja auch langsam mal Zeit. Und, wie ist die Lage? Zehn Jahre bei Wasser und Brot??" Seine Stimme hatte plötzlich wieder Stärke bekommen.

"500 Euro Bußgeld wegen Führens eines nicht polizeilich angemeldeten Personenkraftwagens!"

"Wie bitte?" Klaus begann, leicht zu stottern. " Was? Sag das bitte noch einmal! Das soll ja wohl ein Witz sein!"

Ingeborg wiederholte, was sie ihm soeben mitgeteilt hatte. "Nein, leider nicht. Es tut mir leid, Klaus. Ich kann dir vorlesen, was hier, in der Zusammenfassung, steht. Die Anklage wegen Pädophilie wurde fallen gelassen, weil sich trotz erheblichen Verdachts gegen den Beschuldigten keine eindeutige Beweislage zugunsten der Anklage ermitteln ließ. Mit anderen Worten: es hat niemand gegen ihn aussagen wollen.... oder können. Da steht schlicht deine Aussage gegen seine Aussage."

"Aber was ist mit dem Video? Da redet der Kerl sich doch selber um Kopf und Kragen!"

"Nicht verwertbar vor Gericht. Die Feststellung seiner Person durch das gelieferte Bildmaterial sei nicht ausreichend. Und das schöne Foto, das deine Bekannte von ihm geschossen hat, als er den Chinesischen Turm verließ, kann auch nicht verwendet werden, da es dem Video nicht hunderprozentig zuzuordenen sei!"

"Ach du Scheiße!" Ingeborg hörte, wie Klaus erst einmal tief Luft holen musste. "Aber dieses lächerliche Bußgeld? So ganz kapiere ich das noch nicht. Hat man denn den Wagen untersucht? Konnte man denn nicht feststellen, dass mit diesem Wagen Thomas ins Jenseits befördert wurde?"

"Hier steht, die Anklage wegen eines angeblich bewusst herbeigeführten Tötungsdeliktes wurde gar nicht erst zugelassen. Ja, Huber hat sogar zugegeben, in diesen Unfall verwickelt gewesen zu sein. Aber seine Darstellung der Dinge sieht ganz anders aus. Angeblich hatte Thomas ihn erpresst. Er habe Geld haben wollen um zu seinen in den USA lebenden Eltern reisen zu können. Kein großer Betrag, 10.000 Euro. Und die hatte Pater Ruprecht auch tatsächlich vor jenem Tag von seinem Konto abgehoben, und wenige Tage später wieder eingezahlt."

"Erpressung? Was ist das jetzt für ein Quatsch? Wieso soll Thomas das Schwein denn erpresst haben? Er wusste doch gar nichts davon, dass der jetzt in Regensburg bei den Domspatzen war!"

"Doch. Angeblich habe Thomas ihn dort zufällig wiedergetroffen, als er mit seinem Bamberger Internat einen Ausflug nach Regensburg gemacht hatte. Und er habe ihm damit gedroht, ihn auffliegen zu lassen."

"Auffliegen, Ingeborg?"

"Von seinen Schweinereien zu erzählen! Der wäre sofort seinen Job los geworden!"

"Aber, jetzt mal ehrlich, ist nicht wenigstens das ein Eingeständnis seiner Schuld? Sonst hätte er ja wohl keinen Grund gehabt, irgendwas zahlen zu wollen."

"Ich weiß, das kann man so sehen. Aber rein rechtlich ist das völlig unerheblich. Hier wird dein Pater ja sogar eher als Opfer betrachtet."

"Mein Pater?? Sag das bitte nicht noch einmal. Aber was genau ist denn nun an jenem Winterabend geschehen?? Man kann doch nicht jemanden überfahren, und dann, hu-hei, einfach davonfahren?"

"Huber hat hier zu Protokoll gegeben, er habe an dem Abend bei dichtem Schneetreiben nicht die Hand vor Augen gesehen. Thomas habe Zeit und Ort des Treffpunkts bestimmt. Es war Abend und dunkel, er sei mit dem Wagen ins Schleudern gekommen, sei seitlich wohl gegen einen Laternenpfahl gestoßen, habe den Wagen aber wieder unter Kontrolle bekommen. Anschließend habe er an einer Bushaltestellenbucht eine halbe Stunde gewartet, aber Thomas sei nicht aufgetaucht. So sei er wieder nach Regensburg zurückgefahren. Von Thomas habe er nie wieder gehört. Auch nicht davon, dass dieser in Bamberg zu Tode gekommen war."
Ingeborg schwieg. Jetzt ist alles aus. Aus und vorbei, dachte sie.

Auch Klaus schien für den Moment nicht zu wissen, was er sagen sollte. "So eine neunmal verdammte Kacke!! Das kann doch wohl nicht wahr sein! Also gut, okay, ja, mag ja sein, dass es kein Mord war. Aber da ist doch immer noch die Tatsache, dass er Thomas Tod verschuldet hat. Das kann man doch nicht einfach so wegwischen, als sei nichts geschehen! Da muss es doch eine Strafe geben!! Was sehen denn deine Paragraphen hier vor??" Er war lauter geworden.

"Es ist vorbei, Klaus. Was meine Paragraphen vorsehen, kann ich dir gut sagen. Fahrerflucht mit Todesfolge kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden...."

"Na bitte! Das klingt schon besser! Fünf Jahre würden dem Schwein schon gut tun, mal so richtig in sich zu gehen!"

Ingeborg ließ sich nicht beirren. " ... mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Kann, Klaus! Aber nur, wenn man nicht zu spät kommt! Und wir sind leider viel zu spät gekommen!"

"Was soll das heißen? Wie denn zu spät?"

"Der Fall ist verjährt. Hätte man ihm eine absichtliche Tötung nachweisen können, dann hätten wir eine Chance gehabt. Mord verjährt ja nicht. Aber Fahrerflucht mit Todesfolge verjährt nach fünf Jahren." Sie holte Luft. Konnte sich gut vorstellen, was jetzt durch Klaus Kopf ging. "Es ist vorbei, Klaus. Du kannst froh sein, wenn der Kerl dich jetzt nicht wegen übler Nachrede belangt. Wahrscheinlich wird es auch in seinem Interesse sein, möglichst schnell irgendwo in der Versenkung zu verschwinden und Gras über die Sache wachsen zu lassen. Und, wenn du mich fragst, aufhören wird er wahrscheilich nicht. Aufhören damit, Kinder für seine sexuellen Triebe zu missbrauchen. Er wird weitermachen, und wir werden ihn weiterhin auf dem Radar behalten. Aber jetzt ist er gewarnt. Jetzt wird er vorsichtig sein, aufpassen, dass ihm keine Fehler unterlaufen. Und wir wissen, wo das eines Tages enden kann." Ihr war schlecht geworden bei dem Gedanken, den sie gerade gehabt hatte.

"Was meinst du, Ingeborg?" Seine Stimme zitterte leicht.

Ingeborg musste heftig schlucken. "Er wird sich in die Enge getrieben fühlen. Er könnte..." Sie musste eine kurze Pause machen. "Ach, Scheiße. Nichts, Klaus. Alles ist gut. Die Welt dreht sich weiter, morgen wäre ein neuer Tag. Pass gut auf dich auf, ja? Melde dich mal!!" Sie beendete das Gespräch, ließ ihn nicht mehr antworten.

Es gab nichts mehr zu sagen, sowieso.

Ingeborg zitterte. Wieder dachte sie an ihren Wunsch, wie schön es wäre, könnte sie nur einmal ein Verbrechen verhindern. Statt immer nur gerufen zu werden, wenn alles zu spät war.
Sie legte ihr Handy auf den Tisch, erschrak fast zu Tode, als eine eingehende SMS die Stille zerriss. Müde schaute sie auf das Display. Bruno? Sie öffnete die Nachricht und las. "Ein freches Angebot!"? Sie musste lachen. Eine Tür öffnet sich, und ich gehe hindurch! Sie wusste nicht mehr, wo sie diesen Satz einmal gehört hatte. Aber er hatte ihr immer schon gefallen. Sie würde ihn zurückrufen, fragen, was für ein 'freches Angebot' er für sie hätte. Ja, sie würde ihn zurückrufen. Bei Gelegenheit. Bei besserer Gelegenheit, dachte sie.


München, Oktober

Er hatte schlimme Wochen hinter sich. Wochen großer Einsamkeit, Wochen großer Verzweiflung. Er kämpfte mit sich selbst. Hatte manchmal den Drang, die kaputte Beziehung zu Ingeborg wieder aufleben zu lassen, manchmal eher das Gefühl, all dies lebend nicht mehr zu überstehen. Mehrmals hatte er überlegt, Evelyn um Hilfe zu bitten. Aber wobei hätte sie ihm helfen sollen? Bei der Suche nach sich selbst? Kein Mensch kann einem anderen helfen, so etwas zu schaffen. Höchstens ansatzweise. Die Suche selber lastete auf seinen Schultern. Schlimmer noch, weil er das Gefühl hatte, allein zu sein in einer Welt, die ihn nicht verstehen würde.
Mehrere Wochen hatte er versucht, sich geistig abzulenken, vergeblich, weder gutes Essen noch spannende Filme schienen ihm das zu geben, wonach er suchte. Und das Fernsehprogramm mit seinen täglichen Kochsendungen und ähnlichem Quark verschlimmerte alles nur noch. Diese vielen Leute, die miteinander lachten und möglicherweise nicht einmal wussten, wie gut es ihnen ging? Zum Kotzen!
Irgendwann hatte er angefangen, das Bücherregal seiner Großmutter zu durchforsten. Und gestaunt, was sich dort alles an guter Literatur fand. Ein kleines, eher unscheinbar graues, Büchlein hatte ihn neugierig gemacht. Der Titel "Ich hab's gewagt" war seltsam und lies ihn das Buch in die Hand nehmen. Abgebildet war eine alte, grauhaarige Dame, die ihren Kopf in die linke Hand stützt. Tisa von der Schulenburg hieß sie.
Klaus überlegte. Von der Schulenburg?? Irgendwie sagte ihm der Name etwas, nur richtig einordnen konnte er ihn nicht. Er las den Text auf dem Buchrücken... richtig, der Widerstand gegen Hitler! Er begann zu lesen, überflog die Seiten eher großzügig, las vom Leid eines anderen Menschen, lange vor seiner Zeit. Und kam an eine Stelle, die ihm vorkam, als sei sie für ihn geschrieben: "In mir ein unerträglicher Aufruhr. Was war ich? Wozu lebte ich? Wo war der Sinn? War nicht alles verspielt, vertan? Ich sah auf die Terrasse unter mir, warum machte ich nicht mit dem allen ein Ende? Der Gedanke, dort unten halb zerschmettert herumzuliegen, war grotesk und lächerlich. Bestenfalls peinlich. Würden die Eltern noch leben, wenn ich endlich den Pass bekam? Würde man mich in Deutschland verhaften? Ich war am Ende. Ausgeweint, leer. Ich kniete nieder und suchte nach den Worten des Vaterunsers, sie kamen mühselig wieder. Doch nach dem einen Vaterunser war alle Spannung gelöst."

Es trieb ihn umher. Beten? Sollte ER beten? ER, der in so viele Dinge verwickelt war, dass seine Seele sicherlich schwarz wie die Nacht war? Er überlegte. Wann hatte er zuletzt gebetet? Richtig gebetet, nicht nur so dahergesprochen, wie während seiner kurzen Zeit als Messdienerin Barbara? Er wusste es nicht mehr. Er wusste nur noch, wann er mit dem Beten aufgehört hatte: als der schwarze Mönch das erste Mal bei ihm gewesen war und ihm anschließend, nach vollendeter Sünde, auftrug, niemandem davon zu erzählen. Nicht einmal bei der Beichte!! Hörst du?? Sein inneres Selbstgespräch mit Gott verstummte an jenem Tag.

Er wusste, er musste eine Antwort finden, bevor die vielen Fragen ihm den Verstand raubten. Er machte lange Spaziergänge durch die Stadt, bis ihm eines Tages auffiel, dass er fast nur noch in derselben Gegend unterwegs war; ganz in der Nähe des Beratungszentrums. Konnte er hier das finden, wonach er suchte? Dieser Therapeut mit seinen seltsamen Ansichten, wäre er derjenige, der ihm den Weg zeigen würde?
Nein. Nein, er würde nicht wieder hingehen. Ich mache mich doch nicht zum Affen! Mit religiösen Themen sollte ich besser ins Pfarramt gehen, aber doch nicht hier!!
Aber der alte Spruch: der Mensch denkt.... Quatsch, dachte Klaus, als er eines Tages an einem späten Nachmittag an einer Häuserecke mit demjenigen zusammenstieß, den er, trotz aller Suche, hatte vermeiden wollen. "Oh, Entschuldigung!", rutschte es ihm heraus.

"Klaus?" Der nette Mann schien wenig überrascht. " Waren Sie auf dem Weg zu mir?"

"Nein." Klaus schüttelte den Kopf übertrieben heftig. "Eigentlich nicht."

"Und uneigentlich?"

Klaus wich dem Blick aus. "Sagen Sie, wie konnten Sie für mich beten? Sie wussten doch gar nichts von mir. Nicht einmal, ob ich katholisch oder protestantisch bin? Oder vieleicht Moslem oder von mir aus auch Jude. Welchen Gott rufen Sie da an, dass er mir helfen möge? Und glauben Sie wirklich an dieses Zeug?"

Der Therapeut nahm ihn beim Arm. "Kommen Sie, gehen wir ein Stück zusammen." Er lenkte seine Schritte weg vom städtischen Lärm. "Das Zweite mal zuerst! Ja, ich glaube wirklich daran. An die Kraft des Gebetes. Allerdings ist sie größer, wenn man selber betet. Sehen Sie... - er zögerte etwas - ich bin ja nicht blöd. Ob es da wirklich einen Gott gibt - wir können es nicht definieren und werden es deshalb auch nie beantworten können. Persönlich glaube ich an meinen Schutzengel, ihm danke ich jeden Abend für den Tag, egal, wie er war. Und so wandeln sich sogar scheinbar schlechte Tage in gute Tage. Aber das Gebet, um darauf zurückzukommen, ist ein seelisches Werkzeug der Selbstfindung. Und ich sage ganz bewusst seelisch und nicht psychisch. Weil wir mit all dieser Psychologie die Psyche sozusagen entwurzelt haben. Wir haben sie von der Seele abgetrennt, und das ist nicht gut. Schlimmer noch, wir verschreiben den Menschen massenhaft Psychopharmaka, wenn diese ihre Seele verloren haben. Einzig das Gebet kann dies wieder zusammenbringen."
Er deutete auf eine Bank. "Kommen Sie, setzen wir uns ein wenig. Und die Frage nach der Religionszugehörigkeit...., nun, die ist einfach zu beantworten. Eigentlich können Sie sie selber beantworten!"

Klaus meinte, einen Versuch machen zu müssen. "Nun ja...." Der Therapeut legte eine Hand auf seinen Arm

"Schon gut, Klaus. Dem Lieben Gott ist es völlig egal, ob der Mensch das Kreuzzeichen macht, oder nicht. Ob er sich zum Beten hinkniet, oder sich verbeugt. Oder ob sein Heiliges Buch Bibel, Koran oder Thalmud heißt. Das alles sind Menschendinge. Gott steht aber über diesen Dingen. Deshalb kann ich als kleiner Mensch Gott um etwas Führung bitten, wenn ich selber diese nicht bewerkstelligen kann. So einfach ist es!"

".... in der Theorie!" fügte Klaus hinzu.

"Ach, Theorie und Praxis? Theorie ist doch nur was für Leute, die dicke Bücher schreiben! Im praktischen Leben sind die Daseinsfragen viel einfacher, konkreter. Wo bekomme ich etwas zu essen? Wo kann ich in Frieden leben? Wo finde ich Glück, für mich und für meine Familie? Glauben Sie mir, so mancher kommt zu mir, Deutsche, Einwanderer; Gestrandete, die mit solchen Problemen kommen. Nicht jeder hat eine Leidensgeschichte, wie Sie die haben."

Klaus nickte. "Aber wenn Sie sagen, das Gebet ist eher ein psychologisches Werkzeug - wenn ich sie richtig verstanden habe -, dass seine Kraft in der Selbsterforschung besteht - wieso beten Sie dann für andere? Das ergibt doch gar keinen Sinn!"

Der nette Mann schüttelte leicht den Kopf. So, als wolle er ausdrücken: Immer dieselben Zweifler! "Sehen Sie: Wenn man lange genug für sich selber gebetet hat, dann kann man auch mal für andere beten. Es tut nicht weh, kostet nichts, und denen da oben - er deutete schwach gen Himmel - scheint es zu gefallen. Genügt Ihnen das als Antwort? Versuchen Sie es einfach mal...." Er zählte laut die Schläge einer Turmuhr mit. "Oh, schon sechs! Jetzt muss ich aber wirklich los! Man wartet auf mich. Bleiben Sie gesund, lieber Freund!!" Es gab einen herzlichen Händedruck, dann ging er und verschwand in der Menge.

Klaus blieb zurück auf der Bank. Blieb sitzen, bis die hereinbrechende Dunkelheit ihn verschlingen wollte. Aber er bemerkte sie nicht. Hatte der nette Mann ein Licht in ihm entzündet?
Langsam machte er sich auf den Weg nach Hause. Kann ich das überhaupt noch??

Er kam sich lächerlich vor, als er es versuchte. Gut, dachte er, es sieht und hört ja niemand. Es wird schon reichen, wenn der Liebe Gott es sieht! Die Worte, oh je, diese Worte? Er hatte sie vergessen. Nahm die Bibel der Großmutter zur Hand, - wo um Himmels Willen steht hier das Vaterunser?? - schließlich fiel ihm ein, sein neues Smartphone müsste es wissen.... ja, er fand den Text, las ihn durch, erinnerte sich wieder. Und es war gut so.







51. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von AlfvM am 25.03.18 22:19

Hallo Daniela,
ich habe es endlich geschafft, alle Teile zu lesen und möchte mich für die tolle Geschichte bedanken.
Ich freu mich auch auf das Finale.
LG Alf
52. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 26.03.18 21:33

Liebe Daniela!
Einmal mehr beeindruckt mich Dein vielfältiges Wissen das mannigfaltige Erfahrungen voraus setzt. Ich fürchte dass sich junge Leser kaum vorstellen können, wie jemanden die Vergangenheit einholt die man schon längst verdrängt hat. Wenn man das "abstrakte Gottesbild" den eigenen Erlebnissen gegenüber stellt, lernt man erst die eigene Kleinheit und damit eine Hilflosigkeit kennen. Die Worte des Vaterunser bewusst gesprochen zeigen uns Demut als Werkzeug zum Tragen des eigenen Kreuzes.Ich wünsche Klaus das nötige Vertrauen zu finden.
53. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 01.04.18 22:00

1. April 2018

Das Ende ist erreicht. Gibt es das überhaupt, ein Ende?? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, so wie Versöhnung das Schlüsselwort eben dieser Geschichte ist, so ist Auferstehung das von Ostern.
Wir wissen jetzt, wie lange Klaus in Wirklichkeit brauchte, die für ihn so wichtige Versöhnung vollends zu verstehen. Wird dieses Verständnis in der Folge auch für ihn zu einer gütigen Auferstehung führen?

Allen Lesern, die mir über die Jahre hinweg mit ihren Kommentaren das Gefühl gegeben haben, eine gute Geschichte abzuliefern, möchte ich herzlichst danken. Auch ich persönlich habe einen langen Prozess durchlaufen; das Schreiben dieser Geschichte hat mir dabei sehr geholfen.
Es mag dem einen oder anderen aufgefallen sein, dass ich im Grunde genommen gegen etwas schreibe. Vielleicht erinnert man sich noch an mein kleines Profil-Avatar, ein Schild mit dem Wort DAGEGEN. Gegen was?? Gegen Unterdrückung. Ich weiß, wie schwierig unser Thema in Wirklichkeit ist. BDSM kann ungeahnte Kräfte freisetzen, kann aber auch die Gewalt über unser Tun übernehmen. So mancher mag in einer unglücklichen BDSM-Beziehung leben, ohne Hoffnung auf innere und äußere Befreiung. Ich hoffe, mit meiner kleinen Geschichte diesen Menschen unter uns etwas Hoffnung gemacht zu haben!

Jetzt wünsche ich allen Lesern von Herzen ein frohes Osterfest. Bleibt gesund und vergesst Eure Daniela 20 nicht!!

PS: Wer mehr schreiben möchte, als einen knappen Gruß, kann es auch gern unter der Rubrik 'Diskussion für Stories' --> Die München-Trilogie tun. Herzlichen Dank!!

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München, Ende Oktober, Anfang November

"Süßes oder Saures!!!" Gruselig maskierte Kinder hatten bei ihm geklingelt. Klaus hatten die hellen Kinderstimmen, die vergeblich versuchten, böse zu klingen, gut getan. Und Gott sei Dank hatte er genug Süßes für mehrere Kinder im Haus.
Gut und Böse? Gibt es das wirklich? Ist es nicht nur eine semantische Frage, hatte er selber noch vor gar nicht einmal so langer Zeit überlegt. Interessiert hatte er festgestellt, wie fröhlich die Kinder damit wirkten, auch einmal böse sein zu dürfen. Und er selber? Jene Jahre im Internat in Ettal? Wo ihnen tagsüber das Gute mit Löffeln eingegeben wurde? Wo man sie, völlig lebensfremd, nicht auf das Böse vorbereitete und dann, als öffentliche Institution, völlig versagte, als das Böse nachts an ihre Tür klopfte?

Seine Gedanken schweiften ab. Für einen Moment glaubte er, das glucksende Lachen seiner Schwester zu hören. Hier, in diesem Haus, hatte er sie die Treppe hinabgestoßen, hier hatte alles Böse sich gegen die Schwester und gegen ihn verschworen. Die Misshandlungen, die sie hatte erleiden müssen! Die Lügengeschichten, die ihm die Jahre der Kindheit schwer gemacht hatten, bis sich der gnädige Mantel des Vergessens über seine kindliche Erinnerung gelegt hatte. Selbst seine Schwester kannte den Unterschied von Gut und Böse, hatte ihm ein Bilderbuch aus der Hand genommen, als er an eine Stelle gekommen war, die sie an erlittenes Unrecht erinnerte.

Er hatte sich viel zu lange schon nicht mehr um seine Schwester gekümmert. Hatte sich so sehr auf die eigenen Probleme konzentriert, dass für andere kein Platz war. Morgen war Feiertag! Allerheiligen. Morgen würde er wieder einmal zu ihr fahren und eine gute Zeit mit ihr verbringen!

% % %

November! Klaus war etwas überascht, statt schmuddeligen Novemberwetters strahlend blauen Himmel zu sehen. Umso besser! Blauer Himmel stimmte ihn jedes Mal fröhlich, es war auch gut, einen Plan zu haben, da gab es kein langes Rumhängen im Haus.
Seine Schwester freute sich sichtlich, ihn endlich mal wieder zu sehen. Endlich?, fragte er sich. Hat meine Schwester überhaupt ein Zeitgefühl? Und bildete er sich nicht einfach nur ein, dass sie sich über seinen Besuch freute?? Sprach da nicht die simple Selbstsucht aus seinen Gedanken? Dieses Gefühl, etwas Gutes getan zu haben? Und war es nicht so, dass er jedes Mal, bei jedem seiner Besuche, sich wünschte, seine Schwester gäbe einmal ein normaleres Zeichen des Erkennens? Eine Umarmung? Ein "Hallo Klaus! Schön, dass du gekommen bist!"? Doch nichts dergleichen geschah. Es gab in ihrem Emotionsfeld nur hell oder dunkel. Nur Freude oder Traurigkeit. Beides lag eng beisammen, so eng, dass es ihn manchmal verwirren konnte. Wieso wechselte ihre Stimmung manchmal so spontan?

Oft verließ er seine Schwester im Gefühl vollster Frustration. Der Mensch braucht andere Menschen als Spiegelbild. Menschen, die Fragen stellen, Menschen, die Antworten geben. Und waren nicht manchmal gerade die Anworten am besten, die man eigentlich gar nicht hören wollte?? Hilfreich waren ihm oft Gespräche mit den verantwortlichen Betreuern. Leute, die es gelernt hatten, die Lücke der Sprachlosigkeit zwischen Bewohner und Besucher zu füllen.
Der Zufall wollte es, dass er gerade heute etwas länger als geplant blieb. Er hatte sich von seiner Schwester verabschiedet, bekam aber vom Personal noch eine Tasse Kaffee angeboten, die er dankend annahm. Kaum, dass er Platz genommen hatte, erblickte er seine Großtante Gertrud, die gerade zur Tür herein kam und ebenfalls überrascht war, ihn zu sehen.

"Klaus! Wie schön! Kommst du auch gerade?"

Klaus verneinte. "Ich wollte gerade gehen. Man hatte mir noch einen Kaffee angeboten. Wie geht es dir? Haben uns ja lange nicht gesehen."

"Danke der Nachfrage. Man boxt sich halt so durch. Ich wollte eigentlich nur kurz mal was zum Knabbern abliefern. Eine Tüte Chips sind immer gern gesehen. Und wollte anschließend noch auf den Friedhof, bevor es zu dunkel wird. Ein paar Grablichter aufstellen. Kommst du mit?"


Es zog sich etwas hin. Natürlich hatte man auch der alten Dame einen Kaffee angeboten. Und so dunkelte es schon leicht, als Gertrud und Klaus am Friedhof ankamen. Sie verliefen sich etwas, was heute wegen der vielen roten und weißen Grablichter nichts ausmachte, dann hatten sie das Grab von seiner Großmutter gefunden, die vor einem knappen Jahr gestorben war.

"Komisch," erinnerte Klaus sich plötzlich. Früher gingen wir auch immer zu Allerheiligen auf den Friedhof und zündeten Kerzen an."

"Ja? Bei wessen Grab denn??"

"Hm, ich war ja noch klein. Ich glaube, es war das Grab meiner Schwester."

"Es gab doch kein Grab!" Er hörte die Skepsis ihrer Anwort heraus.

"Nein. Es gab kein Grab. Ich glaube, sie hatten mich zu irgendeinem Kindergrab mitgenommen; ich konnte ja nicht lesen, wer dort begraben war."

"Also wirklich! Wie konnten die nur! So ein verlogenes Pack! Gut, dass wir das aufklären konnten! Wie geht es dir sonst so, Klaus? Was willst du beruflich machen? Hast du schon etwas ins Auge gefasst? Irgendwie kommst du mir so vor, als würdest du einen schweren Stein vor dir her rollen."

Er begann zu erzählen. Von seiner vergeblichen Mühe, jenen Mann zur Verantwortung zu ziehen, der seine ganze Kindheit kaputt gemacht hatte.

Gertrud säufzte laut auf, als er geendet hatte. "So ein verdammter Mist! Weißt du, manchmal habe ich einfach keine Lust mehr. Es ist doch immer noch alles beim Alten.... nichts hat sich verändert. Der Staat schützt die Schuldigen, und die kleinen Leute ziehen den Kürzeren. Hatten wir wirklich einmal geglaubt, es ändern zu können?" Sie lachte kurz auf. "Hand aufs Herz. Und wenn wir alle umgebracht hätten, es hätte ja doch nichts geändert...."

"Mord ist halt auch keine Lösung! Ich bin auf jeden Fall froh, dass die Zeiten vorbei sind."

"Sind sie es denn wirklich? Jetzt sind doch die Religiösen dran, die Unschuldige umbringen. Und dass Mord keine Lösung ist, will ich mal dahingestellt lassen! Du weißt doch, der Zweck heiligt die Mittel!"

Plötzlich wurde ihm sehr kalt. Nein, es hatte sich wirklich nichts geändert. Zumindest nicht im Kopf dieser alten Dame. Er hatte gelernt, dass Gewalt nie ein legitimes Mittel sein konnte. Ausgenommen höchstens der Tyrannenmord. Aber das war ein ganz anderes Kapitel. Er für seinen Teil hatte keine Lust mehr, hier und jetzt eine Diskussion über dieses Thema zu beginnen. Für ihn gab es andere Aufgaben. Er hatte den juristischen Kampf verloren, damit konnte er leben. Jetzt galt es, innerlich zur Ruhe zu kommen. Die Regeln, die die Gemeinschaft sich gegeben hatte, waren kompliziert und dienten dem Schutze aller. Es reichte halt nicht aus, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und diesen damit hinter Schloss und Riegel zu bringen. Genau das aber hatte es lange genug in der deutschen Geschichte gegeben; er musste froh sein, dass diese Zeiten vorbei waren.

"Ich habe auf jeden Fall getan, was ich tun konnte!" nahm er das Thema kurz und abschließend noch einmal auf.

"Ja, w a s du tun konntest...." Er hörte nicht genau hin. Oder hatte sie gesagt: was d u tun konntest?

Dunkelheit umgab ihn, aber er beachtete sie nicht. Die vielen bunten Lichter, die in der kühlen Abendluft leicht flackerten, wiesen ihm den Weg. Jetzt gab es nur noch eine Aufgabe: jetzt würde er selber gehen müssen.


Epilog 1 - München, Februar

Klaus wischte mit einem Fußtritt Post und Reklame zur Seite, die sich hinter seiner Haustür angesammelt hatten. Ein Briefkasten wäre vielleicht besser, aber der altmodische Briefschlitz in der Tür verhinderte, dass andere sehen konnten, dass niemand zu Hause war. Mehrere Zeitschaltuhren hatten während der dunklen Wintermonate für Beleuchtung gesorgt; immer noch der beste Schutz gegen Einbrecher, fand er. Natürlich hatte auch das Radio dazugehört.

War er davongelaufen? Er hatte einige Zeit überlegt, was er machen könnte, und allmählich war ihm klar geworden, dass er sich mit seiner Mutter aussprechen müsste. So war er Mitte November nach Rom gefahren, hatte sich dort über das milde Klima gefreut und die Einladung seiner Mutter, über Weihnachten zu bleiben, gern angenommen.
Was gut war. Das Gespräch mit seiner Mutter war nicht gleich ein gutes gewesen, die Dinge brauchten ihre Zeit, die Mutter brauchte ihre Zeit. Aber am Ende hatten sie sich ehrlich miteinander ausgesprochen und versöhnt.
Erst im neuen Jahr, als der Weihnachtsstress vorüber war und etwas Ruhe auch über die Ewige Stadt fiel, war ihm aufgefallen, dass er nicht ein einziges Mal an Andrea und die schlimmen Monate seiner 'Kerkerhaft' nachgedacht hatte. Der Grund war einfach: er selber war ein anderer geworden. Er war nicht mehr derjenige, der sich unterdrücken und ausnutzen ließ; die Einsicht in die Verwicklungen seines Lebens hatte ihm Kraft gegeben.


Er brauchte einige Zeit, um die altmodische Ölheizung in Gang zu bekommen. Wie war das nun? War überhaupt genug Öl da?? Und wo sollte er für den Zündfunken drücken? Endlich klappte es, langsam wurde es warm im Haus.
Er machte es sich im Wohnzimmer gemütlich, hatte sich vorsorglich noch eine dicke Wolldecke umgeschlagen. Dann sortierte er Post und Reklame. Das meiste ging sofort in den Müll; übrig blieben einige Rechnungen, ein Brief von der Staatsanwaltschaft mit der Mitteilung, dass das Verfahren gegen Huber, Ruprecht, eingestellt sei, ein Brief von Monika aus Australien, die frohe Weihnachten wünschte und von einem glücklichen Leben berichtete, und eine Postkarte aus Passau.

Nanu? Er kannte niemanden in Passau. Er drehte die Karte, die von Mitte Januar datiert war, um und las: "Hallo Klaus! Wünsche dir ein gutes neues Jahr! Wo steckst du bloß? Habe mehrmals auf deinem Handy angerufen, aber du hast nicht geantwortet. Es ist was Wichtiges passiert! Also, ruf bald mal zurück! Liebe Grüße von Ingeborg!"

Ach Herrje!! Sein neues Handy! Er hatte, als es klar war, dass er wohl länger in Rom bleiben würde, sich eine italienische SIM-Karte besorgt. Klar, dass Ingeborg ihn so nicht erreichen konnte! Sollte er jetzt zurückrufen? Große Lust verspürte er nicht, aber wenn es wichtig war?
Der Austausch der Karten war schnell erledigt. Er machte sich einen Tee, er wusste, dass es gut tat, sich an etwas festhalten zu können, auch wenn es nur eine Tasse war.
Ingeborg antwortete sofort. "Klaus!! Endlich!! Mann, ich hatte mir schon echt Sorgen gemacht. War auch mehrmals bei dir und habe geklingelt, aber du hast ja nie aufgemacht. Hatte echt schon Angst, dass du tot in der Badewanne liegst!!"

Klaus erklärte seine Abwesenheit und bat um Entschuldigung, dass er nicht von sich hatte hören lassen. "Tut mir echt leid, Ingeborg. Ich brauchte das irgendwie. Musste einfach mal weg, mich selber suchen, beziehungsweise finden. Hier in München ging das nicht. Vor allem brauchte ich Abstand von dem Drecksack Huber! Also, was gibt es denn so Wichtiges??"

Er hörte ein unterdrücktes Lachen auf seine Auslassung. "Tut mir leid, Klaus. Ich lache nicht über dich. Ich lache viel mehr, weil dein Wunsch auf wundersame Weise in Erfüllung gegangen ist."

"Was für ein Wunsch?? Jetzt mach es nicht so spannend!"

"Dein Wunsch nach Abstand! Mehr Abstand gibt es gar nicht!!!"

Er wurde ungehalten. "Mensch, Ingeborg, verschon mich mit dieser Scheiße! Jetzt sag endlich, was los ist! Hat man ihn doch noch irgendwie dran gekriegt?"

"Hast du es denn nicht in den Nachrichten gehört? Mein Gott, das war doch überall zu lesen! Er ist in die Luft geflogen! An Silvester! Sein ganzes Haus ist hin. Von ihm selber sind nur noch einige Teile übrig geblieben!" Sie machte eine Pause, wartete auf seine Reaktion, die allerdings nicht kam. Es musste ihm die Sprache verschlungen haben. "Gibt es denn in Rom keine Blöd-Zeitung??"

Endlich hatte er sich wieder gefasst. "Wie? Was sagst du da? In die Luft geflogen?? Eine Gasexplosion, Ingeborg?"

"Nein, keine Gasexplosion. Er muss Unmengen von Böllern und Feuerwerksrakten gehortet haben, oder so..."

"... oder so? Was soll das heißen? So jemand wie der ist doch nicht der Typ für das große Silvester Feuerwerk!"

"Ja, da hatte ich mich auch gewundert," gab die Kriminalbeamtin zu. Die Techniker rätseln noch immer, wie das ganze Feuerwerkszeug eine so große Verwüstung anrichten konnte. Also, wenn so etwas in einem Raum hochgeht, da geht man schnell bei drauf, wenn man nicht irgendwie abgeschirmt ist. Der Raum allein nimmt dann großen Schaden, Türen und Fenster gehen kaputt, auch dünne Wände können dem nicht standhalten. Aber das hier? Du müsstest das mal sehen! Das ganze Haus ist eine Ruine!"

Klaus ließ sich in seinen Sessel fallen. Seine Hand zitterte, als er nach seiner Tasse griff. Die Welt sah plötzlich anders aus. Sie hatte sich verändert. Nicht die ganze Welt, aber seine Welt. Leute wie Pater Ruprecht gab es und wird es immer geben.

Ingeborg meldete sich wieder. "Bist du noch da, Klaus? Sag mal, man hat winzige Spuren gefunden...."

Er wollte es gar nicht mehr wissen. Für ihn war nur noch wichtig, dass es wirklich vorbei war.

"Hast du mal etwas von einem Ort namens Weiterstadt gehört? Ein Sprengstoffanschlag? Man hat winzige Spuren des damals verwendeten Sprengstoffs gefunden. Aber die Techniker sind sich nicht sicher. Es kann auch von dem Feuerwerkszeug stammen...."

Weiterstadt?? Er hatte nie davon gehört. Es musste vor seiner Zeit gewesen sein. Es war ihm schlichtweg egal. Er verabschiedete sich von Ingeborg, stand auf, machte das Licht aus und zog sich einen dicken Pullover über. Er ging hinaus in den Garten, alter, verkrusteter Schnee knirschte unter seinen Sohlen und brach auf. Hier hatte alles einmal angefangen. Er versuchte sich die Bilder einer vergangen Zeit ins Gedächtnis zu rufen; es gelang nicht. Er blickte auf den Himmel über sich, auch die dichte Wolkendecke, die seit seiner Ankunft über der Stadt gelegen hatte, öffnete sich und gab den Blick auf einen sternenklaren Himmel frei. Ein blinkendes Flugzeug zog hoch über ihm seine Bahn und weckte unendliche Sehnsucht in ihm. Alles würde gut werden.


Epilog 2 - Wenige Jahre später

Klaus blickte nach unten. Immer wieder gönnte er sich, bei aller erforderlichen Konzentration, einen Blick aus dem Fenster. Sah unter sich das herrliche blau des Ozeans, dessen Wellen tausende Meilen weiter südlich gegen den bröckelnden Eispanzer der Antarktis schlugen. Aus einer Höhe von nur noch 3000 Fuß sah alles wieder aus wie Spielzeug, als seine Maschine im Landeanflug die Küste Südaustraliens überflog.
Nach einer weiteren leichten Kurskorrektur durch den Tower klinkte sich das ILS-System für den automatischen Landeanflug ein, kontinuierlich nahmen jetzt Höhe und Geschwindigkeit ab.
Der Autopilot kündigte "Minimum!" an, der Kapitän zu seiner Linken bestätigte mit "Continue!" die Freigabe für den weiteren Landeanflug. "Ich flieg von Hand!" Klaus drückte den kleinen Knopf am Steuerhorn, eine mechanische Stimme ertönte - "Auto pilot!" - die schwere MD11 eines großen Cargo-Fliegers war jetzt unter seiner Kontrolle. Gekonnt drosselte er den Schub auf 150 Knoten, wohl wissend, dass seine Maschine im Landanflug höhere Geschwindigkeit brauchte, als ein kleiner Ferienflieger. Ein letztes Mal überprüfte er mit schnellem Blick seine Instrumente, alles war richtig eingestellt, das Fahrwerk war ausgefahren, die automatischen Bremsklappen aktiviert.
"Leichter Wind von links!" informierte ihn der Kapitän , die vier Lichter des VASI Anflugsystems zeigten zwei weiße und zwei rote Lichter, alles war genau konfiguriert, gekonnt setzte er seinen schweren Jet auf der Landebahn des Flughafens von Adelaide auf. Leider etwas rechts von der Center Line.
"Knapp daneben ist auch vorbei," witzelte der Kapitän.

Klaus nahm es auf die leichte Schulter. "Kein Wunder, Kapitän. Hier auf der südlichen Halbkugel fällt es mir immer schwer, weil wir mit dem Kopf nach unten hängen!"

Beide lachten. Sie waren seit Auckland zusammen geflogen, hatten diesmal neuseeländische Rennpferde mit an Bord, die hier ausgeladen werden sollten. Der Flugkapitän übernahm mit dem Ausruf my airplane das Kommando für das Rollen zum Frachtterminal. Dort angekommen wurde er vom Marshaller zur korrekten Parkposition gebracht.
Die Bremsen wurden gesetzt, das Hilfstriebwerk APU eingeschaltet - es gab keine externe Stromversorgung für Frachtmaschinen - dann schaltete der Kapitän alle drei Triebwerke und das Anti-Kollisionslicht aus. Die Entladung konnte beginnen. Wenn alles glatt liefe, in wenigen Stunden wären sie schon wieder unterwegs.

Klaus verließ das enge Cockpit, er wollte sich etwas strecken und brauchte Bewegung, vor allen Dingen wollte er etwas frische Luft schnuppern. Australische Luft, die jetzt so ganz anders war, als daheim in Frankfurt. Im Moment gab es für ihn nichts zu tun, Verantwortung trug jetzt in erster Linie der ramp agent, der für Entladung und Beladung des Frachtfliegers verantwortlich war.
Er schlenderte über das Vorfeld, der Beton strahlte bereits jetzt ziemliche Hitze aus, obwohl es erst Vormittag war. Zufrieden mit sich und seinem Flug betrachtete er die große Maschine. Gab es irgendwo Anzeichen von Vogelschlag? Nein, alles war in Ordnung.

Er hatte Glück gehabt. War an die rechten Menschen geraten, hatte deren Gedanken und Ratschläge aufgegriffen. Dieser nette Mann in der Münchner Beratungsstelle? Wie hieß er doch gleich? Vergessen. Nicht vergessen hatte er hingegen den Inhalt ihrer Gespräche. Besonders über den Begriff 'Umkehrschub' hatte er lachen müssen. Trotzdem sollte es gerade dieser Begriff sein, der ihm einen neuen Lebensweg vorzeichnete. Er hatte sich damals im Februar nicht lange in München aufgehalten, hatte einige Reisen unternommen, nette Menschen besucht, die er in Rom kennen gelernt hatte. Flugreisen nach Portugal und Polen und andere europäische Länder, sogar ein längerer Flug in die Vereinigten Staaten war dabei gewesen. Und je mehr er flog, desto mehr faszinierte ihn alles, was mit Luftfahrt und Fliegen zusammenhing.
Schließlich hatte er sich in Bremen bei der Verkehrsfliegerschule beworben und war, er konnte es kaum glauben, nach einem Aufnahmetest aufgenommen worden. Der Beruf machte ihm Spaß, schien genau das Richtige für ihn zu sein. Er hatte sich nicht einmal um die Finanzierung Sorgen machen müssen. Er hatte das Haus seiner Oma in München verkauft und einen sehr guten Preis dafür erzielt. Wieso seine Oma dieses Haus, in einem begehrten Münchner Stadtteil gelegen, überhaupt besaß, wurde ihm erst klar, als er sich um die Papiere kümmerte. Scheinbar hatte sie Beziehungen zu Soldaten der U.S. Army, und, richtig, der Vater seiner Mutter war ja ein amerikanischer Soldat gewesen, der viel zu früh im Vietnamkrieg zu Tode gekommen war.

Klaus hatte sich von Anfang an für die Frachtfliegerei entschieden. Hatte keine Lust auf Kurzstrecke und Ferienflieger, scheute sich auch davor, zu viel mit hübschen Flugbegleiterinnen zusammen sein zu müssen. Gegen weibliche Kapitäne hatte er nichts einzuwenden, diese trugen immer lange Hosen zur Uniform, was für ihn das Leben leichter machte. Cargo war auch spannender. Er kam herum in der Welt, holte Blumen aus Kenia, Technik aus Singapur, Fußbälle aus Pakistan, oder eben, wie dieses Mal, Pferde aus Neuseeland.
Ein hässliches Geräusch ließ ihn zusammenfahren! Was um Himmels Willen?? Es war von der anderen Seite, von der Laderampe, gekommen. Er duckte sich, ging unter dem Bauch seiner Maschine hindurch und sah sofort den Ramp agent und den Kapitän mit sorgenvollen Gesichtern beisammen stehen.

"Was ist passiert?"

Der Kapitän zuckte mit den Schultern. Der Ramp agent sprach in sein Funkgerät. Erst jetzt bemerkte Klaus den Wagen mit der Aufschrift Veterinary Service.

"Ein Tierarzt? Ist was mit den Pferden?" Einen Moment befürchtete er, er habe nicht sanft genug auf der Piste aufgesetzt.

"Scheint ganz so. Eine Kolik oder so. Man hat den Tierarzt hinzugezogen, das Entladen des Containers musste schnell gehen. Scheinbar ist dieser dabei beschädigt worden."

Es dauerte einige Minuten, bis der Ramp Agent, der sich zwischenzeitlich entfernt hatte, wieder zurück kam. "Rufen Sie Ihre Firma an, Kapitän. Sie brauchen ein Hotel!"
Es zeigte sich, dass der Pferdecontainer irgendwie den Verschlussmechanismus der Ladeklappe beschädigt hatte. "Nein, tut mir leid, Captain, Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen. Da müssen mal die Leute von der Technik ran. Und das kann dauern.... Heute auf jeden Fall machen Sie site-seeing hier in Adelaide! Oder sehen Sie sich die schönen Weinberge an! Der bekannte Barossa-Wein kommt von hier...."

Und so kam es, dass Klaus keine zwei Stunden später auf einem gemieteten Motorrad saß und durch die schöne Umgebung von Adelaide fuhr. Barossa? Das Wort hatte genügt, ein Fenster in seine Münchner Vergangenheit aufzustoßen. Hatte Monika nicht hier unten ihren Vater wiedergefunden? Hatte sie hier nicht sogar einen Mann kennen gelernt und geheiratet? Wie hieß er doch? Jim? James??
Und plötzlich hatte er das starke Verlangen gespürt, Monika zu besuchen. Ihr von all den vielen Dingen zu erzählen, die in den letzten Jahren passiert waren, vom Tod seiner Großmutter, von seinen Erlebnissen in Rom, von der Beziehung mit Ingeborg, vom plötzlichen Auftauchen seiner Großtante Gertrud, die endlich Licht in die dunklen Seiten seiner Kindheit gebracht hatte. Und natürlich auch von seiner Schwester, Magdalena, die immer noch in ihrem Heim lebte, aber dank seines Drängens nicht mehr mit Bauklötzen und Bilderbüchern ruhig gestellt wurde, sondern seit einiger Zeit gezielt pädagogische Hilfe erhielt und mühsame Fortschritte genacht hatte. Und auf jeden Fall wollte er ihr vom Ableben seines früheren Peinigers, Pater Ruprecht, berichten, dessen Tod nie restlos aufgeklärt werden konnte.

Wo aber wohnte Monika? Er hatte keine Ahnung. Er war einfach drauflos gefahren, nachdem er das Motorrad gemietet hatte. Einfach drauflos in der Hoffnung, er könne sich durchfragen, irgendjemand würde etwas wissen. Aber Australien ist groß, es gab viele Weingüter hier unten, er irrte stundenlang umher, hatte zu wenig zu trinken dabei, hatte nichts zu essen dabei, sah immer nur Hinweisschilder, die den Weg zurück nach Adelaide wiesen.
Er machte eine Pause, stellte das Motorrad ab, langsam würde er umdrehen müssen, er sank nieder, legte sich in den Schatten unter einem Eukalyptusbaum neben der Straße....

"Are you all right, mate?"

Eine Hand schüttelte seine Schulter. Klaus erschrak, war er doch tatsächlich eingeschlafen! "Was? Wie?", stammelte er unbewusst auf deutsch und richtete sich auf.

"Oh, German?" fragte der Mann, dessen Gesicht er gegen die untergehende Sonne nicht erkennen konnte. Um dann, etwas unbeholfen, auf deutsch, mit leicht bayrischem Akzent, fortzufahren: "Geht es dir gut? Oh, sorry: Geht es Ihnen gut?"

Klaus versicherte, dass alles in Ordnung sei. Dass er bloß von seinem langen Flug und der Suche müde sei. "Schon gut. Sie sprechen Deutsch? Bayern, vermute ich."

"Yes. Bavaria. Mein ganz personal Hofbräuhaus stand in München!" Der Mann legte eine Pause ein, blickte nach oben, jetzt war sein Gesicht besser zu erkennen. "Ist nicht weißblau hier, der Himmel."

Klaus blickte auf seine Uhr. Noch war Zeit. Er streckte dem Mann seine Hand entgegen. "Ich heiße Klaus. Habe auch lange in München gewohnt."

Der Australier drückte ihm die Hand. "Welcome to Australia, Klaus. Mein Name ist....." Er ging im Lärm eines vorbeifahrenden Road trains unter. "Machst du... holiday... Wie sagt man?"

"Urlaub!" half Klaus. "Nein, ich bin Pilot. First Officer. Es gab Probleme beim Entladen eines Pferdecontainers. Es kann heute nicht repariert werden. Und da dachte ich, ich mache mich mal auf die Suche...."

Der Mann unterbrach ihn. "Und hast du ihn gefunden?"

Klaus schwieg. Eine seltsame Ruhe hatte sich über alles gelegt. Er öffnete seinen Mund, eine Antwort zu geben, aber der andere war schneller.

"Manchmal muss man weit reisen, um jemanden wiederzufinden. Ich kenne das. Hatte auch jemanden verloren. A long time ago. Hatte schlimme Dinge gemacht. Aber hier unten wiedergefunden." Wieder schwieg er. Klaus wollte ihn nicht unterbrechen. "Strech out your hand.... Hand strecken? Sagt man so?"

"Hand ausstrecken! Ja."

"Musst deine Hand ausstrecken, someone will grab it. Deine Hand nehmen und führen...." Das seltsame Gelächter eines Vogels ertönte. "Reconciliation.... Wie sagt man das?"

Klaus zuckte mit den Schultern. "Tut mir leid. Aber das kommt in der Luftfahrt nicht wirklich vor!" Beide lachten.

"Und, hast du ihn gefunden?" wiederholte der Mann seine Frage.

Ob er ihn gefunden habe?? Klaus zögerte etwas. Er hatte sich auf die Suche nach Monika gemacht. Aber noch gar nicht erwähnt, wen er suchte. Und die andere Suche?? Es war ganz plötzlich leicht dunkel geworden. Er blickte hoch und sah ein markantes Sternenbild über sich.

Der alte Mann hatte seinen Blick verfolgt. "The Southern Cross. Wir haben es auf die australische Flagge!"

"Das Kreuz des Südens. Es wundert mich nicht, dass unter diesem Himmel alles gut werden muss." Dann erinnerte er sich der Frage. "Ja. Ja, ich glaube, ich habe ihn gefunden."

Der Australier, der neben ihm gesessen hatte, stand auf, ergriff seine Hand, drückte sie fest und freute sich. "Dann ist ja alles gut. I must be off now! Familie und Enkelkind wartet."

Klaus stand auf und fühlte sich plötzlich herzlich umarmt. "Merry Christmas, Klaus! Fröhliche Weihnachten!!" Dann stieg er in seinen altmodischen Pickup, den er am Straßenrand abgestellt hatte. Ein letztes Hupen, und Klaus war wieder allein.

Er musste zurück zum Hotel. Was hätte er denn auch mit Monika reden sollen? Es war vorbei. Ihm fiel wieder der Vergleich mit dem alten, kaputten Auto ein, welches man auf einem Schrottplatz abliefert. Ja, da war etwas dran. Irgendwann ist es weg. Aus und vorbei.

% % %

Die Techniker hatten trotz Weihnachten gute Arbeit geleistet. Für den Weiterflug am nächsten Vormittag lief alles bestens. Der Kapitän hatte das Kommando übernommen, auf dieser Strecke hoch nach Singapur war Klaus der pilot non flying. Sie hatten die Rollfreigabe vom Tower erhalten und befanden sich auf dem langen Taxiway, wieder zum RWY 05. Klaus überwachte den Funkverkehr, blickte aus seinem Fenster und sah, außerhalb des Flughafengeländes, plötzlich einen Pickup mit hoher Geschwindigkeit herankommen, der neben einem kleinen Hügel stoppte. Eine Frau stieg aus, ein kleines Kind auf dem Arm, sie hatte einen langen Stock dabei und mühte sich auf den kleinen Spotterhügel hinauf.

Dann sah er es. Die weißblaue Fahne seiner Heimat. Die junge Frau schwenkte die Fahne und winkte mit der Hand.

Es ist vorbei, aber nicht alles ist aus, dachte er und freute sich und bemühte sich, wenigstens mit der Hand zurückzuwinken. Er würde wiederkommen.....

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Klaus, geboren 1992, fliegt immer noch irgendwo in der Welt umher. Manchmal macht er sich den Spaß und lässt Barbara wieder aufleben.... aber nur noch zum Spaß.
Magdalena, Klaus ältere, behinderte Schwester, geboren 1990, spricht gut auf das neue sozialpädagogische Angebot an. Man überlegt, sie in eine beschützte Wohngemeinschaft aufzunehmen.
Christl, Klaus Mutter, geboren 1965, blieb in Rom und arbeitet immer noch beim deutschen Dienst von Radio Vatikan.
Annegret Meisner - Gretl, geboren 1930, ist in München begraben. Unweit jener Stelle, die man Klaus jahrelang als Grab seiner Schwester vorgegaukelt hatte.
Gertrud, die ältere Schwester von Annegret, geboren 1925, starb wenige Jahre nach diesen Ereignissen. Sie nahm ein wohlgehütetes Geheimnis mit ins Grab.
Monika Sommer, geboren 1991, wurde Mutter und lebt glücklich mit ihrem australischen Ehemann in der Nähe von Adelaide.
George, Monikas Vater, geboren 1947, hat nie wieder ein Kind angerührt. Ausgenommen sein Enkelkind, dem er ein liebevoller Großvater ist.
Pia Sommer, Monikas Mutter, geboren im Unruhejahr 1968, lebt zurückgezogen weiterhin in ihrem Münchner Haus.
Daniela Krause, geboren 1994, liegt auf einem Kölner Friedhof. Ein kleiner, roter Stein aus Australien schmückt ihr Grab. In den Gedanken ihrer Freunde lebt sie weiter...
Von Andrea, einem etwas lichtscheuen Italiener, hat man nie wieder etwas gehört.
Evelyn Kasulke, die Münchner Sanitäterin, hilft weiterhin Jung und Alt in ihrer Heimatstadt.
Bruno Rick, "DerRick", Kriminalhauptkommissar aus Passau, geboren 1967, wartete lange auf eine Antwort seiner früheren Kollegin Ingeborg.
Ingeborg Wimmer, Kriminalkommissarin aus München, geboren 1984, musste einen ihrer Fälle ungelöst zu den Akten legen. Über ein 'freches Angebot' musste sie lange nachdenken.

Ruprecht Huber geboren 1963, verheiratet Ruprecht Jäger, alias Pater Ruprecht, pädophiler Gewalttäter, hat sich, wahrscheinlich durch unsachgemäßen Umgang mit Feuerwerk, selber ins Jenseits befördert.....

Die Handlung spielt im Jahr 2014


54. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MarioImLooker am 03.04.18 16:28

Jetzt werden die Woche wieder trister ohne Deinen Lesestoff...
Was ich am meisten an Deiner Geschichte mag, ist dass sich nicht alles nur um BDSM dreht, sondern auch andere Themen gut recherchiert sind und zum Teil einfach so Beiläufig in der Geschichte untergehen...
https://de.wikipedia.org/wiki/Sprengstof...JVA_Weiterstadt
Um als Beispiel zu nennen. Oder auch die ganzen Details vom Fliegen. Hut ab! Du bist eine geborene Schriftstellerin. Solche Geschichten mit soviel Tiefgang findet man hier sonst nicht.

Ich danke Dir für all die Arbeit, welche Du auf Dich genommen hast, um uns regelmässig auf sehr hohem Niveau zu unterhalten. Und es würde mich riesig freuen, wenn Dich die Muse zu einer neuen Geschichte wieder packt.
55. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 08.04.18 19:00

Liebe Daniela20!
Ich melde mich erst heute weil ich früher keinen Netzzugang hatte.
Du hast es in großartiger Weise geschafft, die Folgen schockierender Kindheits- und Jugenderlebnisse zu einer friedlichen Zukunft zu entwickeln. Und das alles in einer weitgehend real vorstellbaren Umgebung zu schildern! Herzlichen Dank für die breite Palette der Gefühlswelt durch die Du mich (uns) geführt hast.
Natürlich werde auch ich die wöchentliche Stimulanz vermissen. Ich weiß aber, wo diese Geschichten hier im Forum zu finden sind und werde mir daher ab und an die eine oder andere Fortsetzung in Erinnerung rufen.
Nochmals herzlichen Dank
Maximilian24
56. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 19.04.18 21:23

Liebe Leser!
Heute habe ich mir die letzten Fortsetzungen wieder einmal durchgelesen. Diesmal ist mir als Highlight die Entwicklung der Person von Frau Wimmer aufgefallen, nämlich wie diese im Laufe der Konfrontationen mit dem "Spielzeug" förmlich süchtig wird. Und jetzt denke ich dauernd darüber nach, ob ich auch danach "süchtig" werde?
Aber vielleicht sollte ich mir ein anderes Motiv aus den vielen Episoden heraus suchen über das ich schwärmen könnte.
57. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von Daniela 20 am 25.12.18 12:55

[N.B.: Ich hatte diesen, untenstehenden, Text gestern, an Heiligabend, als neuen Beitrag unter dem Titel "Erlösung" hier unter der Rubrik 'Stories für Damen' hochgeladen. Seltsamerweise wurde er später von irgendjemandem in die'Fetisch Stories' Rubrik verschoben, wo er höchstwahrscheinlich nicht einmal von allen geöffnet werden konnte. Da es sich hierbei um eine Fortsetzung und den Abschluss der gesamten Pentalogie handelt, füge ich ihn jetzt hier bei dieser Geschichte ein. D20]


ERLÖSUNG

(Die Kenntnis der vorhergehenden Geschichten Herbstferien, Frust, Agonie, Schuld und Versöhnung sollte vorausgesetzt werden!)



9.April 2018

Ich weiß nicht, was das hier wird. Ich bin doch fertig mit meiner 'München-Trilogie'. Sogar schon lange fertig. Mittlerweile ist sie zu einer Pentalogie angewachsen. Das Schicksal aller Protagonisten ist geklärt....

Aller? Nein. Ingeborg Wimmer, Kriminalbeamtin der Münchner Polizei, ist übrig geblieben. Ein Stein, der am Boden eines Gewässers liegt. Irgendjemand hatte ihn hineingeworfen. Ein Stein, der ringförmige Wellen ins Wasser geschlagen hatte, Wellen, die sich längst totgelaufen hatten. Nur der Stein war immer noch da. Ließ sich nicht wegdenken, nicht weg argumentieren.

Vielleicht muss auch Ingeborgs Geschichte noch erzählt werden.....

4.12.18

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München, Heiligabend, fast zwei Jahre später....


"Frau Wimmer? Wollten Sie zu mir? Da haben Sie aber Glück gehabt!"

Ingeborg Wimmer machte eine Hand frei und schüttelte die ihr entgegengestreckte Rechte. Es war ihr etwas peinlich, den wollenen Handschuh anzubehalten, aber ihr war kalt und sie kannte nichts Schlimmeres, als steif gefrorene Finger. Wie war das nun mit der globalen Klimaerwärmung? Wenn man sie brauchte, war sie gerade mal wieder nicht da. Immerhin deutete alles darauf hin, dass es dieses Jahr mit Weißen Weihnachten einmal klappen würde.
"Nun ja...." Sie wandt sich ein wenig. "Nicht direkt....."

Er lachte. "Das macht nichts. Indirekt geht bei mir auch. Sie wissen doch, ich habe für meine Klienten immer Zeit. Auch an Heiligabend! Wo drückt denn der Schuh? Ach, kommen Sie! Wollen wir nicht lieber zu mir ins Büro gehen? Ich wollte sowieso noch einmal kurz hin, obwohl heute in der Beratungsstelle eigentlich geschlossen ist! Wenn Sie Zeit haben? Kommen Sie mit, ja?"

Ingeborg Wimmer hatte eigentlich keine Zeit - wer hat am Tage vor Weihnachten schon Zeit? - aber sie hatte es gelernt, dem Schicksal nicht mehr dazwischenzufunken. Einfach zu akzeptieren, wie die Dinge liefen. Und vor allem, nicht mehr allem auf den Grund gehen zu müssen. Manche Dinge ließen sich einfach nicht erklären. Warum, wieso, weshalb.... Fragen die sich mehr oder weniger intelligente Erdenbewohner seit Lucys Zeiten gestellt haben mochten, ohne jemals wirklich eine zufriedenstellende Antwort zu erhalten.
"Doch," sagte sie, "natürlich habe ich Zeit! Immerhin haben Sie mir in einer schwierigen Lebenslage gut geholfen! Und - sie lachte - bei Ihnen wird es bestimmt angenehmer sein, als hier draußen."


Sie gingen schweigend durch einige Straßen. Der Himmel war grau, es roch nach weiterem Schnee. Von irgendwoher drangen verwehte Posaunenklänge an ihr Ohr; bald würden die Musiker ihre Instrumente einpacken, sich untereinander ein 'Frohes Fest' oder 'Gesegnete Weihnachten' wünschen, und dann zu ihren Familien eilen, vielleicht um die Bescherung vorzubereiten, vielleicht auch nur, um endlich mal wieder 'Sissy' im Fernsehen anzuschauen. Egal wie, Weihnachten war für viele eine Traumzeit, eine Zeit des gedanklichen Abkoppelns, des Hineinsinkens in große oder kleine Träume. Für viele war es aber auch eine Albtraumzeit, ein Fest, das in klirrender, innerer Kälte an ihnen vorbeizog, vielleicht weil sie die Liebe verloren hatten, die bisher eine Triebfeder für das Überleben gewesen war.
Und sie selber? Wo innerhalb dieses Bogens liege ich selber?, überlegte Ingeborg. Es war in den letzten anderthalb Jahren so viel geschehen, dass es ihr schwerfiel, den Überblick zu behalten.

Der nette Mann - wie hieß er eigentlich?? - ging auf einen Hauseingang zu. Ingeborg erkannte das Schild BERATUNGSSTELLE. Ein Jahr zuvor, im letzten Winter, hatte sie selber hier gestanden und auf den Klingelknopf gedrückt. Damals war sie am Ende ihrer Kräfte, damals hatte sie alle Hoffnung aufgegeben, hatte sie selber bereits mehrmals oben auf der Luitpoldbrücke gestanden und in die schwarzen Fluten der Isar gestarrt. Dort, wo sie vor einigen Jahren die ersten Untersuchungen an der Leiche einer noch sehr jungen Frau durchgeführt hatte, deren Fund man der Polizei gemeldet hatte. Und wo sie selber, im Zuge ihrer Ermittlungen, beinahe ums Leben gekommen war.

"Kommen Sie.... Moment, hier ist es etwas dunkel um diese Jahreszeit, ich mache das Licht an!"

"Sie haben mir schon einmal das Licht angemacht, Herr...."

Er antwortete nicht auf ihre versteckte Frage. "Das ist ja mein Job, Frau Wimmer. Kommen Sie! Oben ists schön warm!"

Ingeborg trat den Schneematsch von ihren Stiefeln und folgte ihm die Treppe hoch in den ersten Stock. Er schloss eine Tür auf und bat sie, hereinzukommen. "Kommen Sie und legen Sie ab. Wie ich sehe, halten Sie ihr Glück in den Händen? Lassen Sie es nicht wieder los!!" Er lächelte sie an. Wärme durchströmte ihren Körper.

"Ganz bestimmt nicht, Herr...- sie blickte auf das Türschild an seinem Büro - ...Herr Müller. Nein, ich werde es nicht wieder loslassen!"

"Sehr schön!! Das höre ich gern. Gehen Sie schon einmal vor. Ich mache uns schnell mal einen leckeren Gewürztee, ja? Glühwein kann ich leider nicht anbieten..."

"Gewürztee ist ausgezeichnet! Es wird in der Adventszeit sowieso viel zu viel Glühwein getrunken, als ginge es darum, die Seele weihnachtlich einzustimmen!"

"Ich befürchte, da haben Sie nicht ganz unrecht, Frau Wimmer!" hörte sie seine Stimme etwas entfernt aus der kleinen Teeküche. "Leider haben viele Menschen eine falsche Vorstellung von ihrer Seele. Mit dem üblichen In vino veritas hat das nichts zu tun." Man hörte Wasser kochen, dann das leise Klirren von Geschirr. "Bin gleich wieder da! Ziehen kann er dann ja während wir uns unterhalten! Bin gespannt, was Sie dieses Jahr erlebt haben! Machen Sie es sich schon einmal in meinem Zimmer bequem!"

Die junge Kommissarin folgte der Aufforderung, betrat das kleine Büro und setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl, ohne ihr Glück aus den Armen zu lassen.

"So, da bin ich auch schon! Spekulatius??" Er hielt ihr eine angebrochene Schachtel hin, dankend nahm sie einen. "Eine Windmühle," sagte sie.

"Ja. Das ist ein gutes Symbol."

"Ein Symbol, Herr...- irritiert las sie den Namen Pfeiffer auf einem Namensschild auf dem Schreibtisch - ...Herr Pfeiffer? Ich dachte, Müller??"

"Ganz wie Sie wollen, Frau Wimmer. Namen sind nur Schall und Rauch. Wir wollen nicht, dass unsere Klienten sich zu sehr auf uns Therapeuten konzentrieren. Wenn Sie wollen, können Sie mich auch Weihnachtsmann nennen! Für mich spielt das keine Rolle. Wichtig sind immer nur diejenigen, die aus eigenem Antrieb zum Weihnachtsmann kommen, oder halt eben zu Herrn Müller oder Pfeiffer. Aber Sie hatten eben noch eine andere Bemerkung gemacht, die Frage nach der Windmühle."

Ingeborg biss in einen der Mühlenflügel; den Tee ließ sie noch etwas warten. So kurz vor dem Fest hatte sie keine Lust, sich die Zunge zu verbrennen. "Ja, Sie meinten, eine Windmühle sei ein gutes Symbol."

"Allerdings!" Der nette ältere Herr mit den gutmütigen Augen griff nach seiner Tasse, setzte sie an die Lippen, stellte sie aber dann wieder zurück auf den Tisch. "Auch so etwas Blödes! Erst macht man das Wasser heiß, und dann kann man es erst zu sich nehmen, wenn es wieder kälter geworden ist! Nie ist es richtig....
Doch, ja, zurück zur Windmühle. Stellen Sie sich vor, sie hätten einen Sack Getreide bekommen, haben aber keine Windmühle, es zu mahlen. Was machen Sie dann?"

Ingeborg richtete ihren Blick nachdenklich nach oben. "Nun ja, um auf Ihr Bild einzugehen.... Ich würde entweder verhungern, oder ich würde mir schleunigst eine Mühle bauen."

"Richtig!" Herr Müller lächelte zufrieden. Damit sind Sie schon halb aus dem Schneider..."

"Aus dem Müller, Herr Müller! Nicht Schneider!" Sie freute sich, etwas zur geistigen Verwirrung beigetragen zu haben. "Ich sehe, worauf Sie hinaus wollen. Jetzt habe ICH eine Mühle, aber ohne Wind geht da gar nichts! Auf den aber habe ich keinen Einfluss, der kommt von außen. Und ich muss sehen, wie ich damit fertig werde!"

"Bravo, Watson!!" lachte ihr Gesprächspartner, der sich nun doch am Tee versuchte. "Ja, Sie haben völlig recht! Persönlich bin ich für den Bau meiner Mühle verantwortlich, aber diese wird von Kräften bewegt, auf die ich im Normalfall keinen Einfluss habe. Das heißt, ich muss mich mit meinem Leben arrangieren. Und das können nicht viele." Er schwieg, biss nun seinerseits in einen Spekulatius und senkte seinen Kopf.
Er sah sie an. "Können Sie es, Ingeborg?"

Sie überlegte einen Moment. "Ich weiß nicht." Sie zögerte, fügte dann aber hinzu: "Ich hoffe, ich habe es endlich gelernt."

Er nickte, grübelte ein wenig über ihre Worte. "Was ist passiert, Ingeborg? Wie ich sehe, hat es in ihrem Leben gewaltige Veränderungen gegeben. Positive Veränderungen, darf ich hoffen?"

Sie lächelte. Es war ein Lächeln, das aus den Tiefen ihrer Seele zu kommen schien. "Oh ja!" strahlte sie. "Sehr positive Veränderungen!"

"Als Sie Anfang des Jahres hier bei mir waren, ging es Ihnen mehr als schlecht. Ich weiß noch, dass ich damals fast davon überzeugt war, Sie nie wiederzusehen. Sie hatten mir zwar nichts davon erzählt, was genau Sie damals trieben, und was Sie letzten Endes zu mir führte, aber, so glaube ich mich zu erinnern, Sie steckten tief in einem seelischen Sumpf und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Sagten Sie nicht etwas von einem frechen Angebot, das man Ihnen gemacht hatte?"

Ingeborg Wimmer wunderte sich ein wenig, wie gut der Therapeut sich an ihre damalige Lebenssituation zu erinnern schien. "Ja, das stimmt. Aber sagen Sie, sie meinten gerade, Sie waren fast davon überzeugt, mich nicht wiederzusehen. Zu einem Zeitpunkt, an dem ich selber mich bereits aufgegeben hatte."

"Ja. Ich sage es immer so. Es muss immer die Hoffnung auf eine positive Veränderung des Lebens bestehen bleiben. Hätte ich sie nicht, dann hätte ich wohl meinen Beruf verfehlt!"

Ingeborg ließ für einen Moment den Kopf sinken. Sie nickte leicht, dann richtete sie sich auf. "Danke. Es tut gut zu wissen, dass es Menschen wie Sie gibt! Ja, ich hatte einen falschen Weg eingeschlagen, der mich an den Rand des Untergangs, als Mensch und als Person, gebracht hatte. Erinnern Sie sich noch an Klaus Behrend, einen jungen Mann Anfang 20? Er war damals auch bei Ihnen gewesen; Sie hatten ihm wohl auch sehr geholfen. Durch ihn hatte ich von Ihrer Beratungsstelle erfahren."

"Ja, ich erinnere mich gut an ihn! Ein netter Mann, dem schon früh sehr übel mitgespielt worden war. Haben Sie noch Kontakt zu ihm? Wissen Sie, wie es ihm geht? Und was hat er mit Ihnen zu tun?"

"Wir haben nur noch sporadischen Kontakt miteinander," antwortete Ingeborg. "Er wohnt nicht mehr in München. So weit ich weiß, hatte er das Haus seiner Oma verkauft und ist nach Bremen an die Verkehrsfliegerschule gegangen." Sie machte eine Pause. "Ja, was hatte er mit mir zu tun?"

Herr Müller unterbrach sie nicht. Aber er nickte ihr zufrieden zu.

"Wir hatten wohl eine Zeitlang eine BDSM Beziehung. Sie wissen, was das ist?" Sie machte eine Pause, beobachtete ihn. Sein Blick forderte sie auf, weiterzureden. "Wir hielten uns gegenseitig in einer Beziehung fest, die einerseits auf Macht und Dominanz aufbaute, andererseits aber auch auf tiefem Vertrauen und...., nun ja, etwas Liebe war da wohl auch dabei."

"Liebe ist immer dabei. Aber sie manifestiert sich halt sehr unterschiedlich. Aber ich wollte Sie nicht unterbrechen." Er langte zu seiner Teetasse, nahm einen Schluck, hielt sie dann aber in den Händen.

"Klaus hatte irgendwie, wenige Jahre zuvor, Beziehungen zu einer jungen Studentin aus Köln gehabt, Daniela Krause. Vielleicht erinnern Sie sich an das Mädchen. Man hatte es eines Wintermorgens tot am Ufer der Isar gefunden, gleich unterhalb der Luitpoldbrücke. Ich untersuchte damals den Fall und hatte von Anfang an den Verdacht, dass Klaus etwas damit zu tun gehabt haben könnte. Wie sich später herausstellte, war meine Vermutung nicht ganz abwegig, obwohl für den wirklichen Tathergang andere Personen ermittelt werden konnten."

Herr Müller stellte seine Tasse wieder ab und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich erinnere mich. Aber an keine Einzelheiten. Dass Klaus, zumindest indirekt, etwas damit zu tun hatte, wusste ich nicht."

"Es gab noch eine dritte Person. Monika Sommer. Eine junge Frau hier aus München. Auch sie war irgendwie in diese ganze Geschichte eingebunden. Und ich wollte diesen Fall restlos aufklären. Verstehen Sie? R e s t l o s ! Ich wollte die Hintergründe über diese jungen Menschen herausfinden. Was sie zu dem getrieben hatte, was sie taten. Klaus hatte es mir nie sagen wollen. Aber ich spürte, auch hier waren menschliche Schwächen und Abgründe am Werk, über die ich mehr erfahren wollte!"

"Womit Sie ja eigentlich Ihren Bereich der Kriminalistik zu sehr ausdehnen! Nicht wahr, Frau Wimmer?"

"Ja, das war mein Fehler. Ich hatte ihn nicht erkannt. Hatte immer nur überlegt, wo ich wie weiterkommen könnte. Welche Personen mir eventuell neue Erkenntnisse verschaffen konnten."

"Und, haben Sie welche gefunden? Hat diese Monika, von der Sie sprachen, Ihnen helfen können?"

Ingeborg schüttelte den Kopf. "Nein. Leider nicht. Sie ist zu ihrem Vater nach Australien gezogen und hat dort geheiratet."

Für einen kurzen Moment huschte ein Lächeln über den Kopf des Therapeuten.

"Nein. Monika habe ich nie gesprochen. Wohl aber ihre Mutter, Pia."

"Die Heilige! Menschen mit solchen Namen haben es immer schwer. "Konnte sie Ihnen denn weiterhelfen? Ihre eigentliche Ermittlung in diesem Fall war wohl bereits abgeschlossen?"

"Ja, das war sie. Und das war ja auch der Fehler, den ich beging. Dass ich nicht loslassen konnte. In Wahrheit drehte es sich gar nicht mehr um Spurensuche, sondern um Hintergründe...."

"... um Abgründe," fiel er ihr ins Wort.

"Ja, das stimmt. Um meine ganz persönlichen Abgründe. Ich hatte, schon durch meine Beziehung zu Klaus, bereits einen Blick in eine mir bis dahin verborgene Welt tun können. Das Unheimliche in zwischenmenschlichen Beziehungen. Ich dachte, Kenntnis darüber, persönliche Kenntnis, könnte für meinen Beruf als Polizistin wichtig sein. Ich wollte das Dunkle finden, die Tiefen der menschlichen Seele ausloten...." Sie schwieg, kam einen Moment nicht weiter.

Seine Augen blickten sie an. Ein Blick, der alles sagen konnte, oder nichts. Wie zu sich selbst gewandt murmelte er: "Und ob ich schon wanderte im finstern Tal...." Er schwieg einen Augenblick "Und, haben Sie es gefunden?"

"...fürcht ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich." Sie nickte, blickte zu Boden. "Ja. Ich habe es gefunden. Nur...." Sie kam nicht weiter.

Er half ihr. "... es wurde immer dunkler. Nicht wahr? Das ist es, was Sie sagen wollten? Statt irgendwo Licht am Ende des Tunnels zu finden, gruben Sie sich immer tiefer in den seelischen Untergrund." Er machte seinerseits eine Pause, griff nach der Schachtel mit den Spekulatius, hielt dann inne. "Oh mein Gott! Sie haben.... Sie hatten eine Beziehung zu dieser Pia aufgebaut? Eine Sado-Maso-Beziehung??" Er schob seinen Stuhl ein wenig zurück.

"Ja. Ich weiß auch nicht, wie es dazu kommen konnte. Ich hatte damals von Klaus ein Korsett bekommen, ein Korsett, welches er aus dem Haus dieser Pia entwendet hatte. Es hatte dieser Monika gehört; sie hatte es nicht mitgenommen nach Australien. Er hatte es schlichtweg geklaut. Und ich hatte nun den Gedanken, dieses Korsett zu benutzen, um mit Frau Sommer - Pia - ins Gespräch zu kommen. Ich packte das Ding einfach ein und klingelte bei ihr. Pia ist eine ruhige Frau, Ende 40. Sie bat mich gleich, hereinzukommen. Als ich ihr das Korsett mit einigen erklärenden Worten zurückgab, packte sie es aus, betrachtete es und stellte mir dann eine ganz simple Frage: Passt es?"

Herr Müller, der sich vorher etwas abgewandt hatte, drehte nun, wenig nur und sehr langsam, ihr wieder das Gesicht zu. Ingeborg blickte zu Boden, ihre Lippe zitterte leicht, als sie mit leiserer Stimme fortfuhr.
"Ja, ich hätte zu diesem Zeitpunkt noch davonlaufen können. Aber ich konnte nicht, oder ich wollte nicht. Ich weiß es nicht. Ich spürte nur, dass hier bereits nach wenigen Minuten eine Bindung entstand, die ich, so dumm es jetzt auch klingt, nicht wieder lösen wollte. Nein, ich wollte sie ausbauen, vertiefen. Auch weil ich spürte, dass ich hier an der Quelle des Ganzen war, am Ursprung all jener falschen Entscheidungen, jener Qualen und Demütigungen, die ja letzten Endes sogar den Tod einer jungen Frau zur Konsequenz hatten. Auch wenn man hier nicht mehr von Schuld sprechen kann. So banal es klingt, ich erfuhr Dinge, die, hätte man sie von Anfang an richtig angegangen, richtig behandelt, so wäre all dies nie geschehen."

"Sie sprechen von Schuld, Ingeborg. Für einen Psychologen, oder halt einen Pädagogen wie mich, ist das sicherlich ein ganz anderer Begriff als für einen Kriminologen. Aber haben Sie, abgesehen von Ihrer ganz persönlichen Suche nach dem Dunkel, wirklich so etwas wie einen 'Täter' ermittelt, dem man Schuld anlasten konnte?"

"Ja. Am Ende, kurz bevor unser Verhältnis zerbrach, erzählte Pia mir vom Tode ihrer Eltern, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen, als sie selber noch sehr jung gewesen war. Ein junger Mann hatte die Kontrolle über seinen Wagen verloren, weil er...., nun ja, sagen wir einmal, er war sexuell abgelenkt. Womit sich beileibe nicht alles erklären lässt, was in den folgenden Jahren geschah. Und schon gar nicht der sexuelle Missbrauch, den Klaus in Internatszeiten erfahren hatte. Aber hier trafen, völlig unerklärlich, einzelne Schicksale aufeinander, fast so, als gehörten sie, irgendwie durch ein unsichtbares Band, miteinander verbunden."

Der Therapeut rückte seinen Stuhl wieder näher heran. Sein Körper hatte nicht mehr die angespannte Haltung, die er zuvor eingenommen hatte. "Ich glaube, Sie haben es selber schon erklärt. Ja, genau das passiert immer wieder. Es scheint, wir geben unbewusst Signale an unsere Umwelt ab, wie wir uns selber verstehen und wie wir gern von anderen wahrgenommen werden möchten. Ganz so muss es auch mit Ihnen und Pia verlaufen sein?"

"Ja." Ingeborg Wimmer klang wieder kräftiger. "Ja, genauso muss es auch bei Pia und mir gewesen sein. Auf jeden Fall antwortete ich auf ihre Frage mit einer Lüge. 'Ich weiß nicht, ob es passt', hatte ich gesagt, obwohl ich das Korsett ja bereits vorher getragen hatte. Und irgendwie verstand ich, dass Pia mich einschnüren wollte und irgendwie wollte ich es auch selber. Wie in Trance hatte ich meine Kleider abgelegt, Pia hatte mich eingeschnürt und dann - das war das besondere an diesem Korsett - es mit mehreren kleinen Schlösschen abgeschlossen. Verstehen Sie, ich kam da nicht mehr heraus. Das Ding raubte mir den Atem, auch wenn es knapp so eng geschnürt war, wie ich es schon getragen hatte, aber es behinderte mich total. Und dann kam das Verrückte! Pia sagte zu mir, ich könnte es behalten. Aber nur, wenn s i e die Schlüssel dazu behalten könnte! Und dass ich wieder nach Hause gehen und mindestens eine Woche warten sollte, bevor ich wieder zu ihr käme. Vorausgesetzt, ich wollte wiederkommen! Wenn nicht, dann würde ich bestimmt Mittel und Wege finden, das Korsett zu zerstören und loszuwerden. Aber wenn ich zurückkäme, dann wäre dies erst der Anfang...." Sie hatte sich in Rage geredet und war froh, unterbrochen zu werden.

"Der Anfang, Ingeborg? Wovon denn der Anfang?"

Ingeborg sammelte sich wieder. "Das hatte sie nicht gesagt."

"Und, sind Sie wieder hingegangen?"

"Ja. Ich bin wieder hingegangen. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Aber ich merkte bald, dass, wie Churchill es wohl gesagt hätte, dies nicht der Anfang vom Ende, sondern nur das Ende des Anfangs gewesen war. Nie hätte ich mir ausmalen können, was mich dann, in den folgenden zehn Monaten, bei Pia erwartete. Sie glauben ja gar nicht, welche - ich nenne es einmal: Hilfsmittel - sich in ihrem Fundus befanden! Da war wirklich alles da, was eine professionelle Domina glücklich gemacht hätte! Ich hatte, sobald ich ihr erst einmal den kleinen Finger gereicht hatte, keine Chance mehr..."

"Sie hätten weggehen können," warf er, sie kurz unterbrechend, ein.

Ingeborg Wimmer überlegte, ob dies eine Frage oder eine Feststellung war. "Weggehen, ja. Vielleicht. Ich weiß nicht. Sie wissen ja gar nicht, wie mein Leben von da an aussah. Aber - sie warf einen Blick auf ihr Gegenüber - ich will Ihnen gegenüber besser nicht zu sehr ins Detail gehen..., es ist...."

"Reden Sie es sich ruhig von der Seele, Ingeborg!" Herr Müller sah sie gutmütig an. "Auf mich brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen. Mir ist, nach vielen Jahren hier in der Beratungsstelle, nichts fremd. Und haben Sie keine Angst, dass es Sie irgendwie in ein schlechtes Licht setzen könnte, was auch immer Sie zu erzählen haben!"

Ingeborg atmete erleichtert auf. "Danke schön! Ich glaube fast, Sie sind der Erste, der so denkt. Wenigen Freunden habe ich mich bisher in schwachen Momenten anvertraut; fast alle haben mir danach den Rücken gekehrt." Sie seufzte laut. "Ja, weglaufen...." Ingeborg überlegte einen Moment. "Rein physisch hätte ich es wohl tun können. Ich lebte ja in keinem Kerker. Zumindest nicht immer. Aber fast immer trug ich ja meinen Kerker, mein Gefängnis sowieso mit mir herum. Das enggeschnürte, abgeschlossene Korsett. Darüber trug ich fast immer einen stählernen Keuschheitsgürtel, ebenso wie einen engen, stählernen BH. Pia mochte es, mich in diesen Dingen zu sehen. Es sollte mich vor aufdringlichen Männern schützen, sagte sie immer. Obwohl mir schon bald klar wurde, dass sie mir den Zugang, das Erleben meiner eigenen Lust verhindern wollte. Solide Schenkelbänder gehörten, genau wie ein stählerner Halsreif, fast immer zu diesem Körpergefängnis dazu. Ich merkte bald, dass ich so keine Hosen mehr tragen konnte. Aber Pia hatte genug Röcke, die ich tragen konnte, beziehungsweise tragen musste. Lange Röcke, so eng, dass man darin kaum laufen kann. Leichte Sommerröcke mit mehreren bauschigen Petticoats darunter. Und immer High heels! Zu Hause steckte sie mich auch gern in die schlimmsten Folterschuhe, die man sich denken kann. Wie eine Balletttänzerin muss man darin ständig auf Spitze stehen. Ein absoluter Horror, wenn ich daran denke. Und dann die vielen Stunden, die ich, so schon bis zur Unbeweglichkeit verschnürt, in Zwangsjacken und Monogloves verbringen musste...." Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie, eine Last von sich abzuschütteln.

"Sie haben sich nicht dagegen gewehrt? Nichts dagegen gesagt?" Skepsis schwang in der Stimme des Therapeuten mit.

Ingeborg lachte kurz auf. "Nichts dagegen gesagt?? Ja, wie denn, mit einem dicken, schwarzen Gummiball im Mund. So ein Ballknebel gehörte ja schon fast zur Grundausstattung!"

"Pia zwang Sie dazu?"

"Überhaupt nicht. Das ist ja das Verrückte! Morgens zum Beispiel, nach dem Frühstück. Da lag der Knebel immer neben meinem Teller. Wie so eine Art Nachtisch. Selber angelegt habe ich ihn mir! Verstehen Sie? Ich knebelte mich selber und schloss das verdammte Ding dann mit einem Schloss ab, zu dem sie den Schlüssel hatte. Danach dann ging es ans Ankleiden. Ganz nach ihrer Lust und Laune. Nein, ich weiß nicht, was Sie jetzt denken, aber so war es nicht. Ich sagte ja schon, ich konnte durchaus das Haus verlassen, wenn auch immer gut in meine stählerne Unterwäsche verschlossen. Und ich habe meine Runden in der Stadt gemacht. Vielleicht hätte ich weglaufen sollen...."

"Aber Sie konnten es nicht! Nicht wahr, Ingeborg? Sie nahmen all dies auf sich, weil es Ihnen gefiel. Weil Sie es irgendwie brauchten. Weil Sie, wie Sie sagten, das Dunkle in seiner ganzen Tiefe erforschen wollten. Habe ich recht?"

Ingeborg nickte. "Ein falscher Weg, den ich gegangen bin...."

"Nein!!" Herr Müller reagierte heftig. "Nein. Sehen Sie, das ist der übliche Denkfehler. Wir machen uns immer vor, wir stünden an einer Weggabelung und hätten hier die freie Wahl, welchen wir nehmen wollen. Aber so ist es nicht. Es gibt nur diesen einen Weg, den wir konsequenterweise nehmen m ü s s e n !"

"Hm..." Ingeborg richtete sich auf. "Das verstehe ich jetzt nicht. Wenn es so ist, dann hieße das ja, man hätte gar keine Wahl im Leben. Dann ist ja auch Ihre Beratung hier nicht viel wert...."

"Nein, Ingeborg. Sie verstehen das Bild nicht. Wir haben nicht die Wahl zwischen verschiedenen Wegen. Und meine Aufgabe als Therapeut ist es schon gar nicht, anderen neue Wege aufzuzeigen oder gar vorzuschreiben. Nein, nur wir selber haben unseren Weg zu gehen und, und dass ist die immerwährende Aufgabe, wir haben die Möglichkeit, den Weg selbst zu verändern, während wir ihn gehen. Ich kann nur dabei helfen, Steine aus dem Weg zu räumen, wie man so sagt. Erlebt man, unter einer genauen Voraussetzung, eine Sache durchaus als positiv, so kann diese, wenn die Voraussetzung sich ändert, plötzlich weniger positiv, eventuell gar negativ gesehen werden. Ich denke, bei Ihnen mag es so passiert sein. Sie hatten das Dunkle, die Unterwerfung gesucht und bei Pia genau das bekommen, was Sie haben wollten. Bis Sie feststellten, dass es nur immer dunkler wurde. Mit anderen Worten: Sie enfernten sich vom Licht. Übrigens ist all dies gar nicht so unnormal, wie Sie vielleicht denken mögen. Ich hatte hier schon viele Ratsuchende, die ganz ähnliche Lebenserfahrungen gemacht hatten."
Herr Müller machte eine kurze Pause, fuhr dann aber, jetzt weniger eindringlich, fort: "Haben Sie sich schon einmal gefragt, was genau Sie dazu brachte, dies zu tun?" Nachdenklich kratzte er sich am Kinn. "Sagen Sie, haben Sie Geschwister, Ingeborg?"

"Ja. Einen etwas älteren Bruder. Der war eigentlich ganz nett..."

"Eigentlich??"

"Nun ja, wie Brüder so sind. Aber w i r kamen gut miteinander zurecht!"

"Sie betonen das wir?"

"Ja. Die Eltern hatten Probleme mit ihm. Da gab es wohl öfter mal eine Watschn, oder so. Ich weiß nicht...."


Herr Müller nickte. Dann blickte er auf seine Uhr. "Herrje, wie die Zeit vergeht. Sowieso schon erstaunlich, dass er noch so ruhig...." Er trank einen letzten Schluck Tee und verzog das Gesicht. " Bah! Komisch, dass dieser Tee kalt immer so grässlich schmeckt. Ingeborg, ich habe noch einige Besorgungen zu machen. Möchte aber auch gern wissen, wie es Ihnen gelungen ist, wieder ins Leben zurück zu finden. Viertelstunde noch, dann muss ich los! Ja?"

Ingeborg stimmte ihm zu. "Ja, das passt gut. Ich wollte mich in einer halben Stunde mit meinem Mann treffen. Er hatte heute dienstlich in München zu tun."

"Hängt das irgendwie mit diesem 'Frechen Angebot' zusammen, dass Sie damals kurz erwähnt hatten, als Sie bei mir waren?"

Ein unerwartet herzzerreißendes Schreien zerriss die Stille. Herr Müller strahlte über das ganze Gesicht. "Hätte ich doch eben bloß nichts gesagt!! Das hat man davon!" Er lachte. "Wie heißt der Kleine denn? Und wie alt ist er?"

Die junge Mutter betrachtete besorgt das kleine Bündel, das sie lange im Arm gehalten hatte. Sie schlug die wollene Decke zurück und präsentierte den süßen Kopf eines kleinen Babys. "Er heißt Lykke. Ist gerade erst knapp zwei Monate alt!" Stolz präsentierte sie ihr Kind. "Ich befürchte, er hat wieder Hunger. Stört es Sie, wenn ich ihn etwas an die Brust nehme? Dann wird er wieder zur Ruhe kommen und ich kann weitererzählen."

"Machen Sie nur! Und auf eine Viertelstunde mehr oder weniger kommt es mir auch nicht an. Lykke sagten Sie? Was ist das für ein Name?"

"Es ist ein skandinavischer Name. Er bedeutet Glück."

"Das ist wirklich ein schöner Name! Da ist es ja gut, dass es kein Mädchen geworden ist!" Er lachte wieder.

"Dann hätten wir sie Felicitas genannt. Was ja auch Glück bedeutet!"

"Ich sehen schon, Sie waren gut vorbereitet! Aber erzählten Sie mir nun von Ihrem Glück! Wie sind Sie losgekommen?"

Ingeborg Wimmer hatte den Kleinen an die Brust gelegt; augenblicklich wurde es wieder still. "Ja, da hatte ich wohl auch Glück. Wissen Sie, ich war wirklich an einem Punkt in meinem Leben angekommen, wo es gar kein Licht mehr gab. Ich hatte zuerst Urlaub genommen, mich dann unter fadenscheinigen Voraussetzungen krank gemeldet und war drauf und dran, meine Arbeit zu verlieren. Es war, als würde ich mir selber dabei zusehen, wie ich dem Untergang entgegenlief. Manchmal ging ich abends zur Luitpoldbrücke, stand oben an der mächtigen Brüstung und schaute hinab in die schwarze Flut. Ich weiß wirklich nicht, was mich zurückgehalten hatte. Es war, als hielte mich etwas zurück, wenn ich mit dem Gedanken spielte, zu springen. Erklären kann ich es nicht.

Die Veränderung begann mit einem Brief aus Australien! Monika, Pias Tochter, die ja in Australien geheiratet hatte, schickte Ende des Jahres erste Babybilder an ihre Mutter. Es war seltsam, wie sehr diese Bilder Pia veränderten. Ich war plötzlich nicht mehr der Mittelpunkt in ihrem Leben. Eines Tages, das muss Ende Dezember oder Anfang Januar gewesen sein, überraschte sie mich damit, die Koffer gepackt zu haben, weil sie ihre Tochter in Australien besuchen wollte. Sie hatte alles geplant, ohne mich einzuweihen. Auf einen Tisch hatte sie alle meine Schlüssel gelegt. 'Passen Sie gut auf sich auf!' Das war's. Ich musste lernen, wieder ohne Pia und ohne ihre Dominanz zu leben. Meldete mich zurück zum Dienst, zog zurück in meine eigene Wohnung. Und fand schließlich den Weg zu Ihnen."

Sie legte ihr Kind an die andere Brust. "Erst während unseres Gesprächs im Januar fiel mir Brunos Freches Angebot wieder ein. Er hatte mir schlichtweg einen Heiratsantrag gemacht. Hatte mich gefragt, ob ich ihn liebte und mit ihm zusammen in Passau eine Familie gründen wollte! Wissen Sie, das war irgendwie so banal gewesen, dass ich dachte, er spinnt. Per SMS! Das geht doch nicht. Klar, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich ja monatelang nichts hatte von mir hören lassen. Aber... nun ja, er freute sich, als ich anrief, ich besuchte ihn und.... nun, den Rest können Sie sich denken."

"Das ist ja eine tolle Geschichte, Ingeborg!! Und, ist es Ihnen denn wirklich gelungen, von dem ganzen Kram wieder loszukommen?" Der aufmerksame Beobachter bemerkte die flüchtige Handbewegung in den Schritt, die Ingeborg verriet. "Oder doch nicht?"

Ingeborg Wimmer errötete leicht. "Es ist anders, als Sie denken...."

"Ich denke überhaupt nichts!"

"Bruno ist anders. Mein Mann kennt meine Schwächen. Er...., sagen wir einmal: er kooperiert. Er hilft mir, wenn ich schwach werde. Aber er dominiert mich nicht. Was auch immer an bizarren Gedanken kommt, es muss von mir kommen. Er akzeptiert mich so, wie ich bin." Sie senkte wieder ihren Blick, beschäftigte sich mit ihrem Kind. "Es ist nicht ganz einfach, das eigene Verhalten zu ändern. Aber wir kommen voran. Langsam und bedächtig. Und es geht uns gut!" Sie blickte auf, sah ihrem Gesprächspartner in die Augen. "Ja, es geht uns gut. Und Lykke hier war letzten Endes das, was alles verändert hat. Ich kann es nicht in Worte fassen...."

Herr Müller atmete hörbar aus. Er schob seinen Stuhl zurück und erhob sich langsam. "Ich glaube, ich will es einmal für Sie versuchen, Ingeborg. Es mag sein, dass Sie das Dunkel gesucht haben. Dass Sie ab und zu sogar die Sehnsucht nach dem Tode verspürten. Aber Sie haben das Leben gefunden. Ihr eigenes Leben, und das Ihres Kindes. Lykke wird in Zukunft alles für Sie verändern, dessen bin ich mir sicher! Kinder haben das unerklärliche Potential, Dinge in Bewegung zu setzen, die vorher festgefahren oder wie einbetoniert waren. Dafür ist Ihr kleiner Sohn nicht das einzige Beispiel. Genauso geschah es heute auch, schon vor langer Zeit, vor sehr langer Zeit, in einem Stall in einem fernen Land. Ein kleines Kind, dass dort, im Schein einer kleinen Öllampe, das Licht der Welt erblickte. Ein Kind, welches später von sich sagte...."

"...ich bin das Licht der Welt! Ich weiß!" fiel Ingeborg Wimmer ihm ins Wort, während sie ihr kleines Kind, das während des Stillens wieder eingeschlafen war, von der Brust nahm und vorsichtig wieder in seine Decke einwickelte. "Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben." Sie lächelte. "So, oder so ähnlich. Nicht wahr? Wissen Sie, Lykkes Geburt war wie eine Erlösung für mich, und genau diese Worte fielen mir in letzter Zeit öfter ein, wenn ich mein Kind ansah. Nur halt mit dem Nachfolgen klappt es nicht so gut."

"Sie werden vorangehen, Ingeborg. Irgendjemand muss immer vorangehen. Und Sie werden weiterhin gut auf den Wind achten, der Ihre Windmühle antreibt, ja?" Er griff nach seinem Mantel. "Haben Sie alles? Es wird Zeit, zu gehen. Ihr Mann soll nicht auf Sie warten!"


Es schneite immer noch leicht, als sie vor die Tür traten. Sie gingen noch gemeinsam ein Stück des Weges schweigend nebeneinander her. Dann trennten sich ihre Wege. Herr Müller blieb stehen und umarmte sie. "Fröhliche Weihnachten, Ingeborg. Danke, dass Sie noch einmal zu mir gekommen sind! Bleiben Sie gesund, lassen Sie Ihr Glück nicht wieder los und Gottes Segen auf all Ihren Wegen!" Er drückte noch einmal fester. Ingeborg hatte einen dicken Kloß im Hals, sie nickte, umklammerte ihr kleines Bündel fester. "Fröhliche Weihnachten, lieber 'Weihnachtsmann'. Und danke schön!!" Sie sah ihm lange nach, wie er, kleiner werdend, im Schneegestöber verschwand. Mit einem Mal spürte sie den Wind in ihrem Gesicht. Ja, dachte sie. Ich werde jetzt immer auf den Wind achten, solange ich lebe!"


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Wir sind am Ende angekommen! Ich hoffe sehr, dieser Schluss hat dem einen oder anderen Leser gefallen. Warum ich ihn so geschrieben habe? Was soll ich noch ins Detail gehen, wenn alles doch schon, Seite hoch und Seite runter, in den vorhergehenden Teilen meiner langen Geschichte geschrieben wurde. Es wäre doch nur eine Wiederholung, ein billiger Abklatsch geworden.

Jetzt wünsche ich Euch allen, wo auch immer Ihr heute Weihnachten feiert, ein schönes und besinnliches Fest. Bleibt gesund und vergesst Eure Daniela nicht!!

58. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 25.12.18 23:33

Ja liebe Daniela20!
Das hast Du wieder einmal genial gelöst. Inhaltlich ist dem wohl nichts mehr dazu zu fügen.Und somit: Besten Dank für diese besinnliche Weihnachtsgeschichte!
59. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von maximilian24 am 26.12.18 22:31

60. RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")

geschrieben von MartinII am 22.10.20 17:26

Einfach nur wunderschön - Danke!


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