Restriktive Foren

Thema:
eröffnet von Why-Not am 26.04.07 07:02
letzter Beitrag von Why-Not am 13.06.07 21:03

1. Gesichter des Todes

geschrieben von Why-Not am 26.04.07 07:02

In letzter Zeit sind bei mir einige Miniaturen entstanden, die sich unter dem Titel "Gesichter des Todes" zusammenfassen lassen. Nicht, daß ich zur Zeit in morbider Stimmung wäre ... Das Thema ist vielmehr bei Diskussionen zwischen Autoren aufgekommen.

Ich stelle einfach mal die erste Mini-Story hier ein und werde, wenn Interesse besteht, weitere nachreichen.


Gesichter des Todes I

Abschied

„Guten Abend“, kam es mit leiser, kultivierter Stimme aus der Zimmerecke.
„Wer sind Sie?“, fragte Hermann irritiert.
„Und was machen Sie in meinem Zimmer“, setzte er deutlich aggressiver hinterher.
„Du erwartest mich doch schon seit einiger Zeit.“
Wieder war die Stimme des Anderen leise, ja fast schon sanft.
„Ich erwarte niemanden!“
„Zu deinem Kompagnon hast du vorhin aber etwas anderes gesagt.“
„Wieso reden Sie mich eigentlich mit ‚Du’ an? Ich kann mich nicht erinnern, mit Ihnen gemeinsam in der Gosse gelegen zu haben. Und zu meinem Kompagnon habe ich gesagt, daß ich niemanden mehr erwarte ...“
„... niemanden, außer dem Tod“, vervollständigte der unheimliche Besucher das Zitat.
Hermann wurde blaß und schaute ihn unsicher an.
„Erzählen Sie doch keinen Blödsinn“, brauste er auf. In seiner Stimme lag allerdings eher Unsicherheit als Entrüstung. „Den Tod gibt es doch gar nicht.“
„Willst du behaupten, daß alle Menschen ewig leben?“
„Nein, natürlich nicht. Aber es gibt den Tod nicht als Wesen.“
„Woher weißt du das? Wie oft bist du denn schon gestorben?“
„Das ist doch alles Blödsinn. Verschwinden Sie, sonst rufe ich die Krankenschwester.“
Der Besucher trat aus der dunklen Ecke des Zimmers an das Bett heran. Hermann glaubte, eine eisige Kälte zu spüren. Der Eindringling war in einen schwarzen, fließenden Mantel gekleidet und hatte eine Kapuze auf dem Kopf. Hermann war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er dem Mann ins Gesicht schauen wollte. Er fürchtete, dann einen grinsenden Totenschädel zu erblicken.
„Warum machst du es dir unnötig schwer. Komm einfach mit.“
Eine bleiche Hand streckte sich Hermann entgegen und er wich in die andere Seite seines Bettes zurück, soweit er in seinem gesundheitlichen Zustand dazu überhaupt in der Lage war. Die zahlreichen Schläuche, die an seinem ausgemergelten Körper hingen, behinderten ihn sehr. Entsetzt schaute er jetzt doch ins Gesicht des Besuchers. Da war allerdings kein kahler Schädel, sondern ein blasses Gesicht mit freundlichem Lächeln.
„Und wenn ich gar nicht mitkommen will?“
In Hermanns Stimme schwang etwas Trotz, vor allem aber Unsicherheit mit.
„Schau dich doch mal an. Findest du das, was noch von deinem Leben übriggeblieben ist, so erstrebenswert, daß du daran festhalten willst?“
Hermann sackte förmlich in sich zusammen.
„Wenn ich wenigstens wüßte, was danach kommt ...“
„Du würdest es nicht verstehen, wenn ich es dir jetzt sagte. Glaube mir einfach, daß es dir gefallen wird.“
Der Tod hielt seine Hand auffordernd ausgestreckt. Und Hermann ergriff sie langsam und zögerlich. Er spürte, wie er dabei seinen geschundenen Körper verließ. Die Last der Krankheit fiel von ihm ab. Und er spürte eine starke Euphorie in sich aufsteigen. Das anhaltende Fiepen des Herzmonitors, der plötzlich Alarm schlug, interessierte ihn nicht mehr, als er der schwarzen Gestalt in ein weißes Licht folgte.

© 01/2007 Why-Not
2. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von bluevelvet am 26.04.07 17:02

Hallo Why-Not!

Mein Interesse ist geweckt. Eine sehr schön aus personaler Perspektive erzählte Story. Verschiedene Dinge gingen mir durch den Kopf, wie z. B. die Vorstellung des Todes als einer Person (wie man sie etwa in Märchen findet), Epikurs Argument gegen die Todesfurcht und der Bereich der Nahtoderfahrungen, der mich seit Jugend beschäftigt und hier mit wenigen Worten glaubhaft und nachvollziehbar geschildert wird.

Fühl dich also zur Einstellung des nächsten Teils/der nächsten Geschichte ermutigt!

Blue
3. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von träumerin am 27.04.07 00:04

Fühl dich also zur Einstellung des nächsten Teils/der nächsten Geschichte ermutigt!

Hallo Why-Not, da kann ich Blue nur zustimmen. Aber war ja eigentlich klar, dass mir diese Art Geschichten gefällt. Bitte mehr davon!

Einen lieben Gruss
träumerin
4. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Why-Not am 27.04.07 21:40

Na gut, ihr habt es so gewollt. Dann kommt hier die nächste (und bisher kürzeste) Geschichte.


Gesichter des Todes II

Die längste Minute

Ruckartig richtet er sich im Bett auf. Schweißnaß klebt der Schlafanzug an seinem Rücken. Ein stechender Schmerz im Brustkorb läßt seine Atmung stocken. Und eine drückende Übelkeit breitet sich langsam in ihm aus. Gleichzeitig spürt er, wie Panik immer stärker von ihm Besitz ergreift. Ist das jetzt der Herzinfarkt, vor dem sein Arzt ihn seit Jahren warnte, wenn er nicht endlich zu einem gesünderen Lebenswandel käme? Warum spürt er sein Herz nicht schlagen? Obwohl – sonst spürt er seinen Herzschlag normalerweise auch nicht. Nur, wenn er sich plötzlich anstrengt. So wie eben, als er sich aus dem Schlaf ruckartig aufgerichtet hat. Verdammt, warum schlägt das Herz nicht endlich?
Da! Ein schmerzhafter Pulsschlag bis zum Hals. Was ist das? Ein letztes Aufbäumen? Ruhig. Verdammt noch mal, RUHIG! Keine Panik!
Vorsichtig läßt er die Luft aus seinen Lungen, bis zu einem Punkt, an dem der Schmerz im Brustkorb wieder einsetzt. Keine Panik! Langsam und ruhig einatmen. Autsch! Wieder dieser Schmerz. Also gut. Wieder ganz langsam ausatmen. Und entspannen. Wie entspannt man sich, wenn man in Panik ist?
Ihm fällt die TV-Serie ‚Per Anhalter’ ein. Und ein Schmunzeln huscht über sein schweißnasses Gesicht. Als Grund dafür, daß sich der Reiseführer ‚Per Anhalter durch die Galaxis’ besser verkauft, als die ‚Enzyklopädia Galactica“, wurde der Einband des Werkes genannt, auf dem ‚Keine Panik’ in großen, freundlichen Buchstaben steht. Also gut, keine Panik. Ganz ruhig und entspannt.
Vielleicht wäre etwas frische Luft nicht schlecht. Er erhebt sich vorsichtig vom Bett, schleppt sich zum Fenster und öffnet es. Die kalte Nachtluft reizt ihn zum Husten. Und mit diesem Husten entweicht noch ein weiterer Wind aus seinen Eingeweiden. Der Druck in seiner Brust und die Übelkeit verschwinden schlagartig.
Erleichtert nimmt er sich vor, keine weißen Bohnen mehr vor dem Schlafengehen zu essen.

© 03/2007 Why-Not
5. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von träumerin am 27.04.07 23:30

*kicher*
schlagartig hast du mich auf andere Gedanken gebracht.
Danke, mein Süsser!
*knuddel*
6. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Why-Not am 28.04.07 18:39

Hier ist mein bisher vorletztes "Werk" zum Gesamtmotto.


Gesichter des Todes III

Dumm gelaufen

Breit grinsend klopfte Otto auf den Koffer, der neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Nicht, daß er das Geld nötig gehabt hätte. Aber warum sollte er darauf verzichten. Alle anderen taten es schließlich auch nicht. Na gut, so ein paar idealistische Spinner gab es schon noch. Die richteten sich mit ihrem Abstimmungsverhalten tatsächlich noch nach ihrem Gewissen.
Otto lachte laut auf. Eigentlich tat er das ja auch. Sein Gewissen sagte ihm, daß er ein Idiot wäre, wenn er nicht für das stimmen würde, was am besten bezahlt wurde. Schließlich gab für ihn immer das wirtschaftliche Wohl den Ausschlag – sein Wohl, natürlich.
Die ersten Hinweisschilder auf die nahe Grenze tauchten auf. Andere würden jetzt ihre Geldkof-fer unauffällig im Auto verstecken. Aber er war ja schließlich Abgeordneter und genoß Immunität. Das war schon ein toller Beruf. Geld vom Staat, ein Vielfaches von der Wirtschaft und das alles sogar legal. Klar, man ließ sich nicht bestechen, sondern schloß Beraterverträge ab, für die man nie etwas tun mußte, außer gelegentlich ‚richtig’ abzustimmen. Eigentlich eine ziemlich offensichtliche Form der Korruption. Aber so waren halt die Gesetze. Und eine Änderung bekäme natürlich nie die Mehrheit bei den Abgeordneten. Lästig waren nur die Wahlen. Aber mit der flächendeckenden Ein-führung der Wahlmaschinen sollte sich auch dieses Problem in den Griff bekommen lassen. Die Verhandlungen mit den Herstellern waren schon sehr vielversprechend.
Lediglich die häufigen Fahrten ins Ausland, um die Einnahmen steuerfrei anlegen zu können, waren nervtötend. Besonders in einer Nacht wie dieser, in der es sturzflutartig regnete. Wenigstens war die Straße frei. In der letzten halben Stunde war ihm nicht ein einziger Wagen begegnet. Unge-duldig trat er aufs Gaspedal.
Als er die geschlossene Wasserfläche auf der Straße erkannte, war es bereits zu spät zum Brem-sen. Der Wagen schoß geradeaus weiter, statt der Straße in einer sanften Kurve zu folgen. Langsam drehte sich das Auto quer zur Fahrtrichtung, während es sich mit unverminderter Geschwindigkeit der Leitplanke näherte. Auf dem Standstreifen endete die Wasserfläche. Das Fahrzeug stoppte ruck-artig, überschlug sich und touchierte die Leitplanke mit dem Dach, während es über sie hinwegflog und die Böschung hinabstürzte. Immer wieder berührte dabei ein Teil des Wagens kurz den Abhang und gab der Drehung um die Längsachse neuen Schwung. Schließlich wurde die Bewegung von einem seichten Bachbett abrupt beendet. Deutlich zu spät blähten sich alle Airbags im Fahrzeugin-neren auf. Aus unerfindlichen Gründen ging auch die Innenbeleuchtung an.

„Sie haben sich ein ziemlich mieses Wetter für Ihre Flugakrobatik ausgesucht.“
Otto schaute sich irritiert um. Nach dem Sturz hatte er zunächst die Orientierung verloren. Der Geldkoffer hatte sich geöffnet und 500-Euro-Scheine im ganzen Wagen verteilt. Draußen, im strö-menden Regen schaute jemand zur Fahrertür hinein. Hastig beschloß Otto, die Geldscheine zusam-mensuchen, damit der Passant sie nicht sah. Allerdings wollten ihm die Bewegungen nicht gelingen. Er hing beinahe regungslos im Sicherheitsgurt. Nur den Kopf konnte er drehen. War er verletzt?
„Interessante Schonbezüge haben Sie in Ihrem Auto“, ergriff der Mann an der Fahrertür wieder das Wort. Er deutete dabei auf die Geldscheine.
„Machen Sie keine Witze. Helfen Sie mir lieber. Ich bin verletzt.“
„Nun stellen Sie sich wegen des Blutflecks auf Ihrem Hemd nicht so an.“
Erschrocken schaute Otto auf seine Brust und sah im fahlen Licht der Innenbeleuchtung, wie sich ein dunkelroter Fleck immer weiter über sein weißes Hemd ausbreitete.
„Sie müssen mir helfen! Wenn Sie das nicht tun, ist das unterlassene Hilfeleistung. Das ist straf-bar.“
Allmählich spürte Otto Panik in sich aufsteigen. Warum unternahm dieser dämliche Passant nicht endlich etwas, statt sich über ihn lustig zu machen?
„Ich?“, fragte der Passant lächelnd, „Ich muß gar nichts. Sie müssen etwas. Nämlich sterben.“
„Was?!?“
Ottos Gesicht verlor die für ihn charakteristische, rötliche Farbe.
„Unternehmen Sie endlich etwas. Rufen Sie einen Krankenwagen.“
„Warum sollte ich so etwas tun?“
„Ich bin eine wichtige, politische Persönlichkeit.“
Der Passant lachte schallend.
„Na gut. Ihnen ist das egal. Macht nichts. Ich bezahle Sie. 5000 Euro, wenn Sie endlich einen Rettungswagen rufen. Oder besser einen Rettungshubschrauber.“
Otto überlegte, ob er noch mehr von dem Geld in seinem Wagen anbieten sollte.
„Wenn ich warte, bis Sie gestorben sind, kann ich mir das ganze Geld nehmen. Wirklich verlok-kend ist Ihr Angebot nicht gerade.“
„Okay, dann nehmen Sie sich alles. Und Sie bekommen noch einmal das Gleiche. Aber rufen Sie endlich einen Notarzt!“
„Tja, schade, daß ich mit Geld überhaupt nichts anfangen kann. Aber das macht genaugenom-men auch nichts. Denn Sie haben etwas anderes, für das ich mich wirklich brennend interessiere.“
Deutlich spürte Otto, wie das Leben aus ihm entwich. Es fiel ihm immer schwerer, vor Angst überhaupt noch zusammenhängend zu denken.
„Nehmen Sie sich, was Sie wollen, aber handeln Sie endlich!“
„Keine Frage, ich werde mir nehmen, wofür ich ein sprichwörtlich brennendes Interesse habe“, antwortete der Passant mit heiterer Stimme, „nämlich Ihre Seele.“
Das letzte, was Otto noch lebend hörte, war ein diabolisches Lachen.

© 03/2007 Why-Not
7. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von träumerin am 29.04.07 16:28

hu...wie gruselig.
Genau die richtige Geschichte für meinen körperlichen Zustand...*gg*

Nein, im Ernst, eine gute Story mit dem passenden Ende. Hat es nicht besser verdient.

Schade nur, dass sie so realistisch ist...

liebe Grüsse
deine träumerin
8. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von bluevelvet am 29.04.07 19:11

Zitat

Das war schon ein toller Beruf. Geld vom Staat, ein Vielfaches von der Wirtschaft und das alles sogar legal. Klar, man ließ sich nicht bestechen, sondern schloß Beraterverträge ab, für die man nie etwas tun mußte, außer gelegentlich ‚richtig’ abzustimmen.

Ich fürchte, so läuft´s!

Zitat

„Keine Frage, ich werde mir nehmen, wofür ich ein sprichwörtlich brennendes Interesse habe“, antwortete der Passant mit heiterer Stimme, „nämlich Ihre Seele.“
Das letzte, was Otto noch lebend hörte, war ein diabolisches Lachen.

Ich hoffe, so läuft´s!
Schließlich fordert die praktische Vernunft ihre Gerechtigkeit ... *gg*

Dann, Why-Not, lass mal lesen, was du in rebus mortis noch so in petto hast!

Blue
9. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Why-Not am 29.04.07 22:13

Zitat
Dann, Why-Not, lass mal lesen, was du in rebus mortis noch so in petto hast!

Tja, einen habe ich noch:


Gesichter des Todes IV

Knapp daneben

„Mahlzeit.“
Werner schaute den Neuankömmling, der sich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt hatte, verwundert an. Es war nicht ungewöhnlich, sich in der vollen Kantine an den Tisch eines unbekannten Kollegen zu setzen. Aber dieser Kollege hatte nicht einmal ein Tablett mitgebracht. Überhaupt sah er irgendwie unpassend aus. Sein Anzug hätte eher in einen Sherlock-Holmes-Film als in die Kantine eines Kreditinstituts gepaßt. Ihn als altmodisch zu bezeichnen wäre maßlos untertrieben gewesen.
„Mahlzeit“, antwortete er schließlich selbst und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem eigenen Essen zu. Nicht, daß die Qualität des Kantinenessens aufmerksamkeitsheischend gewesen wäre. Aber kalt würde es noch weniger schmecken.
„Ziemlich viel Cholesterin.“
Konnte ihn sein Gegenüber nicht einfach in Ruhe essen lassen?
„Die welken Salatblätter vom Buffet wären vielleicht gesünder, aber noch weniger schmackhaft gewesen“, antwortete Werner, ohne lange darüber nachzudenken.
„Das mag sein. Bei mir ist es schon ziemlich lange her, daß ich so etwas probiert habe.“
„Salat? Da versäumen Sie hier nicht viel. Das Dressing ist furchtbar.“
„Nein, ich dachte an Essen allgemein.“
„Aha.“
Besonders interessiert war Werner nicht an den Essensgewohnheiten dieses Kollegen – falls es überhaupt ein Kollege war. Irgendwie war er sehr merkwürdig. Nicht nur wegen seiner unpassenden Kleidung.
„Vielleicht hätten Sie den Inhaltsstoffen Ihrer Speisen etwas mehr Aufmerksamkeit widmen sollen. Bei Ihren Herzproblemen ist es ein Fehler, einfach drauf los zu essen.“
Dieser Typ war nicht nur ein Langweiler, er war auch noch ein Wichtigtuer. Werner versuchte, ihn einfach zu ignorieren und sich auf das Essen zu konzentrieren.
„Ich habe den Eindruck, Sie hören mir gar nicht zu.“
„Sollte ich das?“, fragte Werner genervt, um sich dem fetten Rindswürstchen zuzuwenden, das sich immer wieder dem Zustechen seiner Gabel entzog.
„Na ja, die meisten Leute interessieren sich dafür, warum sie sterben.“
Werner schaute ihn verärgert an. Was sollte dieses dumme Geschwätz. Warum konnte dieser Trottel nicht einem anderen Kollegen auf die Nerven gehen?

Der altmodisch Gekleidete erhob sich und trat auf ihn zu. Verblüfft stellte Werner fest, daß er dadurch mitten im Tisch und halb in seinem Essen stand. Beides erschien dabei durchsichtig und irgendwie substanzlos.
„Tja, Manfred Meyer“, sagte er mit wichtigtuerischem Geschichtsausdruck, „Sie werden mich jetzt begleiten müssen. Ihr Herz hat den Raubbau, den Sie mit ihrer Gesundheit treiben, nicht überstanden. Ach so, vielleicht hätte ich mich erst einmal vorstellen sollen. Gestatten, Gevatter Tod.“
Werner wußte nicht, ob er erschreckt oder wütend werden sollte.
„Das muß eine Verwechslung sein. Ich heiße auch gar nicht Manfred Meyer.“
„Dann eben Manfred Müller. Das ist doch völlig egal. Müller, Meyer … wen interessiert das denn schon, Manfred.“
„Erstens heiße ich nicht Manfred Meyer, sondern Werner Petersen. Und zweitens ist mein Herz kerngesund, wie mir erst gestern mein Hausarzt bestätigt hat.“
Der Andere wurde noch etwas blasser als er ohnehin schon war.
Er kramte ein Notizbuch aus seinem historischen Anzug, schlug es auf und schaute hinein. Abwechselnd blickte er immer wieder auf Werner und in das Notizbuch.
„So ein Mist. Dann habe ich ja schon wieder den Falschen erwischt.“
Einen Moment schaute er Werner unschlüssig an. Dann zuckte er andeutungsweise mit den Schultern und wandte sich wieder an Werner.
„Tja, da haben Sie dann wohl Pech gehabt. Jedenfalls habe ich weder Zeit noch Lust, jetzt den richtigen Manfred Meyer zu suchen.“
Werner sah, wie die Hand des Gevatters Tod nach seinem Brustkorb griff. Er wollte zurückweichen, konnte sich aber nicht mehr bewegen. Schlagartig raste sein Herz und eine kalte Furcht erfaßte ihn.

Die graue Hand hatte ihn schon fast berührt, als sie aus dem Nichts von einer weiteren Hand gepackt wurde. Diese sah noch erschreckender aus. Kurz darauf erschien auch die zugehörige Gestalt. Sie entsprach exakt dem Klischee, das jeder vom Tod hat. Ein Gerippe in schwarzem Umhang, mit einer Sense in der linken Hand. Die rechte schien den Arm des anderen Gleichmachers sehr unsanft zu drücken. Jedenfalls hatte letzterer plötzlich ein schmerzverzerrtes Gesicht.
„Jetzt habe ich endgültig genug von Ihnen, Sie Versager!“, dröhnte die Stimme des Gerippes in Werners Ohren.
„Das war der letzte Fehler in Ihrer Probezeit. Sie sind fristlos entlassen.“
Der Träger des historischen Anzugs wollte protestieren, verblaßte allerdings bereits.
„Es ist verdammt schwer, heutzutage qualifiziertes Personal zu bekommen“, sinnierte der Sensenmann an Werner gewandt. „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als die ganze Arbeit weiterhin alleine zu machen. Tut mir leid, daß er Sie erschreckt hat. Aber Sie werden das ohnehin gleich wieder vergessen haben.“
Mit diesen Worten berührte er Werners Stirn und verschwand.

Irritiert schaute Werner auf seinen halbvollen Teller. Es war erschreckend, wie sehr die Routine ihn im Griff hatte. Er mußte schon die Hälfte dieses Essens heruntergeschlungen haben, erinnerte sich aber nicht an einen einzigen Bissen. Angewidert schaute er auf den Rest des fetten Rindswürstchens. Dieser Fraß würde ihn eines Tages noch umbringen. Er schob den Teller von sich, trank seinen Orangensaft und brachte das Tablett mit den Essensresten zur Geschirrückgabe. Einem kleinen Tumult, der sich hinter ihm ereignete, als er die Kantine verließ, schenkte er keine Aufmerksamkeit. Erst am nächsten Tag hörte er, daß ein gewisser Manfred Meyer plötzlich über seinem Essen zusammengebrochen und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben war.

© 04/2007 Why-Not


Das war´s erst mal. Eine Idee habe ich zwar noch, aber die ist noch nicht zu Papier/Bits gebracht.
10. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von träumerin am 29.04.07 23:45

Hallo mein Süsser,
na, diese Geschichte hätte ich vielleicht besser nicht direkt vor dem Schlafengehen lesen sollen.
Aber was solls....ich muss halt alles lesen, was du schreibst. Und auch in diesem Fall hast du mich nicht enttäuscht.
deine mit Gänsehaut ins Bett kriechende
träumerin
11. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Charly am 30.04.07 00:00

Siehst du träumerin, das bist du selber schuld.

Die 4 Kurzies waren Original Why-Not!!!
Er bräuchte nicht mal unterschreiben, jeder würde
es sofort bestätigen.

Ist doch die richte Lese für einen festen und
gaaaaanz tiefen Schlaf *hustekeuchhechel-urgs*

Sag mal Why-Not, in welchen Situationen fallen dir
solche Sachen ein? Das würde mich echt interessieren.
Absolut einmalig geschrieben!

Viele Grüße - Charly
12. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Why-Not am 30.04.07 22:38

Zitat
Sag mal Why-Not, in welchen Situationen fallen dir
solche Sachen ein? Das würde mich echt interessieren.

In einer Diskussion zwischen Autoren kam nach meiner ersten Story von jemandem der Spruch, warum der Tod immer als netter, einfühlsamer Mann beschrieben wird. Eine Antwort war, daß alle "Rendezvous mit Joe Black" gesehen hätten. Tja, und da kam mir dann die Idee, den Tod mal als fieses Ekel und mal als Trottel zu beschreiben. Die Bohnen-Story war ein Ausreißer.

Why-Not
13. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von bluevelvet am 01.05.07 17:52

Wenn schon der Tod Fehler macht, ... befindet sich wahrscheinlich der gesamte Kosmos im Niedergang!

Vermutet
Blue
14. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Petra-H am 01.05.07 19:18

>Wenn schon der Tod Fehler macht

In der Bürokratie der Anderswelt dürften ähnliche Bedingungen herrschen, wie in der unseren. *lach ...

Hallo Why-Not,

einfach herrlich deine Geschichten vom Tod und mit der Vermutung "Rendezvous mit Joe Black" hätten alle gesehen, hast du wahrscheinlich Recht.
Allerdings ließen sich deine Todesgeschichten auch sehr gut filmisch zusammenfassen.

>Das war´s erst mal.

Schade ... von derart gut geschriebenen Geschichten kann ich nie genug lesen. *smile ...

>Eine Idee habe ich zwar noch, aber die ist noch nicht zu Papier/Bits gebracht

Na das lässt ja wieder hoffen. *lach ...
15. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Nachtigall am 24.05.07 11:33

Huhu Why-Not,

Nr. 1 und 4 erinnern mich ein bisschen an Terry Pratchett und den Tod der Scheibenwelt (fehlten nur noch die Großbuchstaben), aber alle vier sind einfach nur klasse zu lesen. Nr. 3 war allerdings eher der Teufel als der Tod, oder?

Angesichts eines aktuellen Todesfalles in der näheren Umgebung kann ich der ersten Geschichte mit ihren versöhnlichen Aussichten am meisten abgewinnen.


Liebe Grüße

Anja
16. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Why-Not am 29.05.07 23:32

Hallo Anja,

erst mal herzliches Beileid zu dem Todesfall in Deiner näheren Umgebung. Ich hoffe, meine erste Geschichte war für Dich etwas tröstlich.

In der dritten Story, da hast Du natürlich recht, übernimmt der Teufel höchstselbst den Empfang des "Neuankömmlings".

Why-Not
17. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Harun al-Rashid am 30.05.07 15:05

Why-Not,

was soll ich dazu bloß schreiben?
Nun denn, ein Geständnis:

Beim Lesen der "Längsten Minute" habe ich Schweißperlen und Herzrasen bekommen! So intensiv können Kürzestgeschichten wirken. Das spricht für die literarische Dichte. Mehr Lob geht nicht, ehrlich!

>> Erleichtert nimmt er sich vor, keine weißen Bohnen mehr vor dem Schlafengehen zu essen.

Und so eine überraschende Wendung löst alles wieder im Gelächter auf. Das ist Literatur vom Feinsten. Sie belehrt und erheitert.
18. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Why-Not am 31.05.07 01:57

Hier mein wahrscheinlich letzter Beitrag zu meiner kleinen Reihe. Mehr Ideen habe ich dazu erst mal nicht.


Gesichter des Todes V

Na dann ...

Diesen einen Lastwagen noch, dann würde er wieder nach rechts einscheren. Der Fahrer des entgegenkommenden Wagens betätigte bereits nervös die Lichthupe. Sonntagsfahrer! Der Rausch des Adrenalins peitschte seine Stimmung an, während er gerade noch rechtzeitig vor dem LKW nach rechts zog. Das verärgerte Hupen des Brummi-Fahrers hinter ihm quittierte er mit einer obszönen Geste. Die Umgebung rauschte an ihm vorbei, und er genoß die Geschwindigkeit, während die 100 PS zwischen seinen Schenkeln röhrten. Es war ideales Motorradwetter, sonnig und nicht zu warm.
Schon wieder blinkte ihn ein entgegenkommender Wagen an. Was wollte der denn? Er war doch diesmal auf seiner eigenen Fahrbahn. Vielleicht eine Radarfalle hinter der Kuppe dort vorne? Das wäre ihm egal. Die blitzten hier in der Gegend nur von vorne. Und da hatte seine Maschine kein Nummernschild. Sollten die Polizisten doch versuchen, ihn zu verfolgen. Dazu müßten sie schon einen Porsche am Straßenrand stehen haben. Und selbst damit würde es ein spannendes Rennen werden.
Plötzlich glaubte er, aus den Augenwinkeln ein Gesicht zu erkennen. Schön geschnitten, mit langen, blonden Haaren, die in einem leichten Wind wehten. Das ging doch gar nicht. Bei den 210 km/h, die er fuhr, müßte das ganz anders aussehen. Er drehte den Kopf zu dem Gesicht, während er über die Kuppe fuhr – und raste ungebremst in eine Erntemaschine, die mit 20 km/h auf der Landstraße dahinschlich.

„Hallo Süßer.“
Er lag im Gras und blinzelte mit den Augen. Der Himmel über ihm war strahlend blau. Neben ihm saß eine junge Frau in der Hocke und schaute ihn an. Ihr Gesicht kam ihm seltsam vertraut vor, auch wenn er im ersten Moment nicht wußte, woher er sie kannte. Noch etwas anderes nagte an seinem Verstand. Irgend etwas Wichtiges, aber er wußte nicht, was es war. Langsam richtete er sich auf. Was machte er eigentlich hier? Wo war er überhaupt? Plötzlich erinnerte er sich wieder. Er war mit dem Motorrad unterwegs gewesen. Und dann ...
Er stand auf. Und die Frau neben ihm erhob sich ebenfalls. Sie war fast so groß wie er. Ihre langen, blonden Haare schienen von einem Wind bewegt zu werden, den er gar nicht spürte. Ein Teil von ihm versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, woher ihm die Frau bekannt vorkam. Gleichzeitig verfolgte der Rest seines seltsam trägen Verstandes den Gedanken weiter, der ihn hatte aufstehen lassen. Er war mit seinem Motorrad unterwegs gewesen. Daran erinnerte er sich jetzt. Etwas mußte passiert sein. War er auf ein Hindernis geprallt und von der Wucht ins Gras geschleudert worden? Wo war sein Helm? Egal. Wo war seine Maschine?
Suchend schaute er sich um und entdeckte in 100 Metern Entfernung die Landstraße. Einige Leute liefen aufgeregt herum und sicherten die Unfallstelle. Langsam näherte er sich der großen Erntemaschine, die am Straßenrand stand. Als er näher kam, sah er sein Motorrad. Es war völlig zerstört. Und er sah einen Motorradfahrer, der reglos und mit unnatürlich verdrehten Gliedmaßen auf der Straße lag. War noch jemand in das landwirtschaftliche Fahrzeug gerast? Jemand, der weniger Glück gehabt hatte als er?
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
„Geh’ nicht näher heran“, sagte die junge Frau neben ihm, „Es sieht ziemlich übel aus.“
„Ist er tot?“
„Du kennst doch die Motorradklamotten und den Helm.“
Er schaute noch einmal genauer hin und erstarrte. Das waren seine Sachen.
„Bin ich ...“
„Tot? Ja, das bist du.“
Eine Weile starrte er wortlos auf die Szenerie vor ihm. Dann drehte er sich zu der Frau um.
„Jetzt erinnere ich mich wieder daran, wo ich dich gesehen hatte. Kurz vor dem Unfall hatte ich dich aus den Augenwinkeln bemerkt.“
Sie nickte.
„Wenn du mich nicht abgelenkt hättest ...“
„... dann hättest du gebremst und wärst nicht mit 210, sondern nur mit 170 km/h in die Erntemaschine gerast. Und ja, du hättest den Aufprall überlebt. Für etwa eine Stunde. Eine sehr schmerzhafte Stunde.“
Er schaute sie betreten an. Überrascht stellte er fest, daß ihre Hand inzwischen in sein Genick gerutscht war und ihn streichelte. Sie lächelte ihn schelmisch und verführerisch an.
„Was hältst du davon, wenn wir es uns weiter hinten auf der Wiese etwas gemütlich machen?“
„Wie? Ich dachte, ich wäre jetzt tot.“
„Ja und? Das ist doch kein Grund, sich von jetzt ab keinen Spaß mehr zu gönnen. Oder gefalle ich dir etwa nicht?“
„Ich bin halt noch etwas durcheinander.“
„Was glaubst du“, lachte sie, „wie durcheinander du erst hinterher sein wirst.“
Sie griff nach seiner Hand und zog ihn weiter auf die Wiese, weg von dem Unfall. Als die Straße außer Sichtweite war, blieb sie stehen und begann, sich langsam und aufreizend auszuziehen. Dann zog sie auch ihm die Kleidung aus und preßte sich an ihn.
„Wetten, daß du dein Leben vor dem Tod in wenigen Minuten vergessen hast?“

© 05/2007 Why-Not
19. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von bluevelvet am 04.06.07 19:46

Von einer verführerischen Blondine abgeholt zu werden, ist eigentlich nicht schlecht. Hab gehört, der Sex gestalte sich im Jenseits eher als eine temporäre Verschmelzung der ganzen Personen, und das sei um einiges intensiver und ekstatischer als der Sex hier. - Warten wir´s mal ab ...

Blue
20. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Nachtigall am 05.06.07 08:14

Umpf. Deine Geschichten sind meistens tröstlich, Why-Not, und danke für Dein Beileid...

Diese letzte Geschichte spricht für einen sehr nachsichtigen Gott.

Ich schreib Dir noch ´ne PN.


Nachtigall
21. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Why-Not am 05.06.07 14:17

Zitat
Deine Geschichten sind meistens tröstlich

Dann wartet da noch eine größere Portion Trost auf Dich, falls Du meine Story "Der Patrizier" noch nicht gelesen haben solltest.

Zitat
Diese letzte Geschichte spricht für einen sehr nachsichtigen Gott.

Davon gehe ich aus.

Why-Not
22. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Butterfly am 09.06.07 20:31

Sauber, damit weckst du mich glatt aus meinem derzeitigen Schweigen.

Es gibt an deinen Storys drei Dinge, die mich irritieren.

"Gesichter des Todes" ist der Titel eines (hundsmiserablen) Filmes. Allerdings muss ich bemerken, dass deine Geschichten diesen Titel für mich in ein deutlich angenehmeres Licht setzen.

Death ist eindeutig schwarzhaarig (http://en.wikipedia.org/wiki/Death_%28DC_Comics%29). Andererseits ist ihr alles zuzutrauen. Vor allem Freundlichkeit. "Well, it´s no harder to be nice than it is to be creepy. And much more fun." (Death in Neil Gaimans "The High Cost Of Living").

Das dritte ist, dass dein Schreibstil mich jedes Mal wieder weghaut. *Seufz*

Schönen Gruß mal wieder
Butterfly
23. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Harun al-Rashid am 13.06.07 00:22

Verdammt, verdammt, ... verdammt gut, wie Du schreibst! Eine so kurze Story und so viele überraschende Wendungen. Fesselnd, von der ersten bis zur letzte Zeile!

Harun
24. RE: Gesichter des Todes

geschrieben von Why-Not am 13.06.07 21:03

Nach so viel Lob müßte ich ja glatt noch eine Story nachlegen. Schade, daß mir im Moment keine einfällt.

Why-Not


Impressum
© all rights reserved, 2024